Acht Realitäten und was ein Traum daraus macht von bells-mannequin (Stille) ================================================================================ Kapitel 1: Acht Träume und was eine Realität daraus macht --------------------------------------------------------- i. Die Welt, durch die sie wandern, ist einsam, unberührt, still. Sie wissen beide nicht, wann es begonnen hat, ihr einsames, unberührtes, leises Leben in dieser einsamen, unberührten, leisen Welt. Sie wissen nicht, ob man es überhaupt so nennen kann. Leben. Aber was bleibt ihnen auch anderes übrig als weiter zu gehen, zu schweben, zu wirbeln? Der Schnee dämpft jeden einzelnen ihrer Schritte, und oh, wie könnten sie es wagen, die Stille mit ihren nutzlosen, nutzlosen Worten zu beschmutzen? So fängt es an, aber irgendwann fragen sie sich leise, mit warmen Augen und kalten Fingern, ob sie überhaupt noch reden könnten, wenn sie es wünschten. Ihre Stimmen versagen vor Angst und sie wagen es lange Zeit nicht mehr, einen Laut von sich zu geben. Das Schneeweiß ihrer Welt blendet sie, bis sie blind sind, und irgendwann sind ihre Hände zu kalt, um irgendetwas zu spüren. Selbst, als sie nichts mehr riechen und nichts mehr schmecken können, sterben sie nicht, und sie verstehen es nicht, aber sie überleben – und sie lernen, zu leben. Ihre Welt ist grenzenlos in ihren Grenzen. So fühlt es sich an: mit Grenzen, ja, aber mit solchen, die nachgeben, wenn man sich gegen sie stemmt, die schmelzen, wenn Schnee auf sie fällt. Und so ist die ihre Welt grenzenlos, weil es nie aufhört zu schneien; nicht vor ihren Augen und auch nicht in ihren Herzen. ii. Ihre Stimmen sind leise, laut, rauh. Schnee-e-flöckchen, Weißröckchen, wa-ann kommst du geschneit? Sie liegen im Schnee (wo auch sonst?), Augen blau wie Eis, Himmel, Trauer – und die Melodie beginnt. Sie schallt in ihren Ohren, in ihrem Leben, in ihren Träumen; laut und tosend und ganz, ganz leise, sanft. Es sind nicht ihre eigenen Stimmen, die singen, aber eigentlich ist es auch egal, weil das Lied wie ein warmer Kuss, ein blutroter Glühwein, eine Matrjoschka auf dem Weihnachtsmarkt ist. Weil ihre Fingerspitzen langsam und stetig aufwärmen, weil Lächeln nicht mehr ganz so sehr wehtut und weil die Tränen, die sie deswegen weinen, salzig und warm sind, brennen. Der Schmerz, den sie hinterlassen, erinnert an Menschsein. „Phantomschmerz“, hört man es flüstern, mit einer Stimme wie Schmirgelpapier. Sti-ille Nacht, heilige Nacht. Nicht. iii. Ihre Augen sind scharf, blind, wach. Sie lernen, ihre Augen ruhen zu lassen, sie nicht zu öffnen, um ihnen Dunkelheit und Schlaf zu gewähren. Irgendwann verändern ihre Iriden sich, sind messinggrau und eisbergblau, wie die Welt um sie herum, und die Kälte beißt nicht mehr. Was sie außerdem lernen, ist, einander zu sehen. Die Kontur der Lippen, das Wachsen der Haare, die Trockenheit der Hände, die Bewegung eines Brustkorbs, der sich hebt und senkt. Sie lächeln, weil es nun mal die kleinen Dinge sind, an die man sich klammern muss (selbst, wenn sie am liebsten schreien würden, schreien, bis diese stille, grausame Welt zusammenbricht und in Trümmern liegt). iv. Sie riechen Kälte, Wildheit, Herz. Irgendwann entdecken sie eine magentafarbene Blüte inmitten von Schnee, und sie riecht nach Freiheit und Andersartigkeit – diese Blume ist ihnen so fremd wie ihr eigenes Herz, das langsam und stetig schlägt. v. Schnee schmeckt anders, nicht, sehr. Wenn sie glücklich sind, schmeckt Schnee nach Zitronensorbet (Sauer macht lustig), nach Sommer und Lachen und Adrenalin. Einsamkeit schmeckt wie schmelzender Schnee, der durch die Finger rinnt, verschwindet, wenn man ihn braucht – und Schnee schmeckt nach Wut und Verzweiflung, wenn die Kehle vor Durst brennt und die Finger beinahe erfrieren. Vor allem aber schmeckt Schnee wie diese Welt: anders als sie selbst (wer ist der Fremdkörper? Sie selbst oder die Welt?); nicht, wie sie es wünschen; sehr, wenn sie Schneeballschlachten formen, mit offenem Mund atmen und einen Schneeball ins Gesicht bekommen. (Und jetzt ist Schnee salzig wie Tränen, wie Unentschlossenheit und Stille und Trösten.) vi. Ihre Liebe ist tatsächlich, eingraviert, rar. Genau so wie die Welt, durch die sie gehen, ist die Liebe, die sie füreinander empfinden. Sie ist nicht von großer Bedeutung, sondern einfach da, so wie kalter Atem, in die Luft steigend, so wie Schneeflocken, so wie Fußspuren im Schnee. Oft halten sie sich bei den Händen, und sie haben beide zwar keine warmen Hände – aber wie heißt es so schön? Geteilte Kälte ist halbe Kälte? Ihre Liebe ist wie Schnee. Die Art von Gefühl, die, so sehr man es auch versucht (Feuer, Krankheit, Eifersucht, Zertrampeln, Natriumchloridlösung), nicht getötet werden kann, sondern nur schmilzt. Sie ist außerdem das einzige, was sie haben, von dem sie wissen, dass sie es besitzen, was ironisch sein könnte, in Anbetracht der Tatsache, dass sie sie weder in den Händen halten, noch ansehen können. Deswegen, immer kurz bevor der nächste Schneesturm beginnt, legen sie ihre rechte Hand auf die Stelle über ihrem Herzen und erinnern sich daran, dass es einen Grund gibt, zu leben. ba-dump– ba-dump– ba-dump. (Der Grund ist egoistisch und falsch, aber er hält sie am Leben, hält sie aneinander, pustet warme Luft in ihre Nacken. Das ist die Art Liebe, die sie verbindet.) vii. Sie überleben, indem sie vergessen, erfinden, niemals hoffen. Atmen. Genau, atmen. Aber das haben sie schon vergessen. Atmen sie überhaupt noch? Wenn sie könnten, würden sie über diesen makabren Witz lachen, aber – warum können sie nicht mehr? Vergessen. Und so erfinden sie sich jeden Tag ein bisschen besser, schlechter, anders, nur, dass sie wissen, dass sie nicht unsterblich sein können, nicht für immer überleben werden. Sie wissen das, weil sie die eine Regel, die sie irgendwann vergessen und irgendwann erfunden haben, nicht befolgen können: Sie hoffen mit jedem vergessenen Atemzug, mit jedem Lippenberühren, mit jedem rauen Ich wünschte, dass. Sie hoffen und sie sterben, aber vor allem leben sie. viii. Traum: beginnt, wird stärker, legt sich. Sie lächelt versonnen, ihre Züge weich vom Schein der Kerzenflamme. „Mann, was würd ich dafür geben, da zu leben.“ „Immer Schnee, immer kalt, einsam und allein? Nein danke.“ Jemand anderes kommt ins Zimmer, setzt sich ebenfalls an den Tisch, starrt die kleine Welt an. „Dich hat doch gar keiner gefragt, du Schimpanse.“ „Mit wem redest denn sonst bitte?“ „Na mit den beiden da drinnen. Siehst du sie nicht?“ Sie halten Händchen und lächeln und leben. „Ich wünschte, ich würde auch jemanden finden, mit dem ich allein die Welt besiegen könnte.“ Ein neuer Schneesturm beginnt. Ein neuer Traum. „Kitschiges Weib ….“ Der Schneesturm wird stärker, wirbelt sie umher. „Ey, hör zumindest ordentlich zu, wenn ich dich beleidige! Und hör auf, die Scheiß-Schneekugel zu schütteln, da wird einem ja übel vom zusehen, mein Gott.“ „Okay, okay. Ich pack sie ja schon weg. Aber … hast du jemals so eine schöne Schneekugel gesehen? Alles sieht echt aus: echter Schnee, echte Menschen, echte Fußspuren …“ Echtes Leben. „Vergiss nicht, die Kerze auszumachen.“ „Klar.“ Sie stellt die Schneekugel auf den Tisch zurück, atmet tief ein – tief aus, und die Kerzenflamme flackert und stirbt. Der Schneesturm legt sich. ix. Realität: stumm, wahnsinnig, lebendig. Sie lachen; stumm, wahnsinnig, lebendig. -- Reviews = Liebe Mit Freude, bells Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)