Emotional Confusion von Heartsbane ================================================================================ Prolog: I Can't Remember ------------------------ .♣. _______________________________________________________________________________ Er genoss die Stille. Es war selten, dass sein Zimmer nicht von Unmengen an Geräuschen erfüllt wurde. Von kreischenden Gitarren, donnernden Schlagzeugen und brüllenden Gesängen. Oder zumindest dem monotonen Klicken der Computermaus und dem stetigen Hämmern der Tastatur. Cedric brauchte diese Geräusche. Er war nicht der Typ Mensch, der sich stundenlang in ein schweigendes Zimmer setzen konnte. Aber in genau diesem Moment genoss er es, genoss die vollkommene Leere an Klängen und das dumpfe Gefühl, das damit verbunden war. Es gab ihm die Möglichkeit sich einfach fallenzulassen, seinem Kopf eine Pause zu gönnen und seine Sinne nicht ununterbrochen mit kräftezehrenden Aufgaben zu belasten. Er fühlte sich entspannt, war absolut frei. Und je länger er auf seinem Bett lag - die Arme und Beine locker von sich gestreckt, die Augen fest geschlossen, ruhig atmend - desto mehr überkam ihn ein neues Gefühl. Die Gedämpftheit, die ihn in Watte hüllte, schien langsam zu atmen. Zu pulsieren. Es war eine Veränderung, die so unumgänglich war, dass sie Cedric aus seinem unbeschwerten Zustand auftauchen ließ. Es entstand eine gewisse Spannung, eine ruhige Erwartung in ihm, die er weder als negativ, noch als positiv definieren konnte. Es war ihm unbeschreiblich warum, einzig und allein das Pulsieren um ihn herum erschuf diese Wahrnehmung und er wusste nicht einmal woher es eigentlich gekommen war. Gleichzeitig hatte es etwas Bedrohliches, drängte ihn die Augen zu öffnen. Die Spannung zu lösen. Doch er konnte nicht. Das leise Kribbeln in seinem Bauch wollte weiterwachsen. Wollte warten…einfach nur warten… Cedric schreckte wie vom Blitz getroffen in die Höhe. „Cedric, ich dachte mir, wir könnten etwas zusammen machen.“ Nur langsam beruhigte sich Cedric’s klopfendes Herz. Seine vor Schreck aufgerissenen Augen nahmen jedoch schnell wieder ihre gewohnte Form an, ehe sie sich mit dem Rest seines Gesichts zu einem genervten Ausdruck verbanden. „Aha. Und was?“, brummte Cedric, während er mit innerem Bedauern die Unmengen an neuen Geräuschen wahrnahm, die die Stille getötet hatten. Penetrante Stimmen, das Klicken von Fingern auf Metall, Lachen aus dem Fernseher im Erdgeschoss… Unbarmherzig zerstörten sie das Schweigen und mit ihm das seltsam angenehme Pulsieren. „Ich habe die alten Fotoalben wiedergefunden.“ Cedric blickte immer noch zu der nunmehr offenen Türe seines Zimmers, musterte die Frau, welche die mordenden Klänge mit nach oben getragen hatte. Wie ein Tsunami die verlorene Küste flutete, so tränkten die Melodien nun sein Zimmer. Cedric‘s Mutter war eine unscheinbare Person, fiel mit ihren kinnlangen, leicht krausen Haaren gar nicht erst auf. Das verblichen wirkende Braun ergab zusammen mit der seltsamen Mischung aus hagerer und von der Arbeit erstarkter Statur ein typisches Durchschnittsbild der alleinerziehenden Mutter. Ihre raue Hand tippte ungeduldig auf den Türgriff, während ihr von leichten Falten gekennzeichnetes Gesicht erwartungsvoll in seine Richtung blickte. Molly - seine Mutter- war erst vierunddreißig und wirkte doch wie Mitte vierzig. „Wenn’s denn sein muss…“ Cedric rutschte bis zum Ende seines Bettes, wobei er die Decke unbeabsichtigt auf den Boden beförderte. Lustlos ging er zu der mittlerweile leeren Türe. Seine Mutter war bereits zufrieden strahlend nach unten geeilt. „Oh, sieh nur!“, hörte Cedric zum fünfzehnten Mal denselben nervtötenden Ausruf innerhalb weniger Minuten. „Da waren wir doch im Zoo in Philadelphia. Weißt du noch?“ „Nein, Mom. Ich war zu klein.“ Cedric’s Antwort war dieselbe, wie er sie auf jeden der begeisterten Rufe gegeben hatte. Er variierte lediglich etwas in seiner Wortwahl. Nein, Mom. Das ist schon viel zu lange her. Nein, Mom. Da war ich noch ein Kind. Nein, Mom… Ich kann mich nicht erinnern. Cedric blickte geistesabwesend auf das Bild, welches seine Mutter mit einem angestrengten Lächeln zeigte, da sie versuchte den immerhin schon fünfjährigen Cedric auf dem Arm zu tragen. Trotzdem wirkte sie kräftiger. Gesünder. Lebendiger. Cedric’s Augen wanderten zu dem kleinen Jungen, der die Arme nach Halt suchend um den Hals der Mutter geschlungen hatte. Mit einem scheuen Lächeln und vor Unsicherheit strotzenden Augen blickte er in die Kamera. Ich kann mich nicht erinnern. Wie gerne hätte Cedric diesen Satz gesagt, entsprach er doch am ehesten der Wahrheit. Aber etwas in ihm sträubte sich. Er wusste, was er seiner Mutter damit antun würde. „Und da waren wir auf dem Spielplatz neben der alten Schule. Hach, ich weiß noch, wie du immer wieder von der Schaukel gefallen bist.“ Seine Mutter lachte herzhaft, woraufhin Cedric zu ihr hochblickte. Er hatte sich leicht zu ihr gebeugt, den Unterarm auf dem abgewetzten Sofa abgestützt. Er streifte so leicht ihren Oberarm mit seinem, damit er in das dicke Fotoalbum blicken konnte. „Mhm“, machte der Junge und betrachtete ausdruckslos die vor Freude glitzernden Augen seiner Mutter. Cedric’s Mutter blätterte weiter, betrachtete die unzähligen Bilder, erzählte ihre Geschichten. Nicht die seinen. Denn Cedric bildete nur ein Fragment ihrer Erinnerungen. Nicht der seinen. Sein Blick schweifte über die farbigen Abdrucke längst vergangener Zeiten, suchte fieberhaft nach irgendeinem Detail, das ihm bekannt vorkam. Doch da war nichts. Sein Kopf blieb schwarz, jede Erinnerung verschluckt von der Finsternis. Erneut wurde eine Seite umgeblättert. Erneut kamen neue, unbekannte Bilder zum Vorschein. Erneut fiel ihm eine dunkle Stelle auf einem der Fotos ins Auge. Er blickte in das mittlerweile gewohnte, verunsicherte Gesicht des jungen Cedric, wusste dass dies sein früheres Ich gewesen war. Dass dies er war. Und doch kam es ihm vor, als blicke er auf eine vollkommen fremde Person hinab, die er nur von diesen Fotos kannte. Die keinerlei Verbindung zu ihm hatte. Ich kann mich nicht erinnern. Der Satz hallte in seinem Kopf wider. Dumpf, eintönig. Doch mit einem Mal wurde er lauter, platzte in Cedric’s Gedanken und sprang gleich einem mordlüsternen Löwen direkt in sein Gesicht. Ich kann mich nicht erinnern!! Cedric zuckte innerlich kurz zusammen, erschrocken starrte er auf den Auslöser des ganzen Aufruhrs in seinem Kopf. Neben dem kleinen Cedric hockte eine Person, ein Mann ohne Gesicht. Stattdessen tat sich an dieser Stelle ein schwarzer Abgrund auf, gleich einem endlosen Loch. Cedric starrte dieses so lange, so intensiv an, dass er drohte darin zu versinken. Mit ungeheurer Macht streckte es die nachtgleichen Klauen nach ihm aus, zog ihn mit einem todbringenden Sog in seine Tiefen. Bis seine Mutter umblätterte. Den Löwen verjagte. Blinzelnd sah Cedric auf. Seine Mutter war ohne den kleinsten Funken Schrecken in ihren Augen, ohne das geringste Anzeichen eines angstvollen Ausdrucks auf die Fotos vor sich konzentriert. Stattdessen funkelte in ihren Augen ein träumerischer Glanz, umspielte ihr Mund ein schwelgendes Lächeln. Fast so, als hätte sie das schwarze Loch gar nicht gesehen. Cedric seufzte lautlos und wandte sich wieder den Bildern der Vergangenheit zu, die die seine war und doch auch wieder nicht. Immer öfter tauchten schwarze Löcher auf, teils umgeben von verkohlten Rändern, entstanden als sie aus dem Rest des Bildes heraus gebrannt worden waren. Als seine Mutter den Mann neben Cedric seines Gesichtes beraubt und ihn unweigerlich zum Phantom gemacht hatte. Ihn. Seinen Vater. Er war nichts weiter als eine unbekannte Stelle im Leben seiner Mutter und ihm. Gewaltsam daraus verbannt, nicht mehr als Teil der Erinnerungen akzeptiert und mit all der verbliebenen Kraft ignoriert. Oder aber… Ich kann mich nicht erinnern. …einfach vergessen. Cedric’s Blick schweifte ab. Er konnte sich nicht mehr auf die Szenen in Freizeitparks, auf Festen, in Zirkussen oder sonstigen Plätzen, an denen sich seine Kindheit abgespielt hatte, konzentrieren. Sie sagten ihm ohnehin nichts, denn seine Vergangenheit war fest hinter einer undurchdringlichen Tür verschlossen. Bis zum Tage seines sechsten Geburtstages konnte er keine einzige Erinnerung an die Zeit davor abrufen, denn jede einzelne war in einem schlickigen, schwarzen Moor versunken. Und mit ihnen auch sein Vater. Der, der die Familie an dem Tag verlassen hatte, an dem seine Erinnerungen wieder einsetzten. Cedric dachte an eben jenen Tag zurück. Es war paradox, wie klar er sich an jede Einzelheit erinnern konnte, wenn man bedachte, dass alles davor nur tiefe Schwärze darstellte. Doch auch diese Erinnerung war nur ein Fragment, herausgerissen aus einem kompletten Ganzen und die Anfänge weiterhin im Dunkeln lassend. Cedric wusste nicht, was sich am Morgen dieses Tages abgespielt hatte. Wusste nicht einmal um welche Uhrzeit, unter welchen Umständen er damals auf dem Fußboden seines Zimmers aufgewacht war. Er konnte sich lediglich an die alten, schäbigen Spielzeuge erinnern, die um ihn herum verstreut waren und an das Gefühl vollkommen verloren, hilflos zu sein, obwohl er nicht einmal gewusst hatte warum. Im Nachhinein war ihm bewusst geworden, dass es der Verlust aller Erinnerungen gewesen war, der ihn verwirrt die Orientierung hatte suchen lassen. Doch an jenem Tag, zu dem Zeitpunkt, als er langsam zu sich gekommen war, hatte er schlicht und ergreifend vergessen. Vergessen, dass es diese Erinnerungen überhaupt gegeben hatte. Vor Cedric’s abwesenden Augen liefen Bilder weiter, diesmal allerdings sagten sie ihm etwas. Denn es waren tatsächlich seine Erinnerungen. Dinge, von denen er wirklich wusste, dass er sie erlebt hatte. Er beobachtete - wahrscheinlich zum tausendsten Mal - wie sein sechsjähriges Ich auf wackeligen Beinen die Treppe in die Küche hinuntergeschlichen war. Mit welchem Entsetzen seine kindlichen Augen die zerstörte Frau angestarrt hatten, die tränenüberströmt auf dem Boden gesessen und den Kopf in den Händen vergraben gehabt hatte. Szene um Szene ratterte durch seinen Kopf. Wie er zu ihr gegangen war. Wie sie ihn hilfesuchend in den Arm genommen hatte. Wie sie sich an ihn geklammert hatte. Wie sie mit schluchzender Stimme mitgeteilt hatte: ‚Daddy ist weg.‘ Wie Cedric ausdruckslos gefragt hatte: ‚Wer ist Daddy?‘ Langsam kehrten seine Gedanken zurück. Schwerlich rissen sie sich vom Anblick des tränennassen, vor Verzweiflung fast zugrunde gehenden Gesichtes seiner Mutter los. Stattdessen blickte er in das der Gegenwart, sah lieber das Strahlen in den braunen Augen und das immer noch glückliche Lächeln. Sie hatte den Vater ihres Kindes, den Mann den sie wahrscheinlich einmal mehr als alles andere geliebt hatte, aus ihrem Leben gestrichen. Ich kann mich nicht erinnern. Und es war so viel einfacher für Cedric einfach dasselbe zu tun. Seine Mutter sprach nie von seinem Vater, für sie existierte er nicht mehr. Und für Cedric, der nicht einmal das Gesicht dieses Mannes kannte, es nur mit einem schwarzen, ausgebrannten Fleck identifizierte, war er ebenso wenig existent. Er hatte nie das Bedürfnis gehabt sich diesem Mann zu nähern, zu wissen wer er war. Denn in seinem Leben hatte er nie einen Stellenwert besessen und das war auch gut so. Cedric empfand keine Enttäuschung, keine Wut, keinen Hass. Er hegte nicht einmal den Wunsch, ihn in sein Leben zu lassen, denn es war alles in Ordnung so wie es war. Und trotzdem konnte er nichts gegen Momente wie diesen machen. Momente, in denen er sich einfach mit der Frage konfrontiert sah, wie es wäre, wenn sein Vater existieren würde. Wie es wäre, wenn er die Familie nicht verlassen hätte. Wie es wäre, wenn sie noch komplett wären. Cedric hätte Ewigkeiten so weitermachen können. Doch im Endeffekt war nur eine einzige der vielen Fragen wichtig: Wie wäre es, wenn er sich an ihn erinnern könnte? „Da waren wir am Meer und du hattest so starke Angst vor den Möwen. Ständig hast du dich hinter mir versteckt“, riss ihn seine Mutter aus den Gedanken, die erneut nach ihm greifen und ihn in ihren Schlund ziehen wollten. Cedric blickte rasch wieder zu ihr. Er folgte ihrem belustigten Blick und sah auf das Foto, welches seine Mutter in einem blauen Badeanzug am Strand zeigte und die, wie so oft in diesen Zeiten, in die Kamera strahlte. Hinter ihr offenbarte sich das Meer in einem schlammigen Grünblau. Cedric erkannte sich selbst, wie er die Arme um das Bein der Mutter geschlungen hatte. Die angstvollen Augen des kleinen Kindes von damals waren auf eine unbekannte Gefahr gerichtet, welche ihn dazu veranlasste, sich nahe an die Mutter zu drücken. Cedric besah sich das Bild genau. Er starrte so lange auf das fröhliche Grinsen der Frau, bis es erneut verschwand und durch ein anderes ersetzt wurde. Sofort wandte er sich wieder dem realen Bild seiner Mutter zu, betrachtete wie glücklich sie in den Erinnerungen schwelgte. Den Erinnerungen, in denen es für sie keinen Vater gab. Und Cedric wusste, wenn er aussprach, dass er sich nicht erinnern konnte, wenn er ihr diesen Umstand wieder ins Gedächtnis rief, dann würde es sie nur erneut verletzen. Die bedächtige Kruste, die sich über der leidvollen Wunde gebildet hatte, würde aufbrechen und den ganzen Schmerz hervorquellen lassen. In ihm wuchs ein Zwiespalt, jahrelang genährt von Verwirrung und Zweifeln, den er nicht überwinden konnte. Denn er wollte seiner Mutter nicht wehtun. Nicht wegen einer Sache, die ihm eigentlich vollkommen egal war. Doch im Laufe der Zeit hatten sich die Rollen des Fotos vertauscht. Nicht Cedric klammerte sich an seine Mutter, sondern sie sich an ihn. Mit Haut und Haaren wollte sie sich an ihn binden, ihn nicht mehr loslassen. War er doch der einzige Schatz, der ihr noch geblieben war. Abende wie dieser waren die Regel. Abende an denen seine Mutter vollkommen selbstverständlich erwartete, dass er sich - ebenso wie der Sechsjährige von damals - mit ihr zusammen in das kleine Wohnzimmer setzte und Fotoalben längst vergangener Tage durchforstete. Nicht nur Abende musste er so verbringen. Nachmittage hatten ihren Reiz schon lange verloren, Freizeit wurde zu einem Gut, um das er fürchten musste. Denn kaum bot sich die Gelegenheit zu entspannen, sich einfach mit sich zu beschäftigen, wartete seine Mutter meist schon mit einer neuen Idee, wie sie ihre Zeit unwiderruflich miteinander verbringen konnten. Und immer wieder schaffte sie es, die Ketten, die sie um ihn gelegt hatte, so fest zu ziehen, dass sich sein Gewissen nicht herauswinden konnte und er letztendlich nachgab. Cedric hatte schon oft den Wunsch gehegt, dass da eine andere Person gewesen wäre, die seine Mutter endlich von ihm ablassen ließ. Vielleicht wäre sein Vater diese Person gewesen. Vielleicht. Cedric starrte wieder auf die Bilder, welche wie die Diashow einer anderen Familie an ihm vorbeizogen. Fast als Bestätigung seiner Unzufriedenheit, fiel ihm wieder einmal auf, dass seine Mutter ausnahmslos Fotos von ihr und ihrem Sohn in dem Album verewigt hatte. Nicht eine einzige andere Person tauchte darin auf, nicht eine einzige andere Person ließ sie in ihr Leben. Sein Blick schweifte wieder hinauf zu der Frau, die glaubte, er gehöre ihr. Die ihn fühlen ließ, dass sein Leben nicht in seiner, sondern in ihrer Hand lag. Die ihm zeigte, dass die Freiheit, die er zuvor in seinem Zimmer gespürt hatte, nichts als eine Täuschung gewesen war. Er war nicht frei. Und das aus einem ganz banalen Grund: seinem Gewissen. Cedric betrachtete weiter das so sanft wirkende Gesicht, welches für ihn bedeutete, eingeengt, gefangen zu sein. Und wie so oft in diesen Momenten, beschäftigte ihn am Ende nur eine Frage: Würde er sich jemals von ihr lösen können? Kapitel 1: Sheet Anchor ----------------------- .♣. _______________________________________________________________________________ Ich brauch den Extrempunkt… Okay. Also muss ich… die erste Ableitung ausrechnen? Cedric beugte sich erneut über das aufgeschlagene Heft, um etwas hineinzuschreiben, während sein Kopf unablässig arbeitete. Mal schauen, x zum Quadrat abgeleitet ergibt zwei x…Und x alleine wird zu ein mal… Er kritzelte hastig einige Zahlen und Buchstaben auf das Papier. „Das hättest du sehen sollen! Der ganze Boden war verschmiert mit Sahne und-“ So… Und jetzt brauch ich die Nullstellen. Also gleich Null setzen… oder? Cedric runzelte die Stirn. Gedankenverloren legte er das Ende des Stiftes an seine Lippen, tippte sachte mehrmals dagegen. „Ich kann dir sagen, Mariella war sowas von fertig! Aber wir konnten einfach nicht anders. Jeder hat gelacht, weil-“ Okay. Dann muss ich das Drei mit einem Minus rüberbringen… Gut. Dann kommt für x Fünf raus. Schnell notierte er sein Ergebnis, ehe er sich wieder ein wenig zurücklehnte. „Und unsere Chefin erst! Die war stocksauer, das kann ich dir sagen. Mit verschränkten Armen ist sie dagestanden, wie ein Gefängniswärter. Wir konnten uns nur mit Mühe zusammenreißen, um-“ Alles klar, dann setze ich Fünf also in die zweite Ableitung ein. Scheiße, die muss ich auch noch ausrechnen…! Hastig wandte Cedric den Blick zu der tickenden Küchenuhr an der Wand. Unbarmherzig verkündete sie ihm, dass es Viertel vor Sieben war. Bald würde er aufbrechen müssen, um den Bus zur Schule noch rechtzeitig zu erreichen. „Und Maggy…! Wenn du der ihr Gesicht gesehen hättest! Sie war total entgeistert, als Mrs. Flennders-“ Mit leichtem Entsetzen in den Augen drehte sich Cedric schnell wieder zu dem Mathematikheft, beugte sich schon fast gierig darüber. Okay, also schnell jetzt. Zwei x wird zu Zwei und x hoch drei ist dann… Sein Gehirn arbeitete auf Hochtouren, versuchte die ihm so verhassten Zahlen in die richtige Form zu bringen. Konzentriert huschten seine Augen über das Papier, während er möglichst fehlerfrei die gesuchten Gleichungen notierte. „Walter, ja, der hat dann am Ende alles zusammengewischt. Hat sich ja sonst keiner bereit erklärt. Aber froh war er auch nicht, weil… Cedric? Hörst du mir überhaupt zu?“ Genau. Und jetzt Fünf einsetzen…Das gibt dann… Cedric griff nach dem Taschenrechner, wie ein Löwe mit der mächtigen Pranke nach einer zitternden Maus. Sekunden später tippten seine ruhelosen Finger eine Reihe von Zahlen in das Gerät. „Cedric?“ Sehr gut. Also das ist negativ, das heißt es ist ein… „Cedric!“ Cedric zuckte erschrocken zusammen und die Wolke aus Zahlen verflüchtigte sich rasch, um in den hintersten Winkeln seines Kopfes Schutz zu suchen. „Cedric, ich erzähle dir gerade etwas. Könntest du mir dann auch freundlicherweise deine Aufmerksamkeit schenken?!“, forderte seine Mutter mit vorwurfsvollem Ton, als er zum ersten Mal seit einer halben Stunde zu ihr aufblickte. Sie stand mit in die Hüften gestemmten Händen hinter der Küchentheke, eine Schürze umgebunden und überhäufte ihn geradezu mit ermahnenden Blicken, die noch dazu vor Entrüstung fast zu ertrinken drohten. „Mom!“, rief Cedric mit einer Spur Verzweiflung in der Stimme, die allerdings von der Übermacht an Zorn erstickt wurde. „Ich mache meine Hausaufgaben! Da kann ich nicht deinen dämlichen Geschichten aus der Arbeit zuhören.“ Er konnte förmlich beobachten, wie sich das Herz seiner Mutter selbst in Stücke riss. Und sein eigenes Sekunden darauf schon in den tödlichen Fängen um sein Leben bangte. „Natürlich.“ Die Stimme seiner Mutter war ausdruckslos, das Gesicht von einem Augenblick auf den anderen eine steinerne Maske. Mit ruckartigen, konsequenten Bewegungen machte sie sich daran das Geschirr abzutrocknen. Cedric konnte nicht umhin es trotz seiner Leblosigkeit zu bemitleiden. „Mom!“, sagte Cedric erneut, aber nun eher gequält als rebellisch. Die Verzweiflung hatte sich aus dem Würgegriff des Zorns befreit und überflutete nun seine Stimme. „Das war nicht so gemeint. Sei nicht schon wieder böse auf mich. Du kannst es mir heute nach der Schule erzählen, okay? Aber ich muss mich jetzt echt beeilen.“ Er sah sie mit einem flehenden Blick an, wartete auf irgendeine Reaktion. Eine erlösende Geste, damit er endlich diesen verdammten Extrempunkt ausrechnen konnte. „Hm…“, machte seine Mutter nur und vergewaltigte erneut einen Teller, der unfähig war seine Schreie in die Welt hinauszutragen. „Von mir aus.“ Da war er! Der beschwichtigte Ausdruck in ihrem Gesicht, als sie sich halb zu ihm wandte, gefolgt von einem freudigen Grinsen und dem Strahlen in den Augen, das er nur zu gut kannte und welches ihm grausame Magenschmerzen bereitete. „Wir können ja heute Nachmittag was zusammen unternehmen.“ Und auch heute wurde er nicht enttäuscht. Sein Magen fühlte sich an wie von tausend Messern auf einmal malträtiert. „Klar, Mom. Aber jetzt muss ich echt weitermachen.“ Ergeben lehnte sich Cedric wieder über sein Heft und hielt die letzten Erkenntnisse seiner Arbeit fest. Befreit aufatmend richtete er sich wieder auf, klappte das Heft in einer hastigen Bewegung zu und stopfte die anderen Schulsachen in den abgegriffenen Rucksack auf dem Stuhl neben sich. „Ich muss dann auch“, verkündete Cedric schließlich, während er sich schnell erhob und die Arme in die weiten Träger gleiten ließ. „Ist gut, Schatz. Vergiss deine Jacke nicht, es ist kalt draußen. Sonst wirst du krank.“ Cedric’s Mutter wartete gar nicht erst auf eine Reaktion, sondern eilte zur Garderobe, um die nicht mehr ganz so gut erhaltene, schwarze Jacke vom Haken zu nehmen und Cedric in die Hände zu drücken. „Bis später und lern schön fleißig“, trug sie ihm auf, bevor Cedric die rauen Lippen auf seiner Stirn fühlte. Sich ein genervtes Stöhnen verkneifend, hastete er an ihr vorbei, schlüpfte in seine löchrigen Schuhe und legte bereits die Hand an den Türknauf. „Ciao!“ Und schon hatte er die Tür hinter sich zugeknallt. Einen Moment wartend, um das zurückgehaltene Aufstöhnen doch noch aus sich herauszulassen, erdrückte er gleichzeitig noch die aufkeimende Frustration, die ihre Schlingen um seinen Hals winden wollte. Eine Prozedur, die sich jeden Tag wiederholte und ihn trotzdem nie ganz losließ, als er den mit weißem Kies bedeckten Weg zur Straße entlangging. Teil des mühsam gepflegten Gartens, den seine Mutter ihr Eigen nannte und dem Cedric noch nie wirklich Beachtung geschenkt hatte. Es war ihm ein Rätsel, wieso sie den letzten Rest ihres kläglichen Lohns in die Erschaffung einer Fassade ihres Lebens steckte, die die anderen Nachbarn vielleicht etwas weniger herablassend auf sie hinabblicken ließ. Cedric bezweifelte, dass ein paar hübsche Blumen den tiefsitzenden Hass auf alles Arme, alles Mittellose so einfach auslöschen konnten. Aber seine Mutter schien dieser Wunschvorstellung mit solchem Enthusiasmus nachzujagen, dass er sie ihr nicht nehmen wollte und die dadurch gewonnenen Minuten der eingebildeten Freiheit dankbar ergriff. Ich bin kein kleines Baby mehr! Wann begreift sie das endlich?! Doch im Moment erregte immer noch etwas anderes sein Gemüt. Cedric wusste, dass er sich diese Frage wahrscheinlich schon zum dreitausendneunhundertsechsundfünzigsten Mal stellte, entsprechend jedes Tages seines Lebens an den er sich erinnern konnte, und die Antwort weiterhin im Dunkeln bleiben würde. Er wollte sich nicht darauf besinnen, dass das Wahrscheinlichste die Tatsache darstellte, dass seine Mutter niemals von ihm ablassen würde. Erinnerungen an den gestrigen Abend kamen in ihm hoch. Wie er die ganzen unbekannten Bilder betrachtet hatte. Die Beweisstücke seiner Geiselnahme. Und wieder spürte er das beklemmende Gefühl in sich, welches drohte ihn zu ersticken. Nein, er wollte nicht glauben, nicht akzeptieren, dass das seine Zukunft war. Sein Leben als solche Einöde zu sehen war ihm nicht möglich, solch ein tristes Dasein als Spielball und Rettungsanker zugleich wollte er nicht führen. Deswegen krallte er sich an diese Frage und würde sie sich jeden Morgen aufs Neue stellen. Weiter rebellieren. Weiter hoffen. Zumindest in seinen Gedanken. Cedric's feuriger Zorn war wieder abgekühlt, als er bei der Bushaltestelle ankam, die gerade einmal ein paar Meter von seinem Haus entfernt lag. Er sah kurz auf, um die wenigen Schüler zu mustern, die ebenfalls auf den Bus warteten. Ein wenig abseits suchte er sich seinen Platz, nahm den Rucksack ab und zog sich seine Jacke an, genau wie seine Mutter es ihm aufgetragen hatte. Und ein weiterer stillschweigender Sieg wurde auf das ohnehin schon überfüllte Konto der Mutter geschrieben. Seufzend starrte Cedric zum anderen Ende der Straße. Er gab nach, wie immer. Weil er das schlechte Gewissen nicht ertragen konnte, welches ihn immer wieder heimsuchte, sobald er seiner Mutter einmal trotzte. Es endete immer gleich, war vollends vorhersehbar und die Gewohnheit zu unterliegen, sich nicht wehren zu können, ließ ihn schon automatisch nach dem Willen der Mutter handeln. Cedric hatte sich schlicht und ergreifend damit abgefunden. Er war nicht mehr als ein stumpfes Schoßhündchen. Seine Gedanken ließen ihn erst wieder in Frieden, als er den gelben Bus kontinuierlich näherkommen sah. Es machte sich Unruhe in der Gruppe von jungen Schülern breit und als das Fahrzeug gemächlich vor ihnen zum Stehen kam, drängten sie sich wie jeden Morgen durch die enge Tür hinein. Cedric wartete. Als letzter stieg er die wenigen Stufen hoch und machte sich auf den Weg in den hintersten Teil des Buses. Seine Augen brauchten nicht lange, um den blonden Haarschopf zu finden, auf den er gleich darauf auch gezielt zusteuerte und der sich in der Ecke der letzten Sitzreihe verschanzt hatte. Cyan hing wie immer mehr in seinem Sitz, als dass er darin saß. Um nicht vollends auf dem Boden zu landen hatte er ein Bein angewinkelt, dessen Schienbein er stützend gegen den Sitz vor ihm drückte. Sein Ellenbogen lag auf dem kaum erkennbaren Vorsprung unter dem Busfenster und ermöglichte es ihm seine Finger in einer gelangweilten Geste in den stark aufblondierten Haaren zu vergraben. Cedric hatte sich immer gefragt, warum Cyan nicht einfach mit dem ohnehin sehr hellen Blond leben konnte, das er von Natur aus besaß, aber Cyan bestand offensichtlich darauf seine Haare unnötigerweise zu foltern. Der gedankenverlorene Blick wirkte heute Morgen ein bisschen trüb, fast schon traurig, was ein seltener Ausdruck in den sonst so klaren, eisblauen Augen war. Statt dem starken Wesen, das ihnen zugrunde lag, sahen sie nun in einer sehnsüchtigen Geste aus dem Fenster und schienen sich nach irgendetwas Unsichtbarem zu verzehren, das unerreichbar bleiben würde. "Morgen, Cedi-Boy." Cedric war so gebannt von diesem Bild gewesen, dass er nicht einmal bemerkt hatte, dass Cyan den Kopf zu ihm gedreht hatte. Die Sehnsucht war aus seinen Augen verschwunden. Stattdessen umspielte das gewohnt freche Grinsen Cyan's Lippen, als er Cedric mit seinem ganz persönlichen Spitznamen versehen begrüßte. Dieser schmiss sich nur mit einem weiteren genervten Stöhnen auf den Sitz in der Mitte des Ganges und schloss die Augen, während er sich fast schon erschöpft zurücklehnte. Es bedurfte keiner Worte, um seinem langjährigen Freund klar zu machen warum, und vor allem wegen wem, er so fertig war. "Oh." Cyan schien auch verstanden zu haben, denn als Cedric den Kopf zu ihm wandte und in sein Gesicht blickte, da hatte es schon einen mitfühlenden Ausdruck angenommen. Cedric betrachtete ihn einen Moment, strich mit den Augen die feinen Linien entlang, die er in Cyan's Gesicht überall erkennen konnte. Denn, wie Cedric fand, hatte der Blonde das Glück Männlichkeit und sanfte, weiche Partien perfekt in sich zu vereinen. "Ich hasse sie", erwiderte Cedric dann auch schlicht, obwohl beide wussten, dass es nicht der Wahrheit entsprach, vielleicht sogar die größte Lüge seines Lebens war. Doch es störte niemanden, denn es war reiner Ausdruck von Wut, den Cyan Cedric anstandslos zugestand. Stattdessen wartete er nur geduldig, die ungewöhnlichen, hellen Augen, welche seine Einzigartigkeit noch unterstrichen, auf seinen Freund gerichtet bis dieser weitersprach. "Ich konnte meine Mathehausaufgaben nicht mal machen, weil sie mir von ihren komischen Sahnegeschichten aus der Arbeit erzählen musste!", erklärte er dann auch und beugte sich hinab, um seinen zuvor abgelegten Rucksack zu öffnen. "Du musst übrigens kontrollieren, ob sie stimmen. Brewster bringt mich um, wenn ich schon wieder ‘n Scheiß gemacht hab." "Sahnegeschichten." Cedric vernahm den leisen hauchenden Ton, als Cyan dieses Wort amüsiert wiederholte und konnte das zweideutige Grinsen förmlich um seine Ohren schwirren hören. "Ihnen ist die Sahne auf den Boden gefallen. Nicht das was du schon wieder denkst!", wies ihn Cedric mit einem tadelnden Blick zurecht, als er wieder zu ihm blickte und sein Matheheft erneut hervorzog. Abgesehen davon, musste er unweigerlich angewidert schaudern, wenn er in diese Richtung dachte und es seine eigene Mutter betraf. Dass man dem nichts erzählen kann, ohne dass er gleich wieder an sowas denkt... Wahrscheinlich kann er sogar in einen einzigen Buchstaben was Perverses hineininterpretieren. "Wie langweilig", kommentierte der Blonde nun die Antwort von vorhin, ignorierte Cedric's vorwurfsvolle Miene dezent und raffte sich mit einem leisen Ächzen aus seiner legeren Position auf. "Ich werd‘ alt." "Bist doch eh schon der Älteste von uns, du Greis." Cedric blätterte konzentriert in seinem Heft, um die richtige Seite zu finden, bis es ihm plötzlich aus der Hand glitt. Eine Sekunde darauf spürte er, wie das Heft gegen seinen Kopf prallte, als Cyan es ihm grinsend über den Schädel zog. "Werd nicht frech, Grünschnabel!" Cedric musste einfach schmunzeln, bevor er Cyan das Heft wieder aus der Hand riss und sofort wieder bedrückt seufzte. "Jetzt schau endlich nach, ob die Aufgabe wenigstens ansatzweise stimmt." Zugegeben, Cedric war ein launenhafter Mensch, das wusste er selbst nur zu gut. Seine Stimmung wechselte von himmelhochjauchzend zu zu Tode betrübt innerhalb weniger Sekunden und das manchmal im Dauertakt. Ihm selbst machte das nicht viel aus, er mochte es deprimiert zu sein und alles schlechtreden zu können. Nur um seine Freunde, die seine Launenhaftigkeit am Ende ertragen mussten, tat es ihm ein wenig leid. Aber ändern hätte er selbst nichts daran können und er versuchte es ehrlich gesagt auch gar nicht erst. Stattdessen gab er sich diesen Launen voll und ganz hin, genau wie eben in jenem Moment. So sehr ihn Cyan's Kommentare auch belustigten, es war schon zu spät, um ihn vor dem Sturz von der rutschigen Klippe zu retten. Seine Mutter hatte ihn bereits hinuntergestoßen. "Dann gib her. Aber jetzt erzähl erstmal, was genau wieder los war. Du hast ihr bestimmt wieder irgendwas versprechen müssen, oder?", fragte Cyan, während er Cedric erneut das Heft aus der Hand nahm und begann die letzten beschriebenen Seiten zu suchen. Cedric sah ihn eine Weile an, das Gesicht ausdruckslos und schien in seinen konzentrierten Augen nach etwas Unbekanntem zu suchen. In Wahrheit wunderte er sich nur wieder, dass Cyan, sowie alle seine Freunde, irgendwie immer zu wissen schien, wenn etwas nicht in Ordnung war. Wenn er irgendein unwichtiges Detail nicht erwähnt hatte. Ein Detail, das er auf ihr Nachfragen hin dann doch ansprach und sich trotz der Nichtigkeit immer besser fühlte. "Natürlich habe ich das", seufzte Cedric also, während er sich wieder zurücklehnte und Cyan dabei zusah, wie er die Rechenwege überprüfte. "Nach der Schule muss ich irgendwas mit ihr unternehmen. Weil sie wieder beleidigt war, als ich ihr gesagt habe, dass sie nervt." Er hatte leise gesprochen, ließ es unbedeutend wirken und betrachtete ohne jegliche Emotion die blasse Haut im Gesicht seines guten Freundes. Wie weißer Marmor wirkte die makellose Fläche seiner Wange auf ihn. „Oh, Cedi-Boy. Da hast du wieder ganz schönen Mist fabriziert...!", erwiderte Cyan mit hochgezogener Augenbraue bezüglich seiner Mathematikaufgaben. Statt auf Cedric’s Worte einzugehen, tat er einfach so, als hätte er es gar nicht gehört, wusste er doch, dass aufmunternde Ansprachen Cedric keinerlei Hilfe gewesen wären. Seinen Freunden war klar, dass er schon froh war seinen ganzen Frust mit ihnen teilen zu können und auch jetzt war Cedric dankbar, dass Cyan das Thema nicht aufbauschte, sondern sich in erster Linie auf das näherkommende Problem besann. „Man, nicht schon wieder!“, stöhnte Cedric genervt und auch mit einer Spur Verzweiflung. Die Zeit drängte. „Kannst du das schnell korrigieren? Ich weiß, ich nerv dich jeden Tag damit, aber Brewster macht mich sowas von fertig, wenn ich wieder nichts habe.“ Cedric blickte seinen Freund mit einem bettelnden Blick an. Cyan war ziemlich gut in Mathe, Cedric die hoffnungslose Null. Wenn ihm einer jetzt noch helfen konnte, dann Cyan. Wahrscheinlich wieder irgendein scheiß Leichtsinnsfehler... Dann ist die ganze Rechnung im Arsch. Man! Cyan hob den Kopf und betrachtete Cedric eine Weile schweigend, was diesen schon befürchten ließ, dass er sich weigern würde. Doch statt einer Absage war da nur dieser eingehende Blick, der Cedric veranlasste die Stirn zu runzeln. Bevor er jedoch nachfragen konnte, schmunzelte Cyan schon wieder. „Klar doch, Cedi-Boy.“ „Danke!“ Cedric atmete sofort erleichtert auf. Wenigstens in Mathe würde er heute seine Ruhe haben. Eine Tatsache, die zwar unbedeutend erschien, aber für Cedric doch eine nicht zu unterschätzende Erlösung darstellte. Die nächsten Minuten herrschte Stille, da Cyan sich damit beschäftigte, Cedric’s jämmerlich gelöste Aufgabe richtigzustellen und Cedric seinerseits die Zeit damit verbrachte seinen Kopf ein wenig frei zu kriegen. Allerdings war das gar nicht so einfach, denn anstatt ein wenig Luft zwischen die stickigen Gedanken zu zwängen, breitete sich die Giftwolke nur immer weiter aus und nahm langsam jeden Teil seines Kopfes ein. "So, fertig. Hier.“ Cedric wandte sich wieder Cyan zu, der das Heft nun zuklappte und es ihm entgegenhielt. „Du hast mich gerettet!“, kommentierte Cedric ehrlich erleichtert und stopfte das Mathematikheft zurück in seinen Rucksack. Wenigstens ein Problem hab ich gelöst. „Ich weiß“, grinste Cyan neben ihm daraufhin nur selbstüberzeugt und begab sich wieder in seine anfängliche, komfortablere Position. „Und was genau hast du dir jetzt wieder eingebrockt?“, wollte der Blonde dann plötzlich wissen. Als Cedric erneut zu ihm sah, hatte er sich wieder abgewandt und seine Augen geschlossen. Alles in allem wirkte er ziemlich gelangweilt und desinteressiert. Aber Cedric konnte seiner Stimme entnehmen, dass das nicht der Fall war und außerdem kannte er den Älteren schon lange genug, um zu wissen, dass seine Haltung meist gar nichts über seine Gedanken aussagte. „Das weiß ich noch nicht, aber du kannst dir sicher sein, dass sie zu Hause sitzt und sich den Kopf darüber zermartert, welche schmerzvolle Strafe sie-“ "Hey, Jungs." Cedric sah auf, unterbrochen in seinen dramatischen Ausführungen und mit einem Neuankömmling konfrontiert. Er hatte in seiner Gedankenlosigkeit gar nicht bemerkt, wie der Bus zum Stillstand gekommen war. „Hey, Jamie“, meinte er und schenkte dem schmächtigen Jungen mit den schulterlangen braunen Haaren, der genau vor ihm stand, ein leichtes Lächeln. Wie gewohnt ließ sich Jamie rechts neben ihm nieder und grinste wie ein kleines Kind zu ihm rüber. In der Tat erschien Jamie eher wie ein Schüler aus den unteren Jahrgangsstufen, nicht wie einer, der kurz vor seinem Abschluss stand und er konnte diese Wirkung auf andere auch kaum von sich weisen. Jamie war der Jüngste ihrer Gruppe und mit seiner zierlichen Figur, die ihn auch oft zum Ziel der Hänseleien der älteren Schüler aus ihrem Jahrgang machte, traute man ihm teils seine sechzehn Jahre nicht einmal zu. Die doch recht weiblichen, sanften Züge halfen dabei nicht gerade den Eindruck des Erwachsenseins zu fördern. Bei dem Gedanken daran musste Cedric leicht schmunzeln. Jamie war auch nicht erwachsen. Er hoffte zwar mit den weiten T-Shirts und den aggressiven Bands, die als Aufdruck gerne den Stoff zierten, ein anderes Bild von sich zu schaffen, das ihm ein wenig mehr Respekt zutrug oder ihn zumindest seinen Peinigern entgehen ließ. Aber sein naives, unschuldiges Wesen machte das gerne zunichte. Jamie war einfach zu brav. Zu kindlich. „Was grinst du so?“, fragte Cedric dann, mittlerweile wieder vom Gedanken an den Morgen ergriffen. Er hatte die Stirn leicht in Falten gelegt, wirkte aber dennoch eher abwesend und interesselos, was auch der Wahrheit entsprach. Na toll, jetzt hat sie’s wieder geschafft. Mein ganzer Tag ist versaut. „Einfach so, bin gut drauf. Und wieso schaust du wieder wie ‘ne Kanalratte?“, erwiderte Jamie und hob fragend eine Augenbraue. Cedric tat es ihm ungewollt gleich und hörte das ernsthaft erheiterte Lachen von Cyan im Hintergrund. „Kanalratte?“ Die Skepsis troff förmlich aus Cedric’s Mundwinkeln. Jamie zuckte nur mit den Schultern. „Ist mir grad so eingefallen. Aber ist doch eh egal! Was ist los?“ „Meine Mom“, grummelte Cedric nur und drehte sich wieder nach vorne. Es genügte ihm, das Ganze einmal zu erzählen. Alles andere zog ihn nur noch mehr runter. „Hm, armes Cedi-Boy“, meinte Cyan plötzlich und setzte sich wieder auf. Mit einem Schmunzeln beugte er sich leicht zu ihm, die Hände auf den freien Sitz zwischen ihnen gestemmt wie eine Katze und sah ihn mit einem belustigten Blick an. „Muss ich dich mit einem Kuss aufheitern?“ Cedric blinzelte und wich ein wenig zurück. Mit einem noch skeptischeren Blick, als bei seiner Antwort auf Jamie’s Frage, musterte er ihn von oben bis unten, ehe er langsam antwortete. „Nein, ich denke nicht.“ Cyan lehnte sich lachend wieder zurück und nahm seine vorherige Position ein, während sich Cedric schweigend wieder nach vorne wandte. Der hat heut wieder ‘n blödes Gerede drauf… Es war nichts wirklich Verwunderliches sowas aus Cyan’s Mund zu hören. Der Blonde machte gerne seine zweideutigen Scherze und da Cedric sich nun mal am einfachsten ärgern ließ, war er kurzerhand zu seinem Lieblingsopfer auserkoren worden. Ein Umstand, den Cedric selbst nicht so lustig fand und sich immer leicht reizen ließ. Und zwar bei Bemerkungen jeglichen Themas, die genau darauf abzielten, aber alle anderen schienen es zumeist sehr unterhaltend aufzunehmen, was Cedric in der Regel mit einem frustrierten Schmollen erwiderte. Doch Cyan hatte offensichtlich nicht vor ihn weiter zu piesacken und so saßen alle drei eine Weile schweigend da und starrten aus dem Fenster. Der Bus hielt nach einer Weile erneut und Cedric blickte sofort aufmerksam zur Tür. Ungeduldig fixierten seine Augen die Schar an Schülern, die sich in den Bus ergoss bis er endlich die Person sah, auf die er die ganze Zeit gewartet hatte. Als er den Jungen mit den schulterlangen schwarzen Haaren ruhig den Gang entlangkommen sah, beobachtete wie seine Lippen sich sachte über die schwarzen Metallringe unter seinem Mund legten und er leicht daran knabberte, konnte Cedric einfach nicht anders als sich besser zu fühlen. Sein Flug in den Abgrund der Depression nahm ein jähes Ende, wurde abgebremst und eine unsichtbare Hand zog ihn wieder zurück nach oben. Es kam ihm vor, als würde sich ein unnachgiebiges Licht durch den Nebel aus schwarzen Wolken in seinem Kopf kämpfen. Ein Licht, das seltsamerweise die Farbe von dunklem Blau hatte und den Augen glich, die ihn nun mit einem sanften Ausdruck ansahen. „Guten Morgen, Cedric.“ Seth war vor ihm stehengeblieben und blickte mit dem ruhigen Lächeln, das stets sein Gesicht zierte, wenn er ihn am Morgen begrüßte, zu ihm hinab. Cedric erwiderte es und erhob sich schnell, um seinen besten Freund mit einer Umarmung ebenfalls zu begrüßen, ließ sich dann aber wieder auf den Sitz fallen. Er sah erneut zu Seth hoch, der ihn ebenfalls weiter musterte und spürte, wie seine Stimmung einen neuerlichen Umschwung erlebte. Sein Kopf war wieder frei von den bedrückenden Gedanken, zumindest waren sie in ihre dunklen Ecken zurückgekehrt und würden dort wohl auch vorerst bleiben. Dank Seth fühlte sich Cedric wieder deutlich besser. Ein Umstand, der ihn keineswegs überraschte, vielmehr zur Gewohnheit geworden war. Denn seit Cedric Seth kannte, und das waren immerhin schon ganze elf Jahre, war es nie anders gewesen. Seth hatte es immer nur durch seine bloße Anwesenheit geschafft Cedric wieder fröhlich werden zu lassen. Er war für ihn wirklich wie Licht, zu dem er sich flüchtete, wenn die Finsternis drohte über ihn herzufallen. „Hey, Fettklops, du stehst im Weg“, hörte er dann plötzlich eine bekannte Stimme und kurz darauf taumelte Seth ein wenig zur Seite, da ihm ein Ellbogen einen ungeduldigen Stoß verpasst hatte. „Ich geb dir gleich Fettklops“, grinste Seth, nachdem er seine Überraschung überwunden hatte und drehte sich zur Seite, sodass der Junge hinter ihm sich vorbeizwängen konnte. „Ach was, bleib cool. Du bist wohl eher ’ne Fischgräte als ‘n Fettklops. Hatte schon Angst, du brichst auseinander, als ich dir den Stoß gegeben hab.“ Nye hatte sich auf den Fensterplatz der zwei Sitze vor Cyan gesetzt, drehte sich nun um und begrüßte seinen besten Freund mit einem Handschlag und einem breiten Grinsen. Seine blässlichen braunen Haare waren wie nicht anders gewohnt unter einem Cappy begraben und nachdem er sich wieder nach vorne gedreht hatte, machte er sich daran sein Skateboard unter dem Sitz zu verstauen. Warum schleppt er das Teil eigentlich immer mit in die Schule? Meistens geht er nachher doch sowieso nur wieder heim. Nye war ein leidenschaftlicher Skater, liebte sein Board über alles und konnte sich anscheinend nicht einmal während der wenigen Stunden, die er in der Schule verbringen musste, von dem maroden Stück Holz trennen. Es war sein Ein und Alles. „Jaja“, meldete sich Seth zu Wort und schenkte Nye ein gutmütiges Lächeln, während er sich neben ihm niederließ. Cedric wartete bis er sich wieder zu ihm umgedreht hatte, ehe er zu sprechen begann. „Ich hab keine Lust.“ Seth kommentierte das Ganze mit einem leisen Lachen von dem wieder nur ein sanftes Lächeln übrigblieb. „Das hast du nie, Cedric.“ „Ja, aber heute ist es ganz besonders schlimm. Irgendwie ist alles scheiße. Schule ist behindert und wenn ich heimkomme, hängt sich meine Mutter wieder an mich wie eine Klette“, quengelte Cedric und setzte ein verzweifeltes Gesicht auf, um seine Aussage noch zu unterstreichen. Wie immer hatte er das Bedürfnis Seth sein ganzes Leiden auf einmal auszubreiten, weil er wusste, dass er nachher einfach wieder bessere Laune haben würde. Das war wie ein Naturgesetz. „Sie fühlt sich eben auch alleine. Das weißt du doch“, erwiderte Seth und sah ihn mitfühlend an. „Du schaffst das schon. Wenn’s wirklich zu schlimm wird, dann schreib mir.“ „Es wird zu schlimm werden, also halt dein Handy bereit.“ Cedric hörte Seth’s Lachen und musste seinerseits schmunzeln. Insgeheim war er aber alleine schon für die Möglichkeit dankbar sich irgendwie abzulenken, während seine Mutter einem Bandwurm gleich, an ihm hing. „Und was ist mit mir?“ Cedric drehte sich verdutzt nach links, um herauszufinden, was mit dieser Frage gemeint war, als er vor Schreck kurz erstarrte. Cyan hatte sich wieder zu ihm gebeugt und war nun so nahe bei ihm, dass er dessen Atem in seinem Gesicht spüren konnte. Die eisblauen Augen blickten ihm intensiv und bohrend in die eigenen. „Schreibst du nur Seth und mir nicht? Ich fühle mich links liegengelassen, Cedi-Boy!“, gab Cyan in einem verletzten Ton, aber doch schmunzelnd von sich. Cedric verzog genervt das Gesicht, legte eine Hand an die Schulter seines Gegenübers und drückte ihn wieder zurück, um sich nach vorne zu drehen. „Du spinnst doch, Cyan“, machte er ihm klar und warf ihm zuletzt noch einen vorwurfsvollen Seitenblick zu. „Wenn es dich glücklich macht, dann schreib ich dir eben auch. Um dein Selbstbewusstsein zu erhalten. Weil die tausend Mädchen am Tag reichen anscheinend nicht mehr aus.“ „Danke, Honey“, grinste Cyan strahlend und legte zwei Finger an die Lippen, um Cedric kurz darauf eine Kusshand zufliegen zu lassen. Dieser überdrehte nur die Augen und wandte sich wieder zu Seth. „Wo war ich? Ach ja, meine Mom. Heute Morgen hat sie mich einfach rücksichtslos zugelabert, von wegen ihre Arbeitskollegin hätte...“ Cedric begann Seth alles haarklein zu erzählen, wobei er natürlich sein eigenes Leiden in den Vordergrund stellte und mit allerlei Metaphern ausschmückte, um es auch wirklich ‚richtig‘ darzustellen. Seth seinerseits hörte nur geduldig zu, nickte hin und wieder und ertrug Cedric’s Gejammer widerstandslos mit einem amüsierten Schmunzeln auf den Lippen. Seth war wohl neben Aleksi die einzige Peron, die wirklich stundenlang die Probleme anderer über sich ergehen lassen konnte, ohne auch nur im Entferntesten gelangweilt oder genervt zu sein. Für Cedric der Himmel auf Erden, denn er hatte genug Dinge über die er sich beklagen konnte. Oder wollte. Und so nutzte Cedric diese Möglichkeit auch in vollem Maße den Rest des Weges aus, indem er Seth von dem nervigen Wirrwarr des Morgens berichtete. Die Fahrt zur Schule dauerte nicht mehr lange, weswegen Cedric immer noch am Sprechen war, als der Bus schnaufend vor dem großen, weißen Gebäude zum Stehen kam. Es war ein sehr modernes Bauwerk mit vielen großen Fenstern und einem schwarzen Flachdach. Auf Cedric wirkte es immer eher wie eine Universität für irgendwelche neuartigen Technologien, Dinge mit denen er nichts anfangen konnte und weswegen er sich auch alleine des Anblicks wegen unwohl und fehl am Platz fühlte. Einzig die große, wuchtige Mauer aus grauem Stein, die das ganze Gelände umgab, bildete zusammen mit dem schweren, schwarzen Eisentor, welches zu dieser Uhrzeit natürlich weit offenstand, einen seltsamen Kontrast zwischen Vergangenheit und Moderne. Cedric erschien es allerdings paradox, dass ein Gebäude, welches solche Offenheit ausstrahlte, von einer dicken Mauer eingesperrt wurde. Die fünf Jungen kamen als letzte aus dem Bus und steuerten, jeder in seine Gespräche vertieft, auf den einzigen Verbleibenden aus ihrer Gruppe zu. Aleksi war kaum zu übersehen, eine große schwarze Gestalt inmitten einer kleinen bunten Menge. Der ohnehin sehr großgewachsene Junge trug, gemäß seinem ungewöhnlichen Kleidungsstil, Plateauschuhe, die ihn noch ein gutes Stück in die Höhe schießen ließen. Er war blass, was sich durch die ausnahmslose Schwärze seiner Kleidung noch deutlicher abhob und seine langen Haare reichten nur für eine Seite seines Kopfes. Die andere Hälfte zierte seine blanke Kopfhaut. „Guten Morgen“, begrüßte sie Aleksi und Cedric wunderte sich einmal mehr, wie die Stimme des Jungen so ruhig und sanft sein konnte, wo in dem schwarz geschminkten Gesicht doch so viel anderes hätte schlummern können. Doch Aleksi’s ebenfalls schwarz bemalte Lippen hatten sich nur zu einem freundlichen Lächeln verzogen mit dem er jeden von ihnen bedachte. Sein aggressives, obszönes Äußeres spiegelte sein stilles, mitfühlendes Wesen nicht einmal ansatzweise wider. Er war vielmehr der Ruhepol der Gruppe und Anlaufpunkt für jeden, der sich mit einem Problem überfordert fühlte. Aleksi kam ursprünglich aus Finnland, was man ihm abgesehen von seinem Namen aber in keinster Weise anmerkte. Obwohl es nur drei Jahre waren, seit denen er nun in den Vereinigten Staaten lebte, sprach Aleksi ein perfektes, akzentfreies Englisch und hatte sich auch so voll und ganz auf sein neues Leben umgestellt. Seinen Eltern hingegen hörte man ihre Herkunft sehr wohl an, Cedric fiel es manchmal sogar ziemlich schwer die Worte mit dem schweren, nordischen Akzent zu entwirren. „Wie war das Theater gestern?“, fragte Seth, nachdem er Aleksi umarmt und auch der Rest die Begrüßung erwidert hatte. „Angenehm. Die Schauspieler waren wirklich begabt und haben das Werk in einer herausragenden Art und Weise umgesetzt, sodass ich mir durchaus vorstellen könnte, das demnächst zu wiederholen“, antwortete Aleksi, woraufhin sich Cedric schmunzelnd und mit einem verborgenen Kopfschütteln abwandte. Diese Ausdrucksweise passt so ganz und gar nicht hierher. Und genau das macht ihn so sympathisch. Das macht ihn zu ihm. Cedric wollte sich gerade an Jamie wenden, um zu erfahren, ob er für Physik gelernt hatte, als sein Blick auf Cyan fiel. Dieser zog gerade gemächlich sein Päckchen Zigaretten aus der hinteren Hosentasche hervor und klopfte es leicht an seine Hüfte, um sich eine davon herauszuholen. „Muss das schon wieder sein?“ Cedric konnte sich nicht zurückhalten, es war wie ein Drang, der ihn dazu animierte sich gegen diese Angewohnheit von Cyan zu stellen. Der Blonde allerdings hatte die Zigarette bereits zwischen die Lippen genommen und den Kopf leicht gesenkt, während er die Hände zu einer Mulde formte, um sie anzuzünden. Als er Cedric hörte, sah er kurz auf, was ihn die Stirn in Falten legen ließ. Dieser Ausdruck blieb, als er die Arme wieder sinken ließ, samt Zigarette, und den Kopf leicht hob, um den Rauch in die Luft über sich zu blasen. „Cedi-Boy! Nicht schon wieder eine Predigt.“ Cedric seufzte. Cyan brachte ihn wie immer in einen sinnlosen Zwiespalt. Er hasste Rauchen, es stank erbärmlich und führte auf lange Sicht nur zu Gesundheitsschäden, die einfach nur ekelhaft aussahen. Oder zum Tod. Letzteres wahrscheinlich im Endeffekt immer. Aber Cyan war der lebende Beweis dafür, dass es eben einfach auf eine gewisse Art und Weise doch gut aussah. Es passte zu ihm. Er ist einfach nicht wie wir anderen. Er sieht überdurchschnittlich gut aus, ist beliebt. Und selbst wenn er raucht, wirkt es mit diesem verschlafenen Blick, den er gerade wieder draufhat, so lässig und cool, dass man ihm gar keinen Vorwurf machen kann. Das erklärt, warum ihm die Mädchen in Scharen hinterherlaufen. Cedric beneidete Cyan. Nicht wegen der Mädchen, ihn interessierten keine Beziehungen oder irgendwelche Schwärmereien. Eigentlich war er sogar ganz zufrieden mit dem was er hatte. Aber ihre Gruppe war abgeschottet, hatte irgendwie doch einen Außenseiterposten inne. Auch wenn sie in Ruhe gelassen und keineswegs angepöbelt wurden. Kaum einer von ihnen hatte großartig Kontakte zu anderen, Cedric erging es am schlimmsten, was aber nicht zuletzt daran lag, dass er sie teils mied. Doch auch der Rest kam zwar gut mit den meisten klar, wurde aber im großen Schulalltag wie eine kleine Ameise übersehen. Außer Cyan. Der Blonde zählte zu den Beliebtesten an der ganzen Schule, wurde von unzähligen Mädchen umschwärmt und nutzte dies auch zu Genüge aus. Er kam mit den Jungen gut klar, unternahm viel mit ihnen und war zu jeder Party eingeladen. Am Gang kam er kaum weiter, weil ihn immer irgendjemand ansprach, auch wenn er kein ‚Star’ war. Denn Cyan mochte zwar die Geselligkeit und das freundschaftliche Verhalten, zog sich aber aus dem Mittelpunkt lieber zurück. Und blieb Teil der kleinen, unscheinbaren Gruppe, zu der sich auch Cedric zählte. Ich hab keinen Plan, warum. Aber ich bin froh, dass es so ist. Cedric hatte schon oft daran gedacht, wie es wäre, wenn der Blonde, den er schon seit seinem achten Lebensjahr kannte, einfach weg wäre. Wenn er sich zu den anderen beliebten Leuten gesellt hätte. Der Gedanke daran einen so guten Freund einfach zu verlieren bedrückte ihn, weswegen er auch nur ein widerwilliges Grummeln als Antwort auf Cyan’s Aussage von sich gab. Lieber wollte er still sein, als ihm einen Grund zu geben, um sich von ihnen abzuwenden. Ich bin so hohl. Cedric sah sich um, das Gesicht leicht verärgert. Cyan würde sowas nie tun. In der Tat war Cedric’s Sorge vollkommen unbegründet, denn sein Freund reagierte auf seine Beschwerden ohnehin immer scherzend und schien auch eher belustigt, als genervt zu sein. Weswegen es auch nicht verwunderlich war und Cedric trotzdem beruhigte, dass er plötzlich den Arm um seine Schulter legte, um sich zu ihm zu beugen. „Cedi-Boy, was ist los? Hab ich dich gekränkt? Oh, tut mir leid, Honey“, säuselte er und Cedric rümpfte angewidert die Nase, als ihm der beißende Geschmack des Rauchs in die Nase stieg. Cyan hauchte leicht, als er ein schiefes Grinsen aufsetzte und dann weitersprach. „Du weißt, ich steh immer noch auf dich, ja?“ Cedric verzog den Mund, sah ihn abwertend an und trat einen Schritt nach vorne um sich von ihm zu lösen. „Halt’s Maul, Cyan.“ Cyan lachte laut, ehe er wieder an seiner Zigarette zog. Die Antwort war mittlerweile zu Cedric’s Standarderwiderung geworden, was Cyan’s anzügliche Neckereien anging. Unberührt wandte er sich endlich an Jamie und überließ den anderen seiner Liaison mit dem Rauch. Die wenigen Minuten, die sie Zeit hatten, waren schnell verstrichen und nachdem Cyan endlich seine Zigarette ausgedrückt hatte, machten sich die Jungen auf den Weg durch das hohe Eisentor. Der Hof, der sich einige Meter vor dem Gebäude erstreckte, war kaum mit Gras bewachsen, da der Boden von den Massen an Schülern unlängst zu einer steinharten Platte getreten worden war. Das einzige Grün stellten einige Ulmen und Birken dar, die vereinzelt über den Hof verstreut waren. Ich werd wohl oder übel den Aufenthalt in der Schule genießen müssen. Der Nachmittag kann nur schlimmer werden. Mit diesen erbauenden Gedanken folgte Cedric seinen Freunden durch die große Glastür, die ihm schon den Blick auf den Gang seiner schöngeredeten Beschäftigung freigab. „Cedric, was schaust du denn schon wieder so?“ „Lass mich doch…“ Cedric hatte demonstrativ die Arme verschränkt und lehnte sich zurück, als er diese doch recht patzige Antwort auf Jamie’s ehrlich besorgte Frage hin brummte. Die sechs Jungen saßen an einem der langen, überfüllten Tische in ihrer großen, ebenso überfüllten Cafeteria und hatten alle einen verschmutzten, bereits leeren Teller vor sich. Außer Seth, der wie gewöhnlich nichts gegessen hatte und auch auf das sanfte Drängen von Aleksi hin nicht nachgeben wollte. „Ist es immer noch wegen der Sache mit deiner Mom?“, fragte Jamie nach und legte leicht den Kopf schief. Cedric warf ihm einen Seitenblick zu, ehe er wieder mit einem wütenden Gesicht nach vorne sah. „Warum denn sonst?“ Er wollte eigentlich nicht so unfair sein und nun schon wieder seine Laune an seinen Freunden auslassen, die sich nur ernsthafte Sorgen um ihn machten. Aber genau das ließ ihn irgendwie so aufbrausend sein, eine Reaktion, die schon fast zu dem ganzen Tamtam dazugehörte. Jamie sah ihn ein wenig verzweifelt an, verständnislos, warum er ihn denn nun so anfuhr. „Aber Cedric, wenn-“ „Ach, mein Cedi-Boy will doch nur, dass ich ihn ein wenig aufheitere“, hörte Cedric Cyan plötzlich ganz nah bei seinem Ohr. Eine Hand legte sich um ihn und blieb locker auf seiner Hüfte liegen. „Nicht wahr?“ Cedric’s Augen wanderten zu Cyan, den Kopf drehen war so gut wie unmöglich, ohne ihm noch näher zu kommen. Sein Blick war weiterhin frustriert, als er trocken antwortete: „Na, aber sicher doch…“ Was ist denn mit dem heute los? Langsam übertreibt er’s wirklich… Er konnte sich keinen Reim darauf machen. Cyan ließ auch wieder ganz brav von ihm ab und wandte sich zu Nye, um mit ihm über irgendeine Party am Wochenende zu diskutieren. Aber Cedric legte leicht die Stirn in Falten, als er ihn eine Weile beobachtete. Es war nicht ungewöhnlich, dass er öfters an einem Tag solche Zweideutigkeiten zum Besten gab. Aber heute schien ihm zu jeder Aussage Cedric’s etwas Verhängnisvolles einzufallen. „Cedric“, machte ihn Seth plötzlich leise und ruhig auf sich aufmerksam. Er wartete bis Cedric sich zu ihm umgewandt hatte, bevor er mit einem leisen Lächeln fortfuhr. „Hast du meine SMS gestern bekommen?“ Cedric blinzelte. „SMS?“ Anscheinend nicht… Nein, warte! „Oh, ich hatte mit meiner Mutter wieder das Vergnügen Fotoalben anzusehen. Mein Handy war oben und danach hab ich auch nicht mehr draufgesehen, sorry“, erklärte er sich schnell und kramte das uralte Mobiltelefon aus seiner Hosentasche, um nach der ungelesenen Nachricht zu suchen. Da war sie auch, Seth hatte lediglich gefragt wie es ihm ging. „Es war nichts Wichtiges. Ich hatte mich nur gewundert, dass du nicht zurückgeschrieben hast“, meinte Seth, da er anscheinend Cedric’s fragenden Blick auf das Display bemerkt hatte. „Und war’s okay? Also das Fotoalben ansehen?“ Cedric blickte erstaunt auf, als er den vorsichtigen Ton in Seth’s Stimme hörte. Der andere sah ihn mit einem unsicheren und besorgten Gesichtsausdruck an, der Cedric ein warmes Gefühl im Inneren bereitete. Seth wusste ganz genau, das Cedric immer wieder mit der schwarzen Gestalt und den erinnerungsleeren Bildern kämpfte, sich im Anschluss meist doch schlecht fühlte. Auch wenn es nur wegen seiner Mutter und nicht aber wegen dem bezugslosen Vater war. „Ja, mach dir keinen Kopf. Das Übliche halt. Ist schon wieder vergessen.“ Cedric bemühte sich ihm auch wirklich das entspannte Gefühl zu vermitteln, das er selbst spürte. Die ganze Angst, das Gefühl des Gefangenseins von gestern, waren schon wieder verblasst. Zwar tauchte letzteres gerade wieder auf, aber bedingt war es durch den Vorfall am Morgen und die Aussicht auf den Nachmittag. Seth brauchte sich keine Sorgen zu machen. Und er tut’s doch. Cedric musste bei dem Gedanken schmunzeln. Manchmal wunderte es ihn, wie mitfühlend Seth war, was seine Situation anging. Er konnte sie nicht nachvollziehen, war in einer reichen, heilen Familie aufgewachsen und kannte solche Miseren nur aus dem Fernsehen. Und doch ließ er sich in die ganze Sache mit hineinziehen, so tief wie es nötig war, um Cedric eine Stütze, sein Rettungsanker zu sein. Cedric war ihm unendlich dankbar dafür, würde er es ohne ihn doch keine Woche aushalten. „Cedi-Boy!“ Cedric drehte sich wieder um, damit er sehen konnte, weshalb Cyan schon wieder mit diesem entrüsteten Ton sprach, als er schon spürte, wie seine Hand von einer anderen umfasst wurde. Er blinzelte verdattert, versuchte sie der plötzlichen Kälte, die merkwürdigerweise immer von Cyan ausging, zu entziehen. Doch der andere hielt sie eisern fest, zog sie sogar hoch zu seiner Wange und legte sie darauf. Cedric konzentrierte sich unweigerlich auf das befremdliche und doch angenehme Gefühl, als seine Hand überall von der niedrigeren Temperatur umfasst wurde. „Lässt du mich nun schon wieder einfach so sitzen? Immer gibst du dich nur mit Seth ab, das verletzt mich“, schmollte er und war dabei so überzeugend, dass Cedric’s Herz kurz einen Satz machte, weil er schon dachte der andere meine es ernst. Aber selbst Cyan konnte das leise Schmunzeln um seine Lippen nicht verbergen, was Cedric sogleich Ansporn gab ein finsteres Gesicht aufzusetzen. Erneut versuchte er seine Hand zu befreien. „Lass den Scheiß, Cyan. Wenn du dich nicht beachtet fühlst, dann geh doch zu der Schar Mädchen, die dich schon die ganze Pause angaffen.“ „Bist du eifersüchtig?“, entgegnete der Ältere auf das Knurren von Cedric, der sich einfach nicht aus dem kräftigen Griff lösen konnte. „Das gefällt mir.“ Cedric hielt inne, als er den schnurrenden Unterton hörte und starrte Cyan kurz noch perplexer an als zuvor. Das war eindeutig zu viel, seine Scherze hatte er nie so weit getrieben. Cedric war verwirrt deswegen, doch er schob es kurzerhand einfach auf die Tatsache, dass Cyan ihn nur noch mehr ärgern wollte und wusste, dass er mit Annäherungen jeglicher Art vollkommen überfordert war. Er schaffte es nicht einmal ein anständiges Gespräch mit irgendwem zu führen, den er nicht kannte. Jahrelange Absenz vom sozialen Leben hatte seine zwischenmenschlichen Kompetenzen nicht gerade perfektioniert. „Du spinnst doch. Hau ab, verdammt. Und lass mich endlich mal los!“, fuhr Cedric ihn in gewohnter Manier an und versuchte weiter seine Hand endlich vor der weichen, kühlen Wange zu retten. Man war schon lange nicht mehr geschockt ihn so forsch zu hören, wenn er wieder einmal Opfer von Cyan’s Spielereien war. Und wusste ohnehin, dass es nur der Hilflosigkeit entwuchs. „Und schon wieder weist du mich zurück. Es ist frustrierend, Cedi-Boy“, antwortete Cyan, lachte allerdings kurz darauf und ließ Cedric auch wie gefordert los. Dieser zog seine Hand sofort zurück, warf ihm einen unmissverständlich warnenden Blick zu und wandte sich wieder zu Seth. „Dieser Depp“, murmelte er so leise, dass Cyan es nicht hören konnte, was Seth lediglich mit einem amüsierten Schmunzeln kommentierte. Es herrschte kurz Stille, bevor Cedric sich plötzlich einer Erinnerung entsann. „Sag mal, du warst doch gestern mit deiner Schwester shoppen. War das nicht todanstrengend?“ Seth gab auf die Frage hin sein typisches, hauchendes Lachen von sich, das Cedric als sehr beruhigend und angenehm empfand und so auch wieder die Möglichkeit hatte, sich voll und ganz auf ihn zu konzentrieren. „Ja, war ich. Aber nach drei Stunden war es wohl anstrengender für Alix als für mich.“ Cedric konnte einfach nicht anders, als grinsend den Kopf zu schütteln. „Warum frag ich überhaupt? Das hätte ich mir eigentlich denken können.“ Seth’s kleine Schwester Alix war vierzehn und liebte es natürlich, wie jedes andere Teenagermädchen auch, Unmengen an Klamotten zu kaufen. Glücklicherweise besaß ihre Familie genug Geld um dieses Hobby auch ausreichend zu finanzieren und ihr Bruder war dem Einkaufen ebenfalls hoffnungslos verfallen, weswegen sie ihn auch oft genug mitschleifen konnte. Allerdings überstieg Seth’s Begeisterung für Kleidung sogar den seiner Schwester, und das um einiges, weswegen Cedric sich das genervte Mädchen auch gut vorstellen konnte, wie sie mit verschränkten Armen ungeduldig mit der Schuhsohle auf den Boden tippte. Immerhin hatte er selbst oft Stunden in derselben Situation verbracht. „Und was hast du dir wieder alles gekauft?“, fragte Cedric schließlich amüsiert und Seth begann den Rest der Pause dazu zu nutzen, ihm alle möglichen Arten von neuen Kleidungsstücken aufzuzählen, während Cedric ihm nur leicht schmunzelnd zuhörte. Ich schaff das nicht mehr… Es geht echt nicht… Cedric lehnte sich mit einem lauten Seufzer auf seinem Stuhl zurück, ließ die Arme schlaff nach unten hängen und rutschte mit geschlossenen Augen noch ein bisschen tiefer nach unten. Die Mathematikstunde hatte er gerade mehr oder minder glorreich hinter sich gebracht, was so viel heißen sollte wie eine Unterrichtsstunde ohne peinliche Offenbarung seiner miserablen Mathematikkenntnisse. Stattdessen hatte er sie nur über sich ergehen lassen müssen und war zum Glück nicht auf seine korrekten Hausaufgaben angesprochen worden, die natürlich dank Cyan’s Hilfe absolut richtig waren. Cedric wusste genau, dass er von seinem Lehrer nur einen skeptischen Blick geerntet hätte. „Was ist los, Cedi-Boy?“ Cedric öffnete die Augen und konnte gerade noch zusehen, wie sich Cyan in einer kleinen springenden Drehung auf seinen Tisch setzte. Er hatte einen halb gegessenen Apfel in der Hand und biss nun erneut davon ab, ehe er abwartend zu Cedric sah. „Mathe“, war dessen knappe Antwort. Er seufzte erneut und schloss wieder die Augen. Die einzige kleine Pause zwischen den Stunden, die er nicht dazu nutzen musste in ein anderes Klassenzimmer zu gehen, wollte er einfach nur in völliger Entspannung verstreichen lassen. Stattdessen hatten sich Cyan und Nye in dem Raum eingefunden, in dem Cedric zuvor mit Seth, Jamie und Aleksi Mathematik gehabt hatte. Jetzt waren die drei auf dem Weg zu ihren jeweiligen Kursen, während Cyan, Cedric und Nye darauf warteten, dass der Geschichtslehrer eintrudelte. Also schickte Cedric sich erst einmal an einfach nichts zu tun. Immerhin war Nye, wie er durch einen kurzen Blick erkennen konnte, damit beschäftigt sich auf seinem Platz noch die letzten Informationen über die Geschichte der Vereinigten Staaten in den Kopf zu pressen. Somit blieb nur noch Cyan übrig, der ihn von seinem entspannenden Vorhaben abhalten konnte. „Ach, komm schon. So schlimm war’s bestimmt gar nicht.“ Cedric konnte das Grinsen in Cyan’s Stimme hören, was ihn dazu veranlasste die Augen zu öffnen und ihn mit erhobenen Augenbrauen anzusehen. Cyan grinste nur weiter vor sich hin, biss wieder in seinen Apfel und bewegte seine Beine ein wenig, was ihn noch amüsierter wirken ließ. Cedric beobachte ihn ein wenig. Es sah komisch aus, weil Cyan viel zu groß war und selbst in sitzender Position ohne Probleme die Füße den Boden berührten. „Es war Horror. Genau wie der ganze beschissene Tag Horror ist“, brummte Cedric nur und schloss wieder die Augen. Er hatte keinen Nerv dafür sich jetzt das Geplänkel des anderen anzutun, der sein Leiden ohnehin nicht verstehen konnte. Immerhin war Cyan ja ein Ass in Mathe. „Cedi-Boy! Wenn ich dich so sehe, dann muss ich dich in den Arm nehmen und dich trösten. Willst du das?“, hörte er Cyan immer noch grinsend feixen und ehe er sich versah, hatte jemand seine Arme umfasst und ihn hochgezogen. Cedric öffnete überrascht die Augen, als er sich gezwungenermaßen aufrichtete, doch da wurde sein Gesicht schon an einem ziemlich muskulösen Bauch begraben und er sah rein gar nichts mehr. „Lass das, Cyan!“, nuschelte er in den Stoff des T-Shirts, durch den er immer noch ein wenig von der seltsamen Kälte spüren konnte und von dem der angenehme Geruch eines Männerparfums ausging. Er versuchte sich zurückzulehnen, sträubte sich gegen die kräftigen Hände, die sich jetzt in einer umarmenden Geste um seinen Kopf legten. „Ach, komm schon, Kleiner. Ich will doch nur ein wenig mit dir kuscheln“, erwiderte Cyan, lachte amüsiert und drückte ihn noch ein wenig mehr an sich. Cedric gab einen erstickten, widerwilligen Laut von sich, als sein Gesicht noch fester gegen den durchtrainierten Oberkörper gedrückt wurde. „Ich krieg… keine Luft…!“, brachte er angestrengt hervor und stemmte die Hände gegen die Tischkante, um sich von seinem Peiniger wegzudrücken. Cyan ließ auch endlich los, woraufhin Cedric tief Luft holend aufschaute und mit einem herzhaften Lachen konfrontiert wurde. „Muss das denn immer sein?!“, fauchte er und fixierte ihn mit seinen grauen, wütend funkelnden Augen. „Ich will eben in deiner Nähe sein, Cedric.“ Cedric blinzelte. Cyan hatte diese Worte so sanft und mit einem solch warmen Gesichtsausdruck gesagt, dass Cedric einfach nicht anders konnte, als ihn perplex anzublicken. Alle aufwühlenden Gefühle waren mit einem Schlag verstummt, es herrschte nur eine seltsame, dumpfe Leere in seinem Kopf, die überrascht umher schwebte. „Endlich zeigst du eine Reaktion, Honey! Weißt du wie lange ich darauf gewartet habe, dass du diese distanzierte Maske abnimmst?“ Cedric stöhnte genervt auf, als sich Cyan’s Lippen keine Sekunde darauf zu einem mehr als erheiterten Grinsen verzogen und seine theatralische Untermalung ließ die dramatische Wortwahl hoffnungslos unglaubwürdig erscheinen. Die Leere füllte sich wieder mit Leben und sein Kopf begann erneut seine alltäglichen Arbeiten aufzunehmen. „Du hast sie einfach nicht mehr alle!“, antwortete Cedric, konnte aber nicht umhin zu schmunzeln, was er mit einem Blick auf den Boden versuchte zu verstecken. Der Junge rutschte auf seinem Stuhl wieder etwas nach vorne und hob den Arm, um Cyan einen kleinen Schlag gegen die Stirn zu geben. Aber kaum hatte er das getan und wollte seine Hand wieder zurückziehen, spürte er plötzlich das Gefühl von kalten Lippen an einer Fingerspitze, welche kurz darauf von ihnen umschlossen wurde. Cedric blickte erschrocken auf, ehe er noch entsetzter zurückzuckte, um seinen Mittelfinger von dem überfordernden Gefühl zu befreien, das Cyan’s feuchte Zunge gerade daran ausgelöst hatte. „Lass den Scheiß!“, fuhr er ihn an, aber mehr aus Hilflosigkeit als aus Wut. Er wusste nicht, wie er mit dieser absurden Situation umgehen sollte. Es war zuviel Körperkontakt involviert, zuviel Nähe mit der er nicht klarkam und die ihm auch genauso unbekannt, wie unverständlich war. Cyan allerdings kicherte nur amüsiert und sprang, kurz einen Kussmund formend, vom Tisch. Der Lehrer hatte das Zimmer betreten, was allgemeine Bewegung in die Schülerschaft brachte. Jeder, auch Cyan, begab sich wieder an seinen Platz. Was sollte das denn jetzt? So…weit ist er ja noch nie gegangen. Cedric schluckte. Sein Herz klopfte immer noch ein wenig schneller, was ihm ein unangenehmes Gefühl in der Brust bescherte. Ich verstehe ihn heute einfach nicht. Warum macht er das denn bloß? Cedric setzte sich wieder anständig hin und rutschte mit dem Stuhl ein wenig vor, um seine Mathematiksachen langsam wegzuräumen und sich für den Geschichtsunterricht vorzubereiten. Seine Gedanken allerdings ließen nicht von der absurden Situation ab, was ihn ein wenig zu ärgern begann. Mit hartnäckigem Eifer versuchte er die ungewollten Bilder beiseite zu drängen, was sich als schwieriger als gedacht herausstellte. Nachdem Cedric die Hefte und das schwere Buch auf den Tisch gelegt hatte, wandte er den Blick automatisch wieder leicht zu Cyan. Eingehend betrachtete er den blonden Jungen, der etwas versetzt vor ihm saß und dessen Blick nun ausdruckslos auf den Lehrer gerichtet war, welcher schon längst mit seinem Unterricht begonnen hatte. Cedric allerdings wusste nicht einmal über was er sprach. Vielleicht sollte ich ihn einfach fragen? Er hat sicher einen Grund, warum er zurzeit so extrem- Cedric verwarf die Idee innerhalb dem Bruchteil einer Sekunde, als er schaudernd zusammenzuckte. Er hatte sich instinktiv das Gefühl noch einmal in den Kopf gerufen, hatte imaginär gespürt, wie die warme und doch vergleichsweise kühle Zungenspitze über seine Haut geglitten war. Die hauchzarte Berührung war nur ganz kurz gewesen und doch hatte sie sich so intensiv angefühlt, dass Cedric’s Herz wieder ein wenig mehr zu pochen schien. Dieser Volltrottel! Er weiß ganz genau, dass mich so was… so was aus der Bahn wirft. Cedric spürte, wie er sich zunehmend unwohler fühlte. Und von Neuem begann sich für sein überreiztes Gefühlswesen zu schämen. Er empfand es schon als ungemeine Belastung wegen jeder Berührung einer fremden Person zusammenzuzucken, was es umso schlimmer machte, dass nun auch noch Cyan begann ihn dazu zu bringen, dass er völlig überfordert nach einem Weg suchte irgendwie mit seinen starken Empfindungen klarzukommen. Dabei hatte er sich bei seinen Freunden wenigstens sicher gefühlt, sicher vor sich selbst. Ich muss ihm unbedingt sagen, dass er damit aufhört. Cedric’s Blick war weiterhin auf Cyan gerichtet, der sich anscheinend auf den Unterricht konzentrierte, was Cedric ein Schmunzeln abrang. Cyan war nicht besonders begeistert von Geschichte, sagte immer es sei ihm zu trocken. Dabei wusste jeder von ihnen, dass das nur eine faule Ausrede war, um zu verstecken, dass ihn eigentlich kein einziges Fach interessierte. Außer Sport, für den er lebte. Cedric wollte gerade wieder in seine Gedanken abgleiten, die sich um Cyan’s komische Beziehung zu Basketball drehten, als er am Rande seiner Wahrnehmung bemerkte, wie sich etwas Blondes zu bewegen schien. Sofort kehrte er in die Realität zurück und blickte gespannt auf Cyan, der sich zu ihm umgedreht hatte. Was hat er jetzt wieder- Cedric vergaß seinen Gedankengang einfach, beobachtete schweigend wie Cyan sich noch einmal prüfend nach dem Lehrer umschaute, der an der Tafel murmelnd etwas anschrieb. Und eine Sekunde darauf hob er die Hände und formte daraus grinsend ein Herz, das Cedric überdeutlich entgegenstrahlte. Cedric blinzelte perplex, spürte wie sich die windenden Fäden aus Scham langsam durch seinen Körper zogen. Instinktiv gruben sich wütende Furchen in seine Stirn und er wandte sich hastig von dem belustigten Cyan ab, ehe sich dieser auch wieder nach vorne drehte. Der gehört doch echt eingeliefert…! Toll, jetzt hat das auch noch jeder gesehen… Cedric traute sich erst gar nicht einen Blick zu riskieren. Aber die Angst und Neugier waren doch stärker, weshalb er unter gesenkten Lidern langsam nach links und rechts blinzelte. Einige Schüler, Jungen und Mädchen die nicht zu gebannt vom Unterricht gewesen waren, schauten kurz verwirrt in seine und auch Cyan’s Richtung. Zu Cedric’s Erleichterung war ihnen das Ereignis aber anscheinend doch zu uninteressant, denn schon ein paar Sekunden darauf fühlte Cedric sich wieder unbeobachtet. Der Junge atmete einmal tief durch. Trotzdem spürte er, wie ihm ungewollt die Hitze ins Gesicht stieg und sich mit einem wahrscheinlich ziemlich sichtbaren rötlichen Schimmer um seine Wangen legte. Vergiss es einfach. Einfach ignorieren. Die vergessen das schon wieder. Cedric redete noch eine ganze Weile auf sich selbst ein, um endlich wieder zur Ruhe zu kommen. Es dauerte seine Zeit, doch letztendlich hatte er auch dieses seltsame Erlebnis wieder abgetan. Allerdings konnte Cedric nicht umhin noch einmal zu Cyan zu blicken, der wieder voll und ganz dem Lehrer seine Aufmerksamkeit geschenkt hatte. Cedric legte den Kopf leicht schief, während er immer noch versuchte sich endlich auch auf den Unterricht zu konzentrieren. Aber eines nagte weiterhin an ihm. Cyan verhielt sich merkwürdig. So viel war sicher. „Cedric, ich habe eine ganz tolle Idee, was wir heute Nachmittag machen können!“ Cedric hatte noch nicht einmal die Haustür wieder hinter sich geschlossen, als er schon mit einem leisen Seufzer aufblickte und seine Mutter mit ausgebreiteten Armen vor ihm stand. Er ließ sich widerwillig in eine Umarmung ziehen, die mit einem überschwänglichen Küsschen auf seine Lippen endete. „Ganz toll, Mom. Und was?“, murmelte Cedric tonlos, während er an ihr vorbeitrottete und seinen Rucksack von der Schulter auf den leeren Küchenstuhl gleiten ließ. Sein Inneres begann jetzt schon sich widerspenstig aufzubäumen, was er mit aller Kraft versuchte niederzuringen. Er hatte noch einige Stunden bevorstehen. „Wir werden einkaufen gehen! Ich brauche unbedingt neue Pullover und so ein schöner gemeinsamer Einkaufsbummel, den hatten wir doch schon lange nicht mehr, oder?“, verkündete seine Mutter immer noch freudestrahlend und schritt ihm schnell nach. Cedric sah zu ihr, während er sich lustlos auf einen anderen Stuhl fallen ließ. Es dauerte nicht lange bis ihm auffiel, dass sie offenbar schon wieder den ganzen Tag gewartet hatte, bis er heimkam. Denn zu ihrem und auch Cedric’s Unglück war heute ihr freier Tag gewesen, was schlicht und ergreifend bedeutete: Pure Langeweile für sie, noch mehr Anstrengung für ihn. Und jetzt stand sie, schon bereit zum Aufbruch, vor ihrem Sohn und sah ihn erwartungsvoll mit ihren braunen Augen an, die gleich viel heller gewirkt hatten, kaum dass er das Haus betreten hatte. „Klar, machen wir.“ Die Worte waren wie kantige Steine, die sich aus seiner Kehle drückten und ein schmerzendes Gefühl hinterließen, als würden sie alles im Nachhinein noch zu zerreißen drohen. Cedric wollte das nicht, wollte nur in seinem Zimmer verschwinden und seine Ruhe haben. Den ganzen Tag hatte er schon damit verbracht über dieses Grauen nachzugrübeln, hatte jede Sekunde in der Schule gehasst und doch auch gefürchtet, dass sie vergehen würde. Nichts hatte die Zeit aufhalten können, wie er schmerzlich feststellen musste. Und nun erhob er sich schwerfällig, um sich seinem Schicksal ein weiteres Mal zu ergeben. „Ich zieh mich nur noch kurz um.“ Mit diesen monotonen Worten schlich er die Treppe hinauf, wechselte seine Klamotten und kehrte mit demselben besiegten Ausdruck im Gesicht wieder zurück, den er beim Hochgehen schon aufgesetzt hatte. „Jetzt zieh doch nicht so ein Gesicht, Cedric! Du hast es mir versprochen“, wies ihn seine Mutter sogleich zurecht, als sie die Autoschlüssel des ramponierten Kleinwagens von der Theke nahm und schon voller Elan zur Haustür schritt. Cedric brummte nur und folgte ihr hinaus, der sadistisch strahlenden Herbstsonne entgegen. Die Fahrt ins Stadtzentrum war viel zu kurz und so sah sich Cedric schon bald der vollkommenen Euphorie seiner Mutter ausgeliefert, die nun mit einem schwungvollen Schubs die Autotüre zuwarf und abschloss. Immerhin kannte er jetzt die ganze Geschichte von Mariella, Walter, Maggy, Mrs. Flennders und zu guter Letzt der verschütteten Sahne, was seine Laune erneut auf mehr oder minder intensive Weise beeinflusst hatte. „Auf geht’s!“, meinte seine Mutter und grinste Cedric an, von dem sie anscheinend genauso viel Motivation erhoffte oder zumindest erwartete. Denn wenn seine Mutter Spaß haben wollte, dann hatte auch er Spaß zu haben. Der Absolutismus war wieder auferstanden und hatte eine ganz neue Methode entwickelt seine grausamen Pläne durchzusetzen: Gewissensbisse. Schweigend schob Cedric die Hände in die Hosentaschen und ging um das Auto herum, um seiner Mutter über den Parkplatz zu folgen. Sie erwartete offenbar auch nicht, dass er ihr eine Antwort gab oder ein Strahlen heuchelte. Stattdessen begnügte sie sich vorerst mit ihrer eigenen Freude, hakte sich jedoch zu Cedric’s Widerwillen bei ihm ein und summte leise vor sich hin. Gemeinsam schlenderten sie über die Straße auf die kleine Fußgängerzone gegenüber zu. Phoenixville war nicht besonders groß, was den Bedarf an Geschäften mit dem doch recht ausgestatteten Einkaufszentrum etwas außerhalb, vollkommen abdeckte. Doch wie in jeder noch so unbedeutenden Stadt fand sich auch hier eine kleine Straße, vielmehr eine Gasse, die mit einigen Läden gespickt war, die sich in einer einzigen glatten Reihe von Häusern aneinander schmiegten. Cedric betrachtete die bunten Schilder über den Glastüren, beäugte skeptisch die bleichen Schaufensterpuppen, denen mit grellen Farben und auffälligen Kleidungsstücken versucht wurde ein wenig Leben einzuhauchen. Cedric war öfter in diesem betriebsamen Teil der Stadt, als ihm lieb war. Denn wenn ihn nicht gerade seine Mutter versuchte zu foltern, dann tat es Seth, wenn auch aus weniger heimtückischen Gründen. Mindestens einmal die Woche schleifte er ihn entweder hierher oder ins Einkaufszentrum und Cedric konnte natürlich nie nein sagen. Denn kaum hörte er den sanften, flehenden Ton in Seth’s Stimme, wenn ein leises ‚Bitte’ seine Lippen verließ, dann genügte dieses eine, winzige Wort um die Barrikade, die sein ehrgeiziges Widerstreben errichtet hatte, auf einen Schlag niederzureißen. Es war zum Verzweifeln. So kam es, dass Cedric noch gelangweilter von den ewig gleichen Auslagen und Anlockversuchen war, die an ihm vorbeizogen, welche seine Mutter aber ungemein zu faszinieren schienen. „Schau mal, da drüben! Der Pullover sieht doch gut aus. Komm, lass uns mal hinschauen.“ Augenblicklich wurde er nach rechts gezogen, konnte nur mit Mühe einem älteren Herrn ausweichen, in dessen Weg er sich gerade ungewollt geschmissen hatte. Verdattert stolperte er seiner Mutter hinterher. „Das ist doch wirklich goldig! Den probier ich… Oh.“ Ein Blick auf das Preisschild hatte seiner Mutter jäh alle Begeisterung aus dem Gesicht gefegt. „Hm?“, machte Cedric desinteressiert, obwohl er wusste was der Grund für diesen Wandel war. „Nicht so schlimm, wir suchen einfach einen anderen“, überspielte die Frau den Reinfall wie immer gekonnt und setzte sofort wieder ihr strahlendes Lächeln auf. Harsch wurde Cedric mit den Händen weitergeschubst, bevor er auch nur irgendetwas über das unangenehme Thema verlieren konnte. Dabei hatte Cedric gar nicht vorgehabt etwas zu sagen. Seine Mutter war alleinerziehend, schuftete Tag und Nacht in einem Restaurant als Kellnerin und trotzdem reichte das Geld nur ganz knapp, um hin und wieder einmal ein paar neue Blumen zu kaufen. Cedric ärgerte es, dass seine Mutter das Wenige, das übrigblieb, für diesen Unfug ausgab, weswegen er es sich auch nicht nehmen ließ, die Stromkosten zu überreizen, indem er Stunden vor dem Computer zubrachte. Ihm war bewusst, dass diese Einstellung nicht gerade dazu beitrug ihre finanzielle Lage zu verbessern. Aber er musste in seinem Leben schon genug Abstriche machen. Dann wollte er sich seine letzte Zuflucht nicht auch noch nehmen lassen. Zu akzeptieren, dass er sich einfach nicht so viele Dinge leisten konnte, wie andere in seinem Alter war auch gar nicht mehr so schwer wie früher. Damals hatte er noch darunter gelitten, oft fast geheult, als er mit Seth zwischen den überfüllten Kleiderständern und Regalen voller verlockender Gegenstände hindurchgeschlichen war. Seth, der sich immer alles hatte kaufen können, was er wollte. Er selbst, der schon Probleme hatte das Abendessen zu bezahlen, das sich Cedric nie nehmen ließ, wenn er außer Haus war. Und Seth wiederrum, der ihm fast immer aufgedrängt hatte es am Ende doch mitzubezahlen und der ihm auch am Glitzern seiner Augen ablas, wenn er etwas haben wollte, nutzte das Geld, das er im Überfluss hatte, um ihm eine Freude zu machen. Cedric spürte das warme Gefühl um sein Herz streichen, als er an die unzähligen Nachmittage dachte, an denen sie ewig diskutiert hatten, da sich Cedric stets weigerte diese Gesten anzunehmen. Er wusste, dass Seth das tat, weil er ihn mochte, weil sie beste Freunde waren. Und das schon seit dem ersten Schultag in der ersten Klasse. Es war ein seltsamer Augenblick gewesen, den Cedric immer noch klar vor Augen hatte, denn für ihn hatte er die Welt bedeutet. Cedric war zu diesem Zeitpunkt sechs Jahre alt gewesen, also nur kurz nachdem er seine Erinnerungen wiedererlangt hatte, schon umgeben von neuen unbekannten Gesichtern, die ihn neugierig und abwartend angestarrt hatten. Keine Erinnerungen zu besitzen hieß auch, keine Beziehungen zu kennen, keine sozialen Strukturen mehr verinnerlicht zu haben. Für Cedric war das wie ein Todesurteil, das sich noch heute durch sein Verhalten zog. Er hatte nie wieder gelernt sich anderen anzunähern, hatte stets Scheu gehabt, die zu groß war, als dass er sie überwinden hätte können. Zwar war er in der Lage mehr oder weniger normal mit anderen zu sprechen, wenn auch sehr unsicher und abwehrend. Aber er selbst brachte es nicht über sich den ersten Schritt zu wagen. Und als verängstigter, desillusionierter Sechsjähriger war diese Bürde auf andere zuzugehen eine Aufgabe gewesen, die er nicht erfüllen hatte können. Stattdessen hatte ein anderer diese Aufgabe für ihn übernommen. Hatte den Mut besessen dem kleinen verheulten Cedric die Hand hinzustrecken und ihn aus dem Treibsand der Erinnerungslosigkeit zu ziehen. Seth war immer für ihn dagewesen. Und war es auch heute noch, bedingungslos. „Komm, lass uns da reinschauen!“, riss ihn seine Mutter aus den alten Erinnerungen, die ihn trotz des bedrückenden Inhalts so unendlich glücklich machten. „Von mir aus“, murmelte Cedric, versöhnlich wegen der emotionalen Entlastung, die ihm gerade widerfahren war und ließ sich in einen der wenigen Läden schleifen. Es war warm darin, was ihn nicht gerade in bessere Laune versetzte, immerhin war es draußen trotz herbstlichen Wetters sonnig genug. Außerdem mochte er die stickige Luft in dem Raum nicht, fühlte sich so an der Seite seiner Mutter nur noch weniger wohl. Eine Weile ertrug er es gehorsam und folgte seiner Mutter durch das ganze Geschäft. Auch als sie nach zwei Stunden alle anderen Läden ebenfalls noch haarklein durchforsteten, war Cedric bemüht einigermaßen freundlich zu antworten und sich auf die ständige Fragerei seiner Mutter zu konzentrieren. Allerdings war Cedric nicht gerade für seine Geduld bekannt, das wusste er selbst nur zu gut. „Was sagst du zu dem hier? Oder soll ich doch lieber die korallenfarbene Weste nehmen?“ Cedric blickte auf das Stück Wolle hinunter, das seine Mutter sich vor die Brust hielt. Die olivfarbene Variante rief in Cedric denselben Würgereiz hervor, wie die, die neben seiner Mutter über dem runden Kleiderständer lag. Zusammen waren sie ohne weiteres in der Lage ihn sich mitten in diesem Laden übergeben lassen zu können. „Die grüne“, murmelte er, darauf konzentriert oft genug zu schlucken, um jegliches Unheil vorzubeugen. Es ist so schon schlimm genug. Aber meine Mutter muss ja auch noch den miserabelsten Geschmack der Welt haben. Cedric wandte sich ab, als seine Mutter frohlockend weiter die Grabmode vor sich durchstöberte. Seit einer gefühlten Ewigkeit war seine Mutter von dem guten Ratschlag ihres Sohnes, doch einmal etwas Moderneres auszuprobieren, wieder abgekommen. Stattdessen gesellte sie sich zu ihren achtzigjährigen Freundinnen, welche nun neben ihr die staubigen Reste von Schafen und anderen wolligen Tieren mit einem Enthusiasmus erforschten, der Cedric so fern lag wie der entfernteste Planet im entferntesten Universum und genau wie der mit einer fast hundertprozentigen Chance nicht einmal existierte. Ich brauche Ablenkung! Cedric war an die Grenzen seines Durchhaltevermögens gestoßen. Mit einer an Panik grenzenden Hast kramte er sein Handy hervor und tippte in Windeseile eine Notrufnachricht an Seth in die Tasten. Es dauerte nicht lange bis eine Antwort kam, in der Seth zwinkernd nachfragte, was denn wieder passiert sei. Meine Mom ist Mitglied im Zombieverein geworden und will mir nun ihre neuen Freundinnen samt Clubkleidung vorstellen, erklärte er und musste sogar selbst ein wenig schmunzeln. Wenn er mit den Nerven am Ende war, neigte er zu einem fantasievollen, wortreichen Sarkasmus, der ihn immer wieder überraschte. Grüß sie schön von mir ;) Ich hoffe, die Zombies erweisen sich als ein wenig stilvoll…?, kam als Antwort und Cedric überdrehte sofort die Augen. Es sollte ihn nicht wundern, dass das die einzige Frage darstellte, die Seth interessierte. Wie schön, dass sich dein Mitleid so über mich ergießt. Und um dich zu enttäuschen: Nein, es ist der reinste Horror. Du würdest jämmerlich eingehen hier drinnen, schrieb er also wahrheitsgemäß zurück und sah sich nach seiner Mutter um, die anscheinend in die Umkleidekabine verschwunden war. Seine Vermutung was Seth’s Niedergang betraf, war gar nicht so weit hergeholt. Sein bester Freund hielt so viel auf Mode und stilgerechtes Aussehen, dass er sogar sein späteres Leben eben diesem Bereich voll und ganz widmen wollte. Visagist… Ein typischer Beruf für einen…Nein, so sollte ich nicht denken. Cedric hielt seine Gedanken zurück, denn er empfand es als nicht fair, nicht weitsichtig genug Seth’s Traumberuf als eine Tätigkeit anzusehen, die nur schwule Männer ergriffen. Das auch konsequent so zu sehen war schwer, denn Seth war ebenfalls schwul und würde die lange Liste an Beweisen für eben solche Vorwürfe nur noch verlängern. Aber Seth macht es, weil er es will. Er ist keine von diesen Fernsehtucken, die immer mit einer Handtasche herumrennen und Modetipps geben. In der Tat hatte Seth ein Faible für viele Dinge, die schwulenfeindliche Menschen sofort genutzt hätten, um ihn mit allerlei Beleidigungen zu überhäufen. Aber er lebte es nicht auf diese weibliche, übertriebene Art aus, sondern hielt sich wie gewohnt in seiner natürlichen Ruhe zurück, sodass es zu einem ganz normalen, unauffälligen Interesse wurde. Und auch sonst merkte man Seth nicht unbedingt an, dass er auf Männer stand. Er hatte einen ganz normalen Gang, seine Gestik und Sprache beschränkte sich auf dieselben Ausmaße wie beim Rest der männlichen Welt auch und war teils sogar noch dezenter. Er war bestimmt nicht der männlichste Typ, aber er ließ sich auch das Gegenteil nicht unterstellen. Zum Glück. Cedric konnte sich diesen Gedanken nicht verkneifen, denn auch wenn er der Überzeugung war, dass jeder so sein konnte und auch sollte wie er war, so hielt sich sein Respekt für die erwähnten Ausprägungen der Homosexualität doch in Grenzen. Es war ihm einfach zu künstlich, zu gespielt. Zu überbetont. Das sachte Vibrieren seines Handys lenkte die Aufmerksamkeit wieder auf das Display, das ihm eine neue Nachricht von Seth offenbarte. Oh je… Modische Todsünden, im wahrsten Sinne des Wortes. Wie lange musst du noch durchstehen?, las Cedric und grinste kurz. Dann tippte er mit einem doch weniger amüsierten Gefühl im Bauch, dass er es nicht wusste. Erst jetzt kam ihm seine Mutter wieder in den Sinn und er suchte hastig mit den Augen den Raum nach ihr ab. Bald schon hatte er die vertiefte Frau an einer Regalwand ganz in seiner Nähe wiederentdeckt, woraufhin er sich mit wenig Erleichterung wieder abwandte. Ein Blick auf sein Handydisplay zeigte ihm neben einer erneuten Nachricht von Seth, dass er schon ganze drei Stunden mit seiner Mutter zugebracht hatte. Und überlebt habe… Cedric’s trockener Gedanke war nicht so sarkastisch gemeint, denn ein Funke Wahrheit lag in allem was er dachte. Zumindest für ihn. „Cedric, Schatz, meine Füße schmerzen schon ganz arg. Ich denke, wir sollten schön langsam den Heimweg antreten. Was meinst du?“, hörte er wie aufs Stichwort seine Mutter hinter sich. Als er sich umdrehte, hatte sie ein einziges Kleidungsstück in der Hand, zu Cedric’s Entsetzen die korallenfarbene Weste, und sah ihn zufrieden lächelnd an. „Klar“, meinte er sofort und versuchte dabei seine Freude nicht ganz so deutlich zu erkennen zu geben. Einen Moment hatte er schon überlegt seine Mutter zu fragen, weshalb sie nun doch die andere Weste oder überhaupt diesen Fetzen kaufen wollte, aber als ihm bewusst wurde, dass das nur eine neuerliche Diskussion zur Folge gehabt hätte, schwieg er lieber. Stattdessen schwelgte er fast schon euphorisch in dem Bewusstsein den Nachmittag überstanden zu haben und wartete geduldig bis seine Mutter fertig war. Währenddessen hatte er Seth geantwortet, indem er ihm die freudige Botschaft gleich als erstem zukommen hatte lassen. „Das war ein schöner Tag, nicht wahr?“, fragte seine Mutter, als sie, wieder beieinander eingehakt, zurück zum Parkplatz schlenderten. Cedric brummte nur, versuchte es aber doch einigermaßen glaubwürdig zu gestalten, was anscheinend gelang. Seine Mutter lächelte nur weiter glücklich vor sich hin und verlor kein Wort mehr bis sie endlich den Wagen erreicht hatten und Cedric zügig einstieg. Erneut hatte er einen Tag mit seiner Geiselnehmerin überstanden. Aber nur mit der Hilfe eines ganz besonderen Menschen, der ihm im Moment einfach als der wichtigste Punkt seiner Gedanken erschien. Einem Menschen, der immer für ihn da war und es auch immer sein würde. Ein Leben lang. Kapitel 2: Bringing Back Old Memories ------------------------------------- .♣. _______________________________________________________________________________ Gemächlich öffnete Cedric die metallene Tür zu seinem Spind und zog einige der abgewetzten Bücher heraus, um sie wenig liebevoll in seinen Rucksack zu stopfen. Ein lautes Seufzen verließ seine Lippen, als er die Tür mit einem groben Ruck, der seinen Frust mehr als deutlich zur Schau stellte, wieder zudrückte. Dabei hatte der Tag eigentlich ganz gut begonnen. Seine Mutter war von dem kleinen Einkaufsbummel anscheinend insoweit befriedigt gewesen, als dass sie sich nicht mehr ganz so eng an ihn kettete und Cedric war vorsichtig der Überzeugung erlegen, dass dies zumindest eine Weile anhalten würde, was ihn eigentlich hätte schon fröhlich genug stimmen sollen. Allerdings war seine Laune mit einem rapiden Tempo in den Keller gesunken, als er heute Morgen Ashton Lauderdale, einen blonden, sonnengebräunten Frauenschwarm aus seinem Jahrgang, über einen unangekündigten Test in Psychologie hatte diskutieren hören. Was Cedric’s Herz sofort einen Schlag lang hatte aussetzen lassen, denn immerhin war er die letzten fünf Stunden lediglich damit beschäftigt gewesen, irgendwelche Kreise und Kringel in sein gähnend leeres Psychologieheft zu kritzeln. Was allerhöchstens die abstrakte Verwirrung bildlich darstellen konnte, die dieses Fach in ihm hervorrief, aber ansonsten recht wenig Möglichkeit für Verbindungen offenließ. Folglich war sein Hirn eine trockene Wüste, die keinen einzigen Tropfen Wissen beherbergte, was ihn leicht beunruhigte in Anbetracht der nahenden Bedrohung. Bei dem Gedanken daran, konnte er ein unwohles Grummeln nicht unterdrücken. „Du hast dich ja noch gar nicht zu dem vergangenen Nachmittag mit deiner Mutter geäußert.“ Cedric blickte ein wenig orientierungslos um sich, bis er Aleksi neben sich erkannte, der ihn freundlich anlächelte. Im Gegensatz zu gestern war er heute etwas dezenter geschminkt und hatte sich auch vorerst von seinen hohen Plateauschuhen getrennt. Das Schwarz blieb aber weiterhin alleiniger Herrscher über seine Kleidung. „Naja, bei Jamie’s verzweifelter Rede blieb auch nicht viel Zeit dafür“, entgegnete Cedric und lächelte ebenfalls schwach. In der Tat hatte der Jüngste ihrer Gruppe heute Morgen im Bus alle Aufmerksamkeit an sich gerissen, da er in nahezu unendlicher Länge seinen Nachmittag erzählt hatte. Lautstark und leidend hatte er den schmunzelnden Jungen von dem grauenvollen Auftrag berichtet, auf seine drei kleinen Brüder gleichzeitig aufpassen zu müssen. Keine wirkliche Neuigkeit, denn Jamie entstammte einer Familie mit insgesamt sechs Kindern, allesamt Jungen, was unweigerlich dazu führte, dass er auf die Jüngeren aufzupassen hatte. Früher waren seine älteren Brüder Marvin und Derick noch dafür verantwortlich gewesen, aber nachdem ersterer mit seinen immerhin schon dreiundzwanzig Jahren ausgezogen war, um in Philadelphia zu studieren, hatte es unvermeidbarerweise auch Jamie getroffen. Denn Derick hielt mit neunzehn nicht mehr viel von dem Job als Babysitter und verbarrikadierte sich regelmäßig in seinem Zimmer oder floh gleich ganz aus dem Haus. Was Jamie als einzige Option für seine Eltern übrigließ und so hatte er am gestrigen Nachmittag samt Abend eben wieder eine ganz eigentümliche Art gehabt seine Zeit zu verbringen. „Da muss ich dir zustimmen“, lächelte Aleksi nun ruhig und blickte Cedric mit einem Ausdruck an, den er nicht wirklich deuten konnte und auch davon ausging, dass es nichts Besonderes darin zu entdecken gab. Und doch war da irgendetwas, das er nicht aus Aleksi’s Anblick heraus deuten konnte. Es dauerte ein wenig, bis ihm dämmerte, dass der andere lediglich darauf wartete, dass Cedric von seinem Ausflug mit der Mutter erzählte. „Es war… annehmbar“, seufzte er also und schloss kurz die Lider. „Wir waren in der Stadt, einkaufen. Zwar wäre ich zeitweise fast durchgedreht, aber Seth hat mich zum Glück mit seinen SMS lange genug abgelenkt, bis es meiner Mutter auch zu viel wurde. Wegen ihrer Füße, versteht sich.“ Cedric war in der Tat manchmal sogar froh, dass seine Mutter so viel arbeiten musste, denn an manch seltenen Tagen war das der ausschlaggebende Punkt, warum sie sich einfach erschöpft auf das Sofa legte und ein wenig ausspannte, ohne Cedric ihrerseits zu belästigen. „Das freut mich für dich“, erwiderte Aleksi und Cedric konnte hören, dass er es wirklich ernst meinte, was ihm nur gleichsah, da der Finne immer in der Lage war sich wegen jeder Kleinigkeit für andere zu freuen. „Ich würde dir gerne noch weiter zuhören, aber ich glaube, der Unterricht beginnt in wenigen Minuten.“ Cedric sah wieder auf und nickte. „Ja, stimmt. Wir sehen uns dann in Physik. Mach’s gut.“ Ein freundschaftliches Lächeln schlich sich auf seine Lippen, ehe er es Aleksi gleichtat und sich umdrehte, um sich auf den Weg zum Französischraum zu machen. Seth, Nye, Jamie und Cyan waren bereits vorausgegangen. Das Klassenzimmer war nicht weit entfernt und so saß Cedric ein paar Minuten später schon auf seinem Platz und blickte zu Jamie, der Cyan und Nye anscheinend immer noch von seinem erlebten Tag klagte. „Ist er immer noch nicht fertig?“, fragte er Seth, welcher lautlos zu ihm getreten war, ließ den Blick aber etwas verständnislos bei Jamie, der gar keine Notiz von ihm genommen hatte. „Ja, anscheinend hat sich Lewis die Hand aufgeschnitten, als er gerade damit beschäftigt war Corbin davon abzuhalten aus Trotz einen Haargummi zu schlucken“, erklärte Seth und schmunzelte leicht. Cedric drehte blitzartig den Kopf zu ihm und legte die Stirn ungläubig in Falten. „Eh…?! Er wollte einen Haargummi essen?“ Seth nickte, kurzzeitig bildeten seine Lippen ein noch amüsierteres Schmunzeln, das aber anscheinend eher wegen Cedric’s Reaktion hervorgerufen wurde als wegen dem eigentlichen Thema. „Warum?“ Cedric’s Stimme war vor Irritation ein wenig höher geworden. „Keine Ahnung“, meinte Seth und zuckte mit den Schultern. „Du weißt doch wie kleine Kinder so sind. Die machen alles, um den Eltern und älteren Geschwistern eins auszuwischen.“ „Aber einen Haargummi…!“ Cedric verzog angeekelt das Gesicht. „Außerdem ist er mit neun nicht unbedingt so klein, um noch solche Faxen zu machen.“ „Du würdest dich wundern“, grinste Seth plötzlich und bevor der verdatterte Cedric nachfragen konnte, was er damit meinte, hörte er schon ein eifriges Händeklatschen, das um Aufmerksamkeit bat. „Alle Mann an ihren Platz. Der Unterricht beginnt“, rief Mrs. Caulfield, ihre noch recht junge Französischlehrerin und sofort begannen die Schüler ihre Plätze einzunehmen. Einen Haargummi… Bin ich froh, dass ich keine Geschwister habe. Cedric war gerade darin versunken, sein Französischheft aus dem Rucksack zu ziehen, als er plötzlich spürte, wie sich irgendetwas ganz nahe an seinem linken Ohr zu ihm beugte und sich so nur einige Millimeter von ihm entfernt befand. Ohne zu wissen was genau, spannte er sich aus einem Impuls heraus ein wenig an. „Hey, Cedi-Boy. Ich hab noch ein Wörtchen mit dir zu reden. Lauf mir also ja nicht weg, verstanden?“ Cedric spürte den kühlen Atem sanft gegen seine Haut streichen, als Cyan diese Worte in sein Ohr flüsterte. Instinktiv überlief ihn ein Frösteln. „Auch Sie, Mr. Blair“, wies die Lehrerin den Blonden dann in ruhigem Ton zurecht, woraufhin Cyan sich aus seiner gebeugten Position erhob und grinsend zu seinem Platz schritt. Cedric konnte nicht anders als sich sofort umzudrehen, sobald der andere nicht mehr in seiner unmittelbaren Nähe war. Ein Wörtchen mit mir reden…? Was soll das denn heißen? Verwirrt sah Cedric Cyan nach, betrachtete seinen kräftigen und doch schmalen Rücken, der unter dem engen T-Shirt deutlich zu erkennen war, während er die wenigen Schritte nach hinten ging. Als er sich langsam auf seinem Platz niederließ und offenbar bemerkte, dass Cedric ihn anstarrte, zwinkerte Cyan ihm aufmunternd zu. Sofort verzog Cedric leicht das Gesicht und wandte sich schnell wieder nach vorne. Und warum kann er mir das nicht einfach normal sagen? Cedric bemerkte zunächst gar nicht, dass sich die Falten auf seiner Stirn nicht wieder glätteten, sondern eine Weile tiefe Furchen in die Haut gruben. Seine Gedanken waren einfach zu sehr damit beschäftigt herauszufinden, was Cyan mit einem ‚Wörtchen’ gemeint haben könnte. Doch auch wenn er noch so angestrengt nachdachte, er kam einfach nicht darauf. Wer weiß, was er jetzt wieder für eine absurde Idee hat… Cedric wollte es unbedingt wissen. Die wenigen Worte von Cyan waren wie eine Nadel gewesen, welche sich tief in sein Fleisch gebohrt und ein langsam schleichendes Gift injiziert hatte. Und dieses breitete sich nun stetig in ihm aus. Aber es war hoffnungslos. Solange die Französischstunde nicht vergangen war, würde er es ohnehin nicht erfahren. Ihm blieb also nichts anderes übrig, als die unzähligen Fragen beiseitezuschieben und sein Buch zu öffnen, wie es Mrs. Caulfield gerade in einem perfekten Französisch von ihnen verlangte. Mehr als warten geht ohnehin nicht. Also kann ich mich genauso gut konzentrieren… Und so beugte sich Cedric leicht über die ihnen erteilte Textaufgabe, um gehorsam dem einzigen Fach, das ihn mit ein wenig Elan und Talent fesselte, zu folgen. „Cedi-Boy.“ „Hm…?“ Cedric sah fragend auf, als Cyan zu ihm trat und mit ihm gemeinsam den Raum verließ. Der Französischunterricht hatte gerade geendet, was bedeutete, dass sie sich auf den Weg in die nächste Unterrichtsstunde begeben mussten. Cedric in Physik, Cyan in Mathe. Nye hingegen war auf die Toilette verschwunden, während Seth mit Mrs. Caulfield noch wegen eines abgegebenen Aufsatzes sprechen wollte, so hatte er mit diesen Worten zumindest Cedric noch vor einer Minute verabschiedet. Und Jamie hatte währenddessen mit einem Mitschüler noch etwas wegen eines Projektes in Musik zu klären. Somit hatte sich Cedric ausnahmsweise alleine auf den Weg zum nächsten Klassenraum gemacht. „Ich hab doch gesagt, du sollst mir nicht weglaufen“, meinte der Ältere grinsend, da Cedric ohne auf ihn zu achten einfach den Raum verlassen hatte. Erst jetzt dämmerte es Cedric, dass Cyan ja noch mit ihm reden wollte. Sofort sah er ihn neugierig an. „Ja, also was ist los?“, fragte er ungeduldig, während sie sich einen Weg durch den überfüllten Gang bahnten. „Du hast mich schon wieder einfach vergessen.“ Cedric blinzelte bei dieser Antwort orientierungslos, während Cyan leicht das Gesicht verzog und ihn eine Spur vorwurfsvoll ansah. Vergessen…? Was meint er damit? „Wie ‚vergessen’?“, fragte er also und kam sich unangenehmerweise selbst ein wenig dämlich vor aufgrund seiner Ahnungslosigkeit. „Du hattest versprochen mir auch zu schreiben.“ „Oh.“ Cedric spitzte bei dieser Aussage leicht den Mund und verharrte einige Sekunden so. Sein erzwungenes Versprechen hatte er vollkommen vergessen, vor allem, da er es nicht gewohnt war, Cyan ebenfalls SMS zukommen zu lassen. Der Blonde hatte meistens so viel mit seinen Mädchen zu tun und nutzte seine Zeit, um ihnen Nachrichten mit dubiosem Inhalt zu schicken, dass für Cedric oder jemand anderen ohnehin keine Motivation mehr übrigblieb. Cedric selbst hatte das nie besonders gestört, immerhin waren seine finanziellen Mittel beschränkt und Seth als sein bester Freund hatte da nun einmal Vorrang. Zu guter Letzt hatte er die ganze Sache mit dem Versprechen ohnehin einfach nicht allzu ernst genommen. „Tut mir leid, hab ich ganz vergessen“, entschuldigte er sich auch sogleich und blickte dementsprechend bittend zu dem anderen hoch, welcher ihn einen Moment musterte. „Aber Seth hast du nicht vergessen, wie üblich“, schmollte Cyan dann plötzlich und wandte sich ab, doch Cedric konnte erkennen, dass er es nicht so ernst meinte, auch wenn es nicht vollkommen gespielt war. Die Stirn leicht gerunzelt, sah er ihn an. „Ich hab doch gesagt, dass es mir leid tut. Sonst schreiben wir doch auch so gut wie nie.“ „Vielleicht wollte ich das mal ändern?“ Cedric legte den Kopf leicht schief und betrachtete Cyan’s Profil, als er diese Entgegnung hörte. Fieberhaft suchte er nach einem scherzenden Ton in der Stimme des anderen, konnte allerdings nicht einmal einen Hauch davon finden, was ihn doch ein wenig irritierte. Das ändern? Wieso denn auf einmal? „Wieso ändern?“, fragte er sogleich nach, wartete bis Cyan den Kopf langsam wieder zu ihm drehte. Sie waren auf ihrem Weg schon fast am Ende angekommen, der Mathematikraum war nur noch einige Schritte entfernt. „Warum denn nicht?“, erwiderte Cyan und lächelte leicht. „Wir haben außerhalb der Schule nicht mehr wirklich viel miteinander zu tun. Also nur wir beide. Früher war das doch auch anders. Weißt du noch?“ Cedric blieb stehen, ebenso wie Cyan. Sie standen genau neben der offenen Tür, in deren Raum sich immer mehr Schüler begaben. Früher....? Cedric dachte über die Worte seines Gegenübers einige Sekunden schweigend nach. Cyan hatte nicht ganz Unrecht, das wusste Cedric nur allzu gut. Kurz nachdem Cyan Seth und ihn in der dritten Klasse angesprochen hatte, war Cedric den hartnäckigen, eisblauen Augen nicht mehr entkommen. Jeder Versuch sich ihnen zu entziehen, weiter nur zurückgezogen ein Leben als vollkommener Außenseiter zu führen und lediglich Seth ein kleines Stück in seine traurige Welt zu lassen, war an ihnen gescheitert. Denn Cyan hatte nicht nachgegeben, aufdringlich und unbarmherzig hatte er sich weiter vorgebohrt. Ihn mit seiner offenen, fröhlichen Art so gefesselt, bis er letztendlich zu Cedric’s Kern vorgedrungen und dieser glücklich und erleichtert aufgegeben hatte. Cyan sprach die Wahrheit, das war sicher. Früher hatten sie beide fast genauso viel zusammen unternommen, nur sie beide, wie Seth und Cedric es getan hatten. Sie waren offiziell keine besten Freunde gewesen, aber die Kluft zwischen Seth und Cyan war nicht so eindeutig spür- und sichtbar gewesen, wie es jetzt der Fall schien. „Ja, klar weiß ich das noch“, murmelte Cedric, während er versuchte langsam wieder zurückzukehren aus den alten Erinnerungen. Ein ehrliches Lächeln spielte um seine Lippen, als er wieder zu Cyan hochsah. „Es tut mir wirklich leid. Nächstes Mal schreibe ich dir auch. Oder einfach so, muss ja nicht immer sein, wenn ich gerade halb sterbe wegen meiner Mom.“ Cyan lachte daraufhin leise. „Geht klar. Aber jetzt beeil dich lieber. Sonst kommst du noch zu spät.“ Cedric nickte und verabschiedete sich schnell von Cyan, der sich zu den anderen im Klassenzimmer gesellte. Cedric erhaschte einen kurzen Blick auf Nye, der gerade von der Toilette zurückkam und hob ebenfalls die Hand, als dieser ihn kurz grüßte. Dann wandte er sich allerdings rasch wieder um und eilte schnellen Schrittes zum Physikraum. Wieder mehr mit Cyan unternehmen… Ein weiteres Lächeln huschte über seine Lippen. Die Vergangenheit, die Jahre ihrer ganz frühen Kindheit, bargen viele schöne Erinnerungen. Und vielleicht konnten sie ja einige davon wieder zurückbringen. Cedric hatte die gesamten Stunden bis zur Mittagspause hinter sich gebracht, allerdings nicht ganz unbeschadet, wie er nun schmerzlich feststellen musste. Sein Kopf fühlte sich an, als würde das Blut darin langsam vor sich hinkochen und gleichzeitig knetete sich sein Magen stetig selbst durch. Zumindest war die Vorstellung davon unangenehm realistisch. „Alles okay?“, hörte er Seth’s besorgte Stimme leise neben sich, da dieser anscheinend seinen Zustand bemerkt hatte. Was Cedric nicht sonderlich schwer erschien, denn er hatte die Ellbogen auf den Tisch gestützt und die Hände zu beiden Seiten in seinen Haaren vergraben, um seinen dröhnenden Kopf durch die Berührung der kalten Finger ein wenig zu beruhigen. Nicht gerade die beste Pose, um den Eindruck purer Gesundheit zu vermitteln. „Ich will nach Hause“, quengelte Cedric ohne seine Position auch nur ansatzweise zu verändern. Seine Stimme klang schwach, er hatte einfach keine Kraft und auch keine Lust sich anzustrengen, um zu sprechen. „Wer will das nicht“, brummte Nye von irgendwoher, allerdings war ihm seine Abwesenheit deutlich anzuhören. Cedric sah nur auf, hob den Kopf dazu aber nicht, denn er wusste, das Nye in seinem Blickfeld saß. Er war auch nicht überrascht, als er auf den Grund für sein Desinteresse stieß. Wie so oft hatte Nye ein Buch in den Händen und las zurückgelehnt darin, während er gedankenverloren den Lutscher in seinem Mund drehte. Cedric wunderte sich immer wieder, wie viele versteckte Eigenschaften ihre Gruppe eigentlich aufwies, Eigenschaften von denen man nie erwartet hätte, dass sie auf die jeweilige Person zutrafen. Zunächst Aleksi, dessen düsteres, bedrohliches Äußeres und sein lammfrommes, hilfsbereites Inneres komplette Gegensätze darstellten. Dann Cyan, der nach außen hin wie ein typischer unnahbarer Schulstar wirkte, aber eigentlich zu jedem freundlich und aufgeschlossen war. Und zuletzt natürlich noch Nye, der sich verhielt als wolle er den Repräsentanten für alle rebellischen Teenager Amerikas spielen, die sich zu cool für jede Art von Reife fühlten, aber in Wirklichkeit jede Woche mindestens zwei Bücher verschlang und sich zu guter Letzt auch noch überraschenderweise für Politik interessierte. Cedric sah kurz zu ihm und vergaß sich ein wenig in seiner Verwunderung über die seltsamen Eigenarten ihrer Gruppe, ehe er sich entschloss, lieber nicht zu antworten. Nye wollte wahrscheinlich ohnehin nicht reden, denn wenn er in eines seiner Bücher vertieft war, dann fuhr er jeden gnadenlos an, der ihn dabei störte. Selbst wenn er denjenigen vorher noch selbst angesprochen hatte. „Dir scheint’s nicht gut zu gehen. Vielleicht solltest du auch wirklich nach Hause“, meinte Seth dann plötzlich und Cedric erbarmte sich doch dazu, sich wenigstens ein bisschen zu ihm zu drehen. Erst jetzt sah er, dass sein bester Freund die Stirn leicht in Falten gelegt hatte und ihn genauso besorgt musterte, wie seine Stimme bereits geklungen hatte. „Ach, der lässt mich doch nie gehen…“, murrte Cedric und drehte sich wieder weg, um kurz die Augen zu schließen. Das brodelnde Gefühl in seinem Kopf wollte einfach nicht verschwinden, verursachte vielmehr ätzende Übelkeit, was Cedric nur noch schlechter gelaunt werden ließ. Es ist schon schlimm genug ohne diese Kopfschmerzen..! Man, hau ab! Während Cedric innerlich mit seinem Kopfweh stritt, mischte sich Jamie nun auch noch in das Gespräch ein und versuchte Cedric dazu zu bringen, endlich zu kapitulieren. „Der lässt doch jeden heim, das weißt du genau. Hennegan nimmt das nicht so ernst wie andere.“ „Da hast du schon recht… Aber wenn ich dann mal wirklich heimgehen muss, dann lässt er mich vielleicht genau da nicht mehr gehen, weil ich mich vorher schon zu oft abgemeldet habe“, entgegnete Cedric und grummelte leicht. Hennegan, ihr Schulleiter, legte zwar unheimlichen Wert auf Repräsentation und dass alles in den richtigen Bahnen ablief, aber was solche Nichtigkeiten wie sich abmeldende Schüler anging, so drückte er oft genug aus purem Desinteresse ein Auge zu. Was die Grundstütze der Wertschätzung seiner Schüler darstellte, denn somit gestaltete es sich bei ihnen auf der High School leichter einfach nach Hause zu gehen, wenn man keine Lust mehr hatte als es in anderen amerikanischen Schulen wahrscheinlich der Fall war. Trotzdem konnte Cedric diesen Vorteil nicht oft nutzen, da er in der Tat ein, seiner und auch Cyan’s und Nye’s Meinung nach, unnötiges Moralgefühl verspürte, sobald er vor dem alten, vollbärtigen Mann stand und wartete bis er seine Unterschrift auf den Zettel setzte. Außerdem nutzte Cedric jede nur erdenkliche Sekunde, die ihn von seinem Zuhause und folglich seiner Mutter fernhielt. Und das hatte er auch heute vor. „Aber du siehst wirklich nicht gut aus…“, widersprach Seth immer noch, allerdings merklich aus Sorge, denn seine sanfte Stimme beinhaltete kein Drängen oder gar einen Befehl. Er wollte Cedric lediglich dazu bringen, auf sich Acht zu geben. Das wusste er. Ein leichtes Lächeln huschte über seine Lippen, als er dem Schwarzhaarigen antwortete. „Danke, Seth, aber-“ „Ich mach mir auch Sorgen um dich, Honey. Vielleicht solltest du dich zu Hause ein wenig hinlegen, hm?“ Cedric spürte, wie ihn Kälte umfing, als Cyan die Arme um ihn legte und ihn leicht zu sich zog. Er konnte sich kaum bewegen, da seine eigenen Arme nun leicht gegen seine Brust drückten und ihm so auch den letzten Rest an Bewegungsfreiheit nahmen. „Cyan, hör auf…“, murrte Cedric leise, aber gequält und drehte den Kopf leicht zu ihm. Er konnte direkt in die stechenden Augen blicken, was ihn einen Moment lang irritierte. Er hatte nicht damit gerechnet, dass Cyan schon wieder so nahe bei ihm sein würde, obwohl er es sich hätte denken können. Immerhin wurde er schon wieder regelrecht an seinen Körper gepresst. „Aber wieso denn? Ich hatte nur gehofft, du fühlst dich ein wenig besser in meiner Nähe“, erwiderte der Blonde nun und Cedric konnte sehen, wie sich seine Mundwinkeln langsam zu einem Schmunzeln formten. Cedric seufzte nur, zu kraftlos um jetzt eine Diskussion mit Cyan anzufangen. Er wehrte sich auch nicht weiter, sondern blieb einfach so wie er war, gefangen in den Armen des anderen, und ließ den Kopf wieder leicht sinken. Als er sich auf das kochende Blut in seinem Kopf konzentrierte, wurde ihm auch die Kälte um sich herum etwas bewusster. Cedric konnte nicht verleugnen, dass sie ihm doch angenehm erschien, die Hitze in seinem Gehirn eindämmte. Fast entglitt ihm ein erleichtertes Seufzen, aber er konnte sich doch noch zurückhalten. Stattdessen räkelte er sich ein wenig, machte Cyan somit klar, dass er ihn nun wirklich loslassen sollte. „Hau jetzt endlich ab, Cyan…“ „Cedi-Boy! Was bist du denn schon wieder so giftig zu mir?“, schmollte Cyan sofort wieder, während er ihn noch ein wenig mehr zu sich zog. Cedric lehnte sich automatisch etwas weiter von Cyan weg, da er dessen Gesicht schon bedenklich nahe gekommen war. Er spürte, wie sich langsam Unruhe in ihm breitmachte, denn auch wenn die Grenze bezüglich körperlicher Nähe bei seinen Freunden um einiges höher lag als bei fremden Personen, so war das eindeutig zu viel für ihn. Cyan hatte seine Späßchen noch nie so ausgeweitet, war ihm im wahrsten Sinne des Wortes noch nie so auf die Pelle gerückt. Umso schlimmer für Cedric, der nicht wusste, wie er damit umgehen sollte. Er wollte nur weg von dem Jungen, der ihn Gefahr laufen ließ wieder mit seinem sozialen Defizit in Konflikt zu geraten. „Cyan, lass das…!“, knurrte er also, endlich mit ein wenig mehr Forderung in der Stimme und trotzdem eher schwächlich. Sein Kopf tat nach wie vor weh, großartig Nachdruck hinter seine Worte konnte er somit nicht legen. „Ich hab aber nicht wirklich Lust dazu, Cedi-Boy“, antwortete Cyan grinsend und lockerte seinen Griff kein Stück. Cedric wurde sich bewusst, dass die Unsicherheit drohte ihn zu überwältigen, sich stetig in seiner Brust ausbreitete. Ein Anflug von Angst strich über ihn hinweg, wie es immer der Fall bei Unbekannten gewesen war, denen er auch nur infolge einer Aufgabe im Sport- oder auch allgemeinen Unterricht zu nahe gekommen war. Dass er diese Gefühle nun bei Cyan spürte, machte alles nur noch ungewohnter, noch schockierender. Manchmal nerven seine Spielchen echt… Warum macht er das? Ich verstehe es einfach nicht… Seit gestern hängt er den ganzen Tag an mir dran, wie ein Kind, das zu wenig Aufmerksamkeit bekommt. Was nicht sein kann, Cyan hat wohl mehr als genug davon. Und vor allem würde er die nicht bei mir suchen. Also will er mich wohl einfach nur wieder ärgern und nerven. Wieso aber dann so… so… anzüglich und vor allem so oft?! Ich verstehe es einfach nicht. Und den Kopf dazu habe ich nun wirklich nicht… Cedric starrte Cyan einfach nur an, eine Spur hilflos und verzweifelt. Er konnte ihn jetzt einfach nicht anfauchen oder sich sonst irgendwie befreien, sondern kniff nur leicht die Augen zusammen. Erneut seufzend ließ er die Schultern hängen und entspannte sich ein wenig, entschlossen einfach klein beizugeben. Wenn Cyan nicht nachgeben wollte, dann musste er das eben tun und seine Mätzchen über sich ergehen lassen. Doch kaum hatte Cedric diese Entscheidung für sich getroffen, schien jemand anderer Erbarmen mit ihm zu haben, denn plötzlich spürte er, wie Cyan’s Arme mit dem konsequenten, wenn auch sanften Kraftaufwand eines Unbeteiligten von ihm gezogen wurden. „Cyan, nimm ein wenig Rücksicht auf Cedric. Ihm geht es ernsthaft schlecht“, hörte er Seth neben sich in versöhnlichem Ton bitten. Dankend wandte er den Kopf zu ihm und lächelte leicht. Heute war wirklich kein Tag für anstrengende Auseinandersetzungen und dämliche Zweideutigkeiten. „Ach, Seth, schon wieder musst du mir den Spaß verderben“, brummte Cyan und setzte sich wieder richtig hin. Seufzend verschränkte er die Arme und stützte das Knie gegen die Kante des Mensatisches. „Du stehst wirklich immer zwischen Cedric und mir.“ Cedric hob auf diese Aussage hin eine Augenbraue und schaute skeptisch zu dem Blonden, der jetzt doch wieder leicht schmunzelte und deutlich machte, dass es nur eine weitere scherzhafte Bemerkung gewesen war. Seth schüttelte nur leicht lächelnd den Kopf, anscheinend ebenfalls amüsiert und wandte sich dann wieder an Cedric, der das Ganze nun einfach abtat. Er hatte andere Sorgen, die Cyan’s aufdringliches Verhalten stillschweigend zur Seite drängten und mit Krawall und Remmidemmi auf sich selbst aufmerksam machten. Sogar die lähmende Unsicherheit war zusammen mit Cyan’s Kälte einfach hinfort geweht worden. „Oh man…“, hauchte er, legte eine Hand an die Stirn und grummelte erneut. Es war einfach kaum auszuhalten in diesem Zustand, aber er wusste auch, dass es vorbeigehen würde. Solche Kopfschmerzen hatte er öfters, eine Art Ausdruck von Überlastung wegen des Schul- und Alltags. Nichts Ungewöhnliches, wie er befand. „Aber im Ernst Cedric, du solltest heimgehen“, machte ihn Seth nun wieder auf sich aufmerksam, zeigte ihm, dass er es offensichtlich nicht für so unbedenklich hielt wie er selbst. Seine Aussage hatte schon ein wenig mehr Eindringlichkeit inne als zuvor und Cedric legte daraufhin leicht die Stirn in Falten. Auch wenn er partout nicht dem Vorschlag Seth’s folgen wollte, so schlich sich der Gedanke über die Möglichkeit es doch zu tun, unweigerlich in seinen Kopf. Einige Sekunden schwieg er und zog es in Betracht sich doch abzumelden, immerhin hatte er noch vier Stunden zu überstehen. Und als ihm bewusst wurde, dass eine davon Mathematik war, da war er schon fast soweit zuzustimmen. Aber im letzten Moment gewannen die Moral und wohl auch die Sturheit doch noch die Überhand und Cedric schüttelte bedacht den Kopf. „Nein, es geht schon.“ Seth schien von dieser Antwort alles andere als begeistert zu sein, denn sofort näherten sich seine elegant geschwungen Augenbrauen ziemlich nahe an und er betrachtete Cedric lange schweigend. Dieser wusste, dass er am liebsten weiter auf ihn eingeredet hätte, aber es gehörte nicht zu der Art seines besten Freundes jemandes Meinung mit allen Mitteln umzustimmen. Generell drängte er niemanden zu etwas, sondern hielt sich immer dezent im Hintergrund. Was Cedric in diesem Moment auch dankend begrüßte. „Wenn Cedric jedes Mal heimgehen würde, wenn es ihm schlecht geht, dann würde er nie aus dem Haus kommen“, warf Nye dann plötzlich mit einem spöttischen Tonfall ein und lenkte die allgemeine Aufmerksamkeit erneut auf sich. Er hatte es allerdings immer noch nicht für nötig befunden auch nur den Kopf zu heben und las stattdessen einfach in seinem Buch weiter. Cedric fragte sich, ob er die ganze Zeit schon zugehört hatte oder ob er einfach die Fähigkeit besaß zu lesen und gleichzeitig alle Konversationen zu verfolgen. „Nye, du verhältst dich unhöflich gegenüber einem Freund“, stellte Aleksi an Cedric’s Stelle fest, denn letzterer nahm es dem Braunhaarigen nicht wirklich übel, auch wenn er das vielleicht hätte tun sollen. Er wusste aber, dass es nicht böse gemeint war. Nye sprach eben immer seine Gedanken aus, egal wie unpassend oder verletzend sie waren. Nye selbst interpretierte seine Worte meistens nicht so, wie es nachträglich auf andere Personen wirkte. Und selbst wenn ihm bewusst war, dass er mit seinen Aussagen Dinge ansprach, die besser nicht laut geäußert werden sollten, so war es ihm in der Regel auch egal. „Na und?“, bestätigte Nye sogleich Cedric’s Einschätzung, ohne sich wirklich für seine Rüpelhaftigkeit zu interessieren zu scheinen. „War jetzt nicht persönlich gemeint, aber seien wir doch mal ehrlich… Cedric hat jeden Tag eine seiner Phasen. Ob nun mit oder ohne Kopfschmerzen, das hier ist auch nix anderes…“ „Nye!“, wies ihn nun Seth zurecht, wenn auch eher tadelnd als wütend. Er verzog leicht den Mund, als er den Braunhaarigen mit hochgezogener Augenbraue ansah. Cedric sprach weiterhin kein Wort, denn er hätte nicht gewusst was er sagen sollte. Natürlich waren Nye’s Worte heftig und auch wenn es schon des Öfteren ähnliche Situationen gegeben hatte, so konnte er das Ganze nunmehr nicht einfach als unterhaltende Bemerkung auffassen. Denn das war sie nicht, Nye meinte das schon vollkommen ernst. Aber Cedric konnte auch nicht leugnen, dass er recht hatte. Er verfiel wirklich fast täglich solchen eingebildeten Depressionen, wenn auch nicht einmal ansatzweise mit einer richtigen Krankheit zu vergleichen, aber rein von seinem Verhalten her konnte man schon daran erinnert werden. Und Kopfschmerzen, Übelkeit und Schwindel waren zumeist einfach nur Nebenerscheinungen, die seinen Frust auf die Welt körperlich zur Schau stellten. Cedric senkte leicht den Blick, da er ein Gefühl von leichter Scham in sich aufkeimen spürte. Er wusste, dass er nichts dafür konnte. Es war ja keine Schauspielerei, die er seinen Freunden vorführte, sondern einfach eine unbewusste Reaktion seines Inneren, die er nicht kontrollieren konnte. Aber er wollte auch nicht, dass seine Freunde deswegen genervt waren oder wie Nye wahrscheinlich schlecht von ihm dachten. „Du solltest echt nicht so fies zu Cedric sein… Wenn er Kopfschmerzen hat, dann ist das nicht gerade angenehm für ihn. Egal aus welchem Grund“, setzte Jamie nun an Seth’s Stelle nach, wenn auch eher zögerlich. Der Jüngste ihrer Gruppe war immer etwas vorsichtig was Nye anging, da die beiden sich gerne in die Wolle kriegten und das meistens in einem schweigenden, tagelang andauernden Wettkampf endete. Den Jamie immer verlor und geradezu winselnd zu Nye zurückkroch, um ihn um Verzeihung anzubetteln. Ersterer war einfach zu konsequent und desinteressiert an Unterhaltungen mit Jamie oder sonst irgendwem aus ihrer Gruppe, als dass er sich daran gestört hätte nicht mehr mit ihnen zu reden. Mit Ausnahme seines besten Freundes Cyan, mit dem er aber nie stritt und die Problematik so ohnehin umging. Nye hat einfach am wenigsten Bezug zu uns. „Ist schon okay, Jamie“, meinte Cedric dann auch leise und sah den Braunhaarigen an, um ihm zu bedeuten, dass er still sein sollte, nachdem Nye nur mit einem gelangweilten Brummen geantwortete hatte. Jamie tat wie geheißen, wenn auch mit einem unsicheren Blick und wandte sich wieder seinem aufgeschlagenen Geschichtsheft zu. Eine Weile herrschte Schweigen, während jeder seinen eigenen Angelegenheiten nachging. Cedric hatte sich zurückgelehnt und die Arme durchgestreckt, um die Handflächen auf den Tisch zu legen. Gerade als er tief durchatmete und versuchte das unangenehme Brummen in seinem Schädel ein für allemal auszublenden, schob sich ein blonder Haarschopf in sein Gesichtsfeld und kurz darauf hatte Cyan seine Hand schon wieder mit der eigenen umschlossen. „Cedi-Boy, du musst sowieso hierbleiben. Ohne dich wird Geschichte doch so unendlich langweilig. Und die Stunden ohne dich überlebe ich eh nicht, wenn ich mich nicht einmal auf die wenigen mit dir freuen kann, Honey.“ Cedric wandte den Kopf zu ihm, beobachtete wie ihn die eisblauen Augen schelmisch anfunkelten. Cyan begann sanft mit dem Daumen über seine Hand zu streicheln, was sie Cedric schnell zurückziehen ließ, als ihn ein Schaudern überlief. Diese zärtliche Geste war schon wieder zu viel für sein Fassungsvermögen an Nähe und so starrte er seinen Freund einen Augenblick später wütend an, sagte jedoch nichts dazu. „Schau nicht so böse“, meinte Cyan nur grinsend und ließ wieder von ihm ab, um sich ebenfalls zurückzulehnen. „Aber weißt du, was mir gerade eingefallen ist?“ „Hm?“ Cedric sah zu ihm und blickte skeptisch in das schmunzelnde Gesicht. Dieser Ausdruck verhieß nichts Gutes, zumindest sah Cedric das so. Oder befürchtete es viel eher. „Wir haben doch beschlossen wieder mehr miteinander zu unternehmen“, begann Cyan zu erklären, wobei sich seine Mimik wieder zu einem normalen Lächeln entspannte. Cedric beruhigte diese Tatsache, weshalb er auch nur nickte und neugierig abwartete. „Deswegen hab ich mir gedacht, dass du doch morgen mal wieder zu mir kommen könntest. Was sagst du dazu?“, schlug der Blonde vor und musterte Cedric nun seinerseits. Zu ihm kommen? Cedric blickte Cyan etwas verwundert entgegen. Es war sicherlich schon fast fünf Monate her, seit er das letzte Mal bei ihm zu Hause gewesen war. Einen besonderen Grund für diese lange Zeitspanne gab es nicht wirklich, Cedric hatte lediglich mit seiner Mutter zu kämpfen gehabt, die ihm kaum erlaubte aus dem Haus zu gehen. Und Cyan schlug sich mit den Bürden seines eigenen Alltags herum. Denn Cyan’s Leben lief nicht so reibungslos ab, wie man es auf den ersten Blick vielleicht vermuten konnte. Das freche Grinsen und die funkelnden Augen, das heitere Lachen und das muntere Zwinkern… All diese Merkmale an Cyan waren nicht selbstverständlich. Denn ein Leben wie er es führte, war nicht heiter, war nicht zum Lachen oder zum Zwinkern. Nein, Cyan’s Leben bot keinen Anlass dazu. Vielleicht war seine Kindheit noch sorglos gewesen, aber das alles hatte sich schließlich vor gut fünf Jahren begonnen zu ändern, als Cyan’s Mutter Sonya an Krebs erkrankt war. Und vor knapp zwei Jahren hatte ihre Kraft letztendlich einfach nicht mehr ausgereicht. Ihr Tod hatte ein tiefes Loch in das Leben der verbliebenen Familie Blair gerissen, welches jeden auf seine eigene Weise in den Abgrund zog. Der Vater, der den Verlust der Mutter nie verkraftet hatte, litt immer noch an schweren Depressionen und somit war es alleinig Cyan’s Aufgabe sich um seinen jüngeren Bruder Noah zu kümmern, der es in seinen jungen Jahren noch schwerer hatte ohne die Mutter zu leben. Er hat’s wirklich nicht leicht… Cedric spürte, wie ihn wieder eine neuerliche Welle von Mitleid drohte hinfort zu spülen. Sein eigenes Gejammer kam ihm im Gegensatz zu Cyan’s Problemen so unendlich belanglos vor, dass er ein regelrecht schlechtes Gewissen bekam bei dem Gedanken an das Leben, das der andere führte. Dabei war es umso unglaublicher für ihn zu fassen, wie Cyan trotz alledem wirkte. Als würde er von gar nichts belastet sein. Er scherzte, unternahm viel, feierte ausgelassen… Cedric hatte ihn nicht mehr traurig oder sich beschwerend vorgefunden, nachdem er den ersten Schock des Todes seiner Mutter überwunden hatte. Und genau für diese Stärke bewunderte Cedric ihn. „Klar, ich würd mich freuen“, erwiderte er etwas sanfter und lächelte ruhig. Seine Wut und Aufgebrachtheit wegen der neuerlichen, neckenden Annäherung war auf einen Schlag verpufft und an ihre Stelle war ein ehrliches Freundschaftsgefühl getreten, das ihn nun statt des Mitleids überflutete. „Cool. Also dann morgen nach der Schule? Du kannst ja gleich mit dem Bus mitfahren“, grinste Cyan und schien sich ebenso zu freuen wie Cedric. „Jap. Jetzt hoff ich bloß, dass meine Mom nicht rumzickt.“ Cedric war seine Mutter ganz entfallen, was den Umstand, dass sie wahrscheinlich ihre Planung vereiteln würde, umso betrüblicher machte. Denn er wollte unbedingt Cyan besuchen, wollte wieder mehr Kontakt zu ihm haben. Wollte die schönen Erinnerungen aus Kindertagen gegen die Distanz, die durch zu wenig Bemühung für die Freundschaft entstanden war, eintauschen. „Du musst sie überzeugen, Cedi-Boy. Sag ihr, dass du sie erst gestern aushalten musstest und dafür dann eben mal den Nachmittag zu mir kommen kannst“, sagte Cyan und sah Cedric auffordernd an. Dieser schmunzelte leicht über die ehrliche Wortwahl. „Mach ich, keine Sorge.“ „Gut.“ Cyan grinste und Cedric konnte nicht anders, als es ihm gleichzutun. Er würde schon dafür sorgen, dass er Cyan besuchen und ihre Freundschaft wieder enger schnüren konnte. Egal welche Opfer er deswegen bringen musste. Cedric hatte die Zähne zusammengebissen und sich auch noch durch die letzten beiden Stunden seines Schultages gequält, auch wenn sein Kopf mehrmals unter dem ganzen Druck gedroht hatte zu explodieren. Besonders in Mathe hätte er sich am liebsten ins nächstbeste Krankenhaus einliefern lassen, hatte es allerdings dabei belassen den Kopf alle zwei Minuten erschöpft und halb verendet auf den Tisch sinken zu lassen. Mittlerweile lag Cedric ausgestreckt auf dem alten Sofa in seinem Wohnzimmer und ärgerte sich darüber, dass er so weit in das alte Ding einsank, da sich sein Kopf ohnehin schon wie in Watte gepackt fühlte und die Empfindung so nur noch verstärkt wurde. Am liebsten hätte er sich einfach auf den harten Teppichboden gelegt und gehofft, dass die Kälte dort unten ausreichte um seinen Kopf einzufrieren. Aber aus Zweifel darüber, ob die Unbequemlichkeit nicht zu noch mehr Schmerzen führte, beließ er es doch lieber bei dem flauschigen Sofa. Cedric seufzte, sah unter geschlossenen Lidern die Zeit vorbeirinnen. Und dann hörte er endlich das leise Klicken des Türschlosses, als jemand die Haustüre aufsperrte. Sofort richtete Cedric sich auf, was er eine Sekunde später bereute, denn sein Kopf dröhnte so kurz nur noch mehr. Verdammt…! Schnell kniff er die Augen zusammen, wartete bis der Druck sich wieder einigermaßen regulierte. Währenddessen horchte er genau auf die Geräusche, die von dem Raum, der Flur, Küche und Esszimmer gleichzeitig bildete, ausgingen und durch den altmodischen Rundbogen zu ihm ins Wohnzimmer schwebten. Ich habe doch tatsächlich fast schon sehnsüchtig gewartet ,bis sie nach Hause kommt. Jetzt geht’s bergab… Cedric verharrte noch eine Minute stillschweigend, ehe er die Beine vom Sofa schwang und sich bedacht langsam erhob. Mit einem leisen Grummeln schlurfte er in den anderen Raum und sah seine Mutter, wie erwartet, gerade ihre Arbeitstasche ausräumen. „Hey, Mom“, meinte er leise, während er sich neben den Küchentisch stellte, die Hand an der Kante abstützte. „Ich hab da eine Frage…“ „Hm?“, machte seine Mutter und blätterte in einem Packen aus Blättern, der vermutliche ihre Arbeitszeiten beinhaltete. „Kann ich morgen nach der Schule gleich mit zu Cyan?“ Cedric’s Ton war bemüht interesselos, er wollte nicht zeigen, wie unsicher er war. Doch seine Augen huschten vorsichtig und abwartend in dem abgewandten Gesicht der Mutter hin und her, hofften und bangten zugleich. Er wusste, dass es immer wieder ein Spiel mit dem Feuer war, seine Mutter um so etwas zu bitten. Denn wenn sie einen schlechten Tag hatte, dann endete dies nur wieder in einer ihrer beleidigten, deprimierten Phasen. Und das hieß, dass Cedric diese mit noch mehr gemeinsamen Unternehmungen ausmerzen musste. „Was? Wieso?“ Cedric schluckte. Er hatte sich schon einmal definitiv verbrannt. Der fast schon geschockte Ausdruck im Gesicht der Frau ihm gegenüber, als sie rasch aufblickte, zeigte eindeutig wie sie zu der Bitte stand. Mit fast angsterfüllten Augen starrte sie in die seinen, fast so, als hoffe sie, dass er ihr nun sagte, dass es ein Scherz gewesen war. Cedric spürte, wie schon wieder die Wut in ihm hochkroch. Muss sie denn immer so überreagieren? Sie ist eine verdammte Fanatikerin…! „Naja, weil wir halt gerne mal wieder was zusammen unternehmen würden“, versuchte Cedric gezwungen ruhig seinen Standpunkt zu untermauern, da er nicht gewillt war, diesmal nachzugeben. Er wollte zu Cyan, koste es was es wolle. Trotzdem wusste er auch, dass er mit aggressivem Drängen nicht sehr weit kommen würde, weshalb seine Stimme immer noch eher leise und zögerlich klang. Unterwürfigkeit war meist die erfolgversprechendere Variante. „Du siehst ihn doch ohnehin jeden Tag in der Schule. Muss das denn dann sein, dass du den Nachmittag auch noch weg bist?“, erwiderte seine Mutter und vermittelte ihm damit, dass sie nicht vorhatte zuzustimmen. Wenn sie zu diskutieren anfing, dann war meistens schon alle Hoffnung verloren. „Mom! Das ist doch was ganz anderes“, rief Cedric, wenn auch mehr aus Verzweiflung. Diese breitete sich auch in seinen Gedanken aus, während er fieberhaft versuchte eine Lösung zu finden. Irgendwie musste er seine Mutter doch dazu bringen können, ihm wenigstens einmal zu erlauben seine Freunde zu sehen! „Ich möchte das nicht, Cedric. Du unternimmst ohnehin so viel mit Cyan und den anderen, bist fast jeden Tag weg und ich sitze alleine zu Hause. Kannst du nicht auch einmal ein bisschen Zeit mit mir verbringen? Immerhin bin ich deine Mutter, ich denke nicht, dass das zu viel verlangt ist“, meinte sie, wandte sich wieder ihrer Arbeitstasche zu und warf ein Tempopäckchen, den Geldbeutel und andere Gegenstände aufgebracht und hektisch auf den Tisch. Cedric starrte sie mit offenem Mund an. So viel Dreistigkeit und Lüge in einer Aussage hätte er nie im Leben erwartet, obwohl es eigentlich schon zum Alltag gehörte so etwas von seiner Mutter zu hören. Cedric kam es oft vor, als lebe sie in einer vollkommen verzerrten Welt, die sie sich so zusammenschusterte, wie es ihr gerade passte. Sie war so darin gefangen, dass sie die Sachen, die sie von sich gab, auch wirklich glaubte. Denn der Realität entsprachen sie definitiv nicht. Cedric saß fast jeden Tag zu Hause, kam lediglich in die Stadt, wenn ihn Seth zu seinen Shoppingtouren mitschleifte. Und das war maximal einmal in der Woche, wenn es nicht sogar dann wieder von seiner Mutter vereitelt wurde. Die restliche Zeit verbrachte er fast ausnahmslos mit ihr, hörte ihr bei nicht nachvollziehbaren Schwelgereien zu, ertrug ihre Auffassung von Spaß. Es war abnorm zu sagen, dass er jeden Tag außer Haus war, ja, es auch nur zu denken grenzte an Wahnsinn. „Mom!“, rief er erneut, da der Schock immer noch in seinen Gliedern saß. „Du weißt genau, dass das nicht stimmt. Ich habe seit drei Wochen, seit ganzen drei Wochen, nichts mehr mit meinen Freunden unternommen, weil du jedes Mal gesagt hast, dass ich nicht darf! Und stattdessen habe ich meine Zeit mit dir verbracht. Weißt du nicht mehr? Philadelphia, Spaziergänge, Filme ansehen… Alles! Und gestern erst waren wir hier in Phoenixville einkaufen. Wie kannst du dann so was nur behaupten?!“ „Cedric, ich habe gesagt, dass ich das nicht will und dabei bleibt es auch.“ Cedric’s Mutter packte die Sachen, die sie zuvor aus ihrer Tasche gekramt hatte und verstaute sie an den ihnen angestammten Plätzen. Cedric sah ihr mit leicht geweiteten Augen zu, während sie sich die Küchenschürze um die Hüfte band und begann etwas zu Essen zu machen. Das kann doch nicht wahr sein…! Was mach ich gegen solche Verblendung? Cedric ließ sich kraftlos auf den Küchenstuhl sinken. Zwar waren seine Kopfschmerzen mit der Ungläubigkeit verschwunden, aber der Frust, der sich jetzt in ihm aufbaute, ließ ihn sich noch schlaffer fühlen. „Mom…“, brummte Cedric, nachdem er die Arme von sich gestreckt auf den Tisch und den Kopf auf den rechten von ihnen gelegt hatte. Alles in allem gab er bestimmt ein ziemlich jämmerliches Bild ab, aber das erschien ihm der einzige Weg, um irgendwie noch ans Ziel zu kommen. „Bitte!“ „Nein, Cedric!“, sagte seine Mutter scharf und begann eine Zwiebel in ihrer Wut äußerst gnadenlos in Einzelteile zu hacken. Cedric fragte sich, ob sie ihm das Küchenmesser wohl auch in den Bauch rammen würde, nur damit er unfähig war aus dem Haus zu gehen. Er war fast überzeugt davon. Einige Minuten vergingen schweigend, in denen Cedric ein Gefühl auf der Haut spürte, dass dem von Elektrizität glich. So schön es sich anhörte, Cedric wusste, dass es nur wegen der wachsenden Verzweiflung entstanden war. Und es fühlte sich auch zweifellos nicht gut an. Ich will morgen zu Cyan! Warum kann sie nicht einfach ja sagen? Cedric hätte am liebsten geschrien vor Ratlosigkeit, stattdessen blieb er allerdings in seiner Position und starrte an einen blanken Fleck auf der leicht gelblich gestrichenen Wand. Es war hoffnungslos, so wie seine Mutter sich gerade gab, war es unmöglich sie umzustimmen. Das stellte an einem normalen Tag schon eine Sisyphusarbeit dar, da sie immer wieder knapp davor war nachzugeben und dann doch wieder ein Verbot aussprach. Aber heute schien in der Arbeit wieder irgendeine Kleinigkeit vorgefallen zu sein, die ihre Laune gen Erdkern gezogen hatte und die in dem zähflüssigen Magma nun vor sich hinschwappte. Cedric hatte schon fast aufgegeben, sich seiner Deprimiertheit hingegeben, als seine Mutter ihm ungewollterweise doch noch einen Hoffnungsschimmer zukommen ließ. „Heute ist eine Pflanzenausstellung im Gartencenter. Ich fände es schön, wenn du mich dorthin begleiten würdest.“ Cedric sah von seinem Fleck auf und beobachtete interessiert seine Mutter, die sich angestrengt auf ihre Gemüseopfer konzentrierte. Sie schien sich bewusst zu sein, dass sie ihm so die Möglichkeit gab einen Tauschhandel abzuschließen. Und genau das würde Cedric auch tun, denn ihm war klar, dass es seiner Mutter viel bedeuten musste, dass er mitkam. Sonst hätte sie das Thema nie im Leben angesprochen. „Ich komme mit. Und morgen darf ich dafür zu Cyan“, forderte Cedric sogleich mit fester Stimme, während er seine grauen Augen fixierend auf die Gestalt seiner Mutter legte. Diese reagierte rein optisch nicht, brachte den kleinen Schimmer der Hoffnung in Cedric’s Herzen allerdings trotzdem dazu sich zu entzünden und langsam zu brennen. „Das weiß ich noch nicht.“ Seine Mutter hatte einen strengen Ton angesetzt, der die Chancen auf ein ’Ja’ nicht gerade sehr hoch schätzen ließ, aber allein die Möglichkeit verjagte Cedric’s negative Gefühle in rasender Geschwindigkeit. „Und wann ist diese Ausstellung?“, fragte er und richtete sich wieder auf, um sich zu strecken. Ein vorfreudiges Grinsen umspielte seine Lippen, das natürlich nur auf den wünschenswerten Besuch bei Cyan bezogen war, aber sich dennoch nicht verbergen hatte lassen. Und auch die kleinen Speere seiner Kopfschmerzen traten langsam den Rückzug an. „In zwei Stunden“, antwortete seine Mutter und schien sich merklich zu entspannen. Wahrscheinlich hoffte sie immer noch, dass sie ihren Sohn ein weiteres Mal den ganzen Tag an sich ketten konnte, ohne ihm zu erlauben, dass er seine Freunde sah. Aber da hatte sie sich geschnitten. Denn seine vergangenen Erinnerungen würde er mit absoluter Sicherheit bekommen. Dafür würde Cedric schon sorgen. Ich dachte, Brasilien wäre weiter weg… Cedric hob die Hand, und schlug ein Palmblatt zur Seite, das ihm den Weg versperrte. Eine Sekunde darauf spürte er, wie es wieder gegen seinen Hinterkopf prallte. Ich hasse Pflanzen! Seine Mundwinkel näherten sich noch ein wenig mehr dem Boden an, als er seiner Mutter durch den Urwald folgte, der sich vor ihnen auftat. Die Pflanzenausstellung zu der Cedric mitgeschleift worden war, hatte sich als weitläufiger als erwartet herausgestellt und so stapfte er schon seit gut zwei Stunden durch alle Biotope der Erde und wurde mit sämtlichem Gewächs, das dort zu finden war, konfrontiert. Im Moment kämpfte er sich durch regelrechte Wälder von Palmen und anderen tropischen Pflanzen, die ihn wahrheitsgemäß an den Regenwald Brasiliens erinnerten. Die Luftfeuchtigkeit war unglücklicherweise ebenso realitätsnah, was Cedric nicht nur zum Schwitzen brachte, sondern ihm auch das Atmen um einiges erschwerte. Essentiell um den Tag mit seiner Mutter zu überleben und somit noch eine Qual mehr, die er über sich ergehen lassen musste. „Schau mal, diese Bulbophyllum echinolabium da vorne! Ist die nicht herrlich? Wie kriegen sie das nur hin?“ Cedric hatte keine Ahnung welches abnorme Unkraut seine Mutter jetzt schon wieder entdeckt hatte, aber der Name ließ auf nichts Gutes schließen. So seufzte er auch nur genervt, als seine Mutter ihn am Arm packte und weiterzog, wobei er über einen der unzähligen Schläuche stolperte, die sich auf dem Boden wie ein Schlangennest wanden. Woher kennt sie nur diese ganzen Namen, mit denen keiner was anfangen kann? In der Tat legte seine Mutter ein breites, botanisches Wissen an den Tag, das denen der überall herumlungernden Berater in nichts nachstand. Cedric führte dies einfach auf die unzähligen Sachbücher über Pflanzenkunde, die zu Hause im Bücherregal standen, zurück und tapste ihr nach bis sie endlich vor einem Blumentopf stehen blieb, der von der Decke hing. „Ist sie nicht wunderschön? Sie dir nur an, wie lang die Blütenblätter sind! Die haben sie wirklich wundervoll hingekriegt…“, murmelte seine Mutter mit einem Hauch von Ehrfurcht in der Stimme, die von der Begeisterung aber rüde zur Seite gestoßen wurde. Cedric brummte nur und besah sich mit gelangweiltem Blick die Pflanze vor sich, die ihn mit ihren zwei lange Blütenfransen, welche ziemlich weit nach unten hingen, seltsamerweise an einen vollbärtigen alten Magier erinnerte. An sich sah sie zwar wie eine normale Orchidee aus, das konnte Cedric immerhin noch feststellen, aber die drei tentakelartigen Blütenenden machten ihm bei längerem Betrachten doch ein wenig Angst. Aus dem alten, harmlosen Mann formte sich nämlich nach und nach ein gruseliges, ekelerregendes Insekt, das ihm ganz und gar nicht geheuer war. Angewidert wandte Cedric den Blick ab. Ich muss hier raus. Langsam dreh ich nämlich vollkommen durch… Gerade als er sein Handy aus der Hosentasche ziehen wollte, um zu sehen wie viel Zeit in der grünen Hölle er schon überstanden hatte, riss er den Kopf erschrocken in die Höhe, als ein quietschender Schrei die Luft erfüllte. Verdattert drehte Cedric den Kopf nach allen Seiten, um die Ursache für dieses unangenehme Geräusch zu erfassen. Schließlich konnte er die Schuld seiner Mutter zuordnen, welche genau in diesem Moment mit ausgebreiteten Armen auf eine Frau zusteuerte, die locker Cedric’s Urgroßmutter hätte sein können. „Betsy! Ach Gottchen, wie lange ist das denn jetzt schon her?! Komm, lass dich drücken“, frohlockte seine Mutter, wobei ihre Stimme immer noch einige Dezibel zu hoch für das menschliche Gehör zu sein schien. Mit einem Strahlen im Gesicht nahm sie die rundliche, alte Frau in den Arm. „Molly, meine Liebe. Das man dich hier antrifft…! Ach, ihr Jungspunde immer. Ihr habt ja noch die Kraft, um euch hier durchzukämpfen“, erwiderte diese mit ihrer zittrigen Stimme, die Cedric vorkam, als würde sie in dieser Schwüle schon ums Überleben kämpfen. Was wahrscheinlich ihr angedeutetes Problem zu sein schien, zumindest entnahm er dies ihrer rasselnden Atmung. „Oh, du wieder, Betsy!“ Cedric’s Mutter lachte geschmeichelt auf, legte der alten Dame dabei eine Hand auf die Schulter. Cedric nutzte die Zeit und besah sich die fremde Person gelangweilt ein wenig näher. Ihr schneeweißes Haar hatte sie in knotenartiger Manier nach hinten gebunden, während eine dicke aber kleine Brille ihre schmale Nase zierte und die grünlich-grauen Augen unnatürlich groß erscheinen ließ. Ihrem Kleidungsstil nach zu urteilen, war sie mindestens schon an die achtzig, allerdings war die Spanne, in denen Menschen solche Kleidung trugen, ziemlich groß. Was seine Mutter am gestrigen Tag einwandfrei bewiesen hatte und so konnte Cedric das Alter der Frau auch nicht mit Sicherheit bestimmen. Die Anzahl an Falten in ihrem Gesicht ließ seine Vermutung allerdings zumindest als wahrscheinlich durchgehen. „Aber schau, das ist mein Sohn Cedric. Du kennst ihn ja noch nicht. Cedric, komm mal her, begrüß Betsy!“, schnatterte seine Mutter währenddessen fröhlich weiter und winkte ihn ungeduldig zu sich. Und schon wieder redet sie mit mir, als sei ich fünf… Sich wie so oft ein genervtes Stöhnen verkneifend, watete Cedric gemächlich auf die beiden zu und fand sich keine Sekunde nach dem Stehenbleiben schon zwischen zwei überraschend kräftigen Händen wieder, die sich um seine Oberarme schlossen. „So, so. Du bist also der Junge von Molly. Ganz schön ansehnlicher Bursche bist du, jaja. Die Haare vielleicht ein wenig zu lang und dieses Rot… Ich weiß ja nicht. Hätte dich schon fast mit einem burschikosen Mädchen verwechselt“, plapperte Betsy sogleich drauf los und besah sich Cedric von oben bis unten. Unter dem Adlerblick ihrer vergrößerten Augen fühlte sich dieser zunehmend unwohl, was ihn zu einem Schlucken verleitete, um sich nicht aus dem Griff zu winden, der ihn schon wieder mehr als unruhig werden ließ. Mädchen…? Wenn man so blind ist, wie die, dann vielleicht… Aber so. Ich bitte dich! Cedric konnte nicht umhin, sich doch ein wenig angegriffen zu fühlen, vermied es aber das Gesicht beleidigt zu verziehen. Alte Menschen waren eben so. „Also, Jungchen, du begleitest deine Mutter also auf die Pflanzenausstellung. Das nenne ich lobenswert. Du weiß ja, Molly, die Jugend heutzutage…! Ein Graus, sage ich dir. Die interessieren sich doch nur noch für ihre … wie heißen die doch gleich? Blechstation oder sowas… Du weißt das doch sicher, Liebchen, diese schwarzen Kästen vorm Fernsehgerät, auf denen die jungen Leute immer so begeistert herumdrücken…?“, schwatzte Betsy heiter weiter, blickte Cedric dann fragend an. „Playstation…?“, murmelte dieser leise und hob eine Augenbraue. „Ja, genau diese Dinger! Hach, da sitzen sie den ganzen Tag davor und bekommen sonst nichts mehr mit. Mein Enkel ist genauso einer. Aber dass du dich für sowas wie die Natur noch interessierst, das ist wirklich mal was Anständiges!“ Cedric räusperte sich leicht, schwieg allerdings und würgte auch den Wunsch ab, die Augen zu überdrehen. Wieder so eine alte Labertasche, die nur über die ach so verdorbene Jugend mosern kann… „Ja, mein Junge ist nicht so einer. Der passt noch auf seine Mutter auf, wie es sich gehört“, bekräftigte Molly und schlang die Arme um seinen Oberarm, nachdem Betsy ihn endlich losgelassen hatte. Cedric brummte unhörbar, verzog nur leicht das Gesicht. Es war nichts Neues, das seine Mutter ihn vor fremden Leuten in den Himmel hinauf lobte, zu Hause allerdings genau das Gegenteil als Vorwurf an ihn nutzte. Er hatte sich daran gewöhnt, dass seine Mutter sich alles so zurechtbog, wie es eben gerade am besten passte. Daran gewöhnt, dass er ihr Spielball war. Reines Unterhaltungsmittel, damit sie nicht im Sumpf ihres gescheiterten Lebens versank. Während Cedric in seinen erdrückenden Gedanken schwamm, begannen Betsy und seine Mutter ein Gespräch zwischen dem Untergang der Jugend und der Blütezeit für Tulpen, dem Cedric allerdings nicht folgte. Er hatte genug von diesen Menschen um sich herum, genug von den Pflanzen, von den Lügen, von den Täuschungen und dem durch Sensationslust erarbeiteten Tratsch. Cedric wollte einfach nur seine Ruhe haben, wollte wieder nach Hause in sein Zimmer. Und vor allem wollte er das, weswegen er die ganze Tortur eigentlich ertrug. „Mom“, unterbrach er die beiden Frauen kurzerhand in ihrem Gespräch, was Betsy’s Augen kurz noch ein wenig größer werden ließ. Anscheinend hätte sie sich einen solchen gesellschaftlichen Frevel von dem Musterbild an Sohn, den sie gerade kennenlernen durfte, nie im Leben erwartet. Doch Cedric ignorierte sie einfach, genauso wie er den nervösen Blick seiner Mutter, die offensichtlich schon wieder um ihre mühsam erheuchelte Fassade bangte, nicht weiter beachtete. „Was ist jetzt mit morgen? Kann ich nun zu Cyan oder nicht?“ „Cedric, ich denke nicht, dass wir dieses Thema jetzt diskutieren sollten. Wir sprechen zu Hause. Also Betsy, die Blumenknollen, die du da gesehen hast, sind die-“ „Nein, ich will das jetzt wissen! Darf ich?“, mischte sich Cedric erneut ein, die Augen hartnäckig auf das Gesicht seiner Mutter gerichtet. Er würde sie so lange in ihrem Gespräch stören, so lange der ungehobelte Sohnemann sein, bis sie endlich nachgab. Eine bessere Gelegenheit konnte er nicht ergattern, denn nun brauchte er nur stur nachfragen und drängen. Seine Mutter hielt so viel darauf, dass sie auf ihre Umwelt wie eine heile, anständige Familie wirkten, dass sie unter dem Druck der Wahrheit irgendwann zusammenbrechen würde. „Cedric! Reiß dich zusammen“, herrschte sie ihn dann mit gedämpfter Stimme an, drehte sich zu ihm und warf unauffällige Blick in Betsy’s Richtung, welche ihm verdeutlichen sollten, dass eben genau der Fall eingetreten war, den er provozieren wollte. Seine Mutter schämte sich. Perfekt. Cedric’s Wille wuchs unter seinem Wunsch und die unsichtbare Mauer aus Zuneigung, die seine Mutter in jahrelangem Klammern aufgebaut hatte, war für den Moment einfach verschwunden. „Du wolltest Zeit mit mir verbringen, jetzt verbringen wir Zeit. Also darf ich auch zu Cyan. So war es abgemacht“, stellte Cedric eiskalt fest, obwohl er wusste, dass er somit die nette Vorstellung regelrecht abschlachtete, die seine Mutter Betsy aufgedrückt hatte. Ein Seitenblick zu der alten Dame, ließ ihn allerdings ein wenig Verwirrung spüren. Schmunzelt sie…? „Cedric..!“ Cedric’s Blick huschte wieder zu der anderen Frau. Der Ausruf seiner Mutter endete in einem ungläubigen Hauchen, als sich ihre Augen in purem Entsetzen auf ihn legten. Ihre Fassungslosigkeit bestärkte Cedric nur, sie war verwundet, wehrlos. Gleich einem angeschossenen Reh, er musste ihr nur noch den Todesstoß versetzen. „Darf ich nun zu Cyan?“ Cedric’s Stimme war kalt, herausfordernd, fast schon streng. Er wusste selbst nicht, wie er es anstellte, dass es klang, als hätte er seine Mutter in der Hand und nicht umgekehrt. Aber die Frau vor ihm schien sich in diese Vorstellung gehorsam einzufügen, denn nach einigen Sekunden Stille und einem harten Schlucken, nickte sie schließlich. „Meinetwegen…“, murmelte sie heiser, atmete tief ein. Sie hatte sich gerade mehr oder weniger selbst die Kehle aufgeschlitzt, Cedric hatte lediglich das Messer an den Hals gesetzt. Ich darf… Cedric konnte es kaum fassen. Er hatte gerade wirklich seiner Mutter die Stirn geboten und das, obwohl sie felsenfest dagegen gewesen war. Es war ihm, als habe er dies noch nie in seinem Leben geschafft, als wäre er gerade von der Maus, bedroht durch die Katze, zum Hund herangewachsen. Doch was viel wichtiger als sein glorreich errungener Sieg war, stellte die Tatsache dar, dass er den morgigen Tag wirklich mit Cyan, folglich ohne seine Mutter, verbringen würde. Nur mit einem guten Freund. Und somit endlich in der Lage war alte Erinnerungen, seine Erinnerungen zurückzubringen. Ohne ein weiteres Wort zu verlieren, drehte er sich um und fischte sein Handy aus der Hosentasche. Mit emsigen Fingern tippte er eine Nachricht in die Tasten und schickte sie mit einem leichten Schmunzeln an Cyan. Meine Mom hat doch noch nachgegeben, das mit morgen steht. Und jetzt hab ich dir geschrieben, Aufmerksamkeitsmangel überwunden? ;), hatte er hastig geschrieben und letzteres brachte wieder ein wenig seiner guten Stimmung zurück. Langsam schritt Cedric ein wenig in dem tropischen Gewächshaus herum und besah sich die grünen Ungetüme an Palmen, die ihm im Moment gar nicht mehr so bedrohlich vorkamen. Er konnte sich sogar ein wenig mit ihrer exotischen Schönheit anfreunden. Nur einige Sekunden hatte es gedauert bis Cyan auf die Mitteilung geantwortet hatte. Wahrscheinlich war er ohnehin dabei gewesen, etlichen Mädchen den Hof zu machen und hatte seine SMS so recht schnell zu sehen bekommen. Super! Aber klar doch, Cedi-Boy. Wenn ich weiß, dass du morgen den ganzen Tag bei mir bist, dann bringt das mein kleines Herz zum Rasen , las Cedric, blinzelte einen Moment darauf sofort irritiert. Von einem Moment auf den anderen kam es ihm noch heißer in der kleinen Halle vor und er wäre am liebsten hinaus an die kalte Herbstluft gelaufen, um nicht, ähnlich wie Betsy, beinahe dem Erstickungstod zu erliegen. Allerdings wusste er, dass sich die Hitze, die er verspürte nicht auf seine Lungen bezog, sondern vielmehr auf seine nunmehr rosigen Wangen. Der ist sowas von bescheuert…! Grummelnd schob Cedric eine Hand in die Hosentasche, warf einen prüfenden Blick zu seiner Mutter, die wieder in ein angeregtes Gespräch mit der alten Betsy vertieft war. Seine Gedanken kreisten allerdings immer noch um die SMS von Cyan, die ihn wieder aus unerfindlichen Gründen aus der Bahn geworfen hatte. Nervös biss sich Cedric auf die Unterlippe und las sie noch einmal, nur um erneut einer Hitzewelle ausgesetzt zu werden. Hoffentlich bekommst du ‘nen Herzinfarkt. Wir sehen uns morgen, Vollhonk, schrieb er immer noch etwas unruhig zurück und stellte peinlich berührt fest, dass er mit seiner rüden Antwort schon wieder gezeigt hatte, wie anfällig er für Bemerkungen dieser Art war. Und das, obwohl er Cyan nicht einmal gegenüberstand. Man, ich muss echt mal mit sowas klarkommen. Ich meine… es ist nur irgendeine doofe Bemerkung, die Cyan macht, um mich zu ärgern. Wie wenn er mir sagen würde, dass ich in Mathe ‘ne Niete bin oder so. Ich brauch nicht immer so auszuflippen, nur wenn es in… eine intimere Richtung geht. Cedric legte die Stirn in Falten und scharrte leicht mit dem Fuß auf dem kahlen Betonboden herum. Intim? Das Wort passt jetzt nicht so wirklich… Anzüglich, ja, das ist es. Boha, ich komm einfach mit diesem Thema nicht klar! Was soll ich da schon gegen machen?! Cedric seufzte laut. Es war zum Verzweifeln. Wenn allein schon banale Berührungen für ihn eine Herausforderung waren, die er nicht überwinden konnte, wie sollte er sich dann dagegen wehren, wenn eine Person an ihm klebte, wie Cyan es heute in der Mittagspause getan hatte? Noch nie war jemand so eng bei ihm gewesen, eine feste Umarmung von Seth oder auch einem anderen seiner Freunde, das war so ziemlich das Nahste gewesen, das er je über sich hatte ergehen lassen müssen. Und Cyan’s Art in letzter Zeit war eindeutig ein Kampf, der ihm Sorgen bereitete. Ich muss ihm unbedingt sagen, dass er damit aufhören soll. Definitiv. Sonst sterbe ich noch. Cedric’s Hang zur Übertreibung war nach wie vor lebendig und hatte auch nicht vor sich zu verabschieden. Allerdings erregte das leichte Vibrieren seines Handys erneut seine Aufmerksamkeit, was ihn sofort den Blick auf das Display richten ließ. Aw, wie böse, Cedi-Boy ;) Aber ehrlich: Ich freu mich. Bis morgen , stand dort und Cedric konnte nicht anders als schmunzeln. Der Tag neigte sich bereits seinem Ende zu und ließ die Sonne als flüssiges Rot durch die großen Glasfenster in den Raum schwappen, um ihn in eine samtene Wärme zu tränken. Umgeben von Grün, das Feuer gefangen hatte, blickte Cedric seelenruhig auf die Buchstaben, alles andere ausgeblendet, als würde es schlicht nicht existieren. Das Herz musste ja wieder sein… Aber… Er freute sich auch darauf mit Cyan den Tag zu verbringen, hatte seinen Wunsch verteidigt. Den Wunsch wieder mehr mit Cyan zu unternehmen. Den Wunsch es wieder wie früher werden zu lassen. Den Wunsch alte Erinnerungen zurückzubringen. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)