Emotional Confusion von Heartsbane ================================================================================ Kapitel 1: Sheet Anchor ----------------------- .♣. _______________________________________________________________________________ Ich brauch den Extrempunkt… Okay. Also muss ich… die erste Ableitung ausrechnen? Cedric beugte sich erneut über das aufgeschlagene Heft, um etwas hineinzuschreiben, während sein Kopf unablässig arbeitete. Mal schauen, x zum Quadrat abgeleitet ergibt zwei x…Und x alleine wird zu ein mal… Er kritzelte hastig einige Zahlen und Buchstaben auf das Papier. „Das hättest du sehen sollen! Der ganze Boden war verschmiert mit Sahne und-“ So… Und jetzt brauch ich die Nullstellen. Also gleich Null setzen… oder? Cedric runzelte die Stirn. Gedankenverloren legte er das Ende des Stiftes an seine Lippen, tippte sachte mehrmals dagegen. „Ich kann dir sagen, Mariella war sowas von fertig! Aber wir konnten einfach nicht anders. Jeder hat gelacht, weil-“ Okay. Dann muss ich das Drei mit einem Minus rüberbringen… Gut. Dann kommt für x Fünf raus. Schnell notierte er sein Ergebnis, ehe er sich wieder ein wenig zurücklehnte. „Und unsere Chefin erst! Die war stocksauer, das kann ich dir sagen. Mit verschränkten Armen ist sie dagestanden, wie ein Gefängniswärter. Wir konnten uns nur mit Mühe zusammenreißen, um-“ Alles klar, dann setze ich Fünf also in die zweite Ableitung ein. Scheiße, die muss ich auch noch ausrechnen…! Hastig wandte Cedric den Blick zu der tickenden Küchenuhr an der Wand. Unbarmherzig verkündete sie ihm, dass es Viertel vor Sieben war. Bald würde er aufbrechen müssen, um den Bus zur Schule noch rechtzeitig zu erreichen. „Und Maggy…! Wenn du der ihr Gesicht gesehen hättest! Sie war total entgeistert, als Mrs. Flennders-“ Mit leichtem Entsetzen in den Augen drehte sich Cedric schnell wieder zu dem Mathematikheft, beugte sich schon fast gierig darüber. Okay, also schnell jetzt. Zwei x wird zu Zwei und x hoch drei ist dann… Sein Gehirn arbeitete auf Hochtouren, versuchte die ihm so verhassten Zahlen in die richtige Form zu bringen. Konzentriert huschten seine Augen über das Papier, während er möglichst fehlerfrei die gesuchten Gleichungen notierte. „Walter, ja, der hat dann am Ende alles zusammengewischt. Hat sich ja sonst keiner bereit erklärt. Aber froh war er auch nicht, weil… Cedric? Hörst du mir überhaupt zu?“ Genau. Und jetzt Fünf einsetzen…Das gibt dann… Cedric griff nach dem Taschenrechner, wie ein Löwe mit der mächtigen Pranke nach einer zitternden Maus. Sekunden später tippten seine ruhelosen Finger eine Reihe von Zahlen in das Gerät. „Cedric?“ Sehr gut. Also das ist negativ, das heißt es ist ein… „Cedric!“ Cedric zuckte erschrocken zusammen und die Wolke aus Zahlen verflüchtigte sich rasch, um in den hintersten Winkeln seines Kopfes Schutz zu suchen. „Cedric, ich erzähle dir gerade etwas. Könntest du mir dann auch freundlicherweise deine Aufmerksamkeit schenken?!“, forderte seine Mutter mit vorwurfsvollem Ton, als er zum ersten Mal seit einer halben Stunde zu ihr aufblickte. Sie stand mit in die Hüften gestemmten Händen hinter der Küchentheke, eine Schürze umgebunden und überhäufte ihn geradezu mit ermahnenden Blicken, die noch dazu vor Entrüstung fast zu ertrinken drohten. „Mom!“, rief Cedric mit einer Spur Verzweiflung in der Stimme, die allerdings von der Übermacht an Zorn erstickt wurde. „Ich mache meine Hausaufgaben! Da kann ich nicht deinen dämlichen Geschichten aus der Arbeit zuhören.“ Er konnte förmlich beobachten, wie sich das Herz seiner Mutter selbst in Stücke riss. Und sein eigenes Sekunden darauf schon in den tödlichen Fängen um sein Leben bangte. „Natürlich.“ Die Stimme seiner Mutter war ausdruckslos, das Gesicht von einem Augenblick auf den anderen eine steinerne Maske. Mit ruckartigen, konsequenten Bewegungen machte sie sich daran das Geschirr abzutrocknen. Cedric konnte nicht umhin es trotz seiner Leblosigkeit zu bemitleiden. „Mom!“, sagte Cedric erneut, aber nun eher gequält als rebellisch. Die Verzweiflung hatte sich aus dem Würgegriff des Zorns befreit und überflutete nun seine Stimme. „Das war nicht so gemeint. Sei nicht schon wieder böse auf mich. Du kannst es mir heute nach der Schule erzählen, okay? Aber ich muss mich jetzt echt beeilen.“ Er sah sie mit einem flehenden Blick an, wartete auf irgendeine Reaktion. Eine erlösende Geste, damit er endlich diesen verdammten Extrempunkt ausrechnen konnte. „Hm…“, machte seine Mutter nur und vergewaltigte erneut einen Teller, der unfähig war seine Schreie in die Welt hinauszutragen. „Von mir aus.“ Da war er! Der beschwichtigte Ausdruck in ihrem Gesicht, als sie sich halb zu ihm wandte, gefolgt von einem freudigen Grinsen und dem Strahlen in den Augen, das er nur zu gut kannte und welches ihm grausame Magenschmerzen bereitete. „Wir können ja heute Nachmittag was zusammen unternehmen.“ Und auch heute wurde er nicht enttäuscht. Sein Magen fühlte sich an wie von tausend Messern auf einmal malträtiert. „Klar, Mom. Aber jetzt muss ich echt weitermachen.“ Ergeben lehnte sich Cedric wieder über sein Heft und hielt die letzten Erkenntnisse seiner Arbeit fest. Befreit aufatmend richtete er sich wieder auf, klappte das Heft in einer hastigen Bewegung zu und stopfte die anderen Schulsachen in den abgegriffenen Rucksack auf dem Stuhl neben sich. „Ich muss dann auch“, verkündete Cedric schließlich, während er sich schnell erhob und die Arme in die weiten Träger gleiten ließ. „Ist gut, Schatz. Vergiss deine Jacke nicht, es ist kalt draußen. Sonst wirst du krank.“ Cedric’s Mutter wartete gar nicht erst auf eine Reaktion, sondern eilte zur Garderobe, um die nicht mehr ganz so gut erhaltene, schwarze Jacke vom Haken zu nehmen und Cedric in die Hände zu drücken. „Bis später und lern schön fleißig“, trug sie ihm auf, bevor Cedric die rauen Lippen auf seiner Stirn fühlte. Sich ein genervtes Stöhnen verkneifend, hastete er an ihr vorbei, schlüpfte in seine löchrigen Schuhe und legte bereits die Hand an den Türknauf. „Ciao!“ Und schon hatte er die Tür hinter sich zugeknallt. Einen Moment wartend, um das zurückgehaltene Aufstöhnen doch noch aus sich herauszulassen, erdrückte er gleichzeitig noch die aufkeimende Frustration, die ihre Schlingen um seinen Hals winden wollte. Eine Prozedur, die sich jeden Tag wiederholte und ihn trotzdem nie ganz losließ, als er den mit weißem Kies bedeckten Weg zur Straße entlangging. Teil des mühsam gepflegten Gartens, den seine Mutter ihr Eigen nannte und dem Cedric noch nie wirklich Beachtung geschenkt hatte. Es war ihm ein Rätsel, wieso sie den letzten Rest ihres kläglichen Lohns in die Erschaffung einer Fassade ihres Lebens steckte, die die anderen Nachbarn vielleicht etwas weniger herablassend auf sie hinabblicken ließ. Cedric bezweifelte, dass ein paar hübsche Blumen den tiefsitzenden Hass auf alles Arme, alles Mittellose so einfach auslöschen konnten. Aber seine Mutter schien dieser Wunschvorstellung mit solchem Enthusiasmus nachzujagen, dass er sie ihr nicht nehmen wollte und die dadurch gewonnenen Minuten der eingebildeten Freiheit dankbar ergriff. Ich bin kein kleines Baby mehr! Wann begreift sie das endlich?! Doch im Moment erregte immer noch etwas anderes sein Gemüt. Cedric wusste, dass er sich diese Frage wahrscheinlich schon zum dreitausendneunhundertsechsundfünzigsten Mal stellte, entsprechend jedes Tages seines Lebens an den er sich erinnern konnte, und die Antwort weiterhin im Dunkeln bleiben würde. Er wollte sich nicht darauf besinnen, dass das Wahrscheinlichste die Tatsache darstellte, dass seine Mutter niemals von ihm ablassen würde. Erinnerungen an den gestrigen Abend kamen in ihm hoch. Wie er die ganzen unbekannten Bilder betrachtet hatte. Die Beweisstücke seiner Geiselnahme. Und wieder spürte er das beklemmende Gefühl in sich, welches drohte ihn zu ersticken. Nein, er wollte nicht glauben, nicht akzeptieren, dass das seine Zukunft war. Sein Leben als solche Einöde zu sehen war ihm nicht möglich, solch ein tristes Dasein als Spielball und Rettungsanker zugleich wollte er nicht führen. Deswegen krallte er sich an diese Frage und würde sie sich jeden Morgen aufs Neue stellen. Weiter rebellieren. Weiter hoffen. Zumindest in seinen Gedanken. Cedric's feuriger Zorn war wieder abgekühlt, als er bei der Bushaltestelle ankam, die gerade einmal ein paar Meter von seinem Haus entfernt lag. Er sah kurz auf, um die wenigen Schüler zu mustern, die ebenfalls auf den Bus warteten. Ein wenig abseits suchte er sich seinen Platz, nahm den Rucksack ab und zog sich seine Jacke an, genau wie seine Mutter es ihm aufgetragen hatte. Und ein weiterer stillschweigender Sieg wurde auf das ohnehin schon überfüllte Konto der Mutter geschrieben. Seufzend starrte Cedric zum anderen Ende der Straße. Er gab nach, wie immer. Weil er das schlechte Gewissen nicht ertragen konnte, welches ihn immer wieder heimsuchte, sobald er seiner Mutter einmal trotzte. Es endete immer gleich, war vollends vorhersehbar und die Gewohnheit zu unterliegen, sich nicht wehren zu können, ließ ihn schon automatisch nach dem Willen der Mutter handeln. Cedric hatte sich schlicht und ergreifend damit abgefunden. Er war nicht mehr als ein stumpfes Schoßhündchen. Seine Gedanken ließen ihn erst wieder in Frieden, als er den gelben Bus kontinuierlich näherkommen sah. Es machte sich Unruhe in der Gruppe von jungen Schülern breit und als das Fahrzeug gemächlich vor ihnen zum Stehen kam, drängten sie sich wie jeden Morgen durch die enge Tür hinein. Cedric wartete. Als letzter stieg er die wenigen Stufen hoch und machte sich auf den Weg in den hintersten Teil des Buses. Seine Augen brauchten nicht lange, um den blonden Haarschopf zu finden, auf den er gleich darauf auch gezielt zusteuerte und der sich in der Ecke der letzten Sitzreihe verschanzt hatte. Cyan hing wie immer mehr in seinem Sitz, als dass er darin saß. Um nicht vollends auf dem Boden zu landen hatte er ein Bein angewinkelt, dessen Schienbein er stützend gegen den Sitz vor ihm drückte. Sein Ellenbogen lag auf dem kaum erkennbaren Vorsprung unter dem Busfenster und ermöglichte es ihm seine Finger in einer gelangweilten Geste in den stark aufblondierten Haaren zu vergraben. Cedric hatte sich immer gefragt, warum Cyan nicht einfach mit dem ohnehin sehr hellen Blond leben konnte, das er von Natur aus besaß, aber Cyan bestand offensichtlich darauf seine Haare unnötigerweise zu foltern. Der gedankenverlorene Blick wirkte heute Morgen ein bisschen trüb, fast schon traurig, was ein seltener Ausdruck in den sonst so klaren, eisblauen Augen war. Statt dem starken Wesen, das ihnen zugrunde lag, sahen sie nun in einer sehnsüchtigen Geste aus dem Fenster und schienen sich nach irgendetwas Unsichtbarem zu verzehren, das unerreichbar bleiben würde. "Morgen, Cedi-Boy." Cedric war so gebannt von diesem Bild gewesen, dass er nicht einmal bemerkt hatte, dass Cyan den Kopf zu ihm gedreht hatte. Die Sehnsucht war aus seinen Augen verschwunden. Stattdessen umspielte das gewohnt freche Grinsen Cyan's Lippen, als er Cedric mit seinem ganz persönlichen Spitznamen versehen begrüßte. Dieser schmiss sich nur mit einem weiteren genervten Stöhnen auf den Sitz in der Mitte des Ganges und schloss die Augen, während er sich fast schon erschöpft zurücklehnte. Es bedurfte keiner Worte, um seinem langjährigen Freund klar zu machen warum, und vor allem wegen wem, er so fertig war. "Oh." Cyan schien auch verstanden zu haben, denn als Cedric den Kopf zu ihm wandte und in sein Gesicht blickte, da hatte es schon einen mitfühlenden Ausdruck angenommen. Cedric betrachtete ihn einen Moment, strich mit den Augen die feinen Linien entlang, die er in Cyan's Gesicht überall erkennen konnte. Denn, wie Cedric fand, hatte der Blonde das Glück Männlichkeit und sanfte, weiche Partien perfekt in sich zu vereinen. "Ich hasse sie", erwiderte Cedric dann auch schlicht, obwohl beide wussten, dass es nicht der Wahrheit entsprach, vielleicht sogar die größte Lüge seines Lebens war. Doch es störte niemanden, denn es war reiner Ausdruck von Wut, den Cyan Cedric anstandslos zugestand. Stattdessen wartete er nur geduldig, die ungewöhnlichen, hellen Augen, welche seine Einzigartigkeit noch unterstrichen, auf seinen Freund gerichtet bis dieser weitersprach. "Ich konnte meine Mathehausaufgaben nicht mal machen, weil sie mir von ihren komischen Sahnegeschichten aus der Arbeit erzählen musste!", erklärte er dann auch und beugte sich hinab, um seinen zuvor abgelegten Rucksack zu öffnen. "Du musst übrigens kontrollieren, ob sie stimmen. Brewster bringt mich um, wenn ich schon wieder ‘n Scheiß gemacht hab." "Sahnegeschichten." Cedric vernahm den leisen hauchenden Ton, als Cyan dieses Wort amüsiert wiederholte und konnte das zweideutige Grinsen förmlich um seine Ohren schwirren hören. "Ihnen ist die Sahne auf den Boden gefallen. Nicht das was du schon wieder denkst!", wies ihn Cedric mit einem tadelnden Blick zurecht, als er wieder zu ihm blickte und sein Matheheft erneut hervorzog. Abgesehen davon, musste er unweigerlich angewidert schaudern, wenn er in diese Richtung dachte und es seine eigene Mutter betraf. Dass man dem nichts erzählen kann, ohne dass er gleich wieder an sowas denkt... Wahrscheinlich kann er sogar in einen einzigen Buchstaben was Perverses hineininterpretieren. "Wie langweilig", kommentierte der Blonde nun die Antwort von vorhin, ignorierte Cedric's vorwurfsvolle Miene dezent und raffte sich mit einem leisen Ächzen aus seiner legeren Position auf. "Ich werd‘ alt." "Bist doch eh schon der Älteste von uns, du Greis." Cedric blätterte konzentriert in seinem Heft, um die richtige Seite zu finden, bis es ihm plötzlich aus der Hand glitt. Eine Sekunde darauf spürte er, wie das Heft gegen seinen Kopf prallte, als Cyan es ihm grinsend über den Schädel zog. "Werd nicht frech, Grünschnabel!" Cedric musste einfach schmunzeln, bevor er Cyan das Heft wieder aus der Hand riss und sofort wieder bedrückt seufzte. "Jetzt schau endlich nach, ob die Aufgabe wenigstens ansatzweise stimmt." Zugegeben, Cedric war ein launenhafter Mensch, das wusste er selbst nur zu gut. Seine Stimmung wechselte von himmelhochjauchzend zu zu Tode betrübt innerhalb weniger Sekunden und das manchmal im Dauertakt. Ihm selbst machte das nicht viel aus, er mochte es deprimiert zu sein und alles schlechtreden zu können. Nur um seine Freunde, die seine Launenhaftigkeit am Ende ertragen mussten, tat es ihm ein wenig leid. Aber ändern hätte er selbst nichts daran können und er versuchte es ehrlich gesagt auch gar nicht erst. Stattdessen gab er sich diesen Launen voll und ganz hin, genau wie eben in jenem Moment. So sehr ihn Cyan's Kommentare auch belustigten, es war schon zu spät, um ihn vor dem Sturz von der rutschigen Klippe zu retten. Seine Mutter hatte ihn bereits hinuntergestoßen. "Dann gib her. Aber jetzt erzähl erstmal, was genau wieder los war. Du hast ihr bestimmt wieder irgendwas versprechen müssen, oder?", fragte Cyan, während er Cedric erneut das Heft aus der Hand nahm und begann die letzten beschriebenen Seiten zu suchen. Cedric sah ihn eine Weile an, das Gesicht ausdruckslos und schien in seinen konzentrierten Augen nach etwas Unbekanntem zu suchen. In Wahrheit wunderte er sich nur wieder, dass Cyan, sowie alle seine Freunde, irgendwie immer zu wissen schien, wenn etwas nicht in Ordnung war. Wenn er irgendein unwichtiges Detail nicht erwähnt hatte. Ein Detail, das er auf ihr Nachfragen hin dann doch ansprach und sich trotz der Nichtigkeit immer besser fühlte. "Natürlich habe ich das", seufzte Cedric also, während er sich wieder zurücklehnte und Cyan dabei zusah, wie er die Rechenwege überprüfte. "Nach der Schule muss ich irgendwas mit ihr unternehmen. Weil sie wieder beleidigt war, als ich ihr gesagt habe, dass sie nervt." Er hatte leise gesprochen, ließ es unbedeutend wirken und betrachtete ohne jegliche Emotion die blasse Haut im Gesicht seines guten Freundes. Wie weißer Marmor wirkte die makellose Fläche seiner Wange auf ihn. „Oh, Cedi-Boy. Da hast du wieder ganz schönen Mist fabriziert...!", erwiderte Cyan mit hochgezogener Augenbraue bezüglich seiner Mathematikaufgaben. Statt auf Cedric’s Worte einzugehen, tat er einfach so, als hätte er es gar nicht gehört, wusste er doch, dass aufmunternde Ansprachen Cedric keinerlei Hilfe gewesen wären. Seinen Freunden war klar, dass er schon froh war seinen ganzen Frust mit ihnen teilen zu können und auch jetzt war Cedric dankbar, dass Cyan das Thema nicht aufbauschte, sondern sich in erster Linie auf das näherkommende Problem besann. „Man, nicht schon wieder!“, stöhnte Cedric genervt und auch mit einer Spur Verzweiflung. Die Zeit drängte. „Kannst du das schnell korrigieren? Ich weiß, ich nerv dich jeden Tag damit, aber Brewster macht mich sowas von fertig, wenn ich wieder nichts habe.“ Cedric blickte seinen Freund mit einem bettelnden Blick an. Cyan war ziemlich gut in Mathe, Cedric die hoffnungslose Null. Wenn ihm einer jetzt noch helfen konnte, dann Cyan. Wahrscheinlich wieder irgendein scheiß Leichtsinnsfehler... Dann ist die ganze Rechnung im Arsch. Man! Cyan hob den Kopf und betrachtete Cedric eine Weile schweigend, was diesen schon befürchten ließ, dass er sich weigern würde. Doch statt einer Absage war da nur dieser eingehende Blick, der Cedric veranlasste die Stirn zu runzeln. Bevor er jedoch nachfragen konnte, schmunzelte Cyan schon wieder. „Klar doch, Cedi-Boy.“ „Danke!“ Cedric atmete sofort erleichtert auf. Wenigstens in Mathe würde er heute seine Ruhe haben. Eine Tatsache, die zwar unbedeutend erschien, aber für Cedric doch eine nicht zu unterschätzende Erlösung darstellte. Die nächsten Minuten herrschte Stille, da Cyan sich damit beschäftigte, Cedric’s jämmerlich gelöste Aufgabe richtigzustellen und Cedric seinerseits die Zeit damit verbrachte seinen Kopf ein wenig frei zu kriegen. Allerdings war das gar nicht so einfach, denn anstatt ein wenig Luft zwischen die stickigen Gedanken zu zwängen, breitete sich die Giftwolke nur immer weiter aus und nahm langsam jeden Teil seines Kopfes ein. "So, fertig. Hier.“ Cedric wandte sich wieder Cyan zu, der das Heft nun zuklappte und es ihm entgegenhielt. „Du hast mich gerettet!“, kommentierte Cedric ehrlich erleichtert und stopfte das Mathematikheft zurück in seinen Rucksack. Wenigstens ein Problem hab ich gelöst. „Ich weiß“, grinste Cyan neben ihm daraufhin nur selbstüberzeugt und begab sich wieder in seine anfängliche, komfortablere Position. „Und was genau hast du dir jetzt wieder eingebrockt?“, wollte der Blonde dann plötzlich wissen. Als Cedric erneut zu ihm sah, hatte er sich wieder abgewandt und seine Augen geschlossen. Alles in allem wirkte er ziemlich gelangweilt und desinteressiert. Aber Cedric konnte seiner Stimme entnehmen, dass das nicht der Fall war und außerdem kannte er den Älteren schon lange genug, um zu wissen, dass seine Haltung meist gar nichts über seine Gedanken aussagte. „Das weiß ich noch nicht, aber du kannst dir sicher sein, dass sie zu Hause sitzt und sich den Kopf darüber zermartert, welche schmerzvolle Strafe sie-“ "Hey, Jungs." Cedric sah auf, unterbrochen in seinen dramatischen Ausführungen und mit einem Neuankömmling konfrontiert. Er hatte in seiner Gedankenlosigkeit gar nicht bemerkt, wie der Bus zum Stillstand gekommen war. „Hey, Jamie“, meinte er und schenkte dem schmächtigen Jungen mit den schulterlangen braunen Haaren, der genau vor ihm stand, ein leichtes Lächeln. Wie gewohnt ließ sich Jamie rechts neben ihm nieder und grinste wie ein kleines Kind zu ihm rüber. In der Tat erschien Jamie eher wie ein Schüler aus den unteren Jahrgangsstufen, nicht wie einer, der kurz vor seinem Abschluss stand und er konnte diese Wirkung auf andere auch kaum von sich weisen. Jamie war der Jüngste ihrer Gruppe und mit seiner zierlichen Figur, die ihn auch oft zum Ziel der Hänseleien der älteren Schüler aus ihrem Jahrgang machte, traute man ihm teils seine sechzehn Jahre nicht einmal zu. Die doch recht weiblichen, sanften Züge halfen dabei nicht gerade den Eindruck des Erwachsenseins zu fördern. Bei dem Gedanken daran musste Cedric leicht schmunzeln. Jamie war auch nicht erwachsen. Er hoffte zwar mit den weiten T-Shirts und den aggressiven Bands, die als Aufdruck gerne den Stoff zierten, ein anderes Bild von sich zu schaffen, das ihm ein wenig mehr Respekt zutrug oder ihn zumindest seinen Peinigern entgehen ließ. Aber sein naives, unschuldiges Wesen machte das gerne zunichte. Jamie war einfach zu brav. Zu kindlich. „Was grinst du so?“, fragte Cedric dann, mittlerweile wieder vom Gedanken an den Morgen ergriffen. Er hatte die Stirn leicht in Falten gelegt, wirkte aber dennoch eher abwesend und interesselos, was auch der Wahrheit entsprach. Na toll, jetzt hat sie’s wieder geschafft. Mein ganzer Tag ist versaut. „Einfach so, bin gut drauf. Und wieso schaust du wieder wie ‘ne Kanalratte?“, erwiderte Jamie und hob fragend eine Augenbraue. Cedric tat es ihm ungewollt gleich und hörte das ernsthaft erheiterte Lachen von Cyan im Hintergrund. „Kanalratte?“ Die Skepsis troff förmlich aus Cedric’s Mundwinkeln. Jamie zuckte nur mit den Schultern. „Ist mir grad so eingefallen. Aber ist doch eh egal! Was ist los?“ „Meine Mom“, grummelte Cedric nur und drehte sich wieder nach vorne. Es genügte ihm, das Ganze einmal zu erzählen. Alles andere zog ihn nur noch mehr runter. „Hm, armes Cedi-Boy“, meinte Cyan plötzlich und setzte sich wieder auf. Mit einem Schmunzeln beugte er sich leicht zu ihm, die Hände auf den freien Sitz zwischen ihnen gestemmt wie eine Katze und sah ihn mit einem belustigten Blick an. „Muss ich dich mit einem Kuss aufheitern?“ Cedric blinzelte und wich ein wenig zurück. Mit einem noch skeptischeren Blick, als bei seiner Antwort auf Jamie’s Frage, musterte er ihn von oben bis unten, ehe er langsam antwortete. „Nein, ich denke nicht.“ Cyan lehnte sich lachend wieder zurück und nahm seine vorherige Position ein, während sich Cedric schweigend wieder nach vorne wandte. Der hat heut wieder ‘n blödes Gerede drauf… Es war nichts wirklich Verwunderliches sowas aus Cyan’s Mund zu hören. Der Blonde machte gerne seine zweideutigen Scherze und da Cedric sich nun mal am einfachsten ärgern ließ, war er kurzerhand zu seinem Lieblingsopfer auserkoren worden. Ein Umstand, den Cedric selbst nicht so lustig fand und sich immer leicht reizen ließ. Und zwar bei Bemerkungen jeglichen Themas, die genau darauf abzielten, aber alle anderen schienen es zumeist sehr unterhaltend aufzunehmen, was Cedric in der Regel mit einem frustrierten Schmollen erwiderte. Doch Cyan hatte offensichtlich nicht vor ihn weiter zu piesacken und so saßen alle drei eine Weile schweigend da und starrten aus dem Fenster. Der Bus hielt nach einer Weile erneut und Cedric blickte sofort aufmerksam zur Tür. Ungeduldig fixierten seine Augen die Schar an Schülern, die sich in den Bus ergoss bis er endlich die Person sah, auf die er die ganze Zeit gewartet hatte. Als er den Jungen mit den schulterlangen schwarzen Haaren ruhig den Gang entlangkommen sah, beobachtete wie seine Lippen sich sachte über die schwarzen Metallringe unter seinem Mund legten und er leicht daran knabberte, konnte Cedric einfach nicht anders als sich besser zu fühlen. Sein Flug in den Abgrund der Depression nahm ein jähes Ende, wurde abgebremst und eine unsichtbare Hand zog ihn wieder zurück nach oben. Es kam ihm vor, als würde sich ein unnachgiebiges Licht durch den Nebel aus schwarzen Wolken in seinem Kopf kämpfen. Ein Licht, das seltsamerweise die Farbe von dunklem Blau hatte und den Augen glich, die ihn nun mit einem sanften Ausdruck ansahen. „Guten Morgen, Cedric.“ Seth war vor ihm stehengeblieben und blickte mit dem ruhigen Lächeln, das stets sein Gesicht zierte, wenn er ihn am Morgen begrüßte, zu ihm hinab. Cedric erwiderte es und erhob sich schnell, um seinen besten Freund mit einer Umarmung ebenfalls zu begrüßen, ließ sich dann aber wieder auf den Sitz fallen. Er sah erneut zu Seth hoch, der ihn ebenfalls weiter musterte und spürte, wie seine Stimmung einen neuerlichen Umschwung erlebte. Sein Kopf war wieder frei von den bedrückenden Gedanken, zumindest waren sie in ihre dunklen Ecken zurückgekehrt und würden dort wohl auch vorerst bleiben. Dank Seth fühlte sich Cedric wieder deutlich besser. Ein Umstand, der ihn keineswegs überraschte, vielmehr zur Gewohnheit geworden war. Denn seit Cedric Seth kannte, und das waren immerhin schon ganze elf Jahre, war es nie anders gewesen. Seth hatte es immer nur durch seine bloße Anwesenheit geschafft Cedric wieder fröhlich werden zu lassen. Er war für ihn wirklich wie Licht, zu dem er sich flüchtete, wenn die Finsternis drohte über ihn herzufallen. „Hey, Fettklops, du stehst im Weg“, hörte er dann plötzlich eine bekannte Stimme und kurz darauf taumelte Seth ein wenig zur Seite, da ihm ein Ellbogen einen ungeduldigen Stoß verpasst hatte. „Ich geb dir gleich Fettklops“, grinste Seth, nachdem er seine Überraschung überwunden hatte und drehte sich zur Seite, sodass der Junge hinter ihm sich vorbeizwängen konnte. „Ach was, bleib cool. Du bist wohl eher ’ne Fischgräte als ‘n Fettklops. Hatte schon Angst, du brichst auseinander, als ich dir den Stoß gegeben hab.“ Nye hatte sich auf den Fensterplatz der zwei Sitze vor Cyan gesetzt, drehte sich nun um und begrüßte seinen besten Freund mit einem Handschlag und einem breiten Grinsen. Seine blässlichen braunen Haare waren wie nicht anders gewohnt unter einem Cappy begraben und nachdem er sich wieder nach vorne gedreht hatte, machte er sich daran sein Skateboard unter dem Sitz zu verstauen. Warum schleppt er das Teil eigentlich immer mit in die Schule? Meistens geht er nachher doch sowieso nur wieder heim. Nye war ein leidenschaftlicher Skater, liebte sein Board über alles und konnte sich anscheinend nicht einmal während der wenigen Stunden, die er in der Schule verbringen musste, von dem maroden Stück Holz trennen. Es war sein Ein und Alles. „Jaja“, meldete sich Seth zu Wort und schenkte Nye ein gutmütiges Lächeln, während er sich neben ihm niederließ. Cedric wartete bis er sich wieder zu ihm umgedreht hatte, ehe er zu sprechen begann. „Ich hab keine Lust.“ Seth kommentierte das Ganze mit einem leisen Lachen von dem wieder nur ein sanftes Lächeln übrigblieb. „Das hast du nie, Cedric.“ „Ja, aber heute ist es ganz besonders schlimm. Irgendwie ist alles scheiße. Schule ist behindert und wenn ich heimkomme, hängt sich meine Mutter wieder an mich wie eine Klette“, quengelte Cedric und setzte ein verzweifeltes Gesicht auf, um seine Aussage noch zu unterstreichen. Wie immer hatte er das Bedürfnis Seth sein ganzes Leiden auf einmal auszubreiten, weil er wusste, dass er nachher einfach wieder bessere Laune haben würde. Das war wie ein Naturgesetz. „Sie fühlt sich eben auch alleine. Das weißt du doch“, erwiderte Seth und sah ihn mitfühlend an. „Du schaffst das schon. Wenn’s wirklich zu schlimm wird, dann schreib mir.“ „Es wird zu schlimm werden, also halt dein Handy bereit.“ Cedric hörte Seth’s Lachen und musste seinerseits schmunzeln. Insgeheim war er aber alleine schon für die Möglichkeit dankbar sich irgendwie abzulenken, während seine Mutter einem Bandwurm gleich, an ihm hing. „Und was ist mit mir?“ Cedric drehte sich verdutzt nach links, um herauszufinden, was mit dieser Frage gemeint war, als er vor Schreck kurz erstarrte. Cyan hatte sich wieder zu ihm gebeugt und war nun so nahe bei ihm, dass er dessen Atem in seinem Gesicht spüren konnte. Die eisblauen Augen blickten ihm intensiv und bohrend in die eigenen. „Schreibst du nur Seth und mir nicht? Ich fühle mich links liegengelassen, Cedi-Boy!“, gab Cyan in einem verletzten Ton, aber doch schmunzelnd von sich. Cedric verzog genervt das Gesicht, legte eine Hand an die Schulter seines Gegenübers und drückte ihn wieder zurück, um sich nach vorne zu drehen. „Du spinnst doch, Cyan“, machte er ihm klar und warf ihm zuletzt noch einen vorwurfsvollen Seitenblick zu. „Wenn es dich glücklich macht, dann schreib ich dir eben auch. Um dein Selbstbewusstsein zu erhalten. Weil die tausend Mädchen am Tag reichen anscheinend nicht mehr aus.“ „Danke, Honey“, grinste Cyan strahlend und legte zwei Finger an die Lippen, um Cedric kurz darauf eine Kusshand zufliegen zu lassen. Dieser überdrehte nur die Augen und wandte sich wieder zu Seth. „Wo war ich? Ach ja, meine Mom. Heute Morgen hat sie mich einfach rücksichtslos zugelabert, von wegen ihre Arbeitskollegin hätte...“ Cedric begann Seth alles haarklein zu erzählen, wobei er natürlich sein eigenes Leiden in den Vordergrund stellte und mit allerlei Metaphern ausschmückte, um es auch wirklich ‚richtig‘ darzustellen. Seth seinerseits hörte nur geduldig zu, nickte hin und wieder und ertrug Cedric’s Gejammer widerstandslos mit einem amüsierten Schmunzeln auf den Lippen. Seth war wohl neben Aleksi die einzige Peron, die wirklich stundenlang die Probleme anderer über sich ergehen lassen konnte, ohne auch nur im Entferntesten gelangweilt oder genervt zu sein. Für Cedric der Himmel auf Erden, denn er hatte genug Dinge über die er sich beklagen konnte. Oder wollte. Und so nutzte Cedric diese Möglichkeit auch in vollem Maße den Rest des Weges aus, indem er Seth von dem nervigen Wirrwarr des Morgens berichtete. Die Fahrt zur Schule dauerte nicht mehr lange, weswegen Cedric immer noch am Sprechen war, als der Bus schnaufend vor dem großen, weißen Gebäude zum Stehen kam. Es war ein sehr modernes Bauwerk mit vielen großen Fenstern und einem schwarzen Flachdach. Auf Cedric wirkte es immer eher wie eine Universität für irgendwelche neuartigen Technologien, Dinge mit denen er nichts anfangen konnte und weswegen er sich auch alleine des Anblicks wegen unwohl und fehl am Platz fühlte. Einzig die große, wuchtige Mauer aus grauem Stein, die das ganze Gelände umgab, bildete zusammen mit dem schweren, schwarzen Eisentor, welches zu dieser Uhrzeit natürlich weit offenstand, einen seltsamen Kontrast zwischen Vergangenheit und Moderne. Cedric erschien es allerdings paradox, dass ein Gebäude, welches solche Offenheit ausstrahlte, von einer dicken Mauer eingesperrt wurde. Die fünf Jungen kamen als letzte aus dem Bus und steuerten, jeder in seine Gespräche vertieft, auf den einzigen Verbleibenden aus ihrer Gruppe zu. Aleksi war kaum zu übersehen, eine große schwarze Gestalt inmitten einer kleinen bunten Menge. Der ohnehin sehr großgewachsene Junge trug, gemäß seinem ungewöhnlichen Kleidungsstil, Plateauschuhe, die ihn noch ein gutes Stück in die Höhe schießen ließen. Er war blass, was sich durch die ausnahmslose Schwärze seiner Kleidung noch deutlicher abhob und seine langen Haare reichten nur für eine Seite seines Kopfes. Die andere Hälfte zierte seine blanke Kopfhaut. „Guten Morgen“, begrüßte sie Aleksi und Cedric wunderte sich einmal mehr, wie die Stimme des Jungen so ruhig und sanft sein konnte, wo in dem schwarz geschminkten Gesicht doch so viel anderes hätte schlummern können. Doch Aleksi’s ebenfalls schwarz bemalte Lippen hatten sich nur zu einem freundlichen Lächeln verzogen mit dem er jeden von ihnen bedachte. Sein aggressives, obszönes Äußeres spiegelte sein stilles, mitfühlendes Wesen nicht einmal ansatzweise wider. Er war vielmehr der Ruhepol der Gruppe und Anlaufpunkt für jeden, der sich mit einem Problem überfordert fühlte. Aleksi kam ursprünglich aus Finnland, was man ihm abgesehen von seinem Namen aber in keinster Weise anmerkte. Obwohl es nur drei Jahre waren, seit denen er nun in den Vereinigten Staaten lebte, sprach Aleksi ein perfektes, akzentfreies Englisch und hatte sich auch so voll und ganz auf sein neues Leben umgestellt. Seinen Eltern hingegen hörte man ihre Herkunft sehr wohl an, Cedric fiel es manchmal sogar ziemlich schwer die Worte mit dem schweren, nordischen Akzent zu entwirren. „Wie war das Theater gestern?“, fragte Seth, nachdem er Aleksi umarmt und auch der Rest die Begrüßung erwidert hatte. „Angenehm. Die Schauspieler waren wirklich begabt und haben das Werk in einer herausragenden Art und Weise umgesetzt, sodass ich mir durchaus vorstellen könnte, das demnächst zu wiederholen“, antwortete Aleksi, woraufhin sich Cedric schmunzelnd und mit einem verborgenen Kopfschütteln abwandte. Diese Ausdrucksweise passt so ganz und gar nicht hierher. Und genau das macht ihn so sympathisch. Das macht ihn zu ihm. Cedric wollte sich gerade an Jamie wenden, um zu erfahren, ob er für Physik gelernt hatte, als sein Blick auf Cyan fiel. Dieser zog gerade gemächlich sein Päckchen Zigaretten aus der hinteren Hosentasche hervor und klopfte es leicht an seine Hüfte, um sich eine davon herauszuholen. „Muss das schon wieder sein?“ Cedric konnte sich nicht zurückhalten, es war wie ein Drang, der ihn dazu animierte sich gegen diese Angewohnheit von Cyan zu stellen. Der Blonde allerdings hatte die Zigarette bereits zwischen die Lippen genommen und den Kopf leicht gesenkt, während er die Hände zu einer Mulde formte, um sie anzuzünden. Als er Cedric hörte, sah er kurz auf, was ihn die Stirn in Falten legen ließ. Dieser Ausdruck blieb, als er die Arme wieder sinken ließ, samt Zigarette, und den Kopf leicht hob, um den Rauch in die Luft über sich zu blasen. „Cedi-Boy! Nicht schon wieder eine Predigt.“ Cedric seufzte. Cyan brachte ihn wie immer in einen sinnlosen Zwiespalt. Er hasste Rauchen, es stank erbärmlich und führte auf lange Sicht nur zu Gesundheitsschäden, die einfach nur ekelhaft aussahen. Oder zum Tod. Letzteres wahrscheinlich im Endeffekt immer. Aber Cyan war der lebende Beweis dafür, dass es eben einfach auf eine gewisse Art und Weise doch gut aussah. Es passte zu ihm. Er ist einfach nicht wie wir anderen. Er sieht überdurchschnittlich gut aus, ist beliebt. Und selbst wenn er raucht, wirkt es mit diesem verschlafenen Blick, den er gerade wieder draufhat, so lässig und cool, dass man ihm gar keinen Vorwurf machen kann. Das erklärt, warum ihm die Mädchen in Scharen hinterherlaufen. Cedric beneidete Cyan. Nicht wegen der Mädchen, ihn interessierten keine Beziehungen oder irgendwelche Schwärmereien. Eigentlich war er sogar ganz zufrieden mit dem was er hatte. Aber ihre Gruppe war abgeschottet, hatte irgendwie doch einen Außenseiterposten inne. Auch wenn sie in Ruhe gelassen und keineswegs angepöbelt wurden. Kaum einer von ihnen hatte großartig Kontakte zu anderen, Cedric erging es am schlimmsten, was aber nicht zuletzt daran lag, dass er sie teils mied. Doch auch der Rest kam zwar gut mit den meisten klar, wurde aber im großen Schulalltag wie eine kleine Ameise übersehen. Außer Cyan. Der Blonde zählte zu den Beliebtesten an der ganzen Schule, wurde von unzähligen Mädchen umschwärmt und nutzte dies auch zu Genüge aus. Er kam mit den Jungen gut klar, unternahm viel mit ihnen und war zu jeder Party eingeladen. Am Gang kam er kaum weiter, weil ihn immer irgendjemand ansprach, auch wenn er kein ‚Star’ war. Denn Cyan mochte zwar die Geselligkeit und das freundschaftliche Verhalten, zog sich aber aus dem Mittelpunkt lieber zurück. Und blieb Teil der kleinen, unscheinbaren Gruppe, zu der sich auch Cedric zählte. Ich hab keinen Plan, warum. Aber ich bin froh, dass es so ist. Cedric hatte schon oft daran gedacht, wie es wäre, wenn der Blonde, den er schon seit seinem achten Lebensjahr kannte, einfach weg wäre. Wenn er sich zu den anderen beliebten Leuten gesellt hätte. Der Gedanke daran einen so guten Freund einfach zu verlieren bedrückte ihn, weswegen er auch nur ein widerwilliges Grummeln als Antwort auf Cyan’s Aussage von sich gab. Lieber wollte er still sein, als ihm einen Grund zu geben, um sich von ihnen abzuwenden. Ich bin so hohl. Cedric sah sich um, das Gesicht leicht verärgert. Cyan würde sowas nie tun. In der Tat war Cedric’s Sorge vollkommen unbegründet, denn sein Freund reagierte auf seine Beschwerden ohnehin immer scherzend und schien auch eher belustigt, als genervt zu sein. Weswegen es auch nicht verwunderlich war und Cedric trotzdem beruhigte, dass er plötzlich den Arm um seine Schulter legte, um sich zu ihm zu beugen. „Cedi-Boy, was ist los? Hab ich dich gekränkt? Oh, tut mir leid, Honey“, säuselte er und Cedric rümpfte angewidert die Nase, als ihm der beißende Geschmack des Rauchs in die Nase stieg. Cyan hauchte leicht, als er ein schiefes Grinsen aufsetzte und dann weitersprach. „Du weißt, ich steh immer noch auf dich, ja?“ Cedric verzog den Mund, sah ihn abwertend an und trat einen Schritt nach vorne um sich von ihm zu lösen. „Halt’s Maul, Cyan.“ Cyan lachte laut, ehe er wieder an seiner Zigarette zog. Die Antwort war mittlerweile zu Cedric’s Standarderwiderung geworden, was Cyan’s anzügliche Neckereien anging. Unberührt wandte er sich endlich an Jamie und überließ den anderen seiner Liaison mit dem Rauch. Die wenigen Minuten, die sie Zeit hatten, waren schnell verstrichen und nachdem Cyan endlich seine Zigarette ausgedrückt hatte, machten sich die Jungen auf den Weg durch das hohe Eisentor. Der Hof, der sich einige Meter vor dem Gebäude erstreckte, war kaum mit Gras bewachsen, da der Boden von den Massen an Schülern unlängst zu einer steinharten Platte getreten worden war. Das einzige Grün stellten einige Ulmen und Birken dar, die vereinzelt über den Hof verstreut waren. Ich werd wohl oder übel den Aufenthalt in der Schule genießen müssen. Der Nachmittag kann nur schlimmer werden. Mit diesen erbauenden Gedanken folgte Cedric seinen Freunden durch die große Glastür, die ihm schon den Blick auf den Gang seiner schöngeredeten Beschäftigung freigab. „Cedric, was schaust du denn schon wieder so?“ „Lass mich doch…“ Cedric hatte demonstrativ die Arme verschränkt und lehnte sich zurück, als er diese doch recht patzige Antwort auf Jamie’s ehrlich besorgte Frage hin brummte. Die sechs Jungen saßen an einem der langen, überfüllten Tische in ihrer großen, ebenso überfüllten Cafeteria und hatten alle einen verschmutzten, bereits leeren Teller vor sich. Außer Seth, der wie gewöhnlich nichts gegessen hatte und auch auf das sanfte Drängen von Aleksi hin nicht nachgeben wollte. „Ist es immer noch wegen der Sache mit deiner Mom?“, fragte Jamie nach und legte leicht den Kopf schief. Cedric warf ihm einen Seitenblick zu, ehe er wieder mit einem wütenden Gesicht nach vorne sah. „Warum denn sonst?“ Er wollte eigentlich nicht so unfair sein und nun schon wieder seine Laune an seinen Freunden auslassen, die sich nur ernsthafte Sorgen um ihn machten. Aber genau das ließ ihn irgendwie so aufbrausend sein, eine Reaktion, die schon fast zu dem ganzen Tamtam dazugehörte. Jamie sah ihn ein wenig verzweifelt an, verständnislos, warum er ihn denn nun so anfuhr. „Aber Cedric, wenn-“ „Ach, mein Cedi-Boy will doch nur, dass ich ihn ein wenig aufheitere“, hörte Cedric Cyan plötzlich ganz nah bei seinem Ohr. Eine Hand legte sich um ihn und blieb locker auf seiner Hüfte liegen. „Nicht wahr?“ Cedric’s Augen wanderten zu Cyan, den Kopf drehen war so gut wie unmöglich, ohne ihm noch näher zu kommen. Sein Blick war weiterhin frustriert, als er trocken antwortete: „Na, aber sicher doch…“ Was ist denn mit dem heute los? Langsam übertreibt er’s wirklich… Er konnte sich keinen Reim darauf machen. Cyan ließ auch wieder ganz brav von ihm ab und wandte sich zu Nye, um mit ihm über irgendeine Party am Wochenende zu diskutieren. Aber Cedric legte leicht die Stirn in Falten, als er ihn eine Weile beobachtete. Es war nicht ungewöhnlich, dass er öfters an einem Tag solche Zweideutigkeiten zum Besten gab. Aber heute schien ihm zu jeder Aussage Cedric’s etwas Verhängnisvolles einzufallen. „Cedric“, machte ihn Seth plötzlich leise und ruhig auf sich aufmerksam. Er wartete bis Cedric sich zu ihm umgewandt hatte, bevor er mit einem leisen Lächeln fortfuhr. „Hast du meine SMS gestern bekommen?“ Cedric blinzelte. „SMS?“ Anscheinend nicht… Nein, warte! „Oh, ich hatte mit meiner Mutter wieder das Vergnügen Fotoalben anzusehen. Mein Handy war oben und danach hab ich auch nicht mehr draufgesehen, sorry“, erklärte er sich schnell und kramte das uralte Mobiltelefon aus seiner Hosentasche, um nach der ungelesenen Nachricht zu suchen. Da war sie auch, Seth hatte lediglich gefragt wie es ihm ging. „Es war nichts Wichtiges. Ich hatte mich nur gewundert, dass du nicht zurückgeschrieben hast“, meinte Seth, da er anscheinend Cedric’s fragenden Blick auf das Display bemerkt hatte. „Und war’s okay? Also das Fotoalben ansehen?“ Cedric blickte erstaunt auf, als er den vorsichtigen Ton in Seth’s Stimme hörte. Der andere sah ihn mit einem unsicheren und besorgten Gesichtsausdruck an, der Cedric ein warmes Gefühl im Inneren bereitete. Seth wusste ganz genau, das Cedric immer wieder mit der schwarzen Gestalt und den erinnerungsleeren Bildern kämpfte, sich im Anschluss meist doch schlecht fühlte. Auch wenn es nur wegen seiner Mutter und nicht aber wegen dem bezugslosen Vater war. „Ja, mach dir keinen Kopf. Das Übliche halt. Ist schon wieder vergessen.“ Cedric bemühte sich ihm auch wirklich das entspannte Gefühl zu vermitteln, das er selbst spürte. Die ganze Angst, das Gefühl des Gefangenseins von gestern, waren schon wieder verblasst. Zwar tauchte letzteres gerade wieder auf, aber bedingt war es durch den Vorfall am Morgen und die Aussicht auf den Nachmittag. Seth brauchte sich keine Sorgen zu machen. Und er tut’s doch. Cedric musste bei dem Gedanken schmunzeln. Manchmal wunderte es ihn, wie mitfühlend Seth war, was seine Situation anging. Er konnte sie nicht nachvollziehen, war in einer reichen, heilen Familie aufgewachsen und kannte solche Miseren nur aus dem Fernsehen. Und doch ließ er sich in die ganze Sache mit hineinziehen, so tief wie es nötig war, um Cedric eine Stütze, sein Rettungsanker zu sein. Cedric war ihm unendlich dankbar dafür, würde er es ohne ihn doch keine Woche aushalten. „Cedi-Boy!“ Cedric drehte sich wieder um, damit er sehen konnte, weshalb Cyan schon wieder mit diesem entrüsteten Ton sprach, als er schon spürte, wie seine Hand von einer anderen umfasst wurde. Er blinzelte verdattert, versuchte sie der plötzlichen Kälte, die merkwürdigerweise immer von Cyan ausging, zu entziehen. Doch der andere hielt sie eisern fest, zog sie sogar hoch zu seiner Wange und legte sie darauf. Cedric konzentrierte sich unweigerlich auf das befremdliche und doch angenehme Gefühl, als seine Hand überall von der niedrigeren Temperatur umfasst wurde. „Lässt du mich nun schon wieder einfach so sitzen? Immer gibst du dich nur mit Seth ab, das verletzt mich“, schmollte er und war dabei so überzeugend, dass Cedric’s Herz kurz einen Satz machte, weil er schon dachte der andere meine es ernst. Aber selbst Cyan konnte das leise Schmunzeln um seine Lippen nicht verbergen, was Cedric sogleich Ansporn gab ein finsteres Gesicht aufzusetzen. Erneut versuchte er seine Hand zu befreien. „Lass den Scheiß, Cyan. Wenn du dich nicht beachtet fühlst, dann geh doch zu der Schar Mädchen, die dich schon die ganze Pause angaffen.“ „Bist du eifersüchtig?“, entgegnete der Ältere auf das Knurren von Cedric, der sich einfach nicht aus dem kräftigen Griff lösen konnte. „Das gefällt mir.“ Cedric hielt inne, als er den schnurrenden Unterton hörte und starrte Cyan kurz noch perplexer an als zuvor. Das war eindeutig zu viel, seine Scherze hatte er nie so weit getrieben. Cedric war verwirrt deswegen, doch er schob es kurzerhand einfach auf die Tatsache, dass Cyan ihn nur noch mehr ärgern wollte und wusste, dass er mit Annäherungen jeglicher Art vollkommen überfordert war. Er schaffte es nicht einmal ein anständiges Gespräch mit irgendwem zu führen, den er nicht kannte. Jahrelange Absenz vom sozialen Leben hatte seine zwischenmenschlichen Kompetenzen nicht gerade perfektioniert. „Du spinnst doch. Hau ab, verdammt. Und lass mich endlich mal los!“, fuhr Cedric ihn in gewohnter Manier an und versuchte weiter seine Hand endlich vor der weichen, kühlen Wange zu retten. Man war schon lange nicht mehr geschockt ihn so forsch zu hören, wenn er wieder einmal Opfer von Cyan’s Spielereien war. Und wusste ohnehin, dass es nur der Hilflosigkeit entwuchs. „Und schon wieder weist du mich zurück. Es ist frustrierend, Cedi-Boy“, antwortete Cyan, lachte allerdings kurz darauf und ließ Cedric auch wie gefordert los. Dieser zog seine Hand sofort zurück, warf ihm einen unmissverständlich warnenden Blick zu und wandte sich wieder zu Seth. „Dieser Depp“, murmelte er so leise, dass Cyan es nicht hören konnte, was Seth lediglich mit einem amüsierten Schmunzeln kommentierte. Es herrschte kurz Stille, bevor Cedric sich plötzlich einer Erinnerung entsann. „Sag mal, du warst doch gestern mit deiner Schwester shoppen. War das nicht todanstrengend?“ Seth gab auf die Frage hin sein typisches, hauchendes Lachen von sich, das Cedric als sehr beruhigend und angenehm empfand und so auch wieder die Möglichkeit hatte, sich voll und ganz auf ihn zu konzentrieren. „Ja, war ich. Aber nach drei Stunden war es wohl anstrengender für Alix als für mich.“ Cedric konnte einfach nicht anders, als grinsend den Kopf zu schütteln. „Warum frag ich überhaupt? Das hätte ich mir eigentlich denken können.“ Seth’s kleine Schwester Alix war vierzehn und liebte es natürlich, wie jedes andere Teenagermädchen auch, Unmengen an Klamotten zu kaufen. Glücklicherweise besaß ihre Familie genug Geld um dieses Hobby auch ausreichend zu finanzieren und ihr Bruder war dem Einkaufen ebenfalls hoffnungslos verfallen, weswegen sie ihn auch oft genug mitschleifen konnte. Allerdings überstieg Seth’s Begeisterung für Kleidung sogar den seiner Schwester, und das um einiges, weswegen Cedric sich das genervte Mädchen auch gut vorstellen konnte, wie sie mit verschränkten Armen ungeduldig mit der Schuhsohle auf den Boden tippte. Immerhin hatte er selbst oft Stunden in derselben Situation verbracht. „Und was hast du dir wieder alles gekauft?“, fragte Cedric schließlich amüsiert und Seth begann den Rest der Pause dazu zu nutzen, ihm alle möglichen Arten von neuen Kleidungsstücken aufzuzählen, während Cedric ihm nur leicht schmunzelnd zuhörte. Ich schaff das nicht mehr… Es geht echt nicht… Cedric lehnte sich mit einem lauten Seufzer auf seinem Stuhl zurück, ließ die Arme schlaff nach unten hängen und rutschte mit geschlossenen Augen noch ein bisschen tiefer nach unten. Die Mathematikstunde hatte er gerade mehr oder minder glorreich hinter sich gebracht, was so viel heißen sollte wie eine Unterrichtsstunde ohne peinliche Offenbarung seiner miserablen Mathematikkenntnisse. Stattdessen hatte er sie nur über sich ergehen lassen müssen und war zum Glück nicht auf seine korrekten Hausaufgaben angesprochen worden, die natürlich dank Cyan’s Hilfe absolut richtig waren. Cedric wusste genau, dass er von seinem Lehrer nur einen skeptischen Blick geerntet hätte. „Was ist los, Cedi-Boy?“ Cedric öffnete die Augen und konnte gerade noch zusehen, wie sich Cyan in einer kleinen springenden Drehung auf seinen Tisch setzte. Er hatte einen halb gegessenen Apfel in der Hand und biss nun erneut davon ab, ehe er abwartend zu Cedric sah. „Mathe“, war dessen knappe Antwort. Er seufzte erneut und schloss wieder die Augen. Die einzige kleine Pause zwischen den Stunden, die er nicht dazu nutzen musste in ein anderes Klassenzimmer zu gehen, wollte er einfach nur in völliger Entspannung verstreichen lassen. Stattdessen hatten sich Cyan und Nye in dem Raum eingefunden, in dem Cedric zuvor mit Seth, Jamie und Aleksi Mathematik gehabt hatte. Jetzt waren die drei auf dem Weg zu ihren jeweiligen Kursen, während Cyan, Cedric und Nye darauf warteten, dass der Geschichtslehrer eintrudelte. Also schickte Cedric sich erst einmal an einfach nichts zu tun. Immerhin war Nye, wie er durch einen kurzen Blick erkennen konnte, damit beschäftigt sich auf seinem Platz noch die letzten Informationen über die Geschichte der Vereinigten Staaten in den Kopf zu pressen. Somit blieb nur noch Cyan übrig, der ihn von seinem entspannenden Vorhaben abhalten konnte. „Ach, komm schon. So schlimm war’s bestimmt gar nicht.“ Cedric konnte das Grinsen in Cyan’s Stimme hören, was ihn dazu veranlasste die Augen zu öffnen und ihn mit erhobenen Augenbrauen anzusehen. Cyan grinste nur weiter vor sich hin, biss wieder in seinen Apfel und bewegte seine Beine ein wenig, was ihn noch amüsierter wirken ließ. Cedric beobachte ihn ein wenig. Es sah komisch aus, weil Cyan viel zu groß war und selbst in sitzender Position ohne Probleme die Füße den Boden berührten. „Es war Horror. Genau wie der ganze beschissene Tag Horror ist“, brummte Cedric nur und schloss wieder die Augen. Er hatte keinen Nerv dafür sich jetzt das Geplänkel des anderen anzutun, der sein Leiden ohnehin nicht verstehen konnte. Immerhin war Cyan ja ein Ass in Mathe. „Cedi-Boy! Wenn ich dich so sehe, dann muss ich dich in den Arm nehmen und dich trösten. Willst du das?“, hörte er Cyan immer noch grinsend feixen und ehe er sich versah, hatte jemand seine Arme umfasst und ihn hochgezogen. Cedric öffnete überrascht die Augen, als er sich gezwungenermaßen aufrichtete, doch da wurde sein Gesicht schon an einem ziemlich muskulösen Bauch begraben und er sah rein gar nichts mehr. „Lass das, Cyan!“, nuschelte er in den Stoff des T-Shirts, durch den er immer noch ein wenig von der seltsamen Kälte spüren konnte und von dem der angenehme Geruch eines Männerparfums ausging. Er versuchte sich zurückzulehnen, sträubte sich gegen die kräftigen Hände, die sich jetzt in einer umarmenden Geste um seinen Kopf legten. „Ach, komm schon, Kleiner. Ich will doch nur ein wenig mit dir kuscheln“, erwiderte Cyan, lachte amüsiert und drückte ihn noch ein wenig mehr an sich. Cedric gab einen erstickten, widerwilligen Laut von sich, als sein Gesicht noch fester gegen den durchtrainierten Oberkörper gedrückt wurde. „Ich krieg… keine Luft…!“, brachte er angestrengt hervor und stemmte die Hände gegen die Tischkante, um sich von seinem Peiniger wegzudrücken. Cyan ließ auch endlich los, woraufhin Cedric tief Luft holend aufschaute und mit einem herzhaften Lachen konfrontiert wurde. „Muss das denn immer sein?!“, fauchte er und fixierte ihn mit seinen grauen, wütend funkelnden Augen. „Ich will eben in deiner Nähe sein, Cedric.“ Cedric blinzelte. Cyan hatte diese Worte so sanft und mit einem solch warmen Gesichtsausdruck gesagt, dass Cedric einfach nicht anders konnte, als ihn perplex anzublicken. Alle aufwühlenden Gefühle waren mit einem Schlag verstummt, es herrschte nur eine seltsame, dumpfe Leere in seinem Kopf, die überrascht umher schwebte. „Endlich zeigst du eine Reaktion, Honey! Weißt du wie lange ich darauf gewartet habe, dass du diese distanzierte Maske abnimmst?“ Cedric stöhnte genervt auf, als sich Cyan’s Lippen keine Sekunde darauf zu einem mehr als erheiterten Grinsen verzogen und seine theatralische Untermalung ließ die dramatische Wortwahl hoffnungslos unglaubwürdig erscheinen. Die Leere füllte sich wieder mit Leben und sein Kopf begann erneut seine alltäglichen Arbeiten aufzunehmen. „Du hast sie einfach nicht mehr alle!“, antwortete Cedric, konnte aber nicht umhin zu schmunzeln, was er mit einem Blick auf den Boden versuchte zu verstecken. Der Junge rutschte auf seinem Stuhl wieder etwas nach vorne und hob den Arm, um Cyan einen kleinen Schlag gegen die Stirn zu geben. Aber kaum hatte er das getan und wollte seine Hand wieder zurückziehen, spürte er plötzlich das Gefühl von kalten Lippen an einer Fingerspitze, welche kurz darauf von ihnen umschlossen wurde. Cedric blickte erschrocken auf, ehe er noch entsetzter zurückzuckte, um seinen Mittelfinger von dem überfordernden Gefühl zu befreien, das Cyan’s feuchte Zunge gerade daran ausgelöst hatte. „Lass den Scheiß!“, fuhr er ihn an, aber mehr aus Hilflosigkeit als aus Wut. Er wusste nicht, wie er mit dieser absurden Situation umgehen sollte. Es war zuviel Körperkontakt involviert, zuviel Nähe mit der er nicht klarkam und die ihm auch genauso unbekannt, wie unverständlich war. Cyan allerdings kicherte nur amüsiert und sprang, kurz einen Kussmund formend, vom Tisch. Der Lehrer hatte das Zimmer betreten, was allgemeine Bewegung in die Schülerschaft brachte. Jeder, auch Cyan, begab sich wieder an seinen Platz. Was sollte das denn jetzt? So…weit ist er ja noch nie gegangen. Cedric schluckte. Sein Herz klopfte immer noch ein wenig schneller, was ihm ein unangenehmes Gefühl in der Brust bescherte. Ich verstehe ihn heute einfach nicht. Warum macht er das denn bloß? Cedric setzte sich wieder anständig hin und rutschte mit dem Stuhl ein wenig vor, um seine Mathematiksachen langsam wegzuräumen und sich für den Geschichtsunterricht vorzubereiten. Seine Gedanken allerdings ließen nicht von der absurden Situation ab, was ihn ein wenig zu ärgern begann. Mit hartnäckigem Eifer versuchte er die ungewollten Bilder beiseite zu drängen, was sich als schwieriger als gedacht herausstellte. Nachdem Cedric die Hefte und das schwere Buch auf den Tisch gelegt hatte, wandte er den Blick automatisch wieder leicht zu Cyan. Eingehend betrachtete er den blonden Jungen, der etwas versetzt vor ihm saß und dessen Blick nun ausdruckslos auf den Lehrer gerichtet war, welcher schon längst mit seinem Unterricht begonnen hatte. Cedric allerdings wusste nicht einmal über was er sprach. Vielleicht sollte ich ihn einfach fragen? Er hat sicher einen Grund, warum er zurzeit so extrem- Cedric verwarf die Idee innerhalb dem Bruchteil einer Sekunde, als er schaudernd zusammenzuckte. Er hatte sich instinktiv das Gefühl noch einmal in den Kopf gerufen, hatte imaginär gespürt, wie die warme und doch vergleichsweise kühle Zungenspitze über seine Haut geglitten war. Die hauchzarte Berührung war nur ganz kurz gewesen und doch hatte sie sich so intensiv angefühlt, dass Cedric’s Herz wieder ein wenig mehr zu pochen schien. Dieser Volltrottel! Er weiß ganz genau, dass mich so was… so was aus der Bahn wirft. Cedric spürte, wie er sich zunehmend unwohler fühlte. Und von Neuem begann sich für sein überreiztes Gefühlswesen zu schämen. Er empfand es schon als ungemeine Belastung wegen jeder Berührung einer fremden Person zusammenzuzucken, was es umso schlimmer machte, dass nun auch noch Cyan begann ihn dazu zu bringen, dass er völlig überfordert nach einem Weg suchte irgendwie mit seinen starken Empfindungen klarzukommen. Dabei hatte er sich bei seinen Freunden wenigstens sicher gefühlt, sicher vor sich selbst. Ich muss ihm unbedingt sagen, dass er damit aufhört. Cedric’s Blick war weiterhin auf Cyan gerichtet, der sich anscheinend auf den Unterricht konzentrierte, was Cedric ein Schmunzeln abrang. Cyan war nicht besonders begeistert von Geschichte, sagte immer es sei ihm zu trocken. Dabei wusste jeder von ihnen, dass das nur eine faule Ausrede war, um zu verstecken, dass ihn eigentlich kein einziges Fach interessierte. Außer Sport, für den er lebte. Cedric wollte gerade wieder in seine Gedanken abgleiten, die sich um Cyan’s komische Beziehung zu Basketball drehten, als er am Rande seiner Wahrnehmung bemerkte, wie sich etwas Blondes zu bewegen schien. Sofort kehrte er in die Realität zurück und blickte gespannt auf Cyan, der sich zu ihm umgedreht hatte. Was hat er jetzt wieder- Cedric vergaß seinen Gedankengang einfach, beobachtete schweigend wie Cyan sich noch einmal prüfend nach dem Lehrer umschaute, der an der Tafel murmelnd etwas anschrieb. Und eine Sekunde darauf hob er die Hände und formte daraus grinsend ein Herz, das Cedric überdeutlich entgegenstrahlte. Cedric blinzelte perplex, spürte wie sich die windenden Fäden aus Scham langsam durch seinen Körper zogen. Instinktiv gruben sich wütende Furchen in seine Stirn und er wandte sich hastig von dem belustigten Cyan ab, ehe sich dieser auch wieder nach vorne drehte. Der gehört doch echt eingeliefert…! Toll, jetzt hat das auch noch jeder gesehen… Cedric traute sich erst gar nicht einen Blick zu riskieren. Aber die Angst und Neugier waren doch stärker, weshalb er unter gesenkten Lidern langsam nach links und rechts blinzelte. Einige Schüler, Jungen und Mädchen die nicht zu gebannt vom Unterricht gewesen waren, schauten kurz verwirrt in seine und auch Cyan’s Richtung. Zu Cedric’s Erleichterung war ihnen das Ereignis aber anscheinend doch zu uninteressant, denn schon ein paar Sekunden darauf fühlte Cedric sich wieder unbeobachtet. Der Junge atmete einmal tief durch. Trotzdem spürte er, wie ihm ungewollt die Hitze ins Gesicht stieg und sich mit einem wahrscheinlich ziemlich sichtbaren rötlichen Schimmer um seine Wangen legte. Vergiss es einfach. Einfach ignorieren. Die vergessen das schon wieder. Cedric redete noch eine ganze Weile auf sich selbst ein, um endlich wieder zur Ruhe zu kommen. Es dauerte seine Zeit, doch letztendlich hatte er auch dieses seltsame Erlebnis wieder abgetan. Allerdings konnte Cedric nicht umhin noch einmal zu Cyan zu blicken, der wieder voll und ganz dem Lehrer seine Aufmerksamkeit geschenkt hatte. Cedric legte den Kopf leicht schief, während er immer noch versuchte sich endlich auch auf den Unterricht zu konzentrieren. Aber eines nagte weiterhin an ihm. Cyan verhielt sich merkwürdig. So viel war sicher. „Cedric, ich habe eine ganz tolle Idee, was wir heute Nachmittag machen können!“ Cedric hatte noch nicht einmal die Haustür wieder hinter sich geschlossen, als er schon mit einem leisen Seufzer aufblickte und seine Mutter mit ausgebreiteten Armen vor ihm stand. Er ließ sich widerwillig in eine Umarmung ziehen, die mit einem überschwänglichen Küsschen auf seine Lippen endete. „Ganz toll, Mom. Und was?“, murmelte Cedric tonlos, während er an ihr vorbeitrottete und seinen Rucksack von der Schulter auf den leeren Küchenstuhl gleiten ließ. Sein Inneres begann jetzt schon sich widerspenstig aufzubäumen, was er mit aller Kraft versuchte niederzuringen. Er hatte noch einige Stunden bevorstehen. „Wir werden einkaufen gehen! Ich brauche unbedingt neue Pullover und so ein schöner gemeinsamer Einkaufsbummel, den hatten wir doch schon lange nicht mehr, oder?“, verkündete seine Mutter immer noch freudestrahlend und schritt ihm schnell nach. Cedric sah zu ihr, während er sich lustlos auf einen anderen Stuhl fallen ließ. Es dauerte nicht lange bis ihm auffiel, dass sie offenbar schon wieder den ganzen Tag gewartet hatte, bis er heimkam. Denn zu ihrem und auch Cedric’s Unglück war heute ihr freier Tag gewesen, was schlicht und ergreifend bedeutete: Pure Langeweile für sie, noch mehr Anstrengung für ihn. Und jetzt stand sie, schon bereit zum Aufbruch, vor ihrem Sohn und sah ihn erwartungsvoll mit ihren braunen Augen an, die gleich viel heller gewirkt hatten, kaum dass er das Haus betreten hatte. „Klar, machen wir.“ Die Worte waren wie kantige Steine, die sich aus seiner Kehle drückten und ein schmerzendes Gefühl hinterließen, als würden sie alles im Nachhinein noch zu zerreißen drohen. Cedric wollte das nicht, wollte nur in seinem Zimmer verschwinden und seine Ruhe haben. Den ganzen Tag hatte er schon damit verbracht über dieses Grauen nachzugrübeln, hatte jede Sekunde in der Schule gehasst und doch auch gefürchtet, dass sie vergehen würde. Nichts hatte die Zeit aufhalten können, wie er schmerzlich feststellen musste. Und nun erhob er sich schwerfällig, um sich seinem Schicksal ein weiteres Mal zu ergeben. „Ich zieh mich nur noch kurz um.“ Mit diesen monotonen Worten schlich er die Treppe hinauf, wechselte seine Klamotten und kehrte mit demselben besiegten Ausdruck im Gesicht wieder zurück, den er beim Hochgehen schon aufgesetzt hatte. „Jetzt zieh doch nicht so ein Gesicht, Cedric! Du hast es mir versprochen“, wies ihn seine Mutter sogleich zurecht, als sie die Autoschlüssel des ramponierten Kleinwagens von der Theke nahm und schon voller Elan zur Haustür schritt. Cedric brummte nur und folgte ihr hinaus, der sadistisch strahlenden Herbstsonne entgegen. Die Fahrt ins Stadtzentrum war viel zu kurz und so sah sich Cedric schon bald der vollkommenen Euphorie seiner Mutter ausgeliefert, die nun mit einem schwungvollen Schubs die Autotüre zuwarf und abschloss. Immerhin kannte er jetzt die ganze Geschichte von Mariella, Walter, Maggy, Mrs. Flennders und zu guter Letzt der verschütteten Sahne, was seine Laune erneut auf mehr oder minder intensive Weise beeinflusst hatte. „Auf geht’s!“, meinte seine Mutter und grinste Cedric an, von dem sie anscheinend genauso viel Motivation erhoffte oder zumindest erwartete. Denn wenn seine Mutter Spaß haben wollte, dann hatte auch er Spaß zu haben. Der Absolutismus war wieder auferstanden und hatte eine ganz neue Methode entwickelt seine grausamen Pläne durchzusetzen: Gewissensbisse. Schweigend schob Cedric die Hände in die Hosentaschen und ging um das Auto herum, um seiner Mutter über den Parkplatz zu folgen. Sie erwartete offenbar auch nicht, dass er ihr eine Antwort gab oder ein Strahlen heuchelte. Stattdessen begnügte sie sich vorerst mit ihrer eigenen Freude, hakte sich jedoch zu Cedric’s Widerwillen bei ihm ein und summte leise vor sich hin. Gemeinsam schlenderten sie über die Straße auf die kleine Fußgängerzone gegenüber zu. Phoenixville war nicht besonders groß, was den Bedarf an Geschäften mit dem doch recht ausgestatteten Einkaufszentrum etwas außerhalb, vollkommen abdeckte. Doch wie in jeder noch so unbedeutenden Stadt fand sich auch hier eine kleine Straße, vielmehr eine Gasse, die mit einigen Läden gespickt war, die sich in einer einzigen glatten Reihe von Häusern aneinander schmiegten. Cedric betrachtete die bunten Schilder über den Glastüren, beäugte skeptisch die bleichen Schaufensterpuppen, denen mit grellen Farben und auffälligen Kleidungsstücken versucht wurde ein wenig Leben einzuhauchen. Cedric war öfter in diesem betriebsamen Teil der Stadt, als ihm lieb war. Denn wenn ihn nicht gerade seine Mutter versuchte zu foltern, dann tat es Seth, wenn auch aus weniger heimtückischen Gründen. Mindestens einmal die Woche schleifte er ihn entweder hierher oder ins Einkaufszentrum und Cedric konnte natürlich nie nein sagen. Denn kaum hörte er den sanften, flehenden Ton in Seth’s Stimme, wenn ein leises ‚Bitte’ seine Lippen verließ, dann genügte dieses eine, winzige Wort um die Barrikade, die sein ehrgeiziges Widerstreben errichtet hatte, auf einen Schlag niederzureißen. Es war zum Verzweifeln. So kam es, dass Cedric noch gelangweilter von den ewig gleichen Auslagen und Anlockversuchen war, die an ihm vorbeizogen, welche seine Mutter aber ungemein zu faszinieren schienen. „Schau mal, da drüben! Der Pullover sieht doch gut aus. Komm, lass uns mal hinschauen.“ Augenblicklich wurde er nach rechts gezogen, konnte nur mit Mühe einem älteren Herrn ausweichen, in dessen Weg er sich gerade ungewollt geschmissen hatte. Verdattert stolperte er seiner Mutter hinterher. „Das ist doch wirklich goldig! Den probier ich… Oh.“ Ein Blick auf das Preisschild hatte seiner Mutter jäh alle Begeisterung aus dem Gesicht gefegt. „Hm?“, machte Cedric desinteressiert, obwohl er wusste was der Grund für diesen Wandel war. „Nicht so schlimm, wir suchen einfach einen anderen“, überspielte die Frau den Reinfall wie immer gekonnt und setzte sofort wieder ihr strahlendes Lächeln auf. Harsch wurde Cedric mit den Händen weitergeschubst, bevor er auch nur irgendetwas über das unangenehme Thema verlieren konnte. Dabei hatte Cedric gar nicht vorgehabt etwas zu sagen. Seine Mutter war alleinerziehend, schuftete Tag und Nacht in einem Restaurant als Kellnerin und trotzdem reichte das Geld nur ganz knapp, um hin und wieder einmal ein paar neue Blumen zu kaufen. Cedric ärgerte es, dass seine Mutter das Wenige, das übrigblieb, für diesen Unfug ausgab, weswegen er es sich auch nicht nehmen ließ, die Stromkosten zu überreizen, indem er Stunden vor dem Computer zubrachte. Ihm war bewusst, dass diese Einstellung nicht gerade dazu beitrug ihre finanzielle Lage zu verbessern. Aber er musste in seinem Leben schon genug Abstriche machen. Dann wollte er sich seine letzte Zuflucht nicht auch noch nehmen lassen. Zu akzeptieren, dass er sich einfach nicht so viele Dinge leisten konnte, wie andere in seinem Alter war auch gar nicht mehr so schwer wie früher. Damals hatte er noch darunter gelitten, oft fast geheult, als er mit Seth zwischen den überfüllten Kleiderständern und Regalen voller verlockender Gegenstände hindurchgeschlichen war. Seth, der sich immer alles hatte kaufen können, was er wollte. Er selbst, der schon Probleme hatte das Abendessen zu bezahlen, das sich Cedric nie nehmen ließ, wenn er außer Haus war. Und Seth wiederrum, der ihm fast immer aufgedrängt hatte es am Ende doch mitzubezahlen und der ihm auch am Glitzern seiner Augen ablas, wenn er etwas haben wollte, nutzte das Geld, das er im Überfluss hatte, um ihm eine Freude zu machen. Cedric spürte das warme Gefühl um sein Herz streichen, als er an die unzähligen Nachmittage dachte, an denen sie ewig diskutiert hatten, da sich Cedric stets weigerte diese Gesten anzunehmen. Er wusste, dass Seth das tat, weil er ihn mochte, weil sie beste Freunde waren. Und das schon seit dem ersten Schultag in der ersten Klasse. Es war ein seltsamer Augenblick gewesen, den Cedric immer noch klar vor Augen hatte, denn für ihn hatte er die Welt bedeutet. Cedric war zu diesem Zeitpunkt sechs Jahre alt gewesen, also nur kurz nachdem er seine Erinnerungen wiedererlangt hatte, schon umgeben von neuen unbekannten Gesichtern, die ihn neugierig und abwartend angestarrt hatten. Keine Erinnerungen zu besitzen hieß auch, keine Beziehungen zu kennen, keine sozialen Strukturen mehr verinnerlicht zu haben. Für Cedric war das wie ein Todesurteil, das sich noch heute durch sein Verhalten zog. Er hatte nie wieder gelernt sich anderen anzunähern, hatte stets Scheu gehabt, die zu groß war, als dass er sie überwinden hätte können. Zwar war er in der Lage mehr oder weniger normal mit anderen zu sprechen, wenn auch sehr unsicher und abwehrend. Aber er selbst brachte es nicht über sich den ersten Schritt zu wagen. Und als verängstigter, desillusionierter Sechsjähriger war diese Bürde auf andere zuzugehen eine Aufgabe gewesen, die er nicht erfüllen hatte können. Stattdessen hatte ein anderer diese Aufgabe für ihn übernommen. Hatte den Mut besessen dem kleinen verheulten Cedric die Hand hinzustrecken und ihn aus dem Treibsand der Erinnerungslosigkeit zu ziehen. Seth war immer für ihn dagewesen. Und war es auch heute noch, bedingungslos. „Komm, lass uns da reinschauen!“, riss ihn seine Mutter aus den alten Erinnerungen, die ihn trotz des bedrückenden Inhalts so unendlich glücklich machten. „Von mir aus“, murmelte Cedric, versöhnlich wegen der emotionalen Entlastung, die ihm gerade widerfahren war und ließ sich in einen der wenigen Läden schleifen. Es war warm darin, was ihn nicht gerade in bessere Laune versetzte, immerhin war es draußen trotz herbstlichen Wetters sonnig genug. Außerdem mochte er die stickige Luft in dem Raum nicht, fühlte sich so an der Seite seiner Mutter nur noch weniger wohl. Eine Weile ertrug er es gehorsam und folgte seiner Mutter durch das ganze Geschäft. Auch als sie nach zwei Stunden alle anderen Läden ebenfalls noch haarklein durchforsteten, war Cedric bemüht einigermaßen freundlich zu antworten und sich auf die ständige Fragerei seiner Mutter zu konzentrieren. Allerdings war Cedric nicht gerade für seine Geduld bekannt, das wusste er selbst nur zu gut. „Was sagst du zu dem hier? Oder soll ich doch lieber die korallenfarbene Weste nehmen?“ Cedric blickte auf das Stück Wolle hinunter, das seine Mutter sich vor die Brust hielt. Die olivfarbene Variante rief in Cedric denselben Würgereiz hervor, wie die, die neben seiner Mutter über dem runden Kleiderständer lag. Zusammen waren sie ohne weiteres in der Lage ihn sich mitten in diesem Laden übergeben lassen zu können. „Die grüne“, murmelte er, darauf konzentriert oft genug zu schlucken, um jegliches Unheil vorzubeugen. Es ist so schon schlimm genug. Aber meine Mutter muss ja auch noch den miserabelsten Geschmack der Welt haben. Cedric wandte sich ab, als seine Mutter frohlockend weiter die Grabmode vor sich durchstöberte. Seit einer gefühlten Ewigkeit war seine Mutter von dem guten Ratschlag ihres Sohnes, doch einmal etwas Moderneres auszuprobieren, wieder abgekommen. Stattdessen gesellte sie sich zu ihren achtzigjährigen Freundinnen, welche nun neben ihr die staubigen Reste von Schafen und anderen wolligen Tieren mit einem Enthusiasmus erforschten, der Cedric so fern lag wie der entfernteste Planet im entferntesten Universum und genau wie der mit einer fast hundertprozentigen Chance nicht einmal existierte. Ich brauche Ablenkung! Cedric war an die Grenzen seines Durchhaltevermögens gestoßen. Mit einer an Panik grenzenden Hast kramte er sein Handy hervor und tippte in Windeseile eine Notrufnachricht an Seth in die Tasten. Es dauerte nicht lange bis eine Antwort kam, in der Seth zwinkernd nachfragte, was denn wieder passiert sei. Meine Mom ist Mitglied im Zombieverein geworden und will mir nun ihre neuen Freundinnen samt Clubkleidung vorstellen, erklärte er und musste sogar selbst ein wenig schmunzeln. Wenn er mit den Nerven am Ende war, neigte er zu einem fantasievollen, wortreichen Sarkasmus, der ihn immer wieder überraschte. Grüß sie schön von mir ;) Ich hoffe, die Zombies erweisen sich als ein wenig stilvoll…?, kam als Antwort und Cedric überdrehte sofort die Augen. Es sollte ihn nicht wundern, dass das die einzige Frage darstellte, die Seth interessierte. Wie schön, dass sich dein Mitleid so über mich ergießt. Und um dich zu enttäuschen: Nein, es ist der reinste Horror. Du würdest jämmerlich eingehen hier drinnen, schrieb er also wahrheitsgemäß zurück und sah sich nach seiner Mutter um, die anscheinend in die Umkleidekabine verschwunden war. Seine Vermutung was Seth’s Niedergang betraf, war gar nicht so weit hergeholt. Sein bester Freund hielt so viel auf Mode und stilgerechtes Aussehen, dass er sogar sein späteres Leben eben diesem Bereich voll und ganz widmen wollte. Visagist… Ein typischer Beruf für einen…Nein, so sollte ich nicht denken. Cedric hielt seine Gedanken zurück, denn er empfand es als nicht fair, nicht weitsichtig genug Seth’s Traumberuf als eine Tätigkeit anzusehen, die nur schwule Männer ergriffen. Das auch konsequent so zu sehen war schwer, denn Seth war ebenfalls schwul und würde die lange Liste an Beweisen für eben solche Vorwürfe nur noch verlängern. Aber Seth macht es, weil er es will. Er ist keine von diesen Fernsehtucken, die immer mit einer Handtasche herumrennen und Modetipps geben. In der Tat hatte Seth ein Faible für viele Dinge, die schwulenfeindliche Menschen sofort genutzt hätten, um ihn mit allerlei Beleidigungen zu überhäufen. Aber er lebte es nicht auf diese weibliche, übertriebene Art aus, sondern hielt sich wie gewohnt in seiner natürlichen Ruhe zurück, sodass es zu einem ganz normalen, unauffälligen Interesse wurde. Und auch sonst merkte man Seth nicht unbedingt an, dass er auf Männer stand. Er hatte einen ganz normalen Gang, seine Gestik und Sprache beschränkte sich auf dieselben Ausmaße wie beim Rest der männlichen Welt auch und war teils sogar noch dezenter. Er war bestimmt nicht der männlichste Typ, aber er ließ sich auch das Gegenteil nicht unterstellen. Zum Glück. Cedric konnte sich diesen Gedanken nicht verkneifen, denn auch wenn er der Überzeugung war, dass jeder so sein konnte und auch sollte wie er war, so hielt sich sein Respekt für die erwähnten Ausprägungen der Homosexualität doch in Grenzen. Es war ihm einfach zu künstlich, zu gespielt. Zu überbetont. Das sachte Vibrieren seines Handys lenkte die Aufmerksamkeit wieder auf das Display, das ihm eine neue Nachricht von Seth offenbarte. Oh je… Modische Todsünden, im wahrsten Sinne des Wortes. Wie lange musst du noch durchstehen?, las Cedric und grinste kurz. Dann tippte er mit einem doch weniger amüsierten Gefühl im Bauch, dass er es nicht wusste. Erst jetzt kam ihm seine Mutter wieder in den Sinn und er suchte hastig mit den Augen den Raum nach ihr ab. Bald schon hatte er die vertiefte Frau an einer Regalwand ganz in seiner Nähe wiederentdeckt, woraufhin er sich mit wenig Erleichterung wieder abwandte. Ein Blick auf sein Handydisplay zeigte ihm neben einer erneuten Nachricht von Seth, dass er schon ganze drei Stunden mit seiner Mutter zugebracht hatte. Und überlebt habe… Cedric’s trockener Gedanke war nicht so sarkastisch gemeint, denn ein Funke Wahrheit lag in allem was er dachte. Zumindest für ihn. „Cedric, Schatz, meine Füße schmerzen schon ganz arg. Ich denke, wir sollten schön langsam den Heimweg antreten. Was meinst du?“, hörte er wie aufs Stichwort seine Mutter hinter sich. Als er sich umdrehte, hatte sie ein einziges Kleidungsstück in der Hand, zu Cedric’s Entsetzen die korallenfarbene Weste, und sah ihn zufrieden lächelnd an. „Klar“, meinte er sofort und versuchte dabei seine Freude nicht ganz so deutlich zu erkennen zu geben. Einen Moment hatte er schon überlegt seine Mutter zu fragen, weshalb sie nun doch die andere Weste oder überhaupt diesen Fetzen kaufen wollte, aber als ihm bewusst wurde, dass das nur eine neuerliche Diskussion zur Folge gehabt hätte, schwieg er lieber. Stattdessen schwelgte er fast schon euphorisch in dem Bewusstsein den Nachmittag überstanden zu haben und wartete geduldig bis seine Mutter fertig war. Währenddessen hatte er Seth geantwortet, indem er ihm die freudige Botschaft gleich als erstem zukommen hatte lassen. „Das war ein schöner Tag, nicht wahr?“, fragte seine Mutter, als sie, wieder beieinander eingehakt, zurück zum Parkplatz schlenderten. Cedric brummte nur, versuchte es aber doch einigermaßen glaubwürdig zu gestalten, was anscheinend gelang. Seine Mutter lächelte nur weiter glücklich vor sich hin und verlor kein Wort mehr bis sie endlich den Wagen erreicht hatten und Cedric zügig einstieg. Erneut hatte er einen Tag mit seiner Geiselnehmerin überstanden. Aber nur mit der Hilfe eines ganz besonderen Menschen, der ihm im Moment einfach als der wichtigste Punkt seiner Gedanken erschien. Einem Menschen, der immer für ihn da war und es auch immer sein würde. Ein Leben lang. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)