Angriff ist die beste Verteidigung von abgemeldet ================================================================================ Kapitel 7: Teil 1 - Kapitel 7 ----------------------------- Say "I am wonderful" by CarpeDiem 7 Roy suchte in einem großen, roten Wäschekorb, der auf seinem Küchentisch stand, nach dem zweiten, farblich passenden Socken zu dem, den er bereits in der Hand hatte. Während er sich einige lose Strähnen, die aus seinem kurzen Pferdeschwanz gefallen waren, aus dem Gesicht strich, fragte er sich, warum man eigentlich grundsätzlich nie auf Anhieb den zweiten gleichfarbigen Socken fand, wenn man Wäsche zusammen legte. Bei seinem Glück war der Socke, den er gerade suchte, wieder einmal aus unerfindlichen Gründen von seinem Wäschetrockner gefressen worden und er würde sich ein neues Paar kaufen müssen. Im Internet hatte er gelesen, dass es Leute gab, die behaupteten, dass sich aufgrund der Umdrehungen der Wäschetrommel schwarze Löcher bildeten, in denen die Socken verschwanden. Roy lachte leise, als an diese haarstäubende Erklärung dachte. Manche Leute waren echt nicht ganz dicht. Roy hatte da eine andere Theorie und die bezog sich nicht nur auf seine Socken. Edward A. Murphy hatte es bereits vor über fünfzig Jahren überaus treffend auf den Punkt gebracht: Alles was schiefgehen konnte, würde auch schiefgehen. Roy konnte das nur bestätigen und er hatte gelernt immer für den schlimmsten, möglichen Fall zu planen, wenn er einen Auftrag erledigte. Ganz unten, auf dem Boden des Wäschekorbs fand Roy schließlich den Socken, den er gesucht hatte und grinste triumphierend. Er zog ihn heraus und schob die beiden Socken ineinander, bevor er sie neben sich auf den Stapel Wäsche legte, der sich bereits auf der Glasplatte des Küchentisches auftürmte. Im Hintergrund lief ein Stück von Philip Glass, einem amerikanischen Komponisten, der unter anderem mehrere CDs mit Minimal Music herausgebracht hatte. Es war langsame und melodische Musik, die meist auf einfachen Akkorden und vielen Wiederholungen beruhte und bei der sich nur unbewusst im Laufe eines Liedes etwas veränderte. Roy schloss für einen Moment die Augen und hielt kurz inne, als eine seiner Lieblingsstellen kam. Die Töne waren vollkommen klar und sauber und er entschied wieder einmal, dass die neue Soundanlage, die er sich gekauft hatte, wirklich jeden Yen wert war. Normalerweise war er nicht der Typ für klassische Musik, aber wenn ihm der Sinn danach stand, dann wollte er einen ordentlichen Klang haben. Seiner großzügigen Sammlung an Rockmusik war das im Allgemeinen egal, aber bei klassischer Musik hörte man einfach den Unterschied. Draußen war es bereits dunkel geworden und wenn es weiterhin so regnete, würde das Wasser bald aus den Abwasserdeckeln wieder heraus kommen. Ein unfreundlicheres Wetter konnte Roy sich kaum vorstellen, zumindest nicht, wenn man draußen sein musste - und er hatte bereits oft genug im strömenden Regen mit seinem Gewehr in der Hand auf irgendeinem Dach gelegen - aber wenn man in einer warmen, trockenen Wohnung saß, hatte es irgendwie etwas Gemütliches. Roy hatte sich vorhin heißen Kakao gemacht und wenn er mit der Wäsche fertig war, würde er sich auf die Couch legen und den Abend vor dem Fernseher genießen. Gerade als Roy die letzte Jeans zusammen gelegt hatte, klingelte es an der Tür und er warf einen schnellen Blick auf die Uhr. Es war noch nicht sehr spät, aber er erwartete niemanden mehr und er fragte sich, wer das wohl sein könnte. Vermutlich war es wieder einmal seine komische Nachbarin, die kein Salz mehr hatte oder seine Hilfe dabei brauchte einen Nagel in die Wand zu schlagen. Beides war in der Vergangenheit bereits öfter vorgekommen und da Roy ein hilfsbereiter Mensch war, hatte er zehn Minuten seiner Zeit geopfert. Wenn man in einem christlichen Waisenhaus aufgewachsen war, konnte man vermutlich auch gar nicht anders. Roy legte seine Jeans oben auf den Stapel Wäsche, bevor er nach der Fernbedienung griff und den CD-Player auf Pause stellte. Dann ging er durch die Wohnung zu seiner Tür, entriegelte das Schloss und öffnete. Zu seiner Überraschung war es nicht seine Nachbarin, die draußen vor der Tür stand, sondern jemand, mit dem er nicht im Mindesten gerechnet hatte. „Akihito, was machst du denn hier?", fragte er verwundert und musterte den Jungen von oben bis unten. Er sah aus, als wäre er mit samt seinen Klamotten in einen Pool gesprungen. Er war nass bis auf die Haut und zitterte obendrein am ganzen Körper. Aus seinen Haaren tropfte noch immer der Regen und an der Stelle, an der er stand, hatte sich bereits eine kleine Pfütze auf dem Boden gebildet. Doch obwohl er aussah wie ein begossener Pudel, lag in dem Blick, mit dem er Roy ansah, eine gewisse Entschlossenheit. „Ich möchte so sein wie du", sagte er mit belegter Stimme. „Ich will, dass du mir beibringst wie man ein Auftragskiller wird." Roy klappte der Mund auf, als er das hörte und für einen Moment starrte er Akihito vollkommen entgeistert an. Dann fing er sich jedoch wieder und warf hastig einen alarmierten Blick den Flur hinauf und hinunter. Zum seinem Pech stand zwei Türen weiter besagte Nachbarin. Sie hatte den Schlüssel im Schloss ihrer Tür stecken und sah aus, als würde sie jeden Moment einen Herzinfarkt bekommen, während sie zu einer Salzsäule erstarrt zu ihnen hinüber sah. Roy nickte ihr zu und gab ein aufgesetztes Lachen zum Besten, während er in Richtung Akihito gestikulierte und versuchte die Situation zu retten. „Mein Neffe", meinte er mit einem Schulterzucken. „Ich sage ihm andauernd, er soll die Finger von den Drogen lassen, aber er hört ja nicht auf mich." Dann wandte er sich wieder an Akihito und packte ihn am Arm. „Komm schon", zischte er leise und schubste den Jungen in seine Wohnung, während er seiner Nachbarin, die immer noch bewegungslos mit dem Schlüssel in der Hand vor ihrer Tür stand, ein letztes Grinsen zuwarf und schließlich die Tür hinter sich zu zog. Roy strich sich ein paar Strähnen seiner Haare hinters Ohr und atmete geräuschvoll aus, bevor er sich zu Akihito umdrehte, der mitten im Gang stand und auf den Parkettboden tropfte. Mit einem vernehmlichen Seufzen schob Roy ihn ein Stück den Gang entlang und öffnete die Tür zu seinem Badezimmer. „Geh da rein und zieh die nassen Sachen aus, ich bring dir ein Handtuch und was trockenes zum Anziehen." Damit machte er die Tür hinter Akihito wieder zu und machte sich auf den Weg in sein Schlafzimmer auf der anderen Seite des Ganges, um eine Jeans und ein T-Shirt von sich zu holen. An seine Nachbarin verschwendete er im Moment keinen Gedanken. Er glaubte nicht wirklich, dass sie das, was sie gehört hatte, ernst nehmen würde. So wie sie ihn manchmal ansah, hielt sie ihn wahrscheinlich eher für ein Modell oder einen Schauspieler, als für einen Auftragskiller. Er würde sich bei Geleigenheit eine Story einfallen lassen, um ihr das Ganze zu erklären. Als Roy mit seinen Sachen wieder aus dem Schlafzimmer kam, schnappte er sich noch zwei Handtücher aus dem Schrank gegenüber des Badezimmers, und öffnete die Tür anschließend einen Spalt breit, um alles auf einen kleinen Hocker zu legen. „Wenn du fertig bist, komm ins Wohnzimmer." Dann schloss Roy die Tür wieder und ging in die Küche, wo er zwei Tassen Kakao eingoss. Er fragte sich, was passiert war, das Akihito dazu gebracht hatte, durch den Regen zu ihm zu laufen - denn gelaufen war er, immerhin war er vollkommen durchnässt und unterkühlt. Der Junge kannte ihn schließlich kaum und alles, was er von ihm wusste war, dass er Auftragskiller war und ihn nicht umgebracht hatte, als er ihm an dem Abend in der Gasse begegnet war. Aus Roys Sicht waren das nicht unbedingt Dinge, die ihn vertrauenswürdig erscheinen ließen und er konnte sich nicht vorstellen, warum Akihito ausgerechnet vor seiner Tür aufgetaucht war. Natürlich hätte Roy ihn auch einfach wieder wegschicken können, aber etwas in seinen Augen hatte ihn davon abgehalten. Außerdem war es nicht seine Art jemanden, der ihn um Hilfe bat, einfach wieder wegzuschicken, ohne sich zumindest anzuhören, was er zu sagen hatte. Und der Junge brauchte definitiv Hilfen, denn er sah aus, als wäre er mit seinen Kräften am Ende. Mit den beiden Tassen in der Hand ging er ins Wohnzimmer und stellte sie auf dem Tisch ab, bevor er eine dicke Wolldecke aus einem der Schränke nahm. Als Akihito im Türrahmen auftauchte, sagte er ihm er solle sich auf eines der beiden Sofas setzen und gab ihm die Decke. Dann setzte er sich auf das andere Sofa, zog die Beine an und griff nach seiner Tasse, während sich Akihito in die Decke wickelte. „So, und jetzt noch mal von vorne", entschied Roy schließlich und Akihito hob den Kopf, um ihn anzusehen. „Ich bin hier, weil ich will, dass du mir beibringst, wie man ein Auftragskiller wird", antwortete er mit fester Stimme und hielt Roys Blick stand, als dieser ihn eingehend musterte. Offensichtlich war das hier tatsächlich kein Scherz, aber Roy konnte sich dennoch nicht vorstellen, dass das der Grund sein sollte, weshalb Akihito hier her gekommen war. Der Kleine hatte nicht die geringste Ahnung, was er damit von ihm verlangte und das war bestimmt nicht das, was er wollte. „Hm", entgegnete Roy skeptisch. „Du meinst das also wirklich ernst. Wie kommst du auf die Idee, dass du lernen willst, wie man Menschen tötet?" Akihito zuckte bei diesen Worten merklich zurück und das war genau das, was Roy erwartet hatte. Dann sah Akihito zu Boden und biss sich auf die Unterlippe, bevor er mit leiser Stimme antwortete. „Ich… - ich will nicht länger allen hilflos ausgeliefert sein." „Da gibt es einfachere Wege", belehrte Roy ihn ungerührt und trank einen Schluck von seinem Kakao. „Wie wäre es mit einem Selbstverteidigungskurs?" Dieser Vorschlag war freilich nicht ernst gemeint gewesen und war in erster Linie dazu gedacht, Akihito zu provozieren, doch anscheinend hatte Roy die Situation falsch eingeschätzt, denn mit Akihitos aufgebrachter Reaktion hatte er nicht gerechnet. „Du hast doch keine Ahnung wie es ist, wenn man von jemandem wie ein wertloses Spielzeug behandelt wird, mit dem man machen kann, was man will!", entgegnete der Junge wütend, während er weiterhin auf den Boden starrte und Roy sah, wie ihm Tränen in die Augen stiegen, während seine Hände krampfhaft die Decke umklammerten. Obwohl ihm mittlerweile wieder warm sein sollte, begann er erneut zu zittern und Roy erkannte, dass das hier mehr war, als nur eine fixe Idee. Akihitos verletzlicher Anblick erinnerte ihn daran, wie verzweifelt er damals gewesen war, nachdem diese Kerle Michelle vergewaltigt hatten. Roy konnte sich an keinen Tag im Waisenhaus erinnern, an dem das Mädchen nicht fröhlich gewesen war, obwohl ein Einbrecher vor ihren Augen ihre Eltern erschossen und ihr so ihre gesamte Familie genommen hatte. Als sie an einem Abend aus der Stadt nach Hause gegangen war, hatten ein paar Typen aus der Gegend ihr aufgelauert und sie geschlagen und vergewaltigt. Roy konnte sich an das Gefühl der Schwäche erinnern, das er empfunden hatte, weil er nicht in der Lage gewesen war, das zu verhindern und sie zu beschützen. Er hatte sich vollkommen hilflos gefühlt, als seine kleine, perfekte Welt mit einem Mal Risse bekommen hatte und er zum ersten Mal erkennen musste, wie grausam und gnadenlos die Welt war. Er hatte sich geweigert das hinzunehmen und nach einem Weg gesucht, um stark zu werden und so ein wenig Gerechtigkeit in diese Welt zu bringen. Das Problem war nur gewesen, dass er bei seiner Suche nach Gerechtigkeit an einen Killer, einen Todesengel geraten war, der ihm schnell klar gemacht hatte, dass es nur eine Art von Gerechtigkeit gab: seine. Als er Jack damals getroffen hatte, war er alles gewesen, das er selbst nicht gewesen war. Er hatte ihm beigebracht stark zu sein, damit er der Welt niemals wieder schutzlos ausgeliefert sein würde, aber der Preis dafür war seine Seele gewesen. „Nein", antwortete Roy einfühlsam, als er wieder in die Gegenwart zurückkehrte. „Aber ich weiß, wie es ist sich hilflos und schwach zu fühlen." Akihito sah auf und blickte Roy einen Augenblick lang an, bevor er wieder auf die Decke starrte. In gewisser Weise sah Roy in dem blonden Jungen, der auf seinem Sofa saß, viel von sich selbst. Er hatte in seinem Leben genug gesehen, um zu erkennen, dass Akihito nahe dran war seinen Lebenswillen zu verlieren. Wenn man an diesem Punkt angekommen war, gab es nur zwei Wege, die man einschlagen konnte. Entweder man verlor sich selbst und zerbrach an den Grausamkeiten des Lebens, oder man begehrte dagegen auf und versuchte zu kämpfen. Akihito hatte sich für den zweiten Weg entschieden, aber nur die allerwenigsten Menschen konnten diesen Weg aus eigener Kraft gehen. Er selbst hätte es auch nicht allein geschafft und wenn Jack ihm damals nicht geholfen hätte, wäre er aller Wahrscheinlichkeit nach bei seinem Versuch Rache an Michelles Vergewaltigern zu üben von diesen Typen umgebracht worden. Roy atmete ein Mal tief ein und wieder aus, während er darüber nachdachte, was er jetzt tun sollte. Sein Blick fiel auf die Tasse mit Kakao, die er vor Akihito auf den Tisch gestellt hatte. „Dein Kakao wird kalt", bemerkte er zusammenhangslos und Akihito griff vollkommen mechanisch nach der Tasse. Er führte sie an die Lippen und trank einen kleinen Schluck, was ihn dazu brachte, trotz allem genießerisch die Augen zu schließen. Roy lächelte leise. Wenn er eines konnte, dann war es Kakao machen. Während er Akihito dabei beobachtete, wie er einen weiteren Schluck trank, fragte er sich, ob Jack damals, vor sieben Jahren, als er es gewesen war, der mit einer Tasse Tee auf seinem Bett gesessen hatte, denselben Wunsch verspürt hatte ihm zu helfen, wie er jetzt gerade, als er Akihito ansah. Er hatte Mitleid mit dem Jungen er wollte ihm helfen, so wie Jack ihm damals geholfen hatte. Aber zuerst musste er herausfinden, was es gewesen war, das ihm so übel mitgespielt hatte. „Warum willst du, dass ich dir beibringe ein Auftragskiller zu sein? Was hat man dir angetan?", fragte Roy behutsam, doch Akihito schwieg und hielt seinen Blick auf die Decke gerichtet, während er seine Tasse umklammerte. „Hat es etwas mit dem Tattoo auf deiner Hand zu tun?" Wieder antwortete Akihito nicht und nachdem Roy ihm einen Augenblick Zeit gegeben hatte, wurde er ein wenig deutlicher. „Hör zu Akihito. Das hier ist ganz einfach. Ich stelle die Fragen und du antwortest. Wenn mir deine Antworten gefallen, überlege ich mir, ob du hier bleiben kannst. Wenn nicht, setze ich dich wieder vor die Tür." Roy beobachtete den Jungen von der Seite her, doch Akihito machte keine Anstalten ihm dieses Mal eine Antwort zu geben. Er seufzte leise. Wenn Akihito nicht mit ihm redete, konnte er ihm nicht helfen. Dieses Risiko konnte und wollte er nicht eingehen. Roy war gerade dabei aufzustehen und Akihito darum zu bitten zu gehen, als der Junge langsam anfing zu sprechen und Roy ließ sich wieder in die Polster sinken. „Angefangen hat alles damit, dass ich auf einen Tipp der Polizei hin Fotos für die Zeitung gemacht habe. Ich wusste nur, dass es um irgendeinen Drogendeal ging. Ich hatte gehofft, damit endlich meinen Durchbruch als freischaffender Fotograf zu machen und eine Anstellung zu bekommen. Die Fotos wurden nicht veröffentlicht, aber der Kerl, den ich fotografiert hatte, Ryuichi Asami, hat sie in die Finger bekommen und mich entführt. Er hat mich unter Drogen gesetzt und vergewaltigt, damit ich nicht noch einmal Fotos von ihm mache. Seitdem bin ich so etwas wie sein persönliches Sexspielzeug. Das ist jetzt fast ein Jahr her." Roy sah Akihito an und er spürte, wie eine unsagbare Wut in ihm aufstieg. Man hatte ihn vergewaltigt und eine Vergewaltigung war in seinen Augen das Schlimmste, das man einem Menschen antun konnte. Er dachte wieder zurück an Michelle und wie er sie in der Gasse, in der es passiert war, gefunden hatte, vollkommen apathisch und mit zerrissenen Kleidern. Sie war schon einmal Zeuge einer grausamen Tat gewesen und nach dem Mord an ihren Eltern hatte sie ihre Stimme verloren. Doch das Trauma, dass sie durch die Vergewaltigung erlitten hatte, war so schwerwiegend gewesen, dass sie wieder angefangen hatte zu sprechen. Und die ersten Laute, die ihren Mund verlassen hatten, waren ihre Schreie gewesen. Roy wusste nicht, was danach aus ihr geworden war, denn er hatte es nicht über sich gebracht je wieder dorthin zurück zu kehren. Er wusste, dass er es nicht ertragen konnte Schwester Marian, der Leiterin des Waisenhauses, in die Augen zu sehen - nicht nach allem, was er getan hatte, und nachdem er hatte erkennen müssen, dass der Gott, an den Schwester Marian glaubte, nicht eingegriffen hatte. Erst nach einiger Zeit war Roy klar geworden, dass Gott nicht selbst handelte, sondern sich der Engel, wie Schwerster Marian einer war, genauso bediente wie der Todesengel, zu denen er sich selbst zählte. „Und was ist mit deinem Tattoo?", fragte Roy als nächstes und Akihito sprach weiter ohne aufzusehen. „Der Anführer der Baishe Triade, Feilong, hatte mit Asami noch eine alte Rechnung offen. Er hat mich entführt und nach Hong Kong verschleppt, um Asami zu erpressen. Das war die schlimmste Zeit meines Lebens. Feilong hat damit gedroht mich mit Drogen voll zu pumpen und zu verkaufen, wenn ich nicht alles tun würde, was er wollte. Asami hat mich gerettet, aber er wäre dabei fast erschossen worden. Ich dachte zwischen uns hätte sich alles geändert, aber das war wohl nur Einbildung. Ich bedeute ihm nicht das Geringste. Es ging ihm nur darum vor Feilong keine Schwäche zu zeigen. Das war der einzige Grund, warum er mich gerettet hat." Roy antwortete nicht, aber er war sich ziemlich sicher, dass Akihito mit dieser Einschätzung falsch lag. Er wusste, wer Ryuichi Asami war, aber weder er, noch irgendein anderer Unterweltboss würde sich für sein Sexspielzeug abknallen lassen. Ihm musste tatsächlich etwas an dem Jungen liegen. Und umgekehrt war das offensichtlich genauso der Fall, obwohl Asami ihn vergewaltigt hatte, denn sonst wäre es Akihito nicht so nahe gegangen, dass man Asami beinahe erschossen hätte - und Roy hatte an seiner Stimme gehört, dass es so war. Er wusste, dass man einen Menschen durch gezielte Demütigungen und psychische Kontrolle dazu bringen konnte, Gefühle für seinen Peiniger zu entwickeln. Das nannte man Stockholm-Syndrom. Allerdings machte Akihito nicht den Eindruck einer Gehirnwäsche unterzogen worden zu sein. Vielmehr sah er so aus, als wäre er gerade von seinem Liebhaber verlassen worden und Roy tippte darauf, dass es nur ihre erste Begegnung gewesen war, bei der Asami Akihito wirklich Gewalt angetan hatte. Anscheinend war es die Entführung durch die chinesische Mafia gewesen, die ihn gebrochen hatte und als er nun von Asami, aus welchem Grund auch immer, weggestoßen worden war, hatte ihm das den Rest gegeben. All das erklärte aber immer noch nicht, warum Akihito ausgerechnet auf die Idee gekommen war, dass er seine Probleme dadurch lösten könnte, dass er sich zu einem Auftragskiller ausbilden ließ. Roy hatte diesbezüglich jedoch eine Vermutung. „Hast du schon mal auf jemanden geschossen?", fraget er und es überraschte ihn nicht, als Akihito kaum merklich nickte. „Ja, ein Mal." Roy sah ihn aufmerksam an und die nächste Frage, die er Akihito stellte, würde gewissermaßen darüber entscheiden, ob er ihm helfen würde oder nicht. „Was war das für ein Gefühl?" „Ich habe mich stark gefühlt", antwortete Akihito leise, während er einen unbestimmten Punkt auf der Decke anstarrte. Dann verzog er kurz das Gesicht, als er weiter sprach. „Aber hinterher habe ich am ganzen Körper gezittert, als ich dachte, ich hätte diesen Kerl erschossen." Roy konnte nur zu gut verstehen, was in Akihito vorgegangen war und er lächelte traurig. Er wusste noch wie es gewesen war, als er damals an den Typen, die Michelle vergewaltigt hatten, Rache nehmen wollte und sie mit einer Waffe bedroht hatte. Er hatte sich unbesiegbar gefühlt, aber am Ende hatte er nicht abdrücken können. „Man gewöhnt sich mit der Zeit dran", entgegnete Roy mit einem bitteren Unterton in seiner Stimme. Er zögerte nicht mehr abzudrücken und das durfte man in diesem Job auch nicht, sonst hatte man schnell selbst eine Kugel im Kopf. Aber das erste Mal war etwas vollkommen anderes. Es war ein berauschendes Gefühl, das Leben eines anderen Menschen in der Hand zu haben und im ersten Moment fühlte man sich geradezu allmächtig. Doch dieses Leben zu beenden und einen Menschen zu töten, war eine grauenvolle Erfahrung. Und das sollte es auch sein. Roy hatte irgendwann aufgehört zu zählen, wie viele Leute durch seine Hand gestorben waren, aber er hatte niemals Spaß am Töten gehabt, noch hatte er es jemals aus Rache getan. Es gab bestimmte Grenzen, die man nicht überschreiten durfte, oder man wurde zu einem Psychopathen. Akihito hatte ihm die richtige Antwort gegeben und Roy traf seine Entscheidung. Er würde ihm helfen ein anderes Leben zu führen und das, was man ihm angetan hatte, zu vergessen. Allerdings würde das in seinem Fall vermutlich ziemlich kompliziert werden. Er wusste nicht viel über Ryuichi Asami, nur dass er ein eiskalter Geschäftsmann war, der seine Finger tief im Drogen- und Waffenhandel hatte, aber was Akihito ihm erzählt hatte, machte deutlich, dass er ihn unter keinen Umständen gehen lassen würde, auch wenn er ihn heute weggestoßen hatte. Asami würde alles andere als amüsiert sein, wenn sein Sexspielzeug alias Eigentum von einem Tag auf den anderen verschwand. Und genau das würde der einzige Weg sein. Akihito musste buchstäblich verschwinden, sonst würde Asami sie eher früher als später finden und vermutlich beide umbringen. Allerdings waren das keine Entscheidungen, die man ohne darüber nachzudenken treffen sollte, noch dazu, wenn man mit den Nerven vollkommen am Ende war. „Hör zu, Akihito", begann Roy und der Junge hob den Kopf, um ihn anzusehen. „Es ist spät. Du solltest nach Hause fahren. Wenn du morgen früh immer noch willst, dass ich dir beibringe, wie man ein Auftragskiller wird, packst du deine Sachen und kommst wieder her. Aber lass dir eines gesagt sein: wenn du dich entscheidest, das zu tun, dann wirst du deine Familie und deine Freunde nicht so bald wieder sehen. Asami wird versuchen dich zu finden und der einzige Weg, das zu verhindern, ist für dich unterzutauchen, und zwar vollständig. Du kannst dich verabschieden, aber du darfst niemandem sagen wo du hingehst, oder was du vorhast. Wenn du auch nur die geringste Spure hinterlässt, wird Asami dich finden und uns vermutlich beide umbringen. Denk darüber nach." Dann stand Roy auf und nahm die beiden Tassen, um sie in die Küche zu bringen. Als er zurück in den Gang kam, stand Akihito bereits vor der Haustür und Roy gab ihm seine nassen Sachen in einer Plastiktüte mit. „Hast du genug Geld für ein Taxi?", fragte er, während er die Tür öffnete und Akihito nickte. „Gut", antwortete Roy beruhigt. „Die Sachen kannst du mir irgendwann nächste Woche zurück bringen, falls du es dir anders überlegen solltest." Er sah Akihito an, dass er ihm sagen wollte, dass er es sich nicht anders überlegen würde, aber der Junge sprach es nicht aus, sondern nickte nur. „Danke", murmelte er schließlich, bevor er die Wohnung verließ und Roy die Tür hinter ihm wieder schloss. tbc. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)