Coffee von Chevelle (Drown) ================================================================================ Kapitel 1: ----------- Leise nieselten die Regentropfen auf die Straßen und Dächer Seattles und vertrieben somit langsam den trüben Nebel, welcher sich vor Stunden noch über Teile der Stadt gelegt hatte. Sie wuschen sie rein. Die Regentropfen, die von dem Himmel fielen, wuschen die Erde rein, spülten alles Schändliche, alles Schlechte fort. So konnte man es zumindest fast meinen. Während der Verkehr selbst in der Nacht kein Ende zu nehmen schien, kauerte sich der siebzehnjährige Junge unter die Fluchttreppe des nebenstehenden Gebäudes zusammen. Es war nicht der günstigste Platz, um sich vor dem Regenschauer zu schützen, jedoch war es allemal besser als unter freiem Himmel zu sitzen und sich die Kleider nass regnen zu lassen. Der Junge konnte in diesem Moment alles andere als eine Erkältung gebrauchen. Auf der Straße herrschten andere Gesetze. Wer erkrankte, verlor. Ging drauf. Mit einer hastigen Bewegung sah sich der schwarzhaarige Junge um. Lediglich der Vergewisserung, er befand sich in dieser engen Gasse alleine, wegen. Er hasste Auseinandersetzungen mit radikalen Gruppen, welche bestimmte Gebiete der Stadt als ihr Eigen ansahen. Hätte er einen dieser Schläger in dem Moment gesehen, hätte er selbstständig seinen Platz geräumt. Denn sich nun ein paar Prellungen, infolge einer Prügelei, oder gar Knochenbrüche einzufangen, konnte er genauso wenig gebrauchen wie die Erkältung. Unwillkürlich strich er sich mit der rechten Hand über seine Armbeuge. Auf und ab. Immer wieder. Aber wozu musste er sich auch unnötig Sorgen machen, wenn er diese mithilfe eines Gegenstandes von, für ihn, unschätzbarem Wert in Nullkommanichts vergessen konnte? Seine alltäglichen Sorgen wären für ihn dann so bedeutungslos, wie die dreckigen Kanalratten, welche in der ebenso miefende Gasse nach Essensresten suchten. Instinktiv, fast schon apathisch, fuhr seine Hand an den Reißverschluss seines verschlissenen Rucksacks, welchen er schon seit Beginn seiner Rebellion mit sich trug. Aber was hatte er denn auch mehr als diesen? Wahllos kramte er leicht zitternd in dem ebenfalls zerschlissenem Innenfutter. Zitternd nicht, weil die kalte Oktobernacht ihm zu schaffen machte – das war nicht das schwerwiegende Problem -, zitternd eher, weil sich bereits die ersten Entzugserscheinungen bemerkbar machten. Mit jeder verstrichenen Sekunde stieg die Gier nach dem Stoff mehr in ihm an. Er brauchte es jetzt. Keine Minute konnte er länger warten. Es würde ihn allmählich um den Verstand bringen. Nervöser begann er in der Tasche zu kramen. Zwischen einigen zähen Burgern, deren Papier von der Soße aufgeweicht war, fand er zu seiner Zufriedenheit die Schachtel, deren Inhalt ihn wenigstens für einige Minuten – wenn gar Stunden – unberührbar für seine Sorgen und Ängste machen konnte. Alles würde einfach an ihm abprallen. Hastig entleerte er den Inhalt des metallenen Behälters, welche er aus einem zwielichtigen Kiosk gestohlen hatte, in seinen Schoß. Einen Löffel, ein Feuerzeug, einige Zigarettenfilter, ein Päckchen des weißen Pulvers und die Spritze. Beiläufig griff er abermals in den abgenutzten Rucksack und suchte dort nach der Flasche, in die er die Flüssigkeit zum Verdünnen des pulverigen Heroin abgefüllt hatte, indes er mit der anderen Hand die auf seinen Beinen liegenden Utensilien ordnete. Routinemäßig bereitete er alles für den entscheidenden Schuss vor, als seine Gedanken jedoch langsam zu einem längst vergangenen Tag abschweiften. Plopp. Plopp. Plopp. Mit den Händen und dem Kopf auf dem Tisch liegend beobachtete er die vor ihm stehende Kaffeemaschine dabei, wie sich mit jeder Sekunde ein Tropfen mehr mit dem schwarzen Kaffee vereinte. Er regte sich keinen Zentimeter und gab außer dem regelmäßigem Atmen kein Geräusch von sich. Plopp. Plopp. Plopp. Er wusste nicht, was er machen sollte. Er war verzweifelt. Leise seufzte er und vergrub sein Gesicht in seinen Armen. Ehrlich gesagt, hatte er überhaupt keine Lust irgendetwas zu machen. Es wäre zwecklos sich abzulenken, irgendwann holte ihn der Schmerz ohnehin wieder ein. Augenblicklich vernahm er hinter sich das Klicken des Türschlosses und darauf die Schritte einer Person, die die Küche betrat. Er musste nicht aufblicken, um sich zu vergewissern, wer hinter ihm stand. Zum Einen konnte es schließlich nur eine Person sein. Sein Vater. Und zum Anderen besaß er gar nicht das Bedürfnis in die Augen dessen zu sehen. »Hallo«, begrüßte ihn die monotone Stimme, als sich diese dem Tisch näherte und sich ebenfalls auf einem der umstehenden Stühle niederließ. Geräuschvoll seufzte sein Vater auf und beugte sich zu seinem Sohn hinüber. Kurz blickte der dunkelhaarige Junge in das fahle Gesicht seines Vaters auf, welcher gerade einmal ein Lächeln für seinen Sohn erzwang, ehe er sich wieder auf die Tischplatte sinken ließ. Er wollte nun nicht in das Gesicht seines Vaters sehen, was wahrscheinlich genau das Abbild seiner eigenen Miene war. »Und, was hast du heute gemacht, Sohn? Wie war die Schule?« Plopp. Plopp. Plopp. Schweigen. »Hm, nichts zu erzählen?« Er hasste es, wenn sein Vater immer nachhakte. Konnte er ihn denn nicht einfach in Ruhe lassen? Sein Vater war wie die Sorte der Hausfrauen, die selbst nichts zutun hatten und aus diesem Grund ihre Kinder bis auf die letzte Information ausquetschten. Nur bekam er bei seinem Vater langsam das Gefühl, dass dieses Nachhaken nicht mehr aus reines Interesse war, sondern gar um seinen Sohn zu überprüfen. Um ihn so besser kontrollieren zu können. Aber er war siebzehn! Langsam müsste es doch auch seinem Vater auffallen, dass es schlecht ankam, alles von ihm wissen zu wollen. »Ich saß den ganzen Tag zuhause und ich war auch nicht in der Schule«, erwiderte der Junge letztlich knapp und setzte sich auf. Beiläufig stellte er die Kaffeemaschine ab, während er die Reaktion seines Vaters beobachtete. Er hielt es für interessant mit anzusehen, wie sein Vater die aufkommende Wut vehement zu unterdrücken versuchte. Manchmal glaubte er, dass es an der viel zu eng geschnürten Krawatte lag, dass sein Vater vor Wut noch nicht rot anlief. Eigentlich musste diese doch alles Aufkommende, wie den Zorn, unterdrücken. Und zu gerne hatte er sich einige Male darüber lustig gemacht. »Ich kann nicht glauben, dass du schon wieder...«, presste sein Vater, welcher ihm gegenüber saß, zwischen den Zähnen hervor und spannte sichtlich seinen Körper an. »Was willst du machen? Mir beibringen, wie ich dir Respekt zolle? Mich schlagen?«, fragte der Junge ungerührt, während er aufstand und auf den Küchenschrank zuging, um sich dort eine Tasse für den Kaffee zu nehmen. »Willst du auch einen Kaffee?«, fragte er beiläufig, als ob nichts gewesen wäre und nahm die absehbare Antwort seines Vaters kennend ebenfalls eine Tasse aus dem Schrank. Ehe er sich jedoch wieder richtig zu seinem Vater, welchen er immer noch am Tisch sitzend glaubte, wenden konnte, traf ihn etwas Hartes auf der Wange und ließ seinen Kopf schwungvoll zur Seite schnellen. Augenblicklich setzte der brennende Schmerz an dieser Gesichtshälfte ein, begleitet von einem Klirren auf dem gefliesten Boden. Eine der zwei Tassen war in hunderte Teilchen zersprungen. »Großartig«, murmelte er leise und blickte, als er sich über die schmerzende Haut rieb, auf die Scherben unter ihm, wurde dann jedoch jäh aus seinen Gedanken gerissen, als er ein weiteres Mal einen Druck verspürte. Dieses Mal allerdings an seinem Hemd, welches sein Vater gewaltsam zu sich zerrte. Kurz begegnete er dem von Zorn erfülltem Blick seines Vaters, ehe er sich von ihm abwandte. »Für wen hältst du dich eigentlich?«, brüllte er seinen Sohn mit einer Lautstärke an, die wahrscheinlich auch die Mieter unter und über ihnen hören konnten. Aber was hatte diese Leute das auch schon zu interessieren? Rein gar nichts. »Glaub mir. Der Tod deiner Mutter macht mir genauso zu schaffen wie dir. Natürlich trauere ich ihr auch hinterher. Natürlich hab ich Schwierigkeiten mich wieder richtig einzufinden. Und dennoch bedeutet das nicht, dass ich mir Wochen, gar Monate von der Arbeit freigeben lassen kann, um dann zuhause einsam dahinzuvegetieren.«, für einen kurzen Moment herrschte eine angenehme Ruhe, welche jedoch sogleich wieder zunichte gemacht wurde, als sein Vater erneut den Mund öffnete, seinen Sohn diesmal jedoch nicht mehr so aggressiv anbrüllte. »Warum kannst du dir nicht einmal ein Beispiel an deiner Schwester nehmen? Kannst du nicht einmal so sein wie sie?«, mit jedem Wort schien auch seine Wut zu verebben und in Resignation überzugehen, bevor er seine Hand gänzlich vom Kragen gleiten ließ, seinem Sohn jedoch keines Blickes würdigte. Er nahm sich die Tasse, welche der Junge immer noch in der Hand hielt, wandte sich dann wieder dem Tisch zu und goss die dunkle Brühe in diese hinein. Kurz nippte er an dem Kaffee, ehe er erneut geräuschvoll seufzte, sich dann mit seinen Armen auf der billigen Tischplatte abstütze und seinen Kopf hängen ließ. Sollte er jetzt auf einmal Mitleid mit seinem Vater haben? Diesen immer noch anfunkelnd rieb der dunkelhaarige Junge sich über seinen Nacken und konzentrierte sich darauf nun nicht selbst die Fassung zu verlieren. Er hasste es. Er hasste es abgrundtief, wenn man ihn mit seiner nur allzu perfekten Schwester verglich. Es grenzte schon an ein Wunder, dass sein Vater den Namen seiner Schwester und das Wort perfekt nicht in einem Atemzug verwendet hatte. Seine Schwester war immerhin das Vorzeigemodell seines Vaters. Nie hatte seine Mutter zwischen dieser und ihrem Sohn einen Unterschied gesehen, aber was konnte ihm das nun noch bringen, wenn seine Mutter gestorben war? Für seinen Vater war man erst perfekt, wenn man zahlreiche Stipendien erworben hatte, an einer der besten Universitäten des Landes studierte, zahlreiche Auszeichnungen erhielt und am besten später noch Erfolg in seinem Beruf besaß. Alles Aussichten, auf welche er nicht annähernd so gute Chancen, wie seine Schwester über sie verfügt hatte, besaß. Zu gerne wäre er genauso gut wie seine Schwester und dennoch hatte er es nie auf ein vergleichbares Level geschafft. Es war so als wolle man laufen, wobei man noch nicht einmal kriechen konnte. Er ging unter in der Familie. Ertrank. »Morgen wirst du wieder zur Schule gehen«, beschloss sein Vater letztlich trocken, welcher immer noch seine Arme auf dem Tisch gestemmt hielt. »Ich werde gar nichts«, stellte er ebenso kühl fest, als er an seinem Vater vorbeiging und sich in sein Zimmer bewegte. Er hatte es für sich beschlossen. Er brauchte niemanden, der ihn kontrollierte, niemanden, der ihm sagte, was er zu tun und zu lassen hatte, er würde seinen eigenen Weg, seine eigene Richtung einschlagen. »Und ob du dies machen wirst. Sonst wirst du noch früh genug die Konsequenzen für dein Verhalten spüren!«, brüllte ihm sein Vater erneut hinterher und riss in seiner Wut die Kaffeetasse von der Tischplatte. Er wandte sich nicht um. Er hörte lediglich, wie das zweite Geschirr auf dem Boden zerbrach. Und langsam breitete sich die schwarze Suppe auf dem Boden aus. Er drückte sich noch näher an die Wand, damit weder er noch sein Gepäck nass wurde. Abartig war es mit anzusehen, wie die schwarze Suppe die Gasse hinunter lief, nur um dann in dem eingelassenen Gulli hinuntergespült zu werden. Es war genauso abartig, wie der Gedanke an seinen Vater, welcher erneut alle Wunden in ihm aufgerissen hatte. Er konnte es nicht verleugnen, dass er sich nach seiner Familie sehnte. Nach der Familie, welche vor Jahren noch ein glückliches und sorgloses Leben geführt hatte. Er hatte alles gehabt, was ihn glücklich machte. Eine liebevolle Mutter, einen verständnisvollen Vater und eine wunderschöne, wenn auch manchmal starrsinnige, Schwester. Und man hatte ihm nach und nach alles genommen. Kurz blickte er in den mit Regenwolken überzogenen Himmel, ehe er sich ein letztes Mal mit den Fingerspitzen über seine Armbeuge fuhr. Er wusste, dass sich seine Mutter dort oben irgendwo befand. Blind stach er zu und drückte ab. Ein wohlig warmes Gefühl durchfuhr ihn und er fühlte sich geborgen. In den Armen seiner Mutter. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)