Rewind And Reflect von 4FIVE ([Caleb x Cornelia | canon-sequel | enemies to lovers]) ================================================================================ Prolog: A Love Never Meant To Be -------------------------------- Now that you have shed your tears like a kid criying his heart out It's not always easy to look forward and return what you have lost … P R O L O G „Wir müssen darüber reden.“ „Ich weiß.“ Cornelia Hale, vierzehn Jahre jung und im Körper einer Siebzehnjährigen, wandte den Blick zu Boden. Sie schwebte ein paar Zentimeter über dem Erdboden und landete sanft, als die Verwandlung von Will aufgehoben wurde. „Wir warten draußen auf euch“, sagte Hay Lin leise. Sie legte Cornelia eine Hand auf die Schulter, doch diese schöpfte nur wenig Trost aus der liebevollen Berührung. Sie wusste, dass es euch nicht mehr geben würde, sobald sie aus der großen Flügeltüre des zerstörten Saales getreten war. Die vier Mädchen ließen Caleb und Cornelia alleine – ein letztes Mal. Sie fiel ihm um den Hals und begann zu weinen. Ein letztes Mal seine Nähe spüren, ein letztes Mal bei ihm sein. „Cornelia…“ Er drückte sie sanft von sich weg. „Ich weiß, was du sagen möchtest.“ Sie umfasste seine Hände. „Ich bin zu jung, es wird nicht funktionieren. Und selbst wenn ich dir sage, dass ich dieselbe bin, egal in welcher Gestalt, du wirst es nicht hören.“ „Das ist es nicht“, widersprach er leise. Er machte einen Schritt auf sie zu und hob ihr Kinn an, sodass sie ihn ansehen musste. „Die Erde ist deine Welt, Meridian die meine. Du weißt, dass du nicht bei mir in Meridian bleiben kannst und ich weiß, dass ich nicht auf der Erde bleiben kann. Meridian ist meine Heimat. Hier ist mein Leben, so wie deines in Heatherfield ist. Wir sind zu unterschiedlich. Ich kann nicht mit jemandem zusammen sein, der nicht mein Leben lebt.“ Cornelia stockte. Sie fühlte sich leer und ausgebrannt; es war, als würde sie soeben sterben. Caleb interpretierte ihre Taubheit als Stärke, als Gefasstheit. „Ihr werdet die Bürde, Wächterinnen zu sein, ablegen, sobald ihr wieder auf der Erde seid. Die Portale zwischen unseren Welten werden nicht länger existieren. Das hier ist unser letztes Zusammentreffen.“ Cornelia hatte ihn bitten wollen, dennoch mit ihr zu gehen, doch angesichts seiner Worte hielt sie ihre Lippen zu einer harten Linie geformt geschlossen. Sie hatte gewusst, dass ihre Zeit vorbei war. Sie hatte auch gewusst, dass reden keinen Sinn mehr machte. Er hatte sich entschieden, sie hatte sich entschieden, und sie konnten die jeweils andere Entscheidung nur allzu gut verstehen. Cornelias Verbundenheit zu den übrigen Wächterinnen war so stark, dass sie diese nicht hinter sich lassen konnte, und im Gegenzug war Calebs Liebe zu Cornelia nicht stark genug, um seine Heimat hinter sich lassen zu können. Das war die Lage, wie sie sie gesehen hatte – doch Calebs Argument war ein anderes. Er hatte im Ernst seine Entscheidung daran ausgemacht, wie sie lebten. Nicht die Distanz war sein Grund, sondern die Lebensweise. Das war ein harter Schlag mitten ins Gesicht. „Dann ist dies das Ende für uns“, resümierte sie mit fester Stimme schließlich. „Kein Ende.“ Und nur, weil Caleb sie für so stark hielt, war er fähig, die Worte auszusprechen, die alles für immer verändern sollten. „Denn es hat niemals einen Anfang gegeben.“ Mit diesem Satz brach Cornelias Welt hinter einer Fassade der Gefasstheit nun gänzlich zusammen. In ihr schrie alles, aber sie trug den Schmerz nicht nach außen. Niemals einen Anfang gehabt zu haben bedeutete, dass er sie nie geliebt hatte. „Okay.“ Ihre Stimme zitterte, sie ließ Calebs Hand los und drehte ihm den Rücken zu. Die Schritte bis zu der geschlossenen Türe waren die schwersten und längsten, die sie jemals gemacht hatte – und doch waren sie viel zu kurz. Mit jedem Schritt, der lautlos von ihren Füßen rollte, wurde die Hoffnung größer, doch noch zurückgehalten zu werden, und die Enttäuschung größer, dass es nicht geschah. Als sie knapp vor der Türe stand, konnte sie jedoch nicht mehr stark sein. Ruckartig fuhr sie um und schrie: „Das hast du also gewollt! Mir weismachen, du würdest mich lieben, nur um mir dann das Herz zu brechen! Aber nicht mit mir, du elender Feigling! Hättest du es nur dabei belassen, unsere Trennung auf die Welten zu schieben – ich hätte dich weit weniger gehasst, als ich es jetzt tue! Hörst du das? So weit hast du mich gebracht! Mit nur einem Satz hast du es geschafft, dass ich dich für alle Zeiten verachten werde!“ Sie hielt ihre Tränen tapfer zurück, bis sie die Türe kräftig hinter sich zugeschlagen hatte. Das war alles. Alles, was sie sich erträumt, sich gewünscht, sich ausgemalt und was er ihr versprochen hatte. Alles zu Ende. Sah so ihr Leben aus? Zertrümmert, zerschellt, am Boden fruchtloser Hoffnung? Hatte er das gewollt? Sie hoch in die Lüfte zu heben, um sie fallen zu lassen? Wie unfair war diese Welt? Und wie naiv war sie? Sollte es das gewesen sein? „Cornelia?“ Will umarmte sie, sobald sie aus dem Saal getreten war. Und als sie unbeobachtet von Caleb war, brach Cornelia in Tränen aus. Sie schrie, sie schlug um sich und brach schlussendlich kraftlos am staubigen Boden zusammen, schweißgebadet und zitternd. Und dabei hatte sie keine Ahnung, dass alles noch nicht einmal angefangen hatte… Kapitel 1: The Chance --------------------- … I cant see who I should protect anymore and when I failed I don't wanted to become afraid… E I N S „Die fundamentalste Arbeit Galtons war die Anwendung der Evolutionstheorie auf die Entwicklung menschlicher Fähigkeiten. Da er Anhänger der Eugenik-Bewegung war, sie sogar ins Leben gerufen hatte, unterstand er außerdem der bereits vorher weit verbreiteten Überlegung, dass sich die intellektuell Überlegenen auf Kosten der intellektuell Unterlegenen vermehren müssen, um so eine Verbesserung der menschlichen Rasse zu erzielen. Wer stimmt ihm zu?“ Der Vorlesungssaal der Heatherfield University war karg gefüllt. Vereinzelt lagen verwaiste Zuckerstanden herum; Überbleibsel vorangegenagener Feierlichkeiten, zu denen einige Kommilitonen sich berufen gefühlt haben zu schienen. Nun herrschte nachdenkliches Schweigen über die schwierige Frage, die der Gastdozent ihnen eben gestellt hatte. Eifriges Blätterrascheln erfüllte den Hörsaal. Er ließ ihnen Zeit, um die vergangene Einheit zu rekapitulieren und vielleicht von selbst darauf zu kommen, welche Kritiken man Galton zukommen hatte lassen. „Aber ist diese Arbeit aufgrund der natürlichen Selektion bei der Zeugung nicht ohnehin getan?“ „Ein interessanter Gedanke, fahren Sie fort.“ Der Dozent rückte seine Brille zurecht und sah Cornelia erwartungsvoll an. Der Vorlesungssaal der Heatherfield University, einer staatlichen Universität im Herzen der Stadt, war um diese Zeit karg bestückt. Die meisten Studenten waren bereits in die Winterferien gefahren oder weilten seit einer Stunde auf dem Weihnachtsmarkt, der heute seinen Höhepunkt in Form einer Showeinlage feierte. „Nun, es ist doch so, dass jeder geborene Mensch sich gegen tausende konkurrierende Gameten durchgesetzt hat. Insofern sind wir alle Sieger eines erbitterten Wettrennens. Die natürliche Selektion erlaubt es nur den Schnellsten und Stärksten zu Überleben. Daher ist die menschliche Rasse in Prinzip schon auf dem höchsten Niveau, solange man vom jetzigen Standpunkt der Evolution ausgeht.“ „Sehr gut, Miss…“ Er machte den Anschein, als würde er überlegen, wie wohl der Name seiner Studentin war, doch statt sich der Blöße der Unwissenheit hinzugeben, überging er die Peinlichkeit gekonnt und wandte sich seinen anderen Studenten zu. „Die Prüfung dieses Moduls umfasst den Stoff der heutigen Vorlesung nicht, dennoch rate ich Ihnen, sich das Kapitel der Intelligenztheorien zu Gemüte zu führen. Dem Allgemeinwissen zuliebe. Ich wünsche Ihnen angenehme Ferien, übertreiben Sie das Feiern nicht und nützen Sie die Zeit, sich auf das nächste Modul vorzubereiten, durch welches Sie meine reizende Kollegin führen wird. Die Vorlesung ist beendet.“ Schwer ausatmend ließ sich der junge Dozent auf dem Stuhl hinter dem voll geräumten Pult nieder, doch sein Seufzer ging im Lärm der scharrenden Stuhlbeine und schnatternden Studenten unter. Sein Blick fiel auf den einzigen Menschen in diesem Raum, der angesichts der Ferien kein fröhliches Gesicht machte. Nun fiel ihm auch wieder ein wie Sie hieß – Cornelia Hale. Sie brauchte stets am längsten, um all ihre Sachen zusammenzupacken, da sie es mit einer melancholischen, beinahe schwerfälligen Art tat; als würden hunderte Kilos auf ihr lasten und jede Bewegung erschweren. „Miss Hale?“, rief er über die treppenförmig angeordneten Sitzreihen hinweg, als die übrigen Studenten den Hörsaal verlassen hatten. „Ja, Professor Blight?“ Cornelia sah ihn überrascht an. Dass er ihren Namen kannte, irritierte sie und dass er sie ansprach, rief ein Gefühl des Unwohlseins in ihr hervor. „Es freut mich, endlich einmal Ihre Stimme gehört zu haben, wenn auch nur der Umstand eines allgemeinen Fernbleibens daran Schuld trägt.“ „Ich verstehe nicht ganz, Professor…“ Der Dozent lächelte freundlich. „Sie studieren seit zwei Semestern Psychologie an dieser Universität und besuchen alle Vorlesungen. Ich habe Sie schon oft bei den freiwilligen Modulen gesehen. Trotzdem ist es das erste Mal, dass ich Sie sprechen höre“, erklärte er nachsichtig. „Normalerweise versuche ich, meine Studentinnen weitestgehend in den Unterricht einzubeziehen. In meinem Kurs gibt es die meisten Diskussionen, aber ausgerechnet Sie, die Engagierteste und zweifelsohne Iinteressierteste, melden sich niemals zu Wort. Heute war das erste Mal und ich frage mich, ob es daran liegt, dass die heutige Vorlesung nur zwanzig Leute statt einhundert besucht haben.“ „Das ist es nicht.“ Cornelia wandte den Blick ab. Unwillkürlich verstärkte sich ihr Griff um die Umhängetasche, die sich plötzlich anfühlte, als wöge sie eine halbe Tonne. „Ich spreche nun einmal nicht allzu gerne.“ „Eben das wundert mich.“ Skeptisch, aber doch besorgt sah der Dozent seine Studentin an. Sie war eine schöne Frau. Neunzehn Jahre jung, langes blondes Haar, hellblaue Augen und eine äußerst grazile Art, mit welcher sie ihre schlanke Figur bewegte und unbewusst schön in Szene setzte. Er kannte solche Typen von Frauen. „Sie sind außergewöhnlich gut aussehend, Miss Hale, und das sage ich nicht als Kompliment, sondern als Tatsache. Das einzige, das ihre natürliche Schönheit trübt, ist der stetig traurige Blick, den sie tragen. Sie wirken, als wäre ihr Verstand zwar hier, aber ihr Herz sehr weit weg.“ „Ich wüsste nicht, was Sie das angeht“, entgegnete Cornelia schnippisch. „Hören Sie, Ihr Unterricht ist äußerst lehrreich und interessant, aber auf einer anderen Basis als jener, welche der Lernstoff bildet, möchte ich kein Gespräch mit Ihnen führen. Ich trage ganz bestimmt keinen traurigen Blick, im Gegenteil, ich bin sehr glücklich. Es mag sein, dass ich heute etwas müder und träger wirke, aber auch nur, weil meine Mitbewohnerin gestern einen Höllenlärm gemacht hat und ich deswegen nicht schlafen konnte. Uns selbst wenn ich traurig wäre, ginge es Sie nichts an, okay?“ Milde lächelnd und vollkommen unbeeindruckt legte Blight ihr seine Hand auf die Schulter. „Natürlich geht es mich nichts an, aber in Ihrem Interesse sollten Sie früher oder später das Problem in Angriff nehmen, um wieder ein unbeschwertes Leben führen zu können. Besser früher als später.“ Er fischte aus der Innentasche seines Blazers eine Visitenkarte heraus. „Ich mache die Universitätsarbeit nur nebenberuflich. Wenn Sie jemals den Drang verspüren, zu reden, egal über was, dann besuchen Sie mich in meiner Praxis. Werktags von neun bis fünf, samstags bis eins. Schöne Ferien.“ Damit ließ er die verdutzte Cornelia zurück. „Was erlaubt der sich eigentlich? Als ob ich psychologische Hilfe brauchen würde, so ein Blödsinn“, zischte Cornelia verärgert, als sie missmutig die laute Hauptstraße entlangging, welche sie zur Straßenbahn führte. Es war doch unglaublich! Nicht nur, dass ihr Dozent, zu dem sie eine rein berufliche Beziehung hatte, sie behandelte wie eine Geistesgestörte, nein!, sie sollte auch noch zu ihm kommen und über ihre Probleme reden…es war zum Verrücktwerden! Doch dann schweifte ihre Gedanken in eine andere Richtung: War ihr Gefühlszustand so offensichtlich, dass sie aus einer Menge von Studenten heraus stach und dass sie unter hundert Menschen Mitleid erregte? Dabei hatte sie gedacht, es hinter sich gelassen zu haben… Mit diesen und ähnlich trübseligen Gedanken schleppte sie sich in die kleine Dreizimmerwohnung, deren sechzig Quadratmeter sie sich mit Will teilte. Es war wirklich zum Heulen! Wütend über Professor Blight schleuderte Cornelia die weiße Eingangstüre zu ihrer Mietwohnung in der Laverelley Lane zu, sodass sie mit einem ohrenbetäubenden Knall ins Schloss fiel und dabei fast aus den Angeln sprang. Im Schutz der halbwegs dicken Mauern um sie herum stieß sie einen schrillen Schrei aus und verfehlte nur knapp den Spiegel im Flur, als sie lautstark fluchend gegen die Wand schlug. „Dieser eingebildete Kerl!“ „Himmel Cornelia, was ist los?“, fragte Will, die aufgeschreckt durch den Lärm mit tropfnassen Haaren und nur mit einem Handtuch bekleidet aus dem Badezimmer gehastet kam. „Oh Gott, du blutest ja!“ Der erste Zorn war verraucht, da spürte Cornelia auch schon den stechenden Schmerz, der sich in ihrer Hand ausbreitete. „Na toll, jetzt müssen wir Farbe für die Wand kaufen, um die roten Streifen zu überdecken.“ „Was ist denn passiert?“, fragte Will erneut. „Und vor allem: was kann die Wand dafür?“ „Ich brauchte ein Substitut, um meine angestauten Aggressionen auszulassen und meine Gedanken auf das Reale zu konzentrieren.“ „Ein Substitut? Ihr Psychos seid doch verrückt…“ Sie verdrehte die Augen. „Also, sprich, während ich mich anziehe.“ Cornelia atmete tief durch und ging in die Küche, um sich Eis auf die von innen heraus pochende Hand zu legen. „Ich glaube, sie ist gebrochen!“, rief sie Richtung Badezimmer. „Du übertreibst“, kam es durch die geschlossene Türe zurück. „Wieso hast du die Wand geschlagen? Hast du echt geglaubt, eine Chance gegen sie zu haben?“ „Blödsinn!“, sagte Cornelia noch immer verärgert. „Ich habe heute mit meinem Dozenten gesprochen. Besser gesagt hat er mir gesagt, dass ich seelisch gestört bin.“ Die Badezimmertüre ging auf und Will trat fertig bekleidet hinaus. „Interessant. Aber hat er das im Ernst gemeint, oder interpretierst du das nur falsch?“ Sie setzten sich auf die Wohnzimmercouch. „Ich meine, ohne dich beleidigen zu wollen, du weißt doch, dass du des Öfteren etwas überbewertest oder missverstehst.“ „Ach, papperlapapp, dieses Mal bin ich mir sicher“, winkte Cornelia beleidigt ab. „Er hat mir seine Karte gegeben und gemeint, ich sollte über meine Probleme reden. Ich sei sehr traurig und würde mit meinen Problemen nicht klar kommen und sie würden mich zerstören. Dann hat er was von einem traurigen Blick gefaselt und gemeint, ich solle doch mal in seiner Praxis vorbeischauen.“ Sie reichte Will die Visitenkarte. „Privatpraxis Dr. Harvey Blight“, las sie vor und sah Cornelia besorgt an. „Womöglich ist es gar keine schlechte Idee. Du kommst fast nie raus und seit…nun ja, du hattest seit Peter keinen festen Freund mehr. Die kurzen Bekanntschaften zählen nicht.“ „Darf ich dich erinnern, dass wir fast nie rauskommen und wir seit langem keinen Freund mehr hatten?“, korrigierte Cornelia energisch. Ihre Hand schmerzte nun bei jeder kleinen Bewegung. „Ich bin nicht die einzige, die einer verlorenen Liebe nachtrauert, okay? Es braucht eben seine Zeit.“ Betroffen blickte Will zu Boden und biss sich auf die Lippe. „Fünf Jahre halte ich dennoch für eine etwas lange Zeit, du nicht auch?“ „Ganz und gar nicht. Es hat sich eben noch nichts Neues ergeben, so einfach ist das. Außerdem trauere ich ihm nicht nach.“ Um das Gespräch zu beenden stand Cornelia auf. „Ich fahre jetzt ins Krankenhaus, bevor meine Hand die Größe einer Melone annimmt.“ Sie hielt Will den Arm entgegen. „Schau, sie wird schon blau.“ Will lächelte schwach. „Ich komme mit. Aber ich hoffe für dich, dass nichts gebrochen ist, sonst verpassen wir die Parade heute!“ „Ich sagte doch, dass deine Knochen heil geblieben sind!“ „Ja, aber hast du gesehen, wie blöd der Arzt auf die weiße Farbe geschaut hat? Ich wette, der hat sich über mich lustig gemacht, als ich wieder raus musste.“ „Ich bitte dich, du siehst schon wieder Gespenster!“ Will stupste sie mit dem Ellenbogen in die Seite. „Der hat einfach noch nie eine so hübsche Frau wie dich gesehen.“ „Jaja, schleim du nur!“, tat Cornelia das Kompliment ab. „Ihr habt doch alle einen Knall. Professor Blight hat heute auch schon gesagt, dass ich außergewöhnlich gut aussehe.“ „Bei dir klingt das, als wäre es eine Beleidigung gewesen.“ Cornelia wandte den Blick ab. Ihn ihren Augen stiegen Tränen auf; nichts Ungewöhnliches seit Jahren, dennoch musste Will ihre Schwäche nicht unbedingt lebhaft mitbekommen. „Es ist nur…wenn ich so unwiderstehlich bin, wieso ist er dann nicht bei mir-“ Sie brach schnell ab und unterdrückte die aufkommenden Tränen. „Vergiss es, das ist lächerlich! „Cornelia“, flüsterte Will und umarmte ihre Freundin. „Ich weiß doch wie du dich fühlst. Aber denkst du nicht, dass das aufhören muss? Er kommt nicht wieder.“ „Ich weiß“, sagte Cornelia trocken. „Natürlich kommt er nicht wieder, aber ich kann nichts dagegen machen.“ In ihrer Stimme klang Hohn mit. „Ich frage mich nur, wieso es noch immer so schwer ist. Besser gesagt, schon wieder. Um das Ganze zu resümieren: sechs Monate, bis ich mit Peter glücklich war. Ein Jahr mit ihm, in dem ich Caleb trotzdem noch liebte. Ich weine seit fünf Jahren wegen ihm, das ist nicht normal!“ „So ist das eben“, meinte Will schlicht. „Wir können es nicht ändern. Möglicherweise solltest du Dr. Blight doch aufsuchen?“ „Nein!“, entschied Cornelia. „Der bekommt sicherlich keinen Einblick in meine Seele. Am Schluss lässt er mich nicht zu Ende studieren, weil er mich als unzurechnungsfähig einstuft.“ Schweigend und jede in ihren eigenen Gedanken schwelgend gingen sie durch die immer dunkler werdenden Straßen zum Weihnachtsmarkt, der sich hell erleuchtet von der anbrechenden Schwärze abhob. Keine wollte das Thema weiter vertiefen, aber ein anderes zu beginnen erschien ihnen als taktlos. Sie hatten oft über Caleb geredet, über die Lächerlichkeit ihrer noch immer bestehenden Liebe und über Möglichkeiten, die Litanei zu beenden – erfolglos. Während Will längst über Matt hinweg war und seit ihm zwei andere feste Beziehungen gehabt hatte, litt Cornelia viel mehr und länger. Schlussendlich konnte Will nicht anders, als das Subjekt der Unterhaltung wieder aufzugreifen. „Ich glaube, zu diesem Dr. Blight zu gehen wäre gar keine schlechte Idee, ehrlich gesagt. Vielleicht kann er wenigstens helfen, dass die Alpträume aufhören?“ Die letzten Worte waren immer leiser gekommen, beinahe kleinlaut und als sie ausgesprochen waren, hatte sie Angst, etwas Falsches gesagt zu haben. Cornelias Alpträume waren Tabuthema Nummer eins in ihrer Wohnung. „Sie sind weniger geworden“, log Cornelia, doch die Lüge flog schnell auf. „Ich höre dich jede Nacht schreien.“ Will sah sie ernst an, richtete den ihre Augen jedoch schnell wieder gerade aus, da Cornelia nicht den Eindruck machte, als wolle sie den Blick erwidern. „Das einzige, das sich geändert hat, ist der Wortlaut, den du schreist. Früher war es ‚Nein, Caleb, nicht, nein!’ und nun ist es ‚Bitte nicht, nein! Nein, ich liebe dich doch!’. Wird aber leider nicht besser dadurch.“ „Vielleicht hab ich auch einfach einen anderen Mann kennen gelernt, den ich liebe?“ Doch noch im Sprechen merkte Cornelia, dass sie sich die Aussage selbst nicht glaubte. „Ich mach dir einen Vorschlag. Heute während der Weihnachtsparade sucht sich jede von uns einen Mann aus, mit dem wir flirten und uns verabreden. Nun ist es halb fünf. Wenn wir bis zum Anfang der Parade keinen gefunden haben, sucht die jeweils andere einen aus. Was hältst du davon?“ Will zögerte einen Moment, doch der Plan, so uneffektiv er auch sein mochte, war wenigstens ein Versuch und ein Zeugnis des guten Willens. „Einverstanden. Und wenn wir am Ende des Abends kein Date an Land gezogen haben, muss die Verliererin zu Dr. Blight.“ „Abgemacht.“ Cornelia schlug ein. „Aber sag, was hast du eigentlich mit Professor Blight?“ „Ich bin an seinem Unternehmen beteiligt und je mehr Patienten er hat, desto mehr Provision bekomme ich.“ „Ja. Na klar…“ Cornelia verdrehte die Augen. „Ach ja, um das klar zu stellen: Ich bin über Caleb hinweg. Er hat aber hohe Maßstäbe gesetzt für meine zukünftigen Freunde und die sind eben nicht so leicht zu erreichen, okay? Ich weiß, dass es ziemlich kindisch wäre, an einer Liebe festzuhalten, die fünf Jahre zurückliegt. Mit vierzehn die wahre Liebe zu finden wäre doch irgendwie unrealistisch. Das zu glauben wäre ziemlich blöd und naiv. Es ist schon so lange her und damals war ich noch ein Kind, das nicht einmal wusste, was Liebe ist. Mit vierzehn kann man verliebt sein, ja, aber eine richtige, tief empfundene Liebe zu verspüren, die einen nicht mehr loslässt, das ist doch unlogisch!“ „So vieles an unserem Leben ist unlogisch, oder?“, entgegnete Will. „Du hast immerhin von Caleb geträumt, wahrscheinlich habt ihr eine übernatürliche Verbindung, die eben nicht so leicht zu lösen ist.“ Cornelia seufzte. „Ich bin doch ein elender Verlierer. Traurig, aber wahr.“ Von da an ging das Gespräch wieder bergauf. Sie scherzten, lachten und amüsierten sich. Es war wie ein Schalter, der hin und wieder umgelegt wurde. Die Trauer, die Einsamkeit und das Gefühl der Leere waren anfangs unerträglich gewesen. Blight hatte es gar nicht so schlecht getroffen. Der Verstand war hier, doch das Herz und die Gedanken stets an einem anderen Ort, weit weg von hier. Ebenso weit weg wie die beiden geliebten Menschen waren. Doch mit der Zeit war es besser geworden. Die Phasen der Hilflosigkeit waren weniger geworden, die Dauer der Depressionen hatte sukzessive abgenommen, solange bis nur mehr wenige Minuten des Tages den Tränen gehören und die Leere einem wehmütigen, aber erträglichen Schwelgen gewichen waren. Inzwischen war die Nacht zwar mit schmerzhaften Alpträumen im einen Zimmer und Einschlafproblemen im anderen Zimmer verbunden, doch der Tag war großteils befreit von negativen Gedanken. Vor allem die Zeit zu zweit, wenn sie nicht auf der Universität oder bei der Arbeit waren, genossen sie. Manchmal schafften es die beiden sogar, über die Verflossenen zu sprechen, ohne in Heulkrämpfe zu verfallen. „Schau!“, rief Will über den recht hohen Lautstärkepegel der Festivität hinweg, „da sind noch Plätze frei!“ „Ich würde lieber erst die Stände auskundschaften. Ich brauche noch ein Weihnachtsgeschenk für meine Schwester. Außerdem hab ich Lust auf Lebkuchen.“ „Du verzichtest auf Punsch? Ich bin empört!“ „Falsch, ich verzichte nicht, ich nehme mir einen im Wegwerfbecher mit!“, erklärte Cornelia freudig und bestellte zwei Beerenpunsch. „Und darum liebe ich die Weihnachtszeit.“ Glücklich nahm sie einen großen Schluck von dem rauchenden Getränk. „Sie hätten ihn stärker machen können, wenn du mich fragst“, beschwerte sich Will. „Ah, sieh nur!“ Unauffällig deutete sie auf einen Stand mit Christbaumkugeln. Doch ihr Finger deutete nicht auf die Verkaufsartikel, sondern auf eine Gruppe junger Männer, die davor standen. „Der in der Mitte ist nicht schlecht, oder?“ Skeptisch betrachtete Cornelia die Männer, rümpfte aber schlussendlich nur die Nase. „Noch drei von denen und dann vielleicht“, meinte sie und deutete auf ihren Punsch. „Darf ich dich daran erinnern, dass es deine Idee war?“ „Ja schon, aber muss man denn gleich das erste nehmen, was einen über denn Weg läuft?“ Will zuckte nur mit den Schultern. In dieser Weise ging es den ganzen Einkaufsbummel weiter. Als Will bereits nach einer halben Stunde eine Verabredung und zwei weitere Telefonnummern hatte, machte Cornelia noch immer die Auswahl mies, obgleich sie bereits drei weitere alkoholische Getränke getrunken hatte, deren Alkoholgehalt tendenziell mit der Dauer ihres Aufenthalts stieg. „So wird das nichts“, stellte Will fest, nachdem sie durch die verworrenen Gassen des Marktes geschlendert waren und sich schlussendlich an einem der Tische niederließen. „Du musst aufhören, sie alle zu vergleichen. Niemand kommt an ihn heran.“ Cornelia verschränkte nur die Arme und schwieg zu dem stummen Vorwurf. Was wusste Will schon? Sie war…anders. Anders als Cornelia. Sie war schon immer ein heiteres Gemüt gewesen, schnell deprimiert, aber auch schnell wieder auf den Beinen, wenn sie es wollte. Optimistische Geister waren dazu prädestiniert, nach vorne zu sehen, wo die realistischen Pessimisten sich weigerten, etwas Positives in der Zukunft zu sehen, die trüb und grau erschien. War Cornelia eine Pessimistin? Natürlich nicht. Sie tendierte bloß dazu, niedergeschlagener zu sein, als andere Menschen. Länger. Intensiver. Was machte sie sich vor? Sie war eine Pessimistin. „Es war doch deine Idee! Wenn du nicht den nächsten ansprichst, such ich einen für dich aus.“ Das gab Cornelia zu denken. Mit verzogenem Mund stützte sie ihr Kinn auf die Handfläche und ließ den Blick über die Menge schweifen. Es war schwierig, einen halbwegs gut aussehenden Mann zu entdecken, der zudem auch ohne Freundin oder gar Ehefrau unterwegs war. Sie wollte es bereits aufgeben und riskieren, Will die Entscheidung zu überlassen, doch dann fiel ihr jemand ins Auge, der sie stutzig werden ließ. Der junge Mann stand mit dem Rücken zu ihnen, sein Haar war braun, seine Statur groß und muskulös. „Cornelia? Hey, was ist los?“ Will folgte ihrem Blick und musste schlucken. „Nein, tu dir das nicht an. Er ist es nicht.“ „Das weiß ich“, zischte Cornelia, die sich vom ersten Schock erholt hatte. „Er sieht gut aus. Ich denke, das ist meine Wahl.“ Will wollte ihre Freundin aufhalten, doch da war diese bereits aufgestanden. Sie beobachtete sie, wie sie entschlossen und doch zögerlich auf das Trio zuging, zu dem der Mann gehörte. Und selbst wenn Will nicht gezögert hätte, Cornelia hätte sowieso ihren Kopf durchgesetzt. Sobald es um Caleb ging, konnte man genauso gut zu ihr reden, wie zu einer Wand – und selbst eine Wand verstand vermutlich mehr. Andererseits war es vielleicht gar nicht schlecht, wenn sie jemanden fand, der Caleb äußerlich ein wenig ähnlich war, denn dann würde sie vermutlich leichter mit der neuen Liebe zurechtkommen. Zu mehr Gedanken kam Will aber auch gar nicht, denn Cornelia war im Handumdrehen wieder da. „Das ging ja schnell. Hast du überhaupt mehr als ‚Hallo’ gesagt?“ „Natürlich“, antwortete Cornelia triumphal. „Ich hab seine Nummer und werde ihn in nächster Zeit anrufen, um ein Treffen auszumachen.“ So sicher über den Wahrheitsgehalt dieser Aussage waren sich aber beide nicht, doch niemand wollte es aussprechen. Zumindest war es ein kleiner Erfolg für die beiden. Die Parade war ein mindestens genauso großer Erfolg, vor allem für die Kassen der Standbesitzer. Will und Cornelia tranken noch einige Tassen Punsch, lachten und vergnügten sich. Als Hay Lin mit Eric im Schlepptau vorbeikam, waren die beiden bereits zu guter Stimmung, als dass sie noch nüchtern hätten sein können. Doch die Hochstimmung forderte ihren harten Preis, der frühmorgens vom Konto der jungen Damen abgebucht wurde. „Au.“ Das war das erste und für zwei Stunden nach dem Erwachen einzige Wort, das über Wills Lippen kam. Ihr war schlecht, sie fühlte sich wie erschlagen und ihr Kopf schmerzte. Cornelia, die Trinkfestere der beiden, erging es zwar alkoholtechnisch ein wenig besser, dafür hatte sie unter dem Alkoholeinfluss den schrecklichsten Alptraum seit langem gehabt. Er hatte die Intensität der anfänglichen Träume gehabt, doch durch die Wahrnehmungsverzerrung eine ganz andere Wirkung erzielt. Wo sonst Tränen nach dem Aufwachen standen, rannen nun Schweißtropfen über Cornelias Gesicht. „Guten Morgen“, nuschelte Will. Ihre zitternden Finger schlangen sich um die wärmende Kaffeetasse. Sie hatte ein Marmeladebrot vor sich liegen, hatte es jedoch nicht angerührt. „Nicht gut.“ Cornelia nahm sich das Frühstück und biss nachdenklich hinein. „Dir scheint es im Gegensatz zu mir sehr gut zu gehen“, beschwerte sich Will. „Iss das nicht vor meinen Augen, sonst übergebe ich mich.“ Cornelia überging die Bemerkung. „Er ist schlimmer geworden.“ „Ich hab dich schreien gehört. Vielleicht hat es etwas mit dem Kerl von gestern zu tun? Er könnte verdrängte Gefühle oder so in dir wach gerufen haben.“ „Eine Verdrängung kann nicht einfach durch so ein banales Ereignis ins Bewusstsein geholt werden. Es erfordert eine lange Therapie, ehe man Verdrängte Inhalte wiederholt. Außerdem habe ich das ganze nicht verdrängt, sonst würde ich besser drauf sein.“ Will raufte sich unter Grummeln die Haare. „Ihr Psychologiestudenten seid doch echt zum Kotzen. Konntest du nicht auf die Modeschule gehen?“ „Danke für dein Mitgefühl, Wilhelimina.“ Sie verschränkte die Arme. „Aber nun im Ernst, ich denke, dass es der Alkohol war. Trotzdem. Der Traum heute Nacht war anders. Ich habe nicht davon geträumt, wie er mich verlässt.“ „Was?“ Überrascht richtete sich Will wieder auf. „Denkst du, es hat etwas zu bedeuten?“ „Keine Ahnung. Er kam in meinem Traum fast nicht vor. Zumindest nicht in der normalen Form. Er war verzerrt, irgendwie unwirklich, wie eine Vision oder eine Erscheinung. Es war wirklich gruselig.“ „Hm.“ Mehr fiel Will nicht dazu ein. Sie versuchte angestrengt, eine Erklärung zu finden, doch ihr Hirn funktionierte heute wesentlich langsamer als sonst. „Du solltest dir keine Gedanken darüber machen, solange der Traum nicht häufiger vorkommt. Was machen wir heute?“ Cornelia war froh über den Themenwechsel. „Wir könnten Hay Lin fragen, ob sie Zeit für einen Kaffee hat oder fürs Kino.“ Doch Hay Lin hatte bereits etwas vor und so richtig motivieren, zu zweit das wohlig warme Heim zu verlassen, konnten sie sich nicht. So verstrich der Tag mit einem Kater und laufendem Fernseher. „Kannst du mir den Arm brechen?“, fragte Cornelia monoton, ohne den Blick vom Fernseher zu nehmen, als gerade die zweite Folge der langweiligsten Sit-Com angelaufen war, die es im TV gab. „Wieso?“, fragte Will ebenso monoton und ebenfalls ohne die Augen zu bewegen. „Ich brauche für morgen eine Ausrede. Lilan hält mir sicher wieder vor, dass sie mit ihren zwölf Jahren schon einen Freund hat.“ Sie begann ihre Schwester nachzuäffen. „Das ist ja mal wieder typisch, du bist so ein schlechtes Vorbild! Wie soll ich jemals normal werden, wenn du es nicht schaffst, einen Freund zu haben? Ich ertrage das nicht mehr!“ „Ich kann dir den Arm leider nicht brechen, so gern ich auch würde“, winkte Will ab. „Ich muss morgen Früh zu Mum, Dean und William. Ich hab den Kleinen schon so lange nicht mehr gesehen. Er ist gerade in die Schule gekommen.“ Sie lächelte liebevoll bei dem Gedanken an ihren kleinen Bruder. „Du schaffst das schon, keine Sorge. Im Handumdrehen wirst du wieder mit mir zuhause herumsitzen und dich darüber beschweren, dass dir langweilig ist.“ Cornelia verzog nur das Gesicht. „Bevor ich es vergesse, du musst noch den süßen Typen anrufen. Wie heißt er eigentlich?“ „Collin, wenn ich mich richtig erinnere. Collin irgendwie, hab mir seinen Nachnamen nicht gemerkt. Ah, doch, Perrett. Ich geh jetzt jedenfalls wieder schlafen.“ „Ja, du hast recht, es ist sechs Uhr Samstagabends, da sollten zwei attraktive Mädchen wie wir zeitig schlafen gehen.“ Doch auch Will fing an zu gähnen. „Vom Nichtstun wird man ja so schnell müde…“ „Gute Nacht“, wünschte Cornelia lachend. „Falls wir uns morgen nicht mehr sehen, viel Spaß bei deiner Familie.“ „Danke, dir auch.“ „Ja, den werde ich bestimmt haben…“ Kapitel 2: Christmas Eve ------------------------ … It looks like the summer sky is crying


 out loud to say that I should care … Z W E I „Ich weiß nicht, ob das mit uns funktionieren wird.“ „Aber ich weiß es!“ „Cornelia…es ist nicht so, dass ich dich nicht lieben würde. Du bist einfach zu jung.“ „Und darum bin ich nun anders als vorher? Ich bin immer noch dieselbe! Selbst verwandelt habe ich immer noch meine Intelligenz!“ „Unsere Beziehung gründet auf einer Lüge. Das darf nicht sein.“ Caleb drehte sich um und ging. Verzweifelt griff Cornelia nach seinem Handgelenk und hielt ihn fest. „Lass los!“ Er drehte sich unwirsch um und schlug ihr mit der flachen Hand ins Gesicht. „Fass mich nie wieder an, du Betrügerin!“ Erneut wandte er ihr den Rücken zu, doch diesmal ließ er nicht nur Verzweiflung zurück, sondern Schmerz und Fassungslosigkeit. Mit zitternder Hand bedeckte Cornelia die gerötete Stelle. Dabei sah sie ihren Arm, der von türkisem Stoff geziert wurde. Sie hatte sich verwandelt. „Caleb…“, flüsterte sie unter Tränen, die unaufhörlich und heiß über ihre Wangen kullerten. „Caleb.“ Sie brach zusammen. Indes wälzte sich die um fünf Jahre älter gewordene reale Cornelia unruhig in ihrem Bett. Sie weinte und schluchzte und krallte sich in ihre Bettdecke, als wäre sie der einzige Halt, den sie noch hatte. „Caleb!“, schrie sie, als sie erwachte. Sie kam sich lächerlich vor. In ihrem tiefsten Inneren hatte sie gewusst, dass es nur ein Traum war. „So was Dummes“, murmelte sie, während sie aufstand und sich zurechtmachte. Die Sonne war bereits seit langem aufgegangen. „So war das damals auch gar nicht.“ Aber der Traum hatte seine Spuren hinterlassen. Noch während sie ihre Zähne putzte und verärgert und genervt in den Spiegel stierte kamen stumme Tränen aus den hübschen Augen. „Auscherdem hötte ich ihm schicherlich nicht nachgewoint wenn er mich geschlagen hötte!“ Sie spuckte aus. „Wieso träum ich so einen Stuss eigentlich?“ Fertig angekleidet trat sie ins Wohnzimmer. Ihr Blick fiel auf den Couchtisch, auf dem sie gestern Nacht, während Will geschlafen hatte, ein Geschenk drapiert hatte. Statt dem rosa eingepacktem Quadrat befand sich nun auf fast derselben Stelle ein grünes, eckenloses Rechteck mit einer Karte daneben. „Fröhliche Weihnachten, deine Will“, las Cornelia ab und riss ungeduldig das Geschenk auf. „Oh, Will!“ Sie hob einen weißen Poncho mit dazupassender Haube hoch. Nun hatte sie auch einen Vorwand, ihre Freundin anzurufen. „Will, hier spricht Cornelia. Stör ich dich?“ „Nein, nein, wir kochen gerade fürs Mittagessen, aber die kommen auch kurz ohne mich aus“, sagte Will am anderen Ende der Leitung. Im Hintergrund waren Kindergeschnatter und klirrendes Besteck zu hören. „Ist etwas passiert?“ „Ich wollte mich nur für den wunderbaren Poncho bedanken. Der ist traumhaft!“, flötete Cornelia. „Freut mich, dass er dir gefällt. Ich trage übrigens bereits die Uhr, die du mir geschenkt hast. Ist wirklich nichts passiert? Du klingst aufgekratzt und…verheult?“ Cornelias Finger schlossen sich fester um den Telefonhörer. „Ich hatte einen Alptraum.“ „Und?“, fragte Will matt. „Ich meine, das ist schrecklich, ich weiß, aber es ist nichts Ungewöhnliches, oder?“ „Nun ja, er entspricht nicht mehr der Wahrheit. Er hat irgendwie emotionslos gewirkt, als wäre ihm alles völlig egal, als wäre ich ihm egal.“ Dass er sie geschlagen hatte, ließ Cornelia vorsichtshalber weg. „Hm. Das ist in der Tat seltsam. Aber vielleicht ist es eine Hilfe deines Unterbewusstseins, damit du endlich über ihn hinweg kommst? Womöglich will es dir einreden, dass er es nicht wert sei?“ Doch Cornelia schien nicht überzeugt zu sein. „Mein Unbewusstsein kann doch keine Suggestionen in meine Träume projizieren, damit sich meine Gefühle ändern! Es würde drei Ebenen umfassen, das wäre zu komplex. Das Unbewusstsein besitzt keinerlei Kalkül.“ „Ich habe zwar kein Wort verstanden, aber du wirst schon recht haben.“ „Ich glaube, ich verliere den Verstand!“ „Siehst du, das verstehe ich“, scherzte Will, doch ihr wurde schnell klar, dass Cornelia nicht zu Scherzen aufgelegt war. Sie hörte sie leise schluchzen. „Wein doch bitte nicht, Cornelia. Es war sicherlich einfach nur ein Traum.“ „Mhm“, machte es auf der anderen Seite. „Ich weine ja nicht wirklich. Es kommt einfach. Ich bin ein emotionales Wrack. Ein einfacher Traum bringt mich aus der Fassung! Tut mir leid, dass ich dich gestört habe. Frohe Weihnachten.“ „Frohe Weihnachten.“ Cornelia legte auf. Kopfschüttelnd wischte sie ihre Tränen ab. „Reiß dich zusammen!“ Doch ihre ohnehin schon karge Selbstbeherrschung wurde während der nächsten Stunden hart auf die Probe gestellt. Bepackt mit sämtlichen Geschenken, machte sie sich auf zu ihrem Elternhaus, das mit dem Bus nur zehn Minuten entfernt lag – eine viel zu kleine Distanz, wenn es nach Mutter und Tochter ging. „Ah, Cornelia, da bist du ja“, sagte ihr Vater, als er die Türe geöffnet hatte und umarmte seine Tochter kurz. Man sah ihm an, dass er sich aufrichtig freute. Bevor sie beide ins Wohnzimmer zum Rest der Familie gingen, trat er hinaus zu Cornelia ins Freie und lehnte die Türe zu. „Schatz, du weißt ja, wie das wieder ablaufen wird. Ich habe zwar die Hoffnung, dass dieses Weihnachtsfest besser wird, aber ich glaube nicht recht daran. Darum möchte ich dir das gerne geben, bevor irgendjemand weinen wird oder betrunken ist.“ Er reichte seiner überraschten Tochter einen prallen Umschlag. Sachte, um keine ungestüme Freude zu zeigen, öffnete Cornelia das Geschenk. „Dad, das kann ich doch nicht annehmen!“, flüsterte sie bestimmt und wollte es ihm wieder geben. „Natürlich kannst du das.“ Er lächelte und drückte den Umschlag samt Inhalt wieder an sie. „Das sind die nächsten vier Monatsmieten, die Studiengebühren für die nächsten zwei Semester und ein kleiner Bonus, damit du dir ein paar schöne Kleider kaufen kannst. Ich hoffe, du bist noch immer modebewusst?“ „Das müssen doch mindestens zweitausend Dollar sein.“ Sie versuchte die Geldscheine rasch zu zählen, doch sie war überfordert. „Ich habe das genau errechnet. Die Wohnung kostet etwa fünfhundert Dollar, geteilt durch zwei mal vier plus hundert Dollar Wasser, Gas und Strom sind tausendeinhundert. Die Studiengebühren belaufen sich auf knapp zweihundertfünfzig pro Semester, also tausendeinhundert plus fünfhundert, sind dann tausendsechshundert. Die restlichen fünfhundert Dollar dürften für eine ordentliche Winterjacke und ein paar Pullover reichen.“ „Danke, Dad, ich hab dich lieb!“ Schwungvoll umarmte sie ihren Vater, der sie liebevoll an sich drückte. „Aber das war noch nicht alles“, versprach er mit stolzer Brust, als sie sich wieder gelöst hatten. „Ich finde nicht, dass eine junge Dame in einem Fast-Food Restaurant arbeiten sollte, auch wenn du das Geld brauchst. Darum habe ich ein wenig telefoniert und dir ein Vorstellungsgespräch bei einer Freundin der Familie besorgt. Sie heißt Claire Higgins und besitzt eine nette kleine Boutique. Du hättest zwar einen weiteren Weg, dafür wird der Job besser bezahlt und die Arbeitszeiten sind flexibel. Den Termin habe ich dir auf die Karte im Kuvert geschrieben. Was sagst du dazu?“ „Ich bin sprachlos!“ Mit belegter Stimme dankte sie Harold und küsste ihn auf die Wange. „Nun lass uns aber rein gehen, sonst wird deine Mutter noch misstrauisch. Sie und Tante Catherine hatten bereits ihr zweites Glas Wein und unter solchen Umständen sollte man die Damen nicht warten lassen.“ Sie gingen in die Wohnung hinein und damit endete die harmonische Stimmung abrupt. Elizabeth Landon machte keinerlei Anstalten, ihre älteste Tochter zu berühren, sie ließ nur ein kurzes Grußwort fallen und wandte sich dann wieder ihrer Schwester zu, die Cornelia naserümpfend zur Kenntnis nahm. Lilian und ihr Cousin Thomas waren die einzigen, welche die eben Eingetroffene gebührend willkommen hießen. Thomas war im Gegensatz zu seiner arroganten Mutter ein herzensguter Junge von sieben Jahren, der seine Lieblingscousine beinahe mehr mochte, als seine eigene Mutter. „Conny, Conny, schau!“ Er deutete aufgeregt auf den pompös geschmückten Christbaum. „Da sind Geschenke!“ Sanft lächelnd tätschelte Cornelia ihm den Kopf, drückte mit dem anderen Arm ihre Schwester an sich und küsste ihr Haar. „Ich hab euch vermisst. Besonders dich, du Chaotin!“ Sie fuhr durch Lilians Haar, woraufhin sich diese kreischend losriss und ihrer älteren Schwester einen bösen Blick zuwarf. „Du hast meine Frisur zerstört!“, warf ihr Lilian vor. Ihr schnippischer Blick ließ Cornelia spaßeshalber leicht zurückzucken. „Die Zotteln bezeichnest du als Frisur?“, fragte sie mit schelmischem Seitenblick. „Also für mich sieht das aus wie ein Vogelnest, total durcheinander und unordentlich!“ Schneller als ein Blitz verschwand Lilian im Badezimmer. „Cornelia, musst du deine Schwester immer ärgern?“ Elizabeth hatte sich samt Weinglas erhoben und ging durch den Raum auf ihre Tochter zu. „Sieh dich nur an, dieses Kleid hast du bereits zu meinem Geburtstag getragen. Hättest du dich nicht etwas Festlicher anziehen können? Und deine Haare müssen auch wieder einmal geschnitten werden. Die wachsen dir noch bis zu den Kniekehlen hinab. Außerdem sind die Spitzen kaputt. Du solltest wirklich besser auf dein Aussehen achten.“ Cornelia zwang sich zu einem demütigen Lächeln. Sie schluckte ihre Wut und ihren Ärger hinunter und wandte den Kopf zu Boden. „Ich werde das nächste Mal ein besseres Auftreten an den Tag legen, Mutter.“ „Ich danke dir, Cornelia.“ „Sollten wir Russisch-Roulette spielen, ich fange mit Freude an“, murmelte Cornelia genervt. „Hast du etwas gesagt?“ „Nein, Mutter.“ Das Gespräch war beendet und nun kam das Essen auf den Tisch. Das Dinner war jener Teil des Abends, vor dem Cornelia am meisten Angst hatte, wobei es keine richtige Angst war, sondern eher eine gesunde Portion Furcht. Während Fischfilet als erster Gang serviert wurde, herrschte stets eine gedämpfte Atmosphäre. Jeder besann sich auf seine Gedanken, die meisten davon eher unfreundlicher Natur, und dann wurde zumeist schweigend gegessen, bis Harold und sein Schwager Phillip, Catherines Ehemann, ein angeregtes Gespräch über Börsenkurse, Finanzen und Wechselkurse begannen, woraufhin sich die beiden Mittvierziger Damen darauf besannen, über ihre Inneneinrichtung zu diskutieren oder die Klatschschlagzeilen der letzten Wochen zu wiederholen. Indes bekamen die Kinder, insbesondere Cornelia, tröpfchenweise ihr Fett weg. Es waren immer nur indirekte, kleine Seitenstiche, die gut zu verkraften waren, sofern man über ein so beherrschtes Gemüt wie Cornelia verfügte. „Wie sieht es denn überhaupt mit dir und deinem Verehrer aus, Lilian?“, wollte diese schließlich wissen, um sich zumindest kurzzeitig den Sticheleien ihrer Mutter und Tante gegenüber taub zu stellen. „Gabriel hieß er, nicht wahr?“ „Pf!“, machte Lilian und schürzte die Lippen. „Der ist gestorben.“ „Hat ihn deine Liebe erdrückt?“, scherzte Cornelia und stupste sie in die Seite. „Nicht echt gestorben“, erklärte Lilian genervt, als hätte ihre Schwester im Ernst gesprochen. „Niemand kann an Liebe sterben.“ Sie verdrehte die Augen und gestikulierte wild. „Er ist für mich gestorben! Er hat mich betrogen.“ „Tatsächlich?“ Cornelia riss gespielt schockiert die Augen auf. „Ich hab ihn mit Lisa Payton im Schulhof gesehen. Sie hat ihm Kekse geschenkt und ihn auf die Wange geküsst.“ Sie spießte ein Stück Brokkoli auf und verschlang es mit gerecktem Kinn. Leise lachend hob Cornelia die Augenbrauen. „Du solltest nicht so vorschnell sein, Schwesterherz. Womöglich wollte er die Kekse gar nicht und auch den Kuss nicht und Lisa hat ihm einfach Kuss und Kekse aufgezwungen? Rede mit ihm.“ „Männer sind für mich gestorben“, protestierte Lilian. „Du hattest damals ganz Recht. Männer brechen dein Herz und treten auf den Scherben herum. Aber nicht mit mir.“ „Cornelia!“, schallte es scharf vom anderen Tischende herüber. Elizabeth hatte die Arme verschränkt. „Erzähl deiner Schwester nicht solche Sachen, sonst wird sie am Ende noch genauso verbittert wie du und findet keinen Ehemann!“ Mit zusammengepressten Zähnen nickte die Gescholtene. Nicht aufregen, sagte sie sich, bloß nicht aufregen. Dieses Mantra wiederholte sie an die zweihundert Mal, ehe das Essen beendet war. Währenddessen hatte es zahlreiche gezielte Angriffe gegebene, doch Cornelia war ruhig geblieben, immer höflich und besonnen. „Geschenke!“ Das erlösende Wort kam von Thomas, der aufsprang und sie endlich davon befreite, am Gespräch beteiligt sein zu müssen. Glücklicherweise ging die Zeremonie sehr schnell von statten, denn die einzigen, die wirklich Geschenke bekamen, waren die beiden Jüngsten. Cornelia störte sich jedoch nicht daran, dass sie zwei Bücher und eine lieblos ausgesuchte Halskette, die allerdings sicherlich an die hundert Dollar gekostet haben musste, bekam. Vermutlich hatte ihr Vater diesen Preisrahmen festgesetzt. Die Krimiromane würde sie einfach Will schenken, denn die las sowieso alles. „Die Verkäuferin sagte, sie seien spannend“, war der einzige Kommentar ihrer Mutter für eine ganze Stunde, welcher ihre Älteste betraf. Das war dieser nur recht. Sie konnte sich endlich von den Strapazen der Selbstbeherrschung befreien, denn wenn es etwas gab, das sie perfekt konnte, dann war es, Gleichmut nach außen zu tragen, obwohl sie innerlich kochte wie heißes Öl. Es war erst fünf Uhr und sie war bereits der Verzweiflung nahe – andererseits war sie das jeden Tag. Doch in den Stunden, in denen sie ihre Mutter sah, wurde ihr regelrecht reingedrückt, wie fehlerhaft sie war, wie wenig sie dem Idealbild entsprach, das Elizabeth Landon sich für ihre Tochter ersonnen hatte. In solcher Weise behandelt zu werden, tat Cornelia schon lange nicht mehr weh, aber es war schmerzhaft, auch noch nett zu dieser Person sein zu müssen, die einst ihre strenge, aber doch liebevolle und besorgte Mutter gewesen war. Die Art wie sie beleidigt wurde störte sie nicht weiter, denn jeder sollte das von ihr denken, was er wollte, aber dass ihre eigene Mutter sie als Versagerin hinstellte, als Schande, das war mehr, als ein ohnehin schon gebrochenes Herz vertragen konnte. Als Rache für die Gemeinheiten, die Elizabeth an ihr tat, war Cornelia zudem gezwungen, sie zu vermissen. Aus diesem einzigen, und nur diesem, Grund, hatte sie ihr auch nicht nur eine Weihnachtskarte und eine DVD geschenkt, sondern ein aufwendig gestaltetes Billet besorgt, dem ein Gutschein für eine Massage beim Stammfrisör ihrer Mutter beigelegt war. Sie hatte sogar eine Widmung und eigene Worte in mühselig gearbeiteter Kalligraphie daraufgeschrieben. Elizabeth würdigte das Geschenk eines kurzen Blickes, zog den Bon heraus und legte alles beiseite. Nur ein matter Dank war zu hören, dann wandte man sich anderen Themen zu. Was hatte sie auch anderes erwartet? „Conny, hier!“ Thomas zupfte an dem Saum ihres Kleides und holte sie aus ihren Gedanken, ehe diese außer Kontrolle geraten konnten und noch mehr Kummer bescherten. Strahlender Laune hielt der Kleine seiner Cousine ein Blatt Papier hin. „Für dich. Fröhliche Weihnachten!“ Er hievte sich auf Cornelias Schoß und gab ihr einen Kuss auf die Wange. Gerührt von solcher Kinderliebe wischte sie sich eine Freudenträne aus den Augenwinkeln. Thomas drehte sich in ihren Armen um und setzte sich auf ihre Oberschenkel. „Schau, das ist Lilian und das bist du.“ „Die mit dem Zauberstab in der Hand? Hab ich wirklich so lange Haare?“ Sie hob die Zeichnung prüfend hoch. „Sooo lang!“, rief Thomas und streckte seine Arme so weit als möglich auseinander. „Bis zum Mond!“ „Das ist aber ziemlich lange, findest du nicht?“ Sie strich über die Zeichnung. Thomas hüpfte wieder von ihrem Schoß herunter und setzte sich auf den Boden. „Warum hab ich denn einen Zauberstab?“ „Weil du zaubern kannst!“ Ein Schlag durchfuhr Cornelia mit einem Mal, doch sie war bemüht, sich nichts anmerken zu lassen. „Ach so?“ Sie setzte sich zu ihm auf den Boden. „Ja, sag ich doch!“ Er begann, aufgeregt zu gestikulieren. „Nanny sagt immer, dass es Engel gibt und die haben lange blonde Haare und sind wunderschön. Schöner als alle Menschen zusammen. Und sie haben Zauberkräfte und können damit den Menschen helfen.“ „Thomas, red keinen Unsinn“, rief seine Mutter von der Couch herüber. „Es gibt keine Engel.“ „Wohl!“ Wütend stapfte er auf den Boden. „Thomas!“ „Es gibt Engel!“ Wütend stand er auf und stolperte dabei über seine eigenen Füße. Mit dem ganzen Zorn, den ein Kind aufbringen konnte, rappelte er sich wieder auf und lief in Cornelias Zimmer. Das nächste das sie hörten, war ein Knall, als er die Türe zuschmetterte. Catherine machte keine Anstalten, ihn zu trösten, sondern beharrte darauf, ihn jetzt in Ruhe lassen zu müssen. Sie hielt auch Cornelia und Phillip davon ab, nach ihrem kleinen Cousin zu sehen, der bei seinem Abgang sogar geweint hatte. „Ihre Erziehungsmethoden wollen für mich keinen Sinn ergeben“, nuschelte Cornelia leise zu ihrem Vater mit einem verständnislosen Blick zu ihrer Tante. „Jede Mutter hat ihre eigene Methode, Cornelia“, antwortete Harold. „Wir kennen Thomas nicht so gut wie sie. Wahrscheinlich ist er tatsächlich ein Kind, das sich erst beruhigen muss. Du warst genauso, wenn ich dich daran erinnern darf. Man durfte dich mindestens eine halbe Stunde nicht anreden, wenn dich etwas verärgert hat.“ „Hm“, schloss sie das Thema. „Trotzdem.“ „Ah, Cornelia, kommst du bitte zu uns?“, bat Elizabeth, doch es klang eher wie ein Befehl. Sie leistete Folge. „Catherine möchte dir etwas sagen und ich bin ganz ihrer Meinung.“ „Selbstverständlich, Elizabeth.“ Catherine rümpfte die Nase und überschlug die Beine. Sie schwenkte das wieder gefüllte Weinglas in ihrer Hand, als wäre es schon ewig dort. „Ich möchte nicht, dass du meinem Sohn Märchen von Engeln und Feen und sonstigem Krimskrams erzählst. Er soll keine Illusionen aufbauen, um danach desillusioniert werden zu müssen. Thomas soll in einem realistischen, klaren Umfeld aufwachsen. Er sollte nicht an etwas glauben, was es nicht gibt. Respektiere das und bedenke das in Zukunft.“ „Aber ich habe gar nicht…“, begann Cornelia, doch sie besann sich eines Besseren. Als Cousine konnte sie nicht gefeuert werden, doch die Nanny konnte es. Also hielt sie ihren Mund und schluckte auch ihr Wissen über Entwicklungspsychologie herunter, das sie zu gerne herausposaunt hätte. „Ich habe verstanden.“ Ihr Vater eilte ihr zu Hilfe. „Catherine, nun reicht es aber“, gebot er ihren Tiraden sanft Einhalt. Sie hatte bereits wieder den Mund geöffnet. „Cornelia hat es nur gut gemeint. Und ich denke, für euch beide reicht der Wein für heute.“ „Ich bin seiner Meinung“, bemerkte Phil vorwurfsvoll von der Seite, doch er wurde übergangen. „Ich denke nicht, dass ich mir von meinem Ehemann sagen lassen muss, wie viel ich trinken-!“ „Elizabeth“, schnitt ihr ihre Schwester das Wort ab. „Es genügt. Von beiden Seiten. Ich möchte auch gar keinen Wein mehr. Lassen wir das Thema auf sich beruhen.“ „Ja, schweigen wir es tot“, raunte Elizabeth. Sie schien sichtlich angetrunken, doch sie hatte noch einen festen Stand. „Schweigen wir es tot, wie alles in dieser Familie totgeschwiegen wird! Was bringt es schon, über Dinge zu reden? Machen wir es so wie Cornelia, verkriechen wir uns monatelang unter einer Bettdecke und weinen, bis wir vor Erschöpfung einschlafen! Man sieht ja, wie gut es hilft!“, höhnte sie und setzte noch nach: „Wegen dieses nichtsnutzigen Jungen, der sich einfach aus dem Staub gemacht hat! Es ist alles die Schuld dieses dreckigen Straßenjungen! Carl oder Chris oder weiß der Teufel wie er hieß!“ „Caleb!“, kreischte Cornelia unter Tränen. Es war das erste Mal seit drei Jahren, dass sie seinen Namen ausgesprochen hatte. „Sein Name war Caleb! Und er hat sich weder aus dem Staub gemacht, noch ist er ein dreckiger Straßenjunge! Ja, er hat mich verlassen, aber das war unser beider Entscheidung und es geht dich nichts an! Mach mir verdammt noch mal keine Vorwürfe wenn es darum geht, Dinge ungesagt zu lassen! Über was redest du denn nicht? Soll ich davon anfangen, dass du die Huntington totschweigst, an der du leidest? Sprechen wir doch einmal darüber!“ „Cornelia!“, mahnte ihr Vater streng. „Nein! Nein, nicht Cornelia! Es reicht! Jeder in der Familie weiß, dass Mum Huntington hat, aber statt zusammen zur Therapie zu gehen, verschanzt sich jeder in seiner eigenen kaputten Welt! Wir sind eine Familie! Wir sollten zusammenhalten! Doch nein, natürlich tun wir das nicht, weil wir kaputt sind! Ihr fragt euch, wieso ich ausgezogen bin, nicht wahr? Ich wollte Mama helfen! Aber anstatt meine Hilfe anzunehmen ist sie eine verbitterte, depressive Kranke geworden, die ihrem Tod einfach so ins Auge sieht! Du lässt dich von der Huntington einfach so dahinraffen – und das macht mich krank!“ „Hüte deine Zunge! Du hast keine Ahnung, wie schwer das für mich ist, damit leben zu müssen!“, rief Elizabeth aufgebracht. „Natürlich nicht! Weil du ja nie darüber redest! Aber ich kann dich beruhigen, wenn du weiterhin kampflos dahinvegetieren möchtest, wirst du bald von der Bürde befreit sein, damit leben zu müssen!“ Rasend vor Zorn drehte Cornelia sich am Absatz um und hechtete mit großen Schritten reflexartig in ihr Zimmer. Sie hatte gewusst, dass das passieren würde – sie hatte es geahnt! Ihre Mutter war so stur! Sie wusste gar nichts! Aber sie hatte nie mit ihr darüber geredet, wie hätte sie es wissen können? Komischerweise musste Cornelia gerade in diesem Moment ihrer Mutter Recht geben. Sie hatte es totgeschwiegen, hatte sich in die Dunkelheit ihres Zimmers verzogen und sich von der Außenwelt abgeschottet. Aber war Elizabeth besser? War sie ein gutes Vorbild? Das ganz sicher nicht. Mit schweren Schultern setzte sie sich auf das große Bett und legte das Gesicht in die Hände. Die heißen Tränen kamen unaufhörlich und sie hasste sich dafür. „Cornelia, hör auf, hör auf zu heulen, verdammt noch mal!“ Sie schlug sich in Gedanken, doch erst als ein Gefühl sie leise beschlich, versiegten die Tränen mit einem Schlag. Sie hörte auf zu schluchzen und hob den Kopf. Zögerlich ließ sie ihren verklärten Blick durch den Schleier vor ihren Augen durchs Zimmer gleiten. Es war dunkel, kein Wunder. Die leuchtenden Ziffern des Digitalweckers sagten kurz nach sechs Uhr abends an und es brannte kein Licht. Dann hörte sie es rascheln und keine halbe Sekunde später stand sie an die Wand gepresst mit erhobenen Fäusten da. „Wer ist da?“ „Conny?“ Ein Stein fiel von Cornelias Herzen, das rasend schnell pochte. Sie versuchte es zu beruhigen, indem sie die flache Hand auf die Brust legte. „Thomas.“ Sie hatte ihn völlig vergessen. „Du hast mich erschreckt. Erst jetzt, da der Schock und die anschließende Erleichterung verebbten, merkte sie, dass dieses merkwürdige Gefühl noch immer da war. Womöglich war sie wegen dieser Familie schon paranoid geworden, doch das Gefühl, beobachtet zu werden, ließ nicht von ihr ab. Schleichend bewegte sie sich zum Lichtschalter; die Balkontüre immer im Auge behaltend. Gerade als sie den Lichtschalter umlegen wollte, hielt sie inne. Ihre Finger ruhten bereits auf dem Gehäuse des Mechanismus, da sah sie einen Schatten, der sich hinter dem Glas der Türe versteckte. „Spinn ich?“, flüsterte sie mit zitternder Stimme. Doch egal wie sehr sie ihre Augen auch zusammenkniff und versuchte, an die Dunkelheit zu gewöhnen, der Schatten wollte keine Form annehmen. Zögerlich knipste sie das Licht schließlich an und da war er unverkennbar: ein Stück eines khakifarbenen Stoffes – und er bewegte sich von ihr weg! Wie von der Tarantel gestochen sprang sie mit vier großen Schritten durchs Zimmer, den zweiten davon übers Bett, das ihr den nötigen Schwung gab, um die Türe aufzureißen. Vor lauter Geschwindigkeit wäre sie fast über die Brüstung gestolpert, doch die kunstvolle Steinmauer hielt sie schmerzhaft auf dem Balkon, indem sie sich gegen ihren Bauch presste und Cornelia beinahe vornüber kippen ließ. „Hey!“, schrie sie mit ungewöhnlich rauer Stimme. Mit einer ausgestreckten und einer auf dem Geländer ruhenden Hand starrte sie auf die Blätter der hochgewachsenen Büsche vor ihr, die sich in dieser windstillen Nacht bewegt hatten. „Ich weiß, dass du da bist!“, rief sie in die sternenklare, kalte und stille Dunkelheit hinein. Erst jetzt, wo sie frierend mit Gänsehaut dastand merkte sie, wie lächerlich sie sich gerade gemacht hatte. Thomas saß auf ihrem Bett und blickte sie irritiert an. „Na toll“, zischte sie und biss sich auf die Lippen. Der Lippenstift schmeckte trocken. Sie schätzte ihren Puls auf über hundertdreißig, ihren Blutdruck auf hundertneunzig zu hundertzwanzig und ihre geistige Labilität auf überdurchschnittlich hoch. „Tommy, ich möchte, dass du mir jetzt genau zuhörst, okay?“ Er nickte verdutzt. „Sag mir die Wahrheit und denk ganz genau nach.“ Sie machte eine Pause. „Hast du seit du hier in meinem Zimmer bist, jemanden gesehen?“ „Nein.“ „Nicht nur im Zimmer, denk auch an außerhalb. Ist jemand hier gewesen oder hat jemand durchs Fenster reingeschaut?“ „Ich weiß nicht…“ Thomas sah erst Cornelia an, dann die Tür, dann wieder seine Cousine und schlussendlich auf seine Füße. „Ich hab mich unter dem Bett versteckt. Tut mir leid.“ Er sah traurig zu Boden und schniefte. „Schon gut“, tröstete ihn Cornelia und schloss ihn in ihre Arme. „Es macht nichts.“ „Hast du Angst?“ Sie seufzte abfällig. „Wenn es nur Angst wäre.“ „Wie meinst du das?“ „Es ist okay, Tommy. Alles ist gut, hab keine Angst. Bist du noch sauer auf deine Mum?“ Sie hielt ihn ein Stück von sich weg, um ihm ins Gesicht sehen zu können. Thomas schüttelte zufrieden den Kopf. „Nein, weil ich hab sie sooo lieb!“ Er machte eine ausladende Handbewegung. „Lieber als mich?“, fragte Cornelia gespielt skeptisch. Er überlegte kurz, dann stellte er fest: „Fast. Dich hab ich am liebsten, Conny.“ Thomas grinste übers ganze Gesicht und Cornelias Zustand hatte sich wieder halbwegs normalisiert. Doch sie war immer noch zu aufgewühlt, um dem Orkan draußen standzuhalten, also schickte sie ihren Cousin vor, um die Stellung zu sichern. „Du gehst jetzt zu deiner Mama und gibst ihr einen ganz dicken Kuss, damit sie merkt, was für ein toller und braver Junge du bist, okay?“ Sie gab ihm einen kleinen Schubs und schloss schnell die Türe hinter ihm. Langsam, aber sicher, kam das Unbehagen wieder. Cornelia wusste, dass es keinen Sinn hatte, dennoch trat sie erneut auf den Balkon und suchte die Gegend ab. „Ich muss wirklich den Verstand verloren haben“, versuchte sie sich einzureden, während ihr ernster, konzentrierter Blick unter den zusammengezogenen Augenbrauen die Umgebung systematisch immer und immer wieder abtastete. „Unmöglich.“ Vier Meter weiter vorne und drei Meter weiter unten lehnte ein braunhaariger Mann mit dem Rücken an den dichten Hecken des Nachbargartens, die Knie angezogen und den Kopf zwischen die Arme gelegt. „Ich wünschte, dass es das wäre“, hauchte er in die kalte Nachtluft. Sein Herz schlug ganz langsam. Es musste sich erst von dem Schock erholen, beinahe gesehen worden zu sein. „Ich wünschte es wirklich, Cornelia.“ Kapitel 3: Aims --------------- … Just because I acted tough, you couldn't see my tears I pretended I had never had … D R E I „Ich schwöre es dir, ich hab ihn gesehen!“ Die Diskussion ging nun seit knapp einer Stunde. Es war der siebenundzwanzigste Dezember. Cornelia hatte Will erst gar nicht von ihrer eigentümlichen Entdeckung erzählen wollen, da sie selbst diese für ausgeschlossen hielt, doch der Vorsatz hatte nur einen Tag gehalten. Nun war es bereits elf, sie saßen immer noch beim Frühstück und Will bestand auf ihre Meinung, die Cornelia allerdings als geistig Verwirrte darstellte, was dieser ganz und gar nicht passte. „Ich weiß, was ich gesehen habe!“, beharrte sie, doch Will schien nicht überzeugt. „Alles, was du gesehen hast, war also ein Schatten und ein khakifarbener Zipfel von irgendwas, ja? Und daraus schließt du, dass es Caleb war?“ Cornelia verzog bei dem Namen das Gesicht, doch sie ignorierte es und sprach weiter. „Wie kannst du dir sicher sein, dass er es war? Es war dunkel, du warst verheult und aufgewühlt, vielleicht hast du einfach nur das gesehen, was du sehen wolltest? Wie konntest du überhaupt sehen, dass es Khaki war? Immerhin war es laut dir stockfinster und zudem, selbst wenn es Khaki war, das ist die Modefarbe des Winters, jeder läuft darin rum!“ Cornelia raufte sich die Haare, zupfte ihr khakifarbenes Shirt zurecht und knallte die Hand auf die Tischplatte. „Mit dir zu reden ist echt frustrierend! Ich weiß nicht, warum ich sicher sagen kann, dass es gerade dieser spezielle Braunton war, aber ich weiß es nun mal!“ „Ebenso wie du weißt, dass es Caleb war, der auf deinem Balkon spazieren gegangen ist“, stellte Will nüchtern und skeptisch fest. „Ich halte das für einen Streich, den dir dein Gehirn gespielt hat. Du bist doch die Psychologin, also analysier dich und ich sag dir, ob es stimmen kann oder nicht.“ „Okay, wie du willst.“ Cornelia schloss kurz die Augen, dann sagte sie mit fester Stimme: „Ich habe ihn gesehen.“ „Jetzt reicht’s!“ Mit scharrendem Sessel schoss Will in die Höhe und sah ihre Mitbewohnerin von oben herab an. Dann besann sie sich und setzte sich wieder. Mitfühlend nahm sie Cornelias Hand. „Ich weiß ja, dass es schwer für dich war und noch immer ist. Und auf eine verquere, falsche Art und Weise glaube ich dir, weil du in solchen Sachen immer Recht behältst, aber, und das sage ich als besorgte Freundin, es wäre besser, wenn du ihn nicht gesehen hättest. Verstehst du, was ich meine?“ „Das heißt, du denkst, dass er wirklich in unserer Welt ist, aber ich mir einreden sollte, dass er es nicht ist?“, resümierte Cornelia zweifelnd. „Um deiner seelischen Balance Willen.“ Will ließ ihre Hand wieder los und stand nun endgültig auf. „Ich muss jetzt los, Billy hat sich krank gemeldet und darum muss ich einspringen. Ich bin um sieben wieder da.“ Als sie bereits ihre Jacke anhatte, kam sie noch einmal in die kleine Küche zurück. Cornelia machte einen schrecklich erschlagenen Eindruck, also formulierte sie ihre Aussage sehr vorsichtig. „Wenn du weiterhin darauf bestehst, ihn tatsächlich gesehen zu haben, solltest du vielleicht Dr. Blight aufsuchen und, nun ja, es dir von ihm ausreden lassen. Der kann dir womöglich einreden, dass es nur ein Abbild deiner tiefsten Wünsche ist, oder so was in der Art.“ Und an Cornelias Reaktion sah Will erst, wie ernst es um sie stand. Im Gegensatz zu ihrer sonst so rüden Art, wenn es darum ging, Hilfe anzunehmen, nickte sie nur schwach und gestand ihr wispernd Recht zu. „Kopf hoch, das wird schon. Denke ich. Bis später.“ „Denkst du wirklich, dass es funktioniert?“ Die männliche Stimme war äußerst rauchig. „Es ist der einzige Plan, den wir haben“, stellte die zweite, tiefere Stimme fest. „Und doch, er ist perfekt. Durchgeplant und bis aufs letzte Detail durchdacht. Wir haben den Anstoß gegeben, nun muss die Sache von alleine laufen. Hab Vertrauen.“ Der Besitzer der tieferen Stimme lachte hämisch und entblößte eine Reihe gelber Zähne, die allesamt schief in seinem Mund saßen. „Aber was ist, wenn er Wind davon bekommt, dass die Tore wieder offen sind?“, gab die rauchige Stimme zu bedenken. „Selbst wenn er es herausbekommt, er würde niemals in ihre Nähe kommen. Er liebt sie noch zu sehr, als dass er sie und sich selbst in ein solches Unglück stürzen wollen würde.“ „Ich hoffe für dich, dass du Recht behältst.“ „Sorge dich nicht.“ Die tiefe Stimme bekam einen süßen Beigeschmack. „Es wird so laufen, wie wir es geplant haben.“ Doch die andere Stimme klang nicht allzu überzeugt. Auch wenn er den Fähigkeiten seines Partners traute, er hatte nicht denselben Optimismus, der bei einem solch gefährlichen Unternehmen vonnöten gewesen wäre, um unbesorgt das Spiel zu genießen. „Ich hoffe es für uns beide.“ Die eingravierten Buchstaben und Ziffern auf der Goldtafel vor dem imposanten Gebäude im viktorianischen Stil sagten Cornelia, dass sie hier richtig war. Ihre Hände schlossen sich krampfhaft um die Visitenkarte von Dr. Blight, vor dessen Praxis sie nun stand. Sie überlegte kurz, ob sie einfach gehen sollte, doch nun hatten sie bereits zu viele Leute hier stehen gesehen. Wenn sie nun umdrehen sollte, wäre das äußerst peinlich. Allerdings befanden sich in dem achtstöckigen Stadthaus, das sich überhaupt nicht von den anderen abhob, auch noch ein Frauenarzt (dann würde man doch denken, sie sei schwanger!), ein Fußarzt (dann würde man denken, sie habe Warzen!) und ein Hals-Nasen-Ohrenarzt (gegen den sie nichts einzuwenden hatte). „Sei kein Feigling!“, sagte sie sich selbst und nun wurde sie von den Wartenden an der Bushaltestelle erst recht angestarrt. Sie könnte doch auch so tun, als hätte sie sich einfach im Haus geirrt, denn die sahen in diesem Stadtviertel, dem Stadtkern, wirklich alle extrem ähnlich aus. „Komm schon, geh einfach rein.“ Obwohl sie nur geflüstert hatte, schien es, als hätten die Leute an der Haltestelle trotzdem alles gehört. Nun gab es also kein Zurück mehr. Es würde ja auch nicht so schlimm werden. Sie wusste ganz genau, wie es ablaufen würde. Erst begrüßte man sich, beantwortete allgemeine Fragen zum Wohlbefinden und aktuellen Ereignissen, dann ging es an die spezifischen Fragen und im Handumdrehen war sie wieder in Freiheit mit einer völlig unbedenklichen Diagnose. Und glücklicherweise glaubte sie sich selbst diese Gedanken, denn hätte sie auch nur eine Sekunde daran gezweifelt, sie wäre sofort davongerannt und hätte nicht mehr als eine Staubwolke zurückgelassen. Doch Cornelia war von sich selbst so überzeugt, dass sie keine andere Möglichkeit zuließ, als an ihre seelische Gesundheit zu glauben. „Name, Alter, Anliegen und Versicherung, bitte“, verlangte die rothaarige Sprechstundenhilfe in gleichgültigem Ton. Sie sah dabei nicht einmal von ihrem Computer auf. Ihre manikürten Finger flitzten über die Tastatur, während Cornelia leicht befangen antwortete. „Cornelia Hale, neunzehn, HAKK“, stotterte sie. Das Anliegen ließ sie dabei absichtlich aus. „Tut mir Leid, Miss Hale, aber wir sind eine Wahlpraxis.“ „Ich weiß“, sagte Cornelia unsicher. „Ich bin eine von Dr. Blights Studentinnen und er hat mir angeboten-“ Doch sie wurde unterbrochen. „Studentin also, ja? Ich sehe nach, ob er eine Notiz hinterlassen hat.“ Sie kramte widerwillig in einem Stapel abgelegter Akten und zog schließlich ein kleines Post-It heraus. „Tatsache. Cornelia Hale, nächstmöglicher Termin nach Eintreffen“, las sie vor und tippte rasch auf ihrer Tastatur herum. „Sie haben Glück, Miss Hale, Dr. Blights Terminkalender hat Sie bereits eingerechnet und für heute vorgesehen. Setzen Sie sich dort drüben hin und warten Sie.“ Sie wies auf eine Reihe bequem aussehender Couchsessel und schubste Cornelia mit strengem Blick in die richtige Richtung. Völlig perplex über eine so schnelle Handhabung, erinnerte sie sich erst als sie auf dem gepolsterten Sitzmöbel saß wieder daran, dass sie eigentlich heute gar keine Sitzung belegen wollte. Peinlich berührt und ein wenig verschämt stand sie wieder auf und schlich zum Empfangspult. „Entschuldigen Sie die Störung, aber eigentlich wollte ich heute nur ein wenig Informationen sammeln und dann entscheiden, ob ich-“ Doch erneut wurde ihr über den Mund gefahren. „Informationen können Sie auch sammeln, wenn Sie mit Dr. Blight persönlich reden. Am Ende des Termins können Sie sich außerdem so viele Broschüren mitnehmen, wie Sie möchten. Das ist doch etwas, oder?“ Die Sprechstundenhilfe sah sie mitleidig an und Cornelia konnte es ihr nicht verdenken. Es war sicherlich nicht einfach, tagtäglich mit emotional Geschädigten oder geistig Verwirrten umzugehen und dabei ruhig zu bleiben. Sie hatte sich offensichtlich abgeschottet. Ohne ihr Ziel erreicht zu haben, trottete Cornelia also wieder zurück zum Wartebereich, wo sie sich so weit als möglich von den restlichen Wartenden wegsetzte. Während der nächsten Stunde, in der sie zwei Mal beinahe gehen wollte und vier Mal dasselbe Lifestyleheft las, beobachtete sie hin und wieder mit wachsendem Interesse und immer länger die übrigen Anwesenden. Der Mann in der linken hinteren Ecke blickte kein einziges Mal von seiner Zeitschrift auf, der andere schrieb immer wieder unleserliche Worte auf einen schmuddeligen Block und wiederholte scheinbar ebenjene Worte immer wieder in einem Abstand von genau zweiundzwanzig Sekunden. Doch am faszinierendsten war das kleine Mädchen von geschätzten fünf Jahren, das eine große Zahl verschiedenfärbiger Bauklötze fortwährend in bestimmten Systemen ordnete. Ihre Eltern waren weit und breit nicht zu sehen, doch das schien sie nicht zu stören. Ebenso schien ihr auch nicht langweilig zu werden, im Gegenteil: sie legte einen bewundernswerten Gleichmut an den Tag, welcher selbst bei Erwachsenen selten zu sehen war. „Miss Hale“, wurde sie plötzlich gerufen und erschrocken wandte sie ihren Kopf in die Richtung einer mit Leder gepolsterten Flügeltüre, die aufgegangen war. Im dunklen Holzrahmen stand mit blitzendweißen Zähnen lächelnd Harvey Blight, der eindeutig erfreut war, sie zu sehen. Noch nie war ihr aufgefallen, wie groß und trainiert er unter seinem kurzärmeligen Hemd war. Sein dunkelbraunes Haar war heute nicht so locker verwuschelt wie in den Vorlesungen, sondern ordentlich gekämmt und gebändigt. Auch seine braunen Augen strahlten hinter der Brille viel mehr als sonst. „Kommen Sie doch rein.“ Er ließ sie vorgehen und die ersten Impressionen des Raumes auf sie wirken. Er war groß, hoch und äußerst geschmackvoll eingerichtet. Das Zimmer entsprach keinem typischen Behandlungszimmer im aristokratischem, schwerem Stil, sondern eher einem geschmackvoll eingerichtetem, teurem Wohnzimmer. Der Boden war aus hellem Holz, die Wände mit Burgunderlilien verziert und die Möbel entsprachen jener Vorstellung, die man hatte, wenn man an gediegene Herrenhäuser dachte. In der Ecke weilte ein schweres Bücherregel hinter einem schräg gestellten Schreibtisch aus poliertem Mahagoniholz mit Goldornamenten. Als Blickfänger dienten farbenfrohe Pflanzen und Bilder, die an allen möglichen Plätzen schüchtern hinter dem wissensträchtigem Material hervorlugten, um eine freundliche Atmosphäre zu schaffen – kurzum, man war regelrecht dazu gezwungen, sich wohlzufühlen. „Beeindruckt?“, fragte Dr. Blight freundlich lächelnd. Er bot Cornelia einen Platz auf der cremefarbenen Ledercouch an. „Von den Möbeln, nein“, meinte Cornelia trocken und setzte sich. „Von der Art der Einrichtung, ja.“ „Aah, ich dachte mir schon, dass Sie so reagieren würden“, gab Blight zu. „Dürfte ich Sie bitten, Ihr Urteil zum Besten zu geben?“ Cornelia überlegte kurz, ließ den Blick erneut schweifen und begann dann, ihre Meinung zu äußern. „Das Mobiliar ist so gewählt, dass es einem Großteil der Menschen gefällt. Sie sind nicht zu ausgefallen und auch nicht zu altmodisch, aber auch nicht hypermodern, eher klassisch elegant. Außerdem vermitteln sie den Eindruck, dass sie teuer waren, was zweifelsohne seine Richtigkeit hat. Die vielen geordneten Bücher und die Artefakte, die überall herumstehen, wie beispielsweise der Globus und die kleinen Statuen, hingegen erinnern daran, dass man sich sehr wohl auf einer Stätte des Wissens befindet und sie attributieren dem Besitzer, also Ihnen, die Eigenschaft, äußerst intelligent zu sein. Unintelligente Menschen haben ja nicht so viele Bücher und Globusse, nicht wahr?“ Der letzte Satz klang in gespieltem Zweifel aus. „Im Gegensatz dazu finden sich auch ganz alltägliche Elemente wieder, wie Blumen und Gemälde in hellen, aber nicht auffälligen Farben, die eine gewisse Lockerheit der Atmosphäre ausstrahlen.“ Blight applaudierte ihr anerkennend. „Man sieht, dass Sie sich mit dem Kapitel Wahrnehmung äußerst intensiv auseinandergesetzt haben. Aber wahrscheinlich sind Sie einfach außergewöhnlich talentiert. Kein Berufspsychologe hätte es besser ausdrücken können.“ „Schmeicheln Sie mit doch nicht so“, winkte Cornelia ab und sah errötend zu Boden. „Das war auch nicht allzu schwer.“ „Wie Sie meinen, Miss Hale.“ Er ließ das Thema fallen. „Normalerweise beginne ich meine erste Sitzung immer mit einer kleinen Vorstellung. Ich würde gerne anfangen, denn Sie kennen mich nur als Gastdozent, aber nicht als Mensch. Heute beschränken wir uns darauf, ein wenig über uns zu erfahren und nur unsere Gedanken ein wenig auszutauschen.“ Dabei fiel Cornelia etwas ein. „Entschuldigen Sie die Unterbrechung, aber Ihre Sekretärin hat gesagt, dass Sie heute einen Termin für mich freigehalten haben. Waren Sie sich so sicher, dass ich Sie so schnell aufsuchen würde?“ „Ich muss gestehen, ganz und gar nicht“, gestand er ein wenig peinlich berührt. Sein bubenhaftes, verlegendes Lächeln machte es Cornelia schwer, sich gegen die aufkommende Sympathie ihm gegenüber zu wehren. „Ehrlich gesagt war ich mir bis zuletzt nicht sicher, ob Carla nicht einen Fehler gemacht hat, als sie Ihren Namen an mich weitergeleitet hat. Ich habe nicht direkt Termine freigehalten, ich habe meine anderen einfach verschoben. Normalerweise hätte ich nun Mittagspause und danach würde die kleine Annie drankommen, doch unser Gespräch hat Vorrang.“ „Ich wollte sie nicht von ihrem Essen abhalten“, entschuldigte sich Cornelia energisch. „Machen Sie sich keine Gedanken, ich habe Chinesisch bestellt, Sie sind herzlich eingeladen, falls Sie noch nicht gespeist haben.“ Wie auf Knopfdruck knurrte Cornelias Magen. „Imposant, die Macht der Situation, nicht wahr? Damit dürfte die Antwort klar sein.“ „Aber Ihre anderen Patienten“, widersprach Cornelia. Sie hatte sogar kurz gehofft, ungelegen zu kommen. „Ich möchte nicht, dass sie warten müssen. Sie scheinen schwerwiegendere Probleme zu haben als ich.“ „Schwerwiegender wahrscheinlich, jedoch leider unheilbar. Eine halbe Stunde Rückverschiebung verschlechtert ihren Zustand nicht, ebenso wie eine Vorverlegung ihres Termins ihn nicht bessern würde. Ihre Probleme dagegen, Miss Hale, sind dringlicher als neurologische Störungen. Sie sind emotionaler Natur und Emotionen sind äußerst ambivalent, wie Sie wissen. Wenn wir gerade davon reden, beeindrucken Sie mich.“ Er legte seine Fingerspitzen aufeinander und nahm nun ebenfalls Platz, allerdings auf der gegenüberliegenden Couch. „Können Sie mir sagen, an welchen Dispositionen die Menschen in meinem Wartezimmer leiden?“ „Ich weiß nicht, ob wir darüber reden sollten“, sagte Cornelia zögerlich, besann sich jedoch dann eines Besseren. Lieber über andere reden, als das Thema auf sie selbst zu lenken. „Das kleine Mädchen zeigt starke autistische Züge. Der Mann, der stetig auf einen Notizblock kritzelt, hat wohl eine Phobie vor etwas und versucht, diese zu überwinden, indem er sich ein Mantra aufsagt und es visualisiert, indem er es unter anderem aufschreibt. Zweifelsohne das Resultat einer Therapie, die vermutlich auf Ihre Rechnung geht. Und mit dem Verhalten des Mannes, der gelesen hat, kann ich nichts anfangen.“ „Das hätte mich auch gewundert. Aber immerhin, zwei von dreien korrekt diagnostiziert. Sie haben eine ausgesprochene Begabung und damit schmeichle ich Ihnen nicht im Geringsten“, fügte er hinzu, als er Cornelias aufkommenden Protest bemerkte. „Ich bestätige bloß das, was sie selbst von sich schon wissen. Übrigens, der Mann mit der Zeitschrift war bloß gelangweilt. Er wartete auf seine Frau, meine Patientin vor ihnen. Und nun genug mit dem Diagnosespiel, lassen Sie uns zu Ihnen übergehen. Besser gesagt, erst einmal zu mir, wenn ich so frei sein darf und aus purem Egoismus meine Vorstellung der Ihrigen vorziehe.“ „Kein Problem“, erlaubte Cornelia, obgleich sie wusste, dass es eine rein formale Frage gewesen war, die jegliche Antwort entbehrte. „Mein Name ist Harvey James Blight, ich bin Anfang dreißig und konnte mir den Traum einer Privatpraxis durch eine temporär glücklich ausgefallene Erbschaft finanzieren. Mein Lieblingsessen schwankt ständig zwischen Kotelette und Kartoffeln, doch ich bin auch ein großer Fan der ausländischen Küche, wie beispielsweise Chinesisch oder Thailändisch. In meiner Freizeit gehe ich Tennisspielen und manchmal, wenn ich äußerst waghalsig unterwegs bin, wage ich es, meinen Westernreitstil ein wenig zu verbessern. Möchten Sie sonst etwas über mich wissen?“ Cornelia suchte schnell nach einer Frage, um ihre eigene Vorstellung hinauszuzögern. „Haben Sie Familie?“ Er schüttelte den Kopf. „Ich war verheiratet, doch es funktionierte nicht und wir ließen uns vor vier Jahren wieder scheiden. Ich habe auch keine Kinder und Geschwister, folglich ebenso wenige Nichten oder Neffen. Meine Familie ist meine Hündin Jessica.“ Und nun fiel Cornelia keine Frage mehr ein. Jetzt würde es also losgehen. „Dann fangen Sie einmal an, alles zu erzählen, was Sie für den Moment wichtig an Ihrer Person finden.“ Überlegend legte sie die Finger ans Kinn und sah zur Decke. Automatisch überschlugen sich ihre Beine. Sie musste ziemlich verkrampft aussehen und so war es auch, denn Blight forderte sie prompt auf, locker zu sein. Sie brauche keine Angst zu haben, sie solle einfach ein wenig erzählen. „Ich heiße Cornelia Hale“, sagte sie unsicher, ob sie damit beginnen sollte, immerhin kannte er ihren Namen ja. „Ich bin neunzehn Jahre alt und studiere Psychologie an der Heatherfield University.“ „Gut, das ist ein Anfang“, lobte Blight zufrieden. „Wohnen Sie noch zuhause? Wo sind Sie aufgewachsen?“ „Ich lebe mit meiner besten Freundin in einer Wohngemeinschaft zusammen. Mein Elternhaus liegt in Surrey. Ich bin vor zwei Jahren ausgezogen.“ „Surrey also“, wiederholte Blight. Er notierte sich etwas auf einem Notizblock. „Also sind Ihre Eltern sehr wohlhabend? War das Verhältnis zu Ihnen liebevoll oder eher unterkühlt, wie man es bei vielen reichen Familien vorfindet?“ „Es war eigentlich immer sehr liebevoll, obwohl meine Mutter recht streng ist. Meine Schwester Lilian und ich haben oft Krach gemacht und uns gestritten. Es war also wie in jeder normalen Familie.“ Cornelia waren die Fragen peinlich. „Und jetzt ist das Verhältnis distanziert?“ Es klang eher nach einer Feststellung. „Nein.“ Er musste ja nicht sofort alles wissen, doch Blight durchschaute die Lüge sofort. „Es wäre besser, Sie würden ehrlich zu mir sein. Warum sind Sie ausgezogen, wenn die Beziehung zu Ihren Eltern harmonisch war?“ Aber Cornelia dachte nicht daran, nun bereits aufzugeben. „Ich wollte schnell auf eigenen Füßen stehen.“ „Sind Sie sicher?“ Blights durchdringender Blick hämmerte stark gegen Cornelias Barrikade, doch sie hielt stand. „Ja, bin ich.“ „Also gut. Wo haben Sie Ihre Mitbewohnerin kennen gelernt?“ „Wir gingen auf dieselbe High School.“ Irgendwie kam ihr das Ganze wie ein Verhör vor, doch sie wagte nicht, die Methoden Dr. Blights jetzt schon infrage zu stellen. Vermutlich war sie einfach abnormal verschlossen. „Wir waren früher zu fünft, ein unzertrennliches Mädchenteam, aber übrig geblieben sind nur Will und ich.“ „Will also, gut“, notierte er. „Und was ist mit den anderen geschehen?“ „Das ist eine lange Geschichte.“ „Erzählen Sie sie“, forderte Blight mit einer ausladenden Handbewegung und einem auffordernden Kopfneigen in ihre Richtung. „Von mir aus, aber es ist nicht allzu spannend“, versuchte sie sich herauszureden. Es funktionierte nicht; Blight blieb standhaft. „Will, Irma, Taranee, Hay Lin und ich, wir fünf gingen alle in dieselbe Klasse am Sheffield Institute. Unsere Freundschaft war das einzige, auf das wir uns komplett verlassen konnten. Wir bestanden Abenteuer, durchlebten die ersten Liebesprobleme zusammen und ließen jede der anderen an unserem Leben teilhaben. Diese Freundschaft war etwas Besonderes. Vor allem die…Abenteuer und Kämpfe, im metaphorischen Sinn natürlich, haben uns zusammengeschweißt. Solche Dinge verbinden.“ „Welche Dinge konkret?“, bohrte er. Er hatte bemerkt, wie schnell Cornelia das Thema wechseln wollte und interpretierte die Situation falsch. Es war nicht so, dass sie nicht über ihre Freundinnen reden wollte, so wie er vermutete, aber wie sollte sie einem Professor denn schon klar machen, dass sie Wächterinnen des Netzes waren und gegen Schlangenmenschen und böse Prinzen gekämpft hatten? „Abenteuer eben“, präzisierte sie langsam. Sie musste sich schnell etwas einfallen lassen. „Wir haben Schule geschwänzt, haben geholfen, die Herzbuben zu erobern und zu behalten, solche Sachen. Wir sind zusammen aufgewachsen. Die Pubertät ist ja gewissermaßen die wichtigste Zeit für die geistige Entwicklung eines Menschen und wir haben diese Periode gemeinsam erlebt. Das meine ich damit. Verstehen Sie?“ „Sie haben sich gegenseitig in Meinung, Ansichten und Charakter geprägt?“ „Das wollte ich damit sagen“, schloss sie. „Jedenfalls ist Taranee vor einem Jahr nach England gegangen, um ein Auslandsstudium zu absolvieren. Irma wollte nur für ein Jahr als Au Pair Mädchen nach Frankreich, aber sie ist nicht wiedergekommen. Es hat ihr so gut gefallen, dass sie dort geblieben ist, ihren Freund nachgeholt und sich dort mit ihm ein neues Leben aufgebaut hat. Hay Lin ist zwar hier in Heatherfield geblieben, weil sie ihre Eltern nicht mit dem Restaurant alleine lassen wollte, aber sie und ihr Beinaheverlobter wohnen zusammen und planen eine gemeinsame Zukunft.“ Blight rückte seine Brille zurecht. „Was frustriert Sie daran so?“ „Will und ich sind die einzigen, die auf der Stelle treten. Wir sind von Zuhause ausgezogen, haben einen Job und sind soweit ganz glücklich mit unserem Leben, aber wir kommen nicht weiter. Die anderen haben Pläne, Vorstellungen von der Zukunft und haben sich weiterbewegt.“ „Nur Will und Sie scheinen stehen geblieben zu sein?“ Deprimiert seufzend nickte Cornelia. „Es ist nur allzu verständlich, dass Sie Frustrationen erleiden, wenn Sie sich mit ihren ehemaligen Freundinnen vergleichen. Darum gebe ich Ihnen einen Rat, Miss Hale, leben Sie Ihr Leben nach eigenen Maßstäben und setzten Sie es nicht in Vergleich zu anderen. Würden Sie gerne in England oder Frankreich leben?“ Sie verneinte. „Nun, da haben wir die Antwort. Ihre Zukunft ist also eine andere als diese in der Ferne, die Ihre Freundinnen leben. Auch Hay Lin ist hiergeblieben und die bezeichnen Sie nicht als festgefahren. Könnte es daran liegen, dass sie einen Partner hat?“ Cornelia wandte den Blick ab. Blight hatte in einer halben Stunde das grundlegende Problem ihres Ärgernisses erkannt. War sie so leicht zu durchschauen? War es so offensichtlich, dass sie sich nach einer Beziehung sehnte? Sie beschloss, es einfach auszusprechen. „Jetzt wo sie es sagen, klingt es ziemlich logisch. Wahrscheinlich wünsche ich mir einfach, geliebt zu werden.“ „Von einer ganz bestimmten Person.“ Es war wieder eine Feststellung und keine Frage. „Nein!“, stritt Cornelia schnell ab, doch sie glaubte sich selbst nicht. „Ich meine…ach, ich habe keine Ahnung.“ „Dann ist es nun an der Zeit, unsere Ziele für Ihre Zeit bei mir festzulegen.“ Sie war dankbar, dass Blight nicht weiter darauf einging. „Ich habe einen ganz guten Überblick über Ihre Gefühlswelt und dabei habe ich zwei fundamentale Probleme festgestellt. Zum einen das zerrüttete Verhältnis zu Ihrem Elternhaus, das Ihnen unbewusst Glauben gemacht hat, Sie seien alleine auf der Welt. Zum anderen – und diese Thematik ist die schwerwiegendere – Ihre Sehnsucht nach einer bestimmten Person, die allerdings in ungreifbarer Nähe ist. Sie werden mir heute nicht sagen, um wen es sich handelt und was damals vorgefallen ist, als Ihr Herz in tausend Einzelteile zersprang, das weiß ich, aber wichtiger ist ohnehin, über diese reale Sehnsucht aufgrund Ihres irrealen Wunsches nach dieser Person hinwegzukommen. Im Klartext gesprochen-“ „Meine Gefühle sind also real, jedoch die Hoffnung, auf denen sie gründen, ist irreal.“ Er lachte. „Ich vergesse zeitweilig, dass Sie meine klügste Studentin sind. Sehr gut, sehr gut. Dann sagen Sie mir bitte zuerst, was Ihr langfristiges Ziel ist.“ Sie überlegte kurz. Den Geliebten vergessen? Es erschien ihr unmöglich und gar nicht wünschenswert. Auch wenn die Erinnerungen an ihn schmerzhaft waren, sie halfen ihr durch den Tag. Was würde sie tun, wenn er kein zentraler Teil ihres Lebens mehr war? Wollte sie überhaupt, dass er aus ihren Gedanken verschwand? Jede Sekunde, die sie an ihn dachte, war eine glückliche und gab ihr Kraft. Das Schlimme kam erst, sobald sie sich daran erinnerte, dass es nie mehr so sein würde. War es also in ihrem Interesse, ihn ganz aus ihrer mentalen Welt zu verbannen? „Miss Hale? Kommen Sie wieder zu mir auf die Erde.“ Cornelia schreckte aus ihren Gedanken und zuckte zusammen. „Entschuldige Sie.“ „An was haben Sie gedacht?“, wollte er wissen. Es hatte ohnehin keinen Sinn, ihn anzulügen, immerhin wollte sie ja, dass es besser wurde, also zwang sie sich, die Wahrheit zu sagen. „Ich dachte daran, dass ich ihn eigentlich gar nicht vergessen möchte.“ „Verständlich“, meinte Blight schnell. „Derartiges ist nicht ungewöhnlich. Ihre Gefühle haben sich so festgefahren, dass es einem erneuten Bruch gleichkommt, wenn Sie beschließen, besagten Mann zu vergessen. Ich mache Ihnen einen Vorschlag, Miss Hale. Unser langfristiges Ziel ist es, den Schatten der Vergangenheit hinter uns zu lassen. Das kurzfristige Ziel soll es aber erst einmal sein, ihn nicht völlig zu vergessen, sondern eine angebrachte Dankbarkeit für die schöne Zeit mit ihm zu fühlen, jedoch keinen übernatürlich großen Schmerz, sobald Sie an ihn denken. Was halten Sie davon?“ Sie resümierte: „Nicht vergessen, sondern nur nicht mehr lieben?“ „So in etwa. Sind Sie damit einverstanden?“ „Ich denke ja.“ „Was denken Sie, wie viel Zeit werden Sie brauchen? Welches Zeitlimit setzen wir uns?“ Cornelia schloss nachdenklich die Augen und durchforstete ihre Gedanken nach einer Richtzahl, doch sie fand keine. Wie lange brauchten normale Menschen wohl dafür? Hatten normale Menschen überhaupt solche Probleme, wenn eine normale Beziehung brach? Sie wollte nicht zu lange brauchen, um sich nicht lächerlich zu machen, doch zu kurz wäre auch schädlich, denn in einer Woche wäre es sicherlich nicht getan. „Sie tun es schon wieder, Miss Hale“, tadelte Blight. „Wir sind hier in einem Raum, in dem absolutes Gedankenverbot herrscht, solange ich es nicht erlaube. Wenn Sie etwas denken, sprechen Sie es aus, sonst kann ich Ihnen nicht helfen.“ „Einen Monat“, sagte sie schließlich. Das mit dem Gedankenverbot konnte er jedoch so was von vergessen. „Sie sind äußerst optimistisch.“ Blight schrieb es dennoch auf. „Machen wir sechs Wochen daraus mit drei Sitzungen pro Woche zu je einer halben Stunde nach Terminvereinbarung. Und wir setzen uns noch ein Zwischenziel, um Erfolge leichter kenntlich zu machen. Ich merke, dass Sie den Namen der Person nicht aussprechen. Nächste Woche möchte ich eine Geschichte aus ihrer beider Beziehung hören, in der Sie ihn mindestens achtmal beim Namen nennen und danach nicht weinen. Denken Sie, Sie schaffen das?“ „Ja. Da wäre allerdings noch etwas, Dr. Blight…“ Schüchtern sah sie zu Boden und fixierte ihre Schuhspitzen. „Ich bin Studentin, habe einen schlecht bezahlten Job und einen kräftigen Haufen Miete zu zahlen. Ich denke nicht, dass ich mir drei Sitzungen pro Woche leisten kann.“ „Machen Sie sich über die Finanzierung keine Gedanken, ich werde mir etwas überlegen. Da fällt mir ein, ich hatte schon vor über einer halben Stunde Chinesisch bestellt! Ich hatte gehofft, Sie würden mir beim Essen Gesellschaft leisten, aber unsere halbe Stunde ist leider bereits um. Haben Sie noch etwas vor?“ Sie winkte ab. „Ja, habe ich, tut mir Leid.“ „Da kann man nichts machen. Beim nächsten Mal dann. Und bevor ich es vergesse, ich habe dieses Kaffeepulver vor ein paar Tagen von einem Patienten bekommen, aber ich bin eher der englische Typ, wenn Sie verstehen, was ich meine. Kaffee schmeckt mir am besten, wenn man das Kaff durch ein T ersetzt. Möchten Sie mir den abnehmen?“ „Oh, vielen Dank, Dr. Blight, aber das kann ich nicht annehmen.“ „Natürlich können Sie!“, beharrte er. „Bei mir würde er nur herumstehen und verschimmeln. Er ist sehr stark und vor allem äußerst teuer. Besser, Sie teilen ihn nicht mit anderen. Dieser Genuss soll nur Ihnen gehören.“ Er drückte ihr das Päckchen in die Hand, erhob sich, reichte ihr die Hand zum Abschied und brachte sie durch eine zweite Türe hinter seinem Schreibtisch hinaus. „Damit man von den anderen Patienten nicht gesehen wird, wenn man rausgeht“, erklärte er zwinkernd. „Einen schönen Tag noch.“ Kapitel 4: Oakley Hill ---------------------- … But actually I was really scared to admit what you had ever meant to me … V I E R In der Nacht auf den achtundzwanzigsten Dezember kam Will nicht nach Hause, was zwar nicht ungewöhnlich war, da die Bibliothek, in der sie angestellt war, nur fünf Gehminuten von ihrem Elternhaus entfernt war und sie deshalb manchmal die Gelegenheit nützte, um ihrer Familie einen Besuch abzustatten, der meist erst nach den Betriebszeiten für öffentliche Verkehrsmittel endete, weshalb sie gezwungen war, in ihrem alten Kinderzimmer zu schlafen, aber gerade heute war es Cornelia unangenehm, Will nicht im Haus zu haben. Sie fühlte sich einfach sicherer, wenn sie nicht alleine in der Wohnung herumgeistern musste und wegen der geisterhaften Stille jedes harmlose Geräusch wie der Weltuntergang klang. Wahrscheinlich war dieses Unbehagen unbewusster Auslöser für den abstrusen Traum, den Cornelia erleben musste. Sie ging die belebten Straßen Surreys entlang, auf ihrem Rücken waren Flügel und sie trug die auffällige Kleidung ihrer Verwandlung. Die Passanten jedoch schienen nichts von ihrer Andersartigkeit zu bemerken. Ganz entspannt, als wäre sie gekleidet wie jeder andere und flügellos, spazierten sie völlig unberührt an ihr vorbei. Cornelia schien als einzige in Richtung Norden zu gehen; der Strom der Menge drängte nach Süden. Und dann war sie vor dem edlen Häuserkomplex, in dem ihre Eltern wohnten. Ohne zu wissen wieso, fuhr sie mit dem Aufzug hinauf und ging durch die Wohnung hindurch auf ihren Balkon. Weder ihre Eltern, noch ihre Schwester sagten etwas zu ihrem merkwürdigen Auftreten, aber es erschien Cornelia völlig normal. Und dann stand sie auf dem Balkon, das Rascheln der Büsche noch in den Ohren, als sie leicht wie eine Feder über die Hecke schwebte und im Garten des Nachbarn schräg unter ihr landete. „Cornelia!“ Emotionslos drehte sie sich um. Vor ihr erhob sich ein hochgewachsener Mann aus seiner Hocke. „Wer bist du?“, fragte sie. Der Mann kam ihr bekannt vor, aber kennen tat sie ihn nicht. „Was soll das heißen? Cornelia, erkennst du mich nicht? Ich bin es, -“ Doch wo er seinen Namen sagen wollte, kam kein Laut über seine sich bewegenden Lippen. „Sieh mich an, Cornelia, sieh mich an!“ Grob packte er sie mit seinen starken Armen an den Schultern und zwang sie, ihn anzusehen. Er war beinahe einen Kopf größer als sie. „Ich kenne dich nicht, auch wenn ich dich ansehe!“, schrie sie wütend und versuchte sich aus dem schmerzenden Griff loszulösen. Er war zu stark. „Lass mich los!“ Die Forderung ging in seinem verzweifelten Rufen unter. „Du kennst mich, ich weiß es, Cornelia!“ Nun löste er seine Hände und nahm statt ihren Schultern ihr Gesicht in die großen Handflächen. Er zwang sie, ihn anzusehen, doch sie wusste immer noch nicht, wer er sein sollte. „Du kannst mich nicht vergessen haben, ich bin mir sicher, es kann nicht sein. Tu mir das nicht an. Ich dachte, du liebst mich! Ich liebe dich, verstehst du? Ich konnte es nicht ertragen, getrennt von dir zu sein!“ „Wie kannst du mich lieben, wenn wir uns nicht kennen?“, fragte Cornelia nüchtern. Sie fühlte nichts, nur die Wärme seiner Haut auf ihren Wangen – doch es war ihr egal. Erschöpft sank der Mann vor ihr zusammen. Seine Finger gruben sich in das Gras, wühlten die Erde auf und ballten sich dann zu Fäusten. Sie rasten zu Boden und hinterließen eine kleine Vertiefung. Tränen rannen sein Gesicht hinab. Sie tropfen unaufhörlich auf das im seichten Wind wippende Gras. „Ich dachte, wir könnten nun glücklich werden. Ich dachte, wir würden uns noch lieben. Aber du hast mich vergessen!“ Cornelia war mit der Situation überfordert. Ratlos blieb sie vor ihm stehen und sah einfach auf ihn herab. „Wie kannst du mir das antun? Hast du mich je geliebt?“ Wütend sah er auf. „Ich…“ Sein Blick durchbohrte ihre Seele. „Ich weiß es nicht…wer bist du? Habe ich dich jemals geliebt? Habe ich dich überhaupt gekannt?“, wisperte sie. Beim Anblick des Leides, das der Mann durchlitt, kamen auch ihr die Tränen. „Ich habe dich geliebt? Wer bist du? Wer bist du?“ „Wer bist du?“, flüsterte Cornelia. Etwas Nasses hatte sie geweckt, gerade noch rechtzeitig, um den letzten Satz aus ihrem eigenen Mund wahrzunehmen, der ihr vorkam, als hätte sie ihn nicht gesprochen. Regnete es? Die nassen Tropfen bahnten sich unaufhörlich ihren Weg über ihre weiche Haut, doch einen Aufschlag hatte sie nicht verspürt. Mit einer gewissen Vorahnung tastete sie ihre Wangen ab und sah ihre Ahnung bestätigt: Sie weinte stumm. „Auch das noch!“, zischte sie verärgert und richtete sich auf. „…hält der Frühling leider noch nicht Einzug, aber es bekommt immerhin annehmbare vier Grad. Bis zum einunddreißigsten hin muss allerdings erneut mit Schneeschauern und Glatteis gerechnet werden und nun zurück zu Gabrielle Banner ins Nachrichtenstudio.“ „Oh“, machte Cornelia überrascht. Allen Anschein nach war sie gestern Abend auf dem Sofa eingeschlafen. Der grün gestreifte Polster, auf dem sie genächtigt hatte, wies große, dunkle Flecken auf. Sie hatte ziemlich viel geweint. „Das darf doch nicht wahr sein!“ Cornelia verdrehte die Augen, zog den Überzug ab und warf ihn in die Waschmaschine. „Cornelia, ich bin wieder da!“, hörte sie Will vom Flur hereinrufen. Wenig später fiel eine Türe ins Schloss und Schlüssel wurden abgelegt. „Ich bin in der Küche! Möchtest du Kaffee und hast du grüne Wäsche zum Waschen?“ „Okay, ja und ich muss nachsehen.“ Keine Minute später trat Will mit einem Berg Wäsche in die Küche. „Aber heute ist doch Donnerstag, wieso wäscht du grün?“ „Der Kissenüberzug ist dreckig geworden“, antwortete Cornelia kurz angebunden. Will musste ja nicht unbedingt wissen, dass sie wieder einmal geweint hatte. „Ach so, und ich dachte schon, ein Einbrecher hätte nur diesen schicken Überzug mitgenommen“, scherzte Will gut gelaunt. „Wie war’s gestern eigentlich?“ „Total dumm“, meinte Cornelia, während sie versuchte, den Wäscheberg in die kleine Trommel der Waschmaschine zu verfrachten. Unter Ächzen und Stöhnen schaffte sie es schließlich, die Klappe zuzumachen. „Blight hat mich Ziele setzen lassen.“ Sie erzählte die halbe Stunde so genau als möglich und fügte dann hinzu: „Wegen diesem Schwachsinn von wegen Vergessen sind meine Alpträume zu Lächerlichkeiten verkommen. Ich hab geträumt, dass er vor mir steht, ich ihn aber nicht erkenne.“ „Das klingt eher weniger gut“, stellte Will fest. „Blödsinn.“ Cornelia begann nun, Kaffee zu kochen. „Es ist nur eine Manifestation der Angst, ihn als Teil meines Lebens zu verlieren. Und dennoch. Der Traum heute war nicht schmerzhaft oder schrecklich, sondern nur traurig. Ich hab nicht aus Schmerz und Trauer geweint, sondern einfach, weil er mir leid getan hat. Die Träume entsprechen nicht mehr der Realität und das ist beunruhigend. Etwas passiert in mir und ich möchte wissen, was das ist.“ Doch Will spulte zurück. „Warte, du hast geweint?“ „Ist doch nichts Besonderes mehr, nicht wahr?“ Schulter zuckend goss sie Milch in die Tassen. „Da wir gerade von Besonderheiten sprechen, was ist das da?“ Will deutete auf das golden eingepackte Rechteck, das neben den übrigen Kaffeepackungen stand. „Ein Verehrer?“ „Ein bisschen klein für einen Verehrer, meinst du nicht?“ Cornelia lachte. „Schon gut, ich weiß was du meinst. Das hat mir Dr. Blight geschenkt. Er meinte, er würde keinen Kaffee mögen, aber das Zeug sei so teuer, dass er es nicht verkommen lassen möchte.“ „Na dann, gieß ein!“ „Tut mir leid, das ist nur für mich. Ach ja, ich dachte mir, es wäre langsam an der Zeit, diesen Collin anzurufen“, wechselte sie schnell das Thema und glücklicherweise ging Will darauf ein. „Keine schlechte Idee. Auch wenn sein Name und sein Aussehen mir nicht gefallen möchten.“ Will nahm die Kaffeetasse dankend an und fuhr fort: „Caleb und Collin, das hört sich schon ziemlich ähnlich an. Außerdem sehen sie sich ziemlich ähnlich. Größe, Statur, Haare, Augen, alles ist irgendwie gleich, aber in Kombination überhaupt nicht mehr. Als hätte man das Original zerlegt und anders zusammengesetzt.“ Nachdenklich nahm sie einen Schluck Kaffee. „Du siehst Gespenster. Collin sieht ihm gar nicht ähnlich. Diese Größe und Statur haben die Hälfte aller Männer Mitte zwanzig und der Haarschnitt ist auch weit verbreitet. Und dass die Namen beide mit C anfangen ist Zufall. Ich werde ihn sofort anrufen, sonst überleg ich es mir noch anders.“ Sie verabredeten sich am Telefon für kommenden Donnerstag zum Essen unter den wachsamen Augen Wills, die keinen Zentimeter von ihrer Seite wich, damit sie auch ja das Treffen fixierte. Cornelia hatte sicherlich recht. Sie sah nur Gespenster. Andererseits war es ein seltsamer Zufall. Cornelia glaubte Caleb gesehen zu haben nach eben jener Nacht, in der sich der immer wieder kehrende, allnächtliche Alptraum eine neue Form angenommen hatte und einen Tag zuvor tauchte auch noch ein Typ auf, der ihm verblüffend ähnlich, aber dann doch überhaupt nicht ähnlich sah. „Siehst du? Kein Grund, mir zu misstrauen!“, sagte Cornelia überlegen, nachdem sie aufgelegt hatte. „Und nun entschuldige mich, ich habe ein Vorstellungsgespräch.“ Cornelia bekam den Job wegen ihres guten Aussehens, denn mit diesem Gesicht und dieser natürlichen Eleganz konnte sie laut Claire Higgins, die ihr sogleich das Du-Wort angeboten hatte, jedem etwas verkaufen, da sie in jedem einzelnen Kunden das Gefühl wecken konnte, diese Boutique könne bei ihnen selbst ein solches Wunder der Schönheit hervorbringen. Verkaufstalent war in diesem Geschäft nur zweitrangig. Aber es war auch egal, aus welchem Grund sie angestellt wurde, sie freute sich aufrichtig darüber. Nach drei elendslangen Jahren schien es endlich bergauf zu gehen. Die Arbeitszeiten ließen genügend Freizeit, um sich in den Ferien mit Will und Hay Lin zu treffen und den Schnee zu genießen. Das einzige, das Cornelia nach wie vor die Laune vermieste, waren die Alpträume, die nun von Tag zu Tag abstrusere Formen annahmen. Egal, wie sie auch abliefen und ausgingen, und das war das wirklich Frustrierende, sie endeten jedes Mal mit Tränen. Doch im Gegensatz zu den Träumen von vor ein paar Tagen, waren ihr diese nach dem Aufwachen egal. Sie verstand sie zwar überhaupt nicht und weder Will, noch Hay Lin oder ein Traumdeutungsbuch konnten helfen, die Unklarheiten zu beseitigen, doch langsam verlor das auch an Wichtigkeit. Es war, als würde ihr Unbewusstsein Cornelia bewusst daran hindern, das Thema Caleb ruhen zu lassen, wie es Blights Therapie eigentlich vorsah. Als Belohnung für diesen Fortschritt, begann sie nun, jeden Abend, an dessen vorangegangenem Tag sie nicht über diese Träume nachgedacht hatte, eine Tasse des Kaffees zu trinken, den Blight ihr geschenkt hatte – zumindest wollte sie das. Er schaffte es, dass sie beinahe süchtig danach wurde. Zumindest, nachdem sie die ersten Schlucke heruntergewürgt hatte. Anfangs hinterließ er eine sehr trockene, beinahe giftige Note, aber nachdem sich der zarte Gaumen daran gewöhnt hatte, konnte Cornelia beinahe nicht damit aufhören. Es war wie der erste Schluck eines hochprozentigen Schnapses – ekelhaft, aber man musste ihn einfach trinken. Aus Höflichkeit erwähnte sie Blight gegenüber nichts von dem seltsamen Geschmack, sonder rühmte den Kaffee in den Himmel. Sie trinke jeden Tag zwei Tassen und könne gar nicht aufhören. Er schien sich außerordentlich darüber zu freuen. Nun gehörten also weinen und Schreie zwar noch immer zum Nachtritual, doch als Blight ihr in der zweiten Sitzung verbot, die nächsten Tage an den besagten Mann zu denken, freute sie sich, dass sie das bereits geschafft hatte. Schwierig blieb es weiterhin nur nachts, denn die Träume schienen intensiver zu werden, je weniger sie tags an Caleb dachte. Wieso das so war, konnte sie nicht sagen und sie verspürte auch nicht den Drang, Blight von diesen Exkursionen zu ihrem Geliebten zu erzählen. So zogen die wenigen Tage bis zum Ende des Jahres ins Land, ohne dass etwas geschah. Cornelia musste an diesem Tag arbeiten, was sie ganz und gar nicht störte. Sie hatte herausgefunden, dass sie eine hervorragende Verkäuferin war und die zwanzig Prozent Personalnachlass in Verbindung mit ohnehin reduzierten Einzelstücken machten die hochwertige Ware äußerst erschwinglich. „Das einzige Ungesunde daran ist das Bangen, ob die Stücke sich nicht doch so gut verkaufen, dass sie erst gar nicht in den Ausverkauf kommen“, erklärte Cornelia Hay Lin und Will, während sie die Kassenlade öffnete und anfing, die Beträge der einzelnen Trennbereiche in eine Liste einzutragen. „Du wirkst, als wärst du hier geboren“, gestand Hay Lin schwärmerisch. „So hab ich mir deine Zukunft immer vorgestellt.“ „Alleine, verbittert, von Alpträumen geplagt und in psychologischer Behandlung? Na vielen Dank.“ Sie sortierte die Geldscheine in ein Kuvert ein. „So hab ich das nicht gemeint und das weißt du!“, korrigierte Hay Lin. Es war kurz still, dann lachten sie laut los. „Aber im Ernst, Cornelia, du wirkst, als würdest du das schon ewig machen.“ „Ich lerne sehr schnell“, lobte sich die Angesprochene selbst, während sie alle Unterlagen in den Safe nach hinten ins Lager trug. „Claire ist äußerst angetan von mir. Außerdem habe ich ja Erfahrung mit Abrechnungen und Kassenschlüssen. Im Restaurant gab es genau einen intelligenten Angestellten und der war ich. Der Rest war dumm wie Brot und hat zudem auch noch mehr verdient als ich!“ „Und weil du so toll bist hat dir deine Chefin gleich mal am vierten Arbeitstag die gesamte Verantwortung für den Laden übertragen?“, fragte Will skeptisch. Sie hatte sich bereits beim Anklopfen an die verschlossene Glastüre des Edelladens gefragt, wieso Cornelia alleine war. „Das hat wohl eher etwas damit zu tun, dass ich die Tochter von Harold Hale bin“, gab sie schließlich zu. „Claire hat mich angeblich schon in den Windeln gekannt und ich nannte sie bis zu meinem sechsten Lebensjahr Tante.“ Cornelia zuckte mit den Schultern. „Jedenfalls war heute nicht viel los und an Silvester werden alle Stunden ab ein Uhr doppelt gelohnt. Darum habe ich ihr angeboten, alleine zu bleiben und dann dicht zu machen.“ „Du bist ein Engel“, meinte Will sarkastisch. „Und nur weil du das Geld willst müssen wir jetzt auf dich warten. Ganz toll gemacht.“ „Du willst, dass ich Miete zahle? Dann lass mich arbeiten“, giftete Cornelia mit amüsierten Unterton zurück. „Außerdem haben wir als Dank der lieben Mrs. Claire Higgins für meine aufopfernde Fürsorge das hier bekommen.“ Sie griff unter die Theke und zog aus dem Mitarbeiterkühlschrank eine Schachtel heraus. „Schokolade!“, kreischten Will und Hay Lin im Chor vor Freude. „Aber das war noch nicht alles.“ Sie lange erneut unter die Theke und hob mit einem eleganten Knicks nun eine Magnumflasche über ihren Kopf. „Die Party ist eröffnet!“ Die drei fielen beim Anblick der großen Sektflasche ins Schwärmen und kamen erst wieder heraus, als Cornelia sie köpfte und in drei Pappbecher verteilte. „Ist prickelndem Gold zwar nicht gerecht, schmeckt daraus aber trotzdem“, kommentierte sie. „Für mich noch nicht“, winkte Hay Lin ab. „Ich muss euch immerhin noch zum Hügel kutschieren. Aber nehmen wir die Flasche doch mit. Ich hab Eric dort abgesetzt, bevor ich hergekommen bin. Heute darf er mal fahren. Sagt mal, wann macht ihr eigentlich euren Führerschein?“ Die beiden stöhnten missmutig. „Sobald wir im Lotto gewinnen und diese horrende Summe aufbringen können, schätze ich“, antwortete Will mit Bitterkeit in der Stimme. „Aber fürs erste sollten wir feiern, was das Zeug hält!“ In einer zweigliedrigen Bolognese tanzte sie mit Hay Lin an ihren Fersen aus der Boutique und wartete, bis Cornelia den Laden abgeschlossen und den Schlüssel sicher verstaut hatte. Dann stiegen sie in Hay Lins im Parkverbot geparkten Wagen, der sie aus der Stadt auf den Oakley Hill bringen sollte, den sich Heatherfield mit der angrenzenden Nachbarstadt teilen musste. Es war ein traditionsträchtiges Spektakel. Einmal im Jahr, in der Nacht vom Ende des alten Jahres auf den ersten Tag des neuen Jahres, kurz: Silvester, versammelte sich alles aus Heatherfield und Birkwood, das Beine hatte, am höchsten Punkt des Oakleyhügels, um ein Feuerwerk zu beobachten, das die Einwohner der beiden Städte als das schönste und imposanteste der ganzen Welt bezeichneten. Das Feuerwerk begann genau um Mitternacht und dauerte bis halb eins. Doch voll war das zweihundert Meter hohe Plateau bereits ab sechs Uhr, wenn feiernde Jugendliche und Familien Einzug hielten, um sich die besten Plätze zu sichern. Aus diesem Grund musste Hay Lin etwas abseits am Fuße des Hügels parken, was vor allem Cornelia und ihren Wildlederstiefeln nicht gefiel. Der Fußmarsch hinauf zur Aussichtsplattform dauerte im Normalfall keine viertel Stunde, doch die jungen Frauen versüßten sich die schwere Wanderung mit Sekt und Schokolade. Als sie oben ankamen waren sie dennoch völlig außer Atem. Vom Sekt hatten sie nur jeweils zwei weitere Gläser trinken können, denn die teuer aussehende Flasche hatte sich in Cornelias Händen verflüchtigt und war lautstark zu Boden gesaust, wo sie in ihre Einzelteile zersprungen war. „Ich finde es übrigens süß von dir, dass du den Poncho trägst, den ich dir geschenkt habe“, keuchte Will. Sie hielt sich den Bauch, bis Hay Lin die mitgebrachte Picknickdecke aufgerollt hatte. Erschöpft ließen sie sich darauf fallen, dann begannen sie zu lachen. Cornelia war die erste, die sich wieder fing. „Nun seht euch an was aus den taffen Wächterinnen geworden ist. Wir schaffen es nicht einmal mehr, einen kleinen Erdhaufen zu bezwingen, ohne halb daran zu krepieren.“ „Da hast du völlig recht“, stimmte Hay Lin zu. „Wahrscheinlich sind unsere Muskeln durch die Fliegerei degeneriert und wir haben es durch die ewige Sitzerei in der Schule verabsäumt, sie wieder aufzubauen. Hach, ich wünsche mir diese süßen Outfits zurück.“ Cornelia bejahte, fügte allerdings hinzu: „Auf die Umstände, unter denen wir sie getragen haben, kann ich aber gut und gerne verzichten.“ „Ich denke, das geht Hand in Hand“, vermutete Will. „Hoffen wir, dass es nie wieder Wächterinnen geben wird.“ Die anderen beiden stimmten zu und wechselten dann schnell den Gesprächsgegenstand, als Eric auf sie zukam. Er begrüßte seine Freundin mit einem liebevollen Kuss und die anderen beiden mit einem herzlichen Handschlag. „Über was sprecht ihr?“, wollte er wissen. Eric war ein sehr feinfühliger Mensch und sein Taktgefühl sagte ihm, dass er eben ein intimes Gespräch gestört hatte. Allerdings reichte sein Zartgefühl nicht dazu aus, um seine Neugierde zu bezwingen. „Alte Zeiten“, meinte Hay Lin schlicht. „Nichts Wichtiges.“ Er beließ es dabei und wandte sich anderen Themen zu. Die nächsten Stunden bis zum Feuerwerk hin vertrieben sie sich damit, Eric und Hay Lin auszuquetschen. Und nachdem das Thema erschöpft war, gingen sie dazu über, Miete, Gas- und Stromrechnungen zu vergleichen, Politiker zu beleidigen und sich darüber auszulassen, wie dramatisch hoch die Arbeitslosenquote inzwischen war. Als dann zufällig zwei Freunde von Eric auftauchten, die ganz zufällig auch noch äußerst charmant und gutaussehend waren, wandelte sich die gediegene Stimmung in angeregte Plauderlaune. Andy und James waren ausgesprochen amüsant, weswegen die ernsten Erwachsenenthemen bald unterhaltsamen Alltagsgeschichten und Witzen wichen. Hay Lin bestand weiterhin darauf, nichts mit dem Auftauchen der weiteren Gäste zu tun zu haben und die weiteren Gäste erklärten, dass es unwichtig sei, solange ein so hervorragender Abend dabei herauskam. Schnell war klar, dass Andy eine besondere Vorliebe für Cornelia hatte und auch James schien sich sehr gerne mit ihr zu unterhalten, denn der Biologiestudent arbeitete gerade an seiner Diplomarbeit zum Thema erlerntes Verhalten, das viele Parallelen zur Entwicklungspsychologie aufwies und somit genau Cornelias Interessensbereich erfasste. Doch ebenso schnell wie Andy und auch James einen Narren an Cornelias gutem Aussehen gefressen hatten, so schnell wandten sie sich der um Längen offeneren und ansprechenderen Art Wills zu, nachdem sie festgestellt hatten, dass erstere ausgesprochen distanziert war, obgleich sie recht viel sprach. Will war für die beiden aber auch keine schlechtere Wahl, denn ihr herzliches, lustiges Wesen übertraf das ihrer Freundin bei Weitem und auch in puncto Aussehen sahen die Männer nur einen Unterschied in der Haarfarbe. Will indes fühlte sich geschmeichelt und hatte so viel Spaß, dass sie erst kurz vor Mitternacht merkte, dass Cornelia sich von den Feiernden abgesondert hatte. „Entschuldigt mich, meine Herren“, sagte sie mit einem angedeuteten Knicks. „Die Damen müssen nur eben schnell ein paar Frauendinge erledigen.“ Sie zog Hay Lin mit sich ein wenig abseits. „Weißt du, wo Cornelia steckt?“ Doch Hay Lin verneinte. „Sie ist vor gut einer halben Stunde in die Richtung gegangen. Sie hat gemeint, sie wollte auf die Toilette. Ich hab mir gedacht, dass sie eine kurze Pause von James und Andy braucht. Die beiden sind recht anstrengend. Aber sie haben ein Auge auf dich geworfen. Vor allem Andy. Aber der verknallt sich schnell mal. Trotzdem ist er ein netter Typ. Ich kann dir seine Telefonnummer geben.“ „Später, okay?“, winkte Will ab. „Erst einmal muss ich mit unserer Verlorenen reden. Sag den anderen, ich komme gleich wieder.“ „Aber beeil dich, das Feuerwerk fängt gleich an!“, rief Hay Lin ihr hinterher, aber Will war bereits in die Richtung gelaufen, in die erstere vorhin gezeigt hatte. Sie wusste selbst nicht, wieso sie ein komisches Gefühl hatte, denn Cornelia würde sicherlich keine Dummheit machen. Caleb hin oder her, sie war keine, die einfach aufgab. Wahrscheinlich hatte sie wirklich nur eine Pause gebraucht, denn nun, da Will die Ruhe des Waldes um sich hatte, wurde ihr erst klar, wie laut und aufgedreht es auf dem Plateau war. Die Stimmen der lärmenden Kinder und feiernden Erwachsenen drangen nur mehr gedämpft durch den dichten Wald. Einzig und allein Wills Schritte auf dem Waldboden waren lauter zu hören. Sie führten ihre Besitzerin zielstrebig immer tiefer in den Wald, bis sie zu einer kleinen, Mondlicht beschienenen Lichtung kam. Sie war leer. „Mist“, fluchte Will. Sie hätte schwören können, dass Cornelia hierhin gelaufen war. Doch dann erblickte sie einen schmalen Pfad, der sich nach links den Hügel hinab schlängelte. Will setzte ihren Weg vorsichtig in der Dunkelheit fort, bis sie in einiger Entfernung auf einer Holzbank helles Haar entdeckte. Es war eindeutig Cornelia, die mit dem Rücken zum Pfad gedreht in den sternenlosen Himmel sah. „Cornelia?“, fragte Will leise, um sie nicht zu erschrecken. Vergebens. Sie zuckte dennoch merklich zusammen und wandte sich dann schnell um. „Oh, du bist es. Möchtest du dich setzen?“ Will ließ sich nicht lange bitten und schwang ihre Beine lässig über die kalte Holzlehne der Bank. „Hast du keine Angst, dass du hinunterfällst?“ Will sah mit steigendem Unwohlsein den steil abfallenden Hügel hinab, dessen Hang zwei Meter vor ihnen begann. „Ah, jetzt verstehe ich auch, wieso du hinaufschaust.“ Sie tat es ihr gleich. „Ich warte darauf, dass das Feuerwerk beginnt“, erklärte Cornelia. „Wir sind etwa zwanzig Meter unter dem Plateau. Hier ist soweit ich weiß die einzige Stelle des Hügels, an der man freie Sicht auf Heatherfield hat, wenn man das abgeholzte Plateau nicht mitzählt. Früher waren dort an die tausend Bäume. Aber hier“, sie machte eine ausladende Geste über die Baumwipfeln, „hier sind die Tannen und Fichten nicht so groß, weil sie sonst zu schwer für die weiche Erde wären. Sie würde abstürzen. Darum kann man hier über die Spitzen schauen.“ „Und wieder was gelernt“, scherzte Will. „Aber im Ernst, wieso bist du weggegangen? Klar, es war laut, aber hier alleine herum zu sitzen stimmt mich persönlich irgendwie traurig.“ „Ich möchte das Feuerwerk lieber in Ruhe genießen.“ Aber Will glaubte ihr nicht. „Du hast wieder an ihn gedacht, nicht wahr? Wegen dem Feuerwerk vor fünf Jahren.“ Sie sah traurig auf ihre Schuhspitzen. „Das ist es nicht“, widersprach Cornelia. Ihr heißer Atem erzeugte Rauch in der klirrend kalten Nachtluft. „Dr. Blights Gespräche zeigen sehr schnell ihre Wirkung. Irgendwie habe ich das Gefühl, dass mir alle Erinnerungen entgleiten. Das möchte ich aber nicht.“ Plötzlich erschraken beide und wandten den Kopf blitzschnell nach hinten. Es war ein Knacksen gewesen, als wäre jemand auf einen morschen Zweig getreten. „Sicherlich nur ein Tier“, versuchte Will vor allem sich selbst zu beruhigen, denn Cornelia hatte im Gegensatz zu ihr keinen ängstlichen Gesichtsausdruck. „Cornelia? Ist alles in Ordnung?“ Doch sie gab keine Antwort, sondern stand leise auf, den Blick immer in den schwarzen Wald gerichtet. Mit beinahe lautlosen Schritten ging sie auf den Waldrand zu. „Cornelia, komm zurück!“, flehte Will. Ihr war ganz und gar nicht wohl. Und dann erinnerte sie sich daran, wen Cornelia angeblich an Heiligabend gesehen haben wollte und wohin er verschwunden war. Ein Rascheln von Blättern, ein Knacksen von Ästen, das alles war sich sehr ähnlich. Aber das konnte nicht sein. Zweifelnd stand auch Will nun auf und klammerte sich an Cornelias Rücken. Ängstlich linste sie über ihre Schulter. „Ich weiß, wen du hier zu finden hoffst, aber das ist Unsinn. Nur weil du Angst hast, ihn zu vergessen, musst du ihn doch nicht überall sehen, oder?“ Wills Stimme war zu einem kaum hörbaren Flüstern verkommen, auf das Cornelia immer noch keine Antwort gab. Dann, ohne Vorwarnung, erleuchtete die Explosion der ersten Rakete den Nachthimmel. Die beiden jungen Frauen zuckten erschrocken zusammen, doch auch im Wald schien jemand erschrocken zu sein. Es erklang ein weitere Knacken, dann ein Rascheln und schneller als Will reagieren konnte, entglitt Cornelia ihrem Griff und stürmte in den Wald hinein. Es waren nur fünf Sekunden, die sie fassungslos stehen blieb, ehe sie Cornelia hinterher lief, doch diese kurze Zeit reichte, um sie aus den Augen zu verlieren. Die Schritte im morschen Unterholz wurden von dem Prasseln der Raketen übertont, sodass Will keine Ahnung hatte, wohin sie laufen sollte. Also rannte sie auf Gutglück los. Währenddessen hörte Cornelia die Schritte vor ihr sehr genau. Da lief jemand, eindeutig. Und dieser jemand wollte nicht erkannt werden. Bildete sie sich das wirklich nur ein, so wie Will gesagt hatte, oder war sie zumindest noch halbwegs Herrin ihres Verstandes? Erst auf dem Balkon, dann jetzt, das konnte kein Zufall sein! Es durfte kein Zufall sein! Keuchend und die stechende Seite ignorierend hechtete sie mit großen Schritten weiter durch den sekundenweise erhellten Wald. Doch die Bäume standen zu dicht, als dass sie mehr als die Silhouette des Flüchtlings erkennen konnte. Deshalb schrie sie, ohne zu überlegen: „Caleb!“, in der Hoffnung, er würde stehen bleiben. Doch sie hatte weit gefehlt, im Gegenteil: Die Schritte des Mannes wurden noch schneller und größer, sodass sie nicht mehr lange Schritt halten würde können. Und dann war jegliche Geschwindigkeit hinfällig. Nur einen kurzen Augenblick, eigentlich viel zu kurz, um als Augenblick zu gelten, war sie durch einen seltsamen Geruch abgelenkt, und dann war es auch schon geschehen. Wie aus dem Nichts geschossen stand eine wuchtige Rotfichte um zwanzig Zentimeter zu weit rechts, während Cornelia sie um zwanzig Millisekunden zu spät sah. Mit voller Wucht erfassten ihre Schulter und ihr gesamter rechter Arm die Rinde des Baumes, sodass sie an manchen Stellen lautstark absplitterte. Aufgrund des Schwungs, den Cornelia noch zusätzlich in ihre Schritte gelegt hatte, drehte sich ihr Körper unwillkürlich zur Seite, ohne dass ihr Lauf langsamer geworden war. Mit einem lauten Knall trafen ihr Brustkorb und die linke Seite ihres Gesichtes gegen den Stamm eines danebenstehenden Baumes. Keine Sekunde später lag sie hustend auf dem Boden. Ihre Brust fühlte sich an, als lasteten hunderte Kilos auf ihr. Das Atmen fiel ihr schwer, der Kopf dröhnte und die gesamte rechte Seite fühlte sich an, als wäre eine Dampfwalze darübergefahren. Wie gestorben lag sie mit dem Bauch auf dem kalten, feuchten Erdboden, die linke Wange im Dreck und die rechte aufgeschürft und blutverschmiert. Ihre Atmung hörte sich an wie ein lebensschwaches Röcheln. Für die ersten paar Sekunden lag sie einfach unbewegt da, ohne verstanden zu haben, was gerade geschehen war. Dann, als sie ihre Fassung wieder gewonnen hatte und der Adrenalinstoß verebbt war, legte sich der richtige Schmerz über das anfänglich matte Gefühl der Geplättetheit. „Cornelia!“ Für einen Moment hatte sie gehofft, der Flüchtige hatte umgedreht angesichts ihres Sturzes. Die Tatsache, dass er ihren Namen gekannt hätte, hätte ihr Sicherheit gegeben, dass es sich um Caleb gehandelt hatte. Doch es war Will, die schrie. Sie hatte den Krach und den anschließenden Fall auf die kahlen Zweige gehört und gedacht, Cornelia hatte den Unbekannten gefasst und zu Fall gebracht. Als sie jedoch sah, wer da wirklich lag – ohne Erfolg gehabt zu haben – setzte ihr Herz aus. „Cornelia, Cornelia, o Gott! Cornelia!“ Aufgelöst warf sie sich neben ihre Freundin, die sie aus geweiteten Augen immer noch röchelnd ansah. Das Röcheln war in dieser Sekunde das schönste Geräusch für Will, denn es signalisierte, dass Cornelia noch am leben war. „Was ist passiert? Kannst du atmen? Warte ich helfe dir.“ Sie zog ihren Oberkörper auf, damit ihr das Atmen leichter fiel. Glücklicherweise waren die leichten fünfzig Kilo eine zu schaffende Aufgabe. „Du siehst ja furchtbar aus…ich dachte schon, du wärst tot! Hat er dich angegriffen? Wer war es? Warum hat er dich niedergeschlagen? War es überhaupt ein Mann? Erzähl doch endlich!“ Cornelia ließ nur ein ungesund klingendes Husten hören, das sich für Will wie das Wort ‚Baum’ anhörte. Sie sah Cornelia verwirrt an. „Ich bin –“ Husten. „– gegen –“ Luftholen. „– einen Baum gelaufen.“ Röcheln. „Gegen den da.“ Sie hob ihre unversehrte Hand und deutete auf einen Baumstamm, dessen Rinde an einer Stelle fehlte. „Und dann gegen den.“ „Was?“ Will starrte sie ungläubig an. „Hat der Baum dich danach noch verprügelt? So siehst du nämlich aus.“ „Nein“, beharrte Cornelia verärgert. Die Atemnot hatte nachgelassen, doch ein beklemmendes Gefühl in der Brust blieb allerdings, aber das kam nicht vom Sturz. „Ich bin so schnell gerannt und es war stockdunkel, sodass ich den Baum dort übersehen hab. Ich bin mit der Schulter angestoßen, ins Taumeln geraten und dann – kabumm! – war da auch schon der nächste Baum!“ „Ich werd verrückt…“ Über ihnen zerbarst eine blaue, riesengroße Rakete, die den gesamten Wald für kurze Zeit erhellte. „Das heißt, du hast gar nichts herausgefunden? Wer es war und was er wollte?“ Sie stockte und rümpfte die Nase. „Sag mal, spinn ich, oder riecht es hier komisch?“ Nun war auch Cornelia aufmerksam geworden. „Ja, du hast Recht. Das ist mir vorhin schon aufgefallen. Irgendwie…wie in einer Autowerkstatt?“ „Nein, eher wie an einer Tankstelle.“ Sie sahen sich nachdenklich an „Wahrscheinlich sind das einfach die Raketen“, schloss Cornelia und wandte sich ihrer Hose zu. „Soll ich Hay Lin bitten, dass sie dich ins Krankenhaus bringt? Das sieht wirklich schlimm aus.“ „Nein.“ Cornelia fing an, die halb verrotteten Blätter und die Erdreste von ihrer Kleidung zu picken. Dabei verzog sie erste schmerzhaft das Gesicht und begann dann entnervt zu stöhnen. „Schau dir das an…die Hose hat mich fünfzig Dollar gekostet! Und der Poncho ist auch hinüber…denkst du, man bekommt die Erdflecken wieder raus?“ „Aus der Jacke bestimmt, aber die Hose kannst du vermutlich wegschmeißen, selbst wenn sie wieder sauber wird.“ Enttäuscht und den Tränen nahe, nun, da der erste stechende Schmerz vorüber war und der zweite, pochende und viel tiefer sitzende hervorkam, fuhr Cornelia mit zittrigen Fingern über die zerrissene Hose, unter deren Fetzen ihre Haut voller Kratzer, Schürfwunden und Blut war. „Ich glaube, du bist der einzige Mensch, der halb stirbt, wenn er gegen einen Baum läuft. Dabei ist dein Element doch die Erde.“ „Feuer!“, rief Cornelia. „Feuer?“, wiederholte Will mit hochgezogener Augenbraue. „Das war eindeutig Taranee. Es ist zwar schon fünf Jahre her, aber ich habe deutlich vor Augen wie du –“ „Himmel noch mal, Feuer!“, unterbrach Cornelia sie kreischend. Ihr Finger zeigte zum Himmel, wo wie in Zeitlupe ein Feuerball zur Erde gesaust kam. Völlig unfähig für jedwede Reaktion sahen die beiden der lodernden Kugel zu, wie sie zielgenau auf die zuflog. Sie wurde größer und größer und nach fünf Sekunden schlug sie zwei Meter neben ihnen ein. Noch immer bis zur Fassungslosigkeit irritiert wanderten ihre groß gewordenen Augen zu dem Ball, der am Ende eines langen Holzstabes flackerte und nun auf einen morschen Baumstamm übergriff. Und dann, schneller als jedes Blinzeln, befanden sich die beiden in einem wild fackelnden Feuerkreis, der sie umzingelt hatte. „Verdammt!“, schrie Will und sprang auf. „Was machen wir jetzt?“ „Keine Ahnung“, wimmerte Cornelia, „aber ich kann nicht mal aufstehen!“ „Jetzt ist keine Zeit zum Jammern, los, hoch!“ Sie versuchte, Cornelia aufzuziehen, doch diese ließ sich nicht bewegen. Starr vor Schreck saß sie da, die Augen weit aufgerissen und den züngelnden Flammen ins hungrige Antlitz blickend. „Wir sind verloren…“, hauchte sie mit wässrigen Augen. „Wir werden sterben, hörst du Will? Wir werden hier verbrennen!“ Nun hatte die Panik sie gepackt und in einen hysterischen Anfall versetzt. „Tu doch was, um Himmels Willen, mach was! Lösch es!“ „Mit was denn, hä?“ Will war etwas gefasster, doch auch sie konnte unter dem drohenden Ende nicht nachdenken. Ihre Lippen zitterten, ihre Knie wurden weich und schlussendlich fiel sie neben der kreischenden Cornelia zu Boden. Im Gegensatz zu ihr konnte sie nicht einmal einen Ton herausbringen. Das war das Ende, der Tod, niemand konnte sie mehr retten. Diese und ähnliche Gedanken waren die letzten, die sie im Angesicht des heißen Feuers dachten, welches immer engere Kreise um sie zog. Kapitel 5: A Hundred Pounds Of Water ------------------------------------ … I keep on losing more people dear to me
 with every mistake I solely made myself … F Ü N F „Wir werden sterben, oh, mein Gott, wir werden elendig verrecken! Und das nicht einmal heroisch in einem epischen Kampf um die Rettung der Welt, sondern an einer abgestürzten Rakete! Das ist nicht der Tod, den ich mir vorgestellt habe!“ Cornelia war nun endgültig in hysterische Schreikrämpfe verfallen, die Will in den Ohren dröhnten. Sie versuchte angestrengt einen Ausweg zu finden, aber die Flammen waren zu hoch, zu heiß und bereits zu weit zu ihnen vorgedrungen. „Wie verblödet müssen wir eigentlich sein? Es ist wahrscheinlich sowieso besser wenn wir von der Erde verschwinden bevor wir Erben mit unserem genetischen Material in die Welt setzen ich meine wie bescheuert kann man sein da sehen wir die brennende Rakete vom Himmel fallen und schauen ihr auch noch seelenruhig zu wie sie auf uns zufliegt lichterloh brennend anstatt dass wir wegrennen oder sonst was tun nein wir sehen ihr zu verdammt noch mal das darf nicht wahr sein!“ „Halt den Mund!“, keifte Will. „Ich möchte meine letzten Sekunden nicht mit deiner penetrant kreischenden Stimme im Ohr verbringen! Denk lieber nach, was wir jetzt machen!“ Aber sie war nicht lange sauer. Ängstlich zitternd rückten sie näher in die Mitte des Kreises. Der Schweiß lief ihnen angesichts der Hitze hinab. „Wieso brennt der Wald überhaupt? Es war doch alles gefroren und eiskalt!“, fragte sich Cornelia. „Ist doch egal, wieso wir draufgehen, wir sollten lieber zusehen, wie wir es nicht tun! Leg dich auf den Boden! Hitze steigt auf, oder?“ „Das hilft doch nichts!“, schrie Cornelia. Ihre Fingernägel gruben sich in Wills Haut und hinterließen blutige Spuren, aber diese bemerkte das überhaupt nicht. Stattdessen kauerte sie sich auf den Boden. „Es ist hier unten wirklich kälter, los, komm!“, rief Will überrascht. Sie wollte Cornelia hinab ziehen, doch sie wehrte sich. „Das liegt nicht am Boden! Hier oben wird es auch kälter!“ Dann, wie auf Knopfdruck, begann es zu regnen, als schüttete jemand einen Kübel Wasser aus. Die dicken Tropfen, die so kalt waren wie Eis, zwangen das lodernde Feuer in die Knie. Unter ihnen wurde es immer kleiner und schwächer, bis das kümmerliche letzte Flämmchen mit Zischen ausgegangen war. Sobald das Rot verloschen war, hörte auch der Regen auf. „Will! Cornelia!“, schallte es durch die Dunkelheit der Nacht. Die beiden kniffen die Augen zusammen, um die schemenhaften Gestalten erkennen zu können. „Hay Lin und…Irma?!“, rief Will ungläubig. „Was machst du denn hier?“ Freudig hievte Will ihre schweren Gliedmaßen hoch und lief auf Irma zu, doch sie wich zurück. „Ah, wehe du umarmst mich! Du bist ganz dreckig und meine Jacke ist aus echtem Leder!“ Sie lachten. Inzwischen war auch Cornelia aufgestanden und humpelte zu den anderen. „Was ist denn mit dir passiert?“ „Gestürzt“, murmelte Cornelia. Hay Lin bot ihr ihre Schulter als Stütze an. „Was machst du überhaupt hier?“ Irma biss sich auf die Lippe. „Das sollten wir nicht hier besprechen. Können wir irgendwo ungestört reden? Vorzugsweise an einem Ort mit gepolsterten Stühlen?“ „Wir könnten zu Cornelia und mir gehen. Geht das mit Eric klar, Hay Lin?“ „Natürlich.“ Eine halbe Stunde später saßen sie auf der weißen Billigcouch in Cornelias und Wills Wohnung im vierten Stock. Eric hatte sie abgesetzt und war dann gleich nach Hause gefahren, ohne weitere Fragen zu stellen. Die beiden Hausherrinnen waren frisch geduscht und ihre Wunden provisorisch versorgt, zwei Pizzas lagen vor ihnen und eine große Kanne voll frischem Kaffee stand am Wohnzimmertisch bereit. „Erst einmal“, begann Will die Fragerunde, „was machst du wieder in Heatherfield? Ich dachte, du würdest in Frankreich bleiben?“ „Ja, das wollte ich auch, aber in letzter Zeit passieren merkwürdige Dinge um mich herum.“ Sie setzte einen unheilvollen Blick auf. „Ihr wisst doch, dass ich mit Stephen ausgewandert bin. Wir sind noch immer glücklich, haben ein kleines Häuschen in L’Isle-d’Abeau nahe Lyon gekauft und uns ein wirklich tolles Leben aufgebaut. Schaut her.“ Sie zeigte ihnen ihren Finger, an dem ein silberner, dünner Ring steckte. „Wow! Ihr seid verlobt!“, freute sich Hay Lin und auch die anderen brachten Glückwünsche hervor. „Um zum Punkt zu kommen, seit einem Monat schon werde ich von einem Typen verfolgt. Anfangs war es ganz nett. Wir trafen uns zufällig beim Einkaufen, in der Videothek, im Fitnesscenter, beim Spazierengehen, im Kino, im Café, im Restaurant, in der Bibliothek-“ „Ich glaube wir haben verstanden“, unterbrach Will sie Augen verdrehend. „Aber mit der Zeit wurde es unheimlich. Zufällige Treffen schön und gut, aber das glaubt ihm doch kein Mensch mehr. Das war nervig. Besorgniserregend wurde es erst, als er Andeutungen über Dinge machte, die er nicht wissen konnte. Er machte dauernd Anspielungen auf Wasser, immer zu Wasser, Wasser, Wasser! Egal was ich sagte, er führte es auf Wasser zurück.“ „Vielleicht hat er eine Obsession oder ausgeprägte Affinität für Wasser?“, meinte Cornelia. „Nein, ich schwöre euch, es wirkte so, als wüsste er etwas“, beharrte Irma. „Aber das ist noch nicht alles.“ Mit düsterem Blick fuhr sie fort. „Vor einer Woche fing er an, über Amulette zu reden. Er zeigte mir ein Bild von einer Kette, die dem Herzen von Kandrakar zum Verwechseln ähnlich sah! Armand, so hieß er, hat mich über dieses ganze Zeug ausgequetscht, als würde er wissen, dass ich mich damit auskenne! Er wollte wissen, ob ich so etwas schon einmal gesehen habe und ob ich an andere Welten glauben würde. Dann hat er gefragt, ob ich mir manchmal wünschen würde, fliegen zu können. Außerdem hat er erzählt, dass solche Kostbarkeiten magische Fähigkeiten haben, und dass sie an geheimen Orten aufbewahrt werden, um sie vor bösen Kräften zu schützen. ‚Du siehst aus wie jemand, dem man ein solches Geheimnis anvertrauen würde’, hat er dann gesagt und mir zugezwinkert.“ „Das muss noch nichts bedeuten“, tat es Cornelia ab. „Der Kerl ist eindeutig ein Freak, der zufällig Sachen daherredet, die du so interpretierst, wie es für dich am logischsten ist.“ „Ich versichere dir, er weiß etwas!“, rief Irma verärgert über Cornelias Versuch, das alles herunterzuspielen. „Das ist auch noch nicht alles. Ich hätte nicht überstürzt meine Sachen gepackt, wenn nicht noch andere Seltsamkeiten passiert wären. Selbst wenn er etwas weiß, das kann mir egal sein, solange er mich ausfragen muss und ich nichts verrate.“ Sie nahm ein Stück Pizza und aß es mit großen Bissen in Windeseile auf. „Sag schon“, forderte Will. „Was für Seltsamkeiten?“ „Liegt das nicht auf der Hand?“, fragte Irma, ohne eine Antwort abzuwarten. „Vor drei Tagen hat die Wassergesellschaft, von der wir unser Trinkwasser beziehen, dem ganzen Ort das Trinkwasser abgestellt, weil sie Wartungsarbeiten an der südlichen Hauptleitung durchführen mussten. Wir haben das Schreiben bekommen und haben für den Tag alle unsere Nachbarn zu uns eingeladen, um die Zeit zu überbrücken, in der wir wasserlos waren. Um die Mittagszeit herum haben wir dann den Wasserhahn aufgedreht, um zu sehen, ob das Wasser wirklich tot war. Und es lief! Und unterbrich mich nicht mit deinen Herabsetzungen, Cornelia, ich bin noch nicht fertig“, mahnte sie im selben Atemzug. Cornelia hob nur abwehrend die Hände. „Jedenfalls haben alle anderen in ihren Häusern ebenfalls versucht, Wasser zu bekommen, aber im ganzen Ort hat es nicht funktioniert. Dann hat Stephen es bei uns versucht und die anderen Nachbarn auch, aber nichts kam. Keine Minute später war ich wieder dran und da lief es wieder! Und bevor Cornelia wieder Einwände hat, wir haben bei der Wassergesellschaft angerufen – sie haben das Wasser auch für unseren Haushalt gekappt. Es gibt auch keine Aufzeichnungen in ihren Systemen, dass ihr Wasser durch unsere Leitungen lief an diesem Tag!“ „Willst du damit sagen, dass du deine Kräfte wieder hast?“, fasste Will zusammen. „Wie hätte ich sonst den Regen heraufbeschwören können?“ „Natürlich!“, fiel es ihnen wie Schuppen von den Augen. „Ich war noch so geschockt, dass ich es gar nicht durchdacht habe.“ „Es ergibt alles Sinn“, gab Cornelia schließlich zu. Mit einer kleinen Handbewegung ließ sie urplötzlich eine Orchidee auf das Doppelte ihrer ursprünglichen Größe anschwellen. „Ach du grüne Neune…“ „Haha, super Wortwitz“, kommentierte Irma matt. „Das hat etwas zu bedeuten.“ „Aber wieso haben wir es nicht bemerkt?“, fragte sich Will. Irma hatte die Antwort. „Erde und Luft sind nicht gerade auffällige Elemente. Wenn plötzlich aus eurem Fußboden Pflanzen gesprossen wären, dann hättet ihr es auch bemerkt, aber so eine Pflanze ist ein eher unauffälliges Lebewesen. Und Luft sieht man nicht. Hay Lin könnte höchstens bemerkt haben, dass die Luft um sie herum sauberer ist.“ Die Begründung fand Anklang, doch nun stand man vor einem neuen Problem. „Und was machen wir jetzt?“ Hay Lin legte grübelnd den Kopf schief. Cornelia neben ihr schürzte die Lippen. „So viel zu alten Zeiten.“ Sie lachten kurz, doch das Amüsement verflog rasch. „Dass wir unsere Kräfte wieder haben bedeutet, dass wir gebraucht werden. Es gibt also eine neue Bedrohung.“ „Die Frage ist nun, wer, wieso, was und wie“, stimmte Irma zu. Cornelia verschränkte die Arme. „Im Prinzip wissen wir also nichts, bis auf die Tatsache, dass schon wieder etwas unser Leben versaut.“ „Wieso so missmutig?“, fragte Irma schelmisch. „Sie hat heute Abend geglaubt, Caleb zu sehen“, klärte Will trocken auf. Ihre Gedanken waren so tief bei dem vermeintlichen neuen Feind, dass sie jedwedes Feingefühl außen vor ließ und sich nicht daran störte, von Cornelia eine Beleidigung an den Kopf geworfen zu bekommen. „Er war da!“, rief sie aufgebracht. „Es mag sein, dass ich nicht allzu gut auf dieses Thema reagiere, aber ich bin mir sicher. Am Vierundzwanzigsten habe ich ihn auch gesehen. Er stand auf meinem Balkon.“ Irma deutete ihr schweigend den Vogel, doch sie ignorierte es. „Ich weiß, was ich gesehen habe, immerhin bin ich nicht geistig behindert. Und wenn ihr mich nun entschuldigt, ich muss morgen früh zur Therapie.“ Nun gab es für Irma kein Halten mehr. Sie prustete mit vorgehaltener Hand los und fand ihre Fassung erst wieder, nachdem Hay Lin sie mit einem dunklen Blick gestraft hatte. „Geht es ihr wirklich so schlecht damit, Will? Es sind doch schon fünf Jahre.“ Die Angesprochene seufzte resignierend. „Sie hat jede Nacht Alpträume und in letzter Zeit sind sie schlimmer geworden. Sie redet dauernd davon, dass die Träume sich komisch anfühlen und irgendwie abwegiger sind, als die anderen. In letzter Zeit weint und wimmert sie sehr viel im Schlaf. Aber sonst geht es ihr mit Abstand am besten, wenn man die letzten fünf Jahre als Maßstab nimmt.“ „Hatte sie einen Freund in letzter Zeit?“, hakte Hay Lin nach. „Nein. Nicht einmal annähernd. Am Donnerstag trifft sie sich mit einem Typen, den sie am Weihnachtsmarkt kennen gelernt hat, aber das wird vermutlich nichts, nun, da sie glaubt, Caleb überall zu sehen.“ Irma nahm das ganze nicht so eng wie die anderen und konnte nur schwer ernst bleiben. „Dann hoffen wir, dass diese Therapie Wunder vollbringt. Wenn wir wieder nach Meridian müssen, werden sie sich unweigerlich über den Weg laufen. Wäre eher uncool, wenn sie einen Weinkrampf bekommt, sobald wir kämpfen müssen.“ Will gebot ihr Einhalt. „Noch ist nicht sicher, ob es zu einem Kampf kommen wird. Es ist nicht einmal sicher, ob es überhaupt eine neue Gefahr gibt. Und ich bitte dich in aller Freundschaft, nicht so abfällig über Cornelias Gefühle zu sprechen. Du hast sie im den letzten Jahr nicht erlebt.“ Hay Lin stimmte ihr zu. „Ich glaube noch immer, dass sie füreinander bestimmt sind. Immerhin hatte sie schon Träume, bevor sie ihn überhaupt kannte. Wenn ihr mich fragt, hat das etwas zu bedeuten.“ „Klar“, sagte Irma sarkastisch. „Darum hat er auch Schluss gemacht, weil sie zu jung war. Es ist ja auch nur sie älter geworden. Nun ist der Altersunterschied nicht mehr genauso groß. Wieso heult sie ihm überhaupt noch nach? Sie war doch mit Peter glücklich.“ Will ließ sich nach hinten fallen und massierte sich die Schläfen. Auch sie war müde und abgespannt. „Das mit Peter ist ja recht schnell und schmerzlos vorüber gegangen, falls du dich erinnerst. Das hat sie gar nicht mitgenommen. Wir alle dachten, sie sei damit auch über Caleb hinweg. Aber seit Peter und sie auseinander sind, geht alles drunter und drüber. Angefangen hat es mit einem ziemlich heftigen Traum – die Szene, in der er sie verlassen hat und das auch noch detailgetreu. Das hat sie ziemlich verstört. Sie sagte, es war alles so abnormal real. Und seit dem Tag hat sie immer wieder diese furchtbaren Träume. Ich denke, es ist, weil sie eben doch nicht über ihn hinweg ist. Es war scheinbar eine zu starke Liebe oder sie sind wirklich füreinander bestimmt, so wie Hay Lin meint.“ „Du könntest ruhig etwas überzeugter klingen“, beschwerte diese sich. „Ehrlich gesagt, ich vermute, sie hat alles einfach verdrängt. Peter war eine Ablenkung, aber er konnte ihr nicht das geben, was Caleb ihr geben konnte. Und nach ihm kam alles wieder hervor.“ „Seit die Träume wieder angefangen haben ist sie immer deprimierter und stiller geworden“, setzte Will fort. „Ich kann das völlig verstehen, ich wäre auch nicht gerade glücklich, wenn ich jede Nacht sehen würde, wie Matt in den Flieger nach New York steigt, um mit seiner Band berühmt zu werden. Insofern ist es natürlich, dass sie so reagiert. Was allerdings nicht natürlich ist, ist, dass die Träume wieder angefangen haben. Anfangs dachten wir, Caleb wäre in unserer Welt oder wir würden ihn bald wiedersehen unter irgendwelchen Umständen, denn als sie vor fünf Jahren von ihm geträumt hat, war es dasselbe. Aber nichts, nada.“ „Stattdessen“, übernahm Hay Lin, „hat sie immer wieder denselben Traum, bis vor ein paar Tagen. Seit die bei diesem Dr. Blight ist, wirkt sie wieder äußerst fröhlich. Ich denke, sie kommt demnächst über ihn hinweg und diese Odyssee ist bald vorbei. Aber irgendwann werden sie doch noch zusammenkommen.“ „Wisst ihr, was ich mich frage?“, wechselte Irma das schwere Thema. „Wenn ich unbewusst Wasser beschwören konnte, was hat Taranee dann wohl abgefackelt?“ Vier Meter weiter lag Cornelia still in ihrem Bett und hatte jedes Wort der Unterhaltung durch die dünnen Wände des Neubaus durchgehört. Sie verzog beleidigt das Gesicht. Sollte Irma doch denken, was sie wollte. Wenn sie meinte, Cornelia war ein übersensibles emotionales Weichei, bitte. Sie wusste, dass sie Caleb gesehen hatte und, dass das alles kein Zufall war. Und trotzdem…wieso fiel es ihr seit ein paar Tagen so leicht, nicht an ihn zu denken? Warum hatte sie von beinahe einer Stunde auf die nächste keine Weinkrämpfe mehr, keine Panikattacken und Depressionen? Wieso dachte sie kaum noch an Caleb, außer in Momenten, in denen sie sich dazu zwang? Und wieso schwor sie, ihn zweimal gesehen zu haben, wo sie doch scheinbar über ihn hinweg war? Und was noch wichtiger war – wieso fühlte sie gerade eine zart aufkeimende Abneigung gegen ebenjenen Mann, für den sie noch vor einer Woche gestorben wäre? Fragen über Fragen, aber Antwort erhielt sie nur eine. Blight war ein Genie. Bis auf den Teil mit der Abneigung und dem völligen Vergessen war Cornelia durchaus mit seinen Ergebnissen einverstanden. Womöglich schaffte sie so ihr Ziel wirklich in vier Wochen. Der nächste Tag begann für Cornelia mit einem Frühstück in Dr. Blights Behandlungszimmer. Er hatte Gebäck, Wurst und Tee bereitgestellt und ihr die Finanzierungsmethoden erklärt. Blight arbeitete gerade an einem Buch über soziale Beziehungen und Kognitionen und bat sie um die Einwilligung, ihren Fall als große Ausnahme und Rätsel der Psychologie in einem Extrakapitel unterzubringen – Namensänderungen auf Sophie und Jake inbegriffen. Damit wäre die Sache für ihn erledigt und sie konnten zum psychologischen Teil übergehen. „Ich bat Sie, eine Geschichte auszuwählen, in der sein Name mindestens achtmal vorkommt. Sind Sie dafür bereit?“ „Ja, das bin ich.“ Und das war keine Lüge. Cornelia war überrascht, wie leicht es ihr plötzlich fiel, über das ganze Thema zu reden „Es war an Silvester vor fünf Jahren. Caleb, so hieß er, und ich waren am Oakley Hill verabredet. Wir wollten uns das Feuerwerk zusammen ansehen. Damals waren wir schon lange zusammen. Er kam aus einer…etwas anderen Familie und unsere Gepflogenheiten waren ihm nicht allzu gebräuchlich, nehme ich an. Jedenfalls kam er um eine Stunde zu spät.“ „Vergessen Sie den Namen nicht“, warf Blight ein. „Caleb kam zu spät“, wiederholte sie leichtmütig. „Das Feuerwerk war lange zu Ende, die meisten Leute schon weg und ich stand abgefroren und zitternd in der Kälte. Als er endlich kam, erklärte Caleb mir, dass er…geschäftliche Verpflichtungen gehabt hatte und fragte mich, wieso ich nicht einfach gegangen war. Ich könne mich glücklich schätzen, wenn ich nicht krank werden würde. Meine Antwort war: ‚Weil ich niemals aufgeben werde, auf dich zu warten, solange ich weiß, dass du mich liebst.’ Caleb nannte mich verantwortungslos, weil ich meinem Körper zu viel zugemutet hätte. Als ich am nächsten Tag tatsächlich eine schwere Grippe bekam, wich Caleb tagelang nicht von meiner Seite. Er fühlte sich dafür verantwortlich und wollte mir das Versprechen abnehmen, nie wieder zu warten, aber gerade das konnte ich ihm nicht schwören. Caleb, Caleb, Caleb. Damit wären wir auf acht.“ Blight klatschte anerkennend in die Hände. „Eine wunderbare Geschichte und Sie haben scheinbar genau diejenige ausgewählt, die Ihre Trauer erklärt. Sie haben ihm versprochen, zu warten. Und dieses Versprechen hat sich so tief in Ihr Unbewusstsein eingebrannt, dass Sie noch immer daran festhalten. Doch wenn Sie ehrlich zu sich selbst sind – lieben Sie ihn noch, oder vermissen Sie nur das Gefühl, geliebt zu werden?“ „Verstehen Sie mich nicht falsch“, lenkte Cornelia ein. „Ich wurde geliebt. Ein halbes Jahr, nachdem wir uns getrennt hatten, trat Peter in mein Leben. Er blieb ein Jahr lang und wir waren sehr glücklich.“ „Was lief schief?“ „Ich weiß es nicht genau. Irgendwie war die Liebe nach diesem Jahr eben erloschen“, überlegte sie. „Könnte das etwas damit zu tun haben, dass Sie Caleb und Peter miteinander verglichen und die Romanze mit ersterem sich als aufregender und dramatischer herausgestellt hatte?“ „Ich weiß es nicht“, meinte Cornelia schlicht. Blight brach ab. „Viel wichtiger ist ohnehin, wieso Sie nach fünf Jahren noch immer an Caleb hängen. Haben Sie Ideen?“ Sie zuckte mit den Schultern. „Gibt es denn unbewusst angelegte Indikatoren für die Stärke der Liebe zu ihm? Gedichte? Tagebücher? Träume?“ Cornelia wollte bereits mit der Wahrheit antworten, doch etwas hielt sie davon ab. Sie wusste nicht, wieso, aber obwohl sie Blight vertraute, gab es laut ihrem Gefühl Dinge, die sie ihm nicht erzählen sollte. „Nein. Ich denke aber nicht, dass ich ihn noch liebe. Zumindest nicht so, wie man Liebe definieren würde. Ehrlich gesagt, seit Ihre Therapie begonnen hat, denke ich weniger an ihn, als je zuvor.“ „Sie machen tatsächlich die größten Fortschritte, die ich jemals gesehen habe“, lobte Blight sie. „Doch wenn Sie wirklich ehrlich sind, lieben Sie ihn noch immer. Sie reden sich nur ein, dass er Ihnen nichts mehr bedeutet, um sich selbst zu beweisen, wie stark Sie sind.“ Doch Cornelia konnte ihm nicht zustimmen. Sie versuchte sogar im Geheimen, mit Schmerz an Caleb zu denken, an die schöne Zeit und an sein schönes Gesicht, aber ihre Gedanken wollten einfach nicht bei diesem Thema bleiben. Sie liebte ihn nicht mehr, wollte nichts mehr über ihn wissen und schon gar nicht über ihn reden. Und das innerhalb weniger Tage. Je mehr Blight ihr einzureden versuchte, dass sie ihn noch lieben würde, desto mehr war sie davon überzeugt, dass es nicht stimmte. In dieser Art ging das Gespräch weiter, bis Cornelia nach einer dreiviertel Stunde endlich wieder in ihrem Wohnzimmer saß und von Irma aufgezogen wurde. Sie berichtete Will die Ergebnisse der Sitzung, doch diese stand dem ganzen eher skeptisch gegenüber. Sie glaubte nicht daran, dass es einfach Klick machte und alles war gut. Cornelias gute Laune bereitete ihr Sorgen. Monatelange Heulkrämpfe und Depressionen waren einfach so verschwunden, nur weil so ein Typ ein wenig mit ihr plauderte? Sie konnte das nicht ganz für voll nehmen. Und dennoch war es eine Freude zu sehen, wie Cornelia von Tag zu Tag weiter aufblühte. „Wann denkt ihr, dass Taranee auftauchen wird?“, fragte Hay Lin, während sie versuchte, sich mit Cornelias Glätteisen Locken zu machen. „Sehr bald, vermute ich“, meinte Cornelia, nahm Hay Lin das Stylinggerät aus der Hand und korrigierte gewissenhaft die schiefen schwarzen Kringel auf deren Kopf. „Übrigens, ich hatte gestern schon wieder so einen seltsamen Traum.“ Will forderte sie auf, zu erzählen. „Es wird wirklich gruselig. Ich stand in meinem Pyjama im Park und auf einmal kam Caleb auf mich zu. Ich erkannte ihn nicht. Als ich ihn nicht gegrüßt habe, hat er eine Waffe genommen und wollte mich erschießen.“ „Und du redest darüber, als hättest du vom Wäschewaschen geträumt?“, stellte Will ungläubig fest. „Du machst mir Angst. Vor einer Woche wärst du völlig ausgetickt. Vor allem, wenn er dich erschießt! Mit einer Waffe! Bist du sicher, dass es eine gute Idee ist, diesen Dr. Blight weiterhin aufzusuchen?“ „Natürlich“, konterte Cornelia. „Du siehst doch, dass es hilft. Ich nehme diese kurzen Exkursionen nicht mehr ernst und das ist auch gut so. Dr. Blight hat mir schon sehr geholfen.“ Damit war das Thema für sie beendet und Will schluckte ihre Bedenken hinunter. Wenn Cornelia unbedingt daran glauben mochte, dass alles so einfach funktionierte, sollte sie. Sie würde die bittere Wahrheit sowieso noch schnell genug zu spüren bekommen. Das war alles zu einfach. Aber diese Worte blieben ungesagt. Zwei Stunden später saßen die vier in einem Restaurant und Irma erzählte, wie sie sie so schnell gefunden hatte. „Wir haben noch nie ein Oakley-Hill-Feuerwerk verpasst, also war ich mir sicher, dass ihr dort ward. Nachdem ich Hay Lin gefunden hatte, haben wir nach euch gesucht und dann haben wir von Weitem das Feuer gesehen. Wir dachten schon, Taranee wäre auch hier.“ „Da das nun geklärt wäre“, begann Will und wandte sich Cornelia zu, „ich halt das nicht aus. Du sagst mir jetzt sofort die Wahrheit.“ „Welche Wahrheit denn?“ Sie wich vor der Gabel zurück, mit der Will wild herumfuchtelte. „Was hat Blight mit dir gemacht? Es ist ja vieles normal und möglich in unserer Welt, aber seit fünf Jahren weinst du jeden Tag, bist deprimiert, leidest sogar an Depressionen, Heulkrämpfen und erklärst mir, dass du Caleb noch immer so sehr liebst. Deine Gedanken waren seit fünf Jahren jeden Tag bei ihm – stundenlang! Und nun ist alles vorbei, weil dir der Kerl sagt, du sollst damit aufhören? Ich meine, hast du etwa all die schönen Momente mit Caleb vergessen, die du hattest?“ Plötzlich spürte Cornelia einen Schlag mitten ins Gesicht. „Ja“, antwortete sie matt und von sich selbst überrascht. „Erinnerst du dich an gestern Abend? Ich hab dir erzählt, dass mir die Erinnerungen entgleiten.“ „Soll das heißen, du vergisst ihn wirklich?“, fragte Hay Lin schockiert. Cornelia nickte schwach. „Es reicht“, beschloss Will. „Du gehst ab sofort nicht mehr zu Dr. Blight. Was der Typ mit dir macht, ist wirklich nicht gut.“ „Vielleicht nicht, aber dadurch geht es mir gut!“ Energisch gestikulierte auch Cornelia mit ihrer Gabel. „Egal was er macht, mein Zustand hat sich gebessert. Ich kann wieder klar denken, ich muss nicht dauernd fürchten, in Tränen auszubrechen und, dass es so schnell ging, ist ein zusätzlicher Bonus. Er hat mir geholfen, Caleb endlich als denjenigen zu sehen, der mir das Herz gebrochen hat und ihn dementsprechend zu verachten.“ Erschrocken hielt sie die Luft an. „Hab ich das eben wirklich gesagt?“ Auch die anderen starrten sie irritiert an. „Aus, Ende, sage ich, du gehst nicht mehr dorthin und wenn ich dich mit Gewalt davon abhalten muss“, entschied Will schließlich. Endlich sah Cornelia wieder klar. „Ja. Ja, du hast Recht, ich sollte ihn nicht mehr aufsuchen.“ „Aber seltsam ist das Ganze schon“, stellte Irma fest. „Selbst wenn er der beste Psychiater der Welt ist, wie kann er das alles so schnell bewerkstelligen? Da ist doch was faul.“ „Er ist Psychologe und kein Psychiater, das ist ein grundlegender Unterschied“, verbesserte Cornelia sie. „Außerdem ist da gar nichts faul. Blight ist ein äußerst angesehener Mann, der schon einige Preise gewonnen hat und auch ziemlich bekannt ist.“ Sie hatte die Stimme erhoben und keiner wagte es, ihr zu widersprechen. Keiner, außer Irma, wie immer. „Wenn du mal genau darüber nachdenkst muss etwas faul daran sein! Ich halte sowieso nichts davon, als Frau einem Kerl nachzuheulen, der mir als Mädchen das Herz gebrochen hat, wahre Liebe ist Schwachsinn, aber nehmen wir an, das ist wirklich alles so schwierig und ernst. Wie kann ein Mann, egal wie viele Preise er gewonnen hat, einer Frau in einer Woche so viel Besserung verschaffen, die es in fünf Jahren nicht geschafft hat, dass sie zumindest nicht mehr weinen muss?“ „Indem, liebe Irma“, sagte Cornelia scharf, „besagter Mann in einer Sitzung das zentrale Problem erkannt hat und genau den Kern der Sache behandelt hat und nicht das Drumherum, so wie andere Psychologen, um abzukassieren.“ „Hört auf jetzt“, unterbrach Will. „Es ist fürs erste egal, ob Blights Methoden einwandfrei sind. Ich jedenfalls vertraue Cornelias Urteil, dass er ein rechtschaffender Mann ist.“ „Es gibt doch zweifelsohne eine neue Bedrohung“, blieb Irma stur. „Wer sagt, dass nicht er es ist?“ „Ein Professor, der seit zwanzig Jahren hier lebt und jetzt erst anfängt zu handeln? Ich denke eher nicht.“ Auch Cornelia stellte auf stur. „Ich gebe zu, das alles kommt auch mir komisch vor, aber selbst wenn etwas in Dr. Blights Praxis vonstatten gehen sollte, dann ist er nicht involviert.“ „Ich bin mir da nicht so sicher“, sagte Irma entschieden. Zwei Tische weiter sah ein junger Mann von der Speisekarte auf und verließ das Restaurant ohne bestellt zu haben durch einen Seitenausgang. Sein Haar war braun. In der Zwischengasse schloss er die Augen und war urplötzlich verschwunden. Derselbe Mann tauchte in derselben Sekunde, in er aus der Seitengasse verschwunden war, ein paar Kilometer weiter im Stadtviertel Surrey wieder auf. Er öffnete den Hintereingang des pompösen Hauses, vor das er sich teleportiert hatte. Vor ihm eröffnete sich ein vertrauter, weitläufiger Raum mit verstaubten Arztinstrumenten und einem großen Röntgenapparat. „Odin?“ Seine tiefe Stimme erklang hallend in dem verfliesten Zimmer. „Ich habe Neuigkeiten.“ „Sprich“, ertönte die rauchige, tiefe Stimme aus dem Hintergrund. Odin trat ins spärliche Licht, das durch die halb offene Türe schien. „Die Wächterinnen sind beinahe wieder vollständig. Das Wasser hat den Trug durchschaut und ist misstrauisch geworden. Das Feuer wird nicht lange auf sich warten lassen, wenn Ophra nicht vorsichtiger ist als Armand. Und selbst wenn, ihre Kräfte sind wieder erwacht. Sie werden bald wieder vereint sein.“ „Nun, dann müssen wir schnell handeln“, beschloss Odin. „Phoebe wird nicht allzu erfreut sein, wenn wir versagen.“ „Ich habe gleich gewusst, dass deine Methode nicht funktionieren wird. Sie geht zu langsam. Hast du irgendetwas erreicht?“ Der Ankömmling klang verärgert. „Noch nicht, Collin“, zischte Odin kalt. „Heute Nacht werde ich den Versuch wagen. Ich hatte ihn zwar erst für nächsten Monat vorgesehen, aber den Umständen entsprechend muss mein Plan wohl beschleunigt werden.“ „Das wäre von Vorteil. Sie beginnen, Dr. Blight zu misstrauen. Die Erde hat beschlossen, ihn nicht mehr aufzusuchen.“ „Ich verstehe, aber das wird nicht zum Problem werden.“ Odin ließ sich neben dem kaputten Röntgenapparat nieder. „Sollte mein erstes Vorhaben nicht gelingen, wird die Ihalla in den Bohnen ihr Nötiges auch alleine tun. Und in ein paar Tagen ist es dann soweit. Wann triffst du dich mit ihr?“ „Morgen Abend.“ „Gut. Du weißt, was dein Auftrag ist. Geh nun.“ Als Collin gegangen war, erhob sich Odin wieder und wanderte überlegend ein paar Schritte durch den Raum. „Mal sehen, mit welchen wunderbaren Bildern ich heute dienen kann, meine liebe Cornelia.“ Kapitel 6: The Revival ---------------------- … Still I keep running desperately
, trying to find what I had ever missed … S E C H S Cornelia wusste auf eine skurrile Art und Weise in dieser Nacht auf den dritten Jänner, dass sie träumte. Sie wälzte sich in ihrem Bett hin und her und doch war sie in ihrer jetzigen Realität kilometerweit von ihrer Wohnung entfernt. Sie befand sich außerhalb der Stadt, zusammen mit Will, Irma, Taranee und Hay Lin. Der Platz schien ihr seltsam vertraut und als Will das Herz Kandrakars von ihrem Hals nahm, erkannte sie die Szene: Sie fünf, verwandelt und am Ufer des breiten Flusses außerhalb von Heatherfield stehend. „Okay“, rief Irma. Sie hob die Hand. Das Wasser fing an, leicht zu vibrieren, dann strömte es, wie an einem dünnen Faden gespalten, auseinander, sodass sich ein Gang bildete, der etliche Meter tief hineinging. „Alles klar, aber macht schnell.“ Die anderen nickten. Will zog aus ihrem Rucksack eine mit Ornamenten verzierte Holzkiste, in die sie das Herz von Kandrakar legte und sorgsam verschloss. „Auf geht’s, beeilen wir uns.“ Sie flog den nassen Erdhang hinunter, Cornelia und Hay Lin folgten ihr. Es war ein beeindruckendes Bild, das sich ihnen bot: Auf drei Seiten von meterhohem Wasser eingezäunt, links und rechts schwammen große und kleine Fische. Doch nun hatten sie keine Zeit, die Aussicht zu bewundern. Will übergab Hay Lin die Holzkiste und diese umfasste sie mit einer Luftblase. „Cornelia, du bist dran“, befahl Will. „Wie tief?“ „So tief du kannst.“ „Na toll, das ist wirklich ekelhaft“, meckerte sie. Trotzdem landete sie sofort auf dem matschigen Grund und legte ihre sauber manikürte Hand auf den Schlamm. Um ihre Hand stob plötzlich der Boden auseinander und bildete ein tiefes, schwarzes Loch. „Das dürften etwa fünfzehn Meter sein. Mehr geht nicht.“ „Perfekt.“ Will nickte Hay Lin zu, welche die Luftblase mit eleganten Fingerbewegungen in das Loch schweben ließ. Es dauerte etwa eine halbe Minute, bis die Kiste unten war. „Du kannst zumachen.“ Cornelia schloss den Erdspalt und sie schossen mit schnellen Flügelschlägen über die Wasserwände hinaus. Gerade, als sie außer Gefahr waren, brach der Wall zu beiden Seiten zusammen und versiegelte die Kette in der Kiste in der Blase in dem Loch unter tausenden Litern Wasser. Die Mädchen spürten nur noch, wie ein Teil ihrer Kraft entwich, dann fanden sich Will, Cornelia und Hay Lin im freien Fall direkt in den Fluss wieder. „Konntest du nicht zwei Minuten warten?“, raunte Cornelia. Wütend wischte sie sich die nassen Strähnen aus dem Gesicht und folgte den anderen zum Ufer. „Tut mir leid, Miss Zimperlich, aber weißt du, wie schwer das ganze Wasser ist? Ich bin froh, dass ich euch nicht darunter begraben habe!“ „Jetzt hört doch endlich auf zu streiten!“, ging Will dazwischen. „Das ist ein denkwürdiger Augenblick, also führt euch das mal zu Gemüte. Wir sind ab heute keine Wächterinnen mehr. Unsere Kräfte sind mit dieser Minute erloschen. Hoffen wir, dass wir die letzten unserer Sorte waren.“ „Ein Jahr haben wir gegen das Böse gekämpft und jetzt ist alles vorbei“, meinte Taranee wehmütig. „Wir haben wieder ein Leben. – Hey, was macht er hier?“ Sie deutete auf einen großgewachsenen Mann mit khakifarbenem Mantel, der sich im Schatten des großen Abflussrohres versteckt hatte. „Caleb?“, rief Cornelia überrascht. Was machte er hier? Hatte er etwa alles bemerkt? Was würde das für sie bedeuten? Niemand durfte wissen, wo sich das Herz von Kandrakar befand! Er fuhr auf und wollte wegrennen, doch Cornelia sprintete schon los und warf ihn zu Boden. Als ihre beiden Körper auf dem Gras landeten, verzerrte sich die Welt plötzlich. Nein, es war nicht die Welt, es war Calebs Gesicht! Besser gesagt, es war sein Gesicht gewesen. Wo vorhin Caleb unter ihr gelegen hatte, befand sich nun eine überdimensionale, schuppige Kreatur, die keinerlei Ähnlichkeiten mit irgendetwas hatte. Das Wesen starrte sie aus feuchten, seelenlosen Augen an, dann packte es sie an der Hüfte und hob sie hoch. Noch ehe sie reagieren konnte, schlug der glatte, graue Schwanz aus und traf sie mit so einer solchen Wucht in den Magen, dass sie hustend durch die Luft flog und gegen die Steinwände der Pipeline krachte. Als sie die Augen öffnete, traute sie ihnen kaum. Ihre Freundinnen waren weg und auch die Umgebung hatte sich verändert. Wo vorhin noch ein Fluss gewesen war, prunkte nun ein riesengroßes, verlassenes Schloss. Die Kulisse kam ihr so vertraut vor. Das war eindeutig… „Meridian!“, keuchte sie, die Augen wieder zugekniffen angesichts des Schmerzes. „Aber…wie?“ Die Kreatur war inzwischen längst verschwunden und Cornelia rappelte sich wieder auf. Dann beschlich sie wieder dieses skurrile Gefühl, dass es nur ein Traum war und im selben Augenblick, in dem die Erleichterung ihr Herz erfasste, wurde ihr schlagartig etwas Schreckliches klar. Sie musste aufwachen, und zwar schnell! „Mist, irgendwie muss ich hier rauskommen!“ Hektisch sah sie sich um, doch das Schloss war zu weit weg und um sie herum war nichts als schlammige Pfützen und eine Schlucht. „Wieso nicht…? Hoffentlich ist das wirklich nur ein Traum.“ Das erste Mal in ihrem Leben betend, lief sie so schnell sie konnte auf die Klippe zu. Es würden viele, viele Meter werden, bis ihr Körper aufschlagen würde, aber sie sah keinen anderen Ausweg. Die wenigen Sekunden nach dem kraftvollen Sprung waren die schlimmsten ihres Lebens. In Todesangst versuchte sie noch einmal nachzuvollziehen, wieso sie gesprungen war. Wenn man im Traum stirbt, wacht man auf, sagte sie sich schnell im Kopf vor und sie hoffte inständig, dass es tatsächlich stimmte, sonst würde das ein äußerst unangenehmes Erwachen geben. Und dann war der Boden auch schon da. „Aaah!“, kreischte Cornelia und fuhr auf. Ihr Herz raste, Schweiß rann ihr die Stirn hinab, ihr Körper zitterte wegen der Anspannung, unter der ihre Muskeln gestanden hatten. Prüfend tastete sie mit den Handflächen ihren Körper ab. „Alles noch dran“, stellte sie erleichtert fest. Dann stürmte sie aus ihrem Zimmer, warf Irma von der Couch und Will aus ihrem Bett. „Wasn loos?“, murmelte letztere verschlafen. Sie kniff die Augen zusammen, als Cornelia das Licht anmachte. „Ah, was soll das denn jetzt?“ „Wir müssen das Herz von Kandrakar holen!“, rief Cornelia. „Los!“ Grob zerrte sie die Verschlafenen aus deren Nachtlager. „Würdest du uns bitte erklären, was das soll?“, forderte Irma, als sie bereits auf der nächtlichen Straße entlangliefen. Cornelia erzählte keuchend von ihrem Traum und setzte dann noch nach: „Ich habe in einer Bibliothek von Meridian einmal von Traumwandlern gelesen. Sie können sich in das Unbewusstsein von Menschen einschleichen und Erinnerungen wachrufen oder Träume produzieren. In meinem Traum war so ein komisches Vieh, das wie ein Traumwandler aussah. Ich wette, er hat im Auftrag von jemand anderem unsere Träume durchforstet, um das Herz von Kandrakar zu finden! Das ist die neue Bedrohung! Taxi!“ Der gelbe Wagen hielt quietschend. „Zur alten Kläranlage.“ Die nächsten Minuten waren zum Zerreißen gespannt. Sie durften vor dem Taxifahrer nicht über diese Seltsamkeiten sprechen, also schwiegen sie. Auch er schien sich sichtlich unwohl zu fühlen. „Sind das Freunde von euch?“ Er deutete nach hinten. „Die fahren uns schon seit drei Blocks hinterher.“ Die drei wandten den Blick aus der Heckscheibe. „Hay Lin hat ihr eigenes Auto, sie kann es nicht sein“, meinte Will. „Egal, um das können wir uns später kümmern. Los, geben Sie schon Gas!“ „Seid ihr Geheimagenten oder so was in der Art? Mann, oh, Mann, ich hasse Nachtdienste“, murmelte der Fahrer, trat aber trotzdem das Gaspedal durch. So kamen sie in Windeseile zur Lindley Avenue, einer kleinen Querstraße der Schnellstraße, über die seit Jahren kein Auto mehr gefahren war. Cornelia kramte aus ihrem Portemonnaie das letzte Kleingeld heraus, das sie besaß und gab dem Taxifahrer dabei fünf Dollar zu wenig. Doch ehe er Einspruch erheben konnte, waren die Passagiere bereits aus dem Wagen gesprungen und im Sprintschritt über das alte Gelände der Kläranlage gelaufen. Müde den Kopf schüttelnd warf er den Rückwärtsgang ein und erhaschte im Umdrehen einen kurzen Blick auf das zweite Taxi, welches sie die ganze Zeit verfolgt hatte. Die Scheiben spiegelten die Lichtkegel der Scheinwerfer so grell wieder, dass er die Konturen des Mannes nur verschwommen sah, als er aus dem Wagen stieg. Will, Irma und Cornelia standen zögernd vor dem breiten Fluss an der Lindley Avenue. „War es hier?“, fragte Irma. „Ich glaube, ein paar Meter weiter rechts, oder?“, korrigierte Will. „War es nicht eher dort drüben?“, schlug Cornelia vor. „In meinem Traum war es etwas weiter links vom Rohr.“ „Hmm…ohne das Herz von Kandrakar habe ich ohnehin nicht genügend Kraft, um das Wasser zu teilen. Außerdem sind wir nur drei von fünf.“ „Ja, aber ohne Kräfte kommen wir nicht an das Herz“, erklärte Will. „Eine Zwickmühle.“ „Wir könnten tauchen?“ Die anderen beiden sahen Cornelia ungläubig an. Irma schüttelte den Kopf. „Da geht’s acht Meter runter, so tief kann ich nicht tauchen. Und dann haben wir immer noch das Problem, dass die Kiste einige Meter unter der Erde ist. In einer Luftblase, die nur Hay Lin aufbekommt.“ „Sollten wir sie holen?“ „Zwecklos, wir kriegen das Ding sowieso nicht rauf.“ Will legte den Kopf in den Nacken und die Fingerspitzen ans Kinn. „Aber wir müssen das Herz raufholen. Wenn Cornelias Traum wirklich von einem Traumwandler infiltriert wurde, dann weiß er jetzt, wo das Herz von Kandrakar ist und wird nicht lange zögern, bis er es sich holt. Ohne verstärkte Kräfte können wir ihn sicherlich nicht besiegen.“ „Schön und gut“, meinte Cornelia trocken. „Aber darf ich dich daran erinnern, dass wir ohne unsere verstärkten Kräfte ebenfalls nicht rankommen?“ „Vielleicht hilft eine Zauberformel?“, überlegte Will, den Blick auf die glatte Wasseroberfläche gerichtet. Cornelia stemme die Hände in die Hüften. „Ja, na klar“, spottete sie. „So etwas wie: Oh, Herz von Kandrakar, tauch auf, denn es gibt eine neue Bedrohung und wir Wächterinnen waren so dumm und haben dich so tief vergraben, dass wir selbst nicht mehr rankommen? Ich bitte dich, das ist doch lächerli-“ Plötzlich rumorte die Erde, auf der sie standen. Auf der vorhin noch wellenlosen Wasserfläche tat sich ein tosender Strudel auf, aus dessen Auge ein heller Lichtstrahl die Dunkelheit erleuchtete. Wie in Zeitlupe kam eine Kiste herauf geschwebt, frei von jedweder Barriere, die sie ihr vor Jahren auferlegt hatten. Die Truhe blieb ein paar Sekunden vor den sprachlosen Frauen in der Luft stehen, dann schoss sie mit einem Zischen über die Wasseroberfläche auf die Wächterinnen zu. „Fang sie auf!“, kreischte Will und riss Irma mit sich zu Boden. Cornelia, starr vor Schreck, reagierte nicht schnell genug. Die Kiste traf sie mitten in den Bauch und warf sie mit einem Knall rücklings auf das kalte Gras. „Aaah“, stöhnte sie und hielt sich die Hände vor den Bauch. „Wieso immer ich?“ Die Kiste erhob sich nun wieder von Cornelias Körper, schnappte auf und schoss die darin versiegelte Kette in Wills Hände. Nachdem das Herz wieder im Besitz seiner rechtmäßigen Trägerin war, verlor die Kiste die Fähigkeit zu schweben und stürzte polternd auf Cornelia hinab, die sich reflexartig zur Seite rollte. „Das ist so unfair“, ächzte sie und rappelte sich mühsam wieder auf. „Nein, bitte, helft mir nicht, ich habe ja auch keine Schmerzen mehr, weil ich vorgestern eine Kollision mit zwei Bäumen hatte. Aua.“ Doch niemand reagierte auf ihr Gezeter. „Wow, ich dachte nicht, dass es so gut funktioniert“, staunte Will nur und Irma pflichtete ihr bei. „Da das also geklärt wäre, sollten wir Taranee anrufen. Es wird Zeit für ein Revival der Wächterinnen!“ „Wartet!“, hielt Cornelia sie zurück. Sie trat näher an ihre Freundinnen heran und senkte die Stimme. „Der Traumwandler ist sicherlich hier und hat uns beobachtet. Wir sollten die Umgebung absuchen.“ „Nicht nötig“, wandte Irma ein und deutete an Cornelias Ohr vorbei zu der großen Pipeline. „Da!“ Im schützenden Schatten stand jemand, genau dort, wo Cornelia ihn in ihrem Traum auch gesehen hatte. Ohne zu überlegen, spurtete sie los, aber der Mann war bereits mit schnellen Schritten losgelaufen. Hinter ihr aktivierte Will das Herz von Kandrakar. „Wächterinnen, seid vereint!“, rief sie und ein lange nicht mehr gefühlter Strom von Energie und Kraft durchfuhr die Körper der Mädchen. Im Laufen verwandelte sich Cornelia und plötzlich flog sie schwerelos und kontrolliert, als ob sie die letzten Jahre nichts anderes gemacht hatte. Nun hatte der Beobachter keine Chance mehr. Viel schneller als sie es in Erinnerung hatte, flatterten ihre Flügel und trugen sie so rasch zu dem Flüchtigen, dass sie nicht mehr bremsen konnte, als sie ihn erreicht hatte. Mit ausgestreckten Armen umfasste sie seinen Brustkorb und warf ihn zu Boden. Doch er hatte ihre Handgelenkte umfasst und riss sie mit. Durch den Schwung des Stoßes und die enorme Geschwindigkeit, kullerten sie beide einige Meter über die Wiese, ehe sie zum Stillstand kamen. Cornelia lag unten, das Gesicht des Mannes knapp über ihrem. Er hatte ihre Handgelenkte gegen den Boden gepresst, saß auf ihr und blickte sie aus grauen Augen an. Braune Haare, graue Augen und dieser khakifarbene Umhang – unverkennbar. Doch Cornelia ließ die Niederlage nicht auf sich sitzen. Sie zog ihr Knie an, stemmte es Caleb in den Rücken, setzte das zweite Knie nach und warf ihn kopfüber ihren eigenen Körper. Die zwei Jahre Kampfsport hatten also doch Spuren hinterlassen! Blitzschnell rollte sie sich zur Seite und warf sich auf ihn, um ihn an der Flucht zu hindern. Doch es war unnötig, er leistete keinerlei Widerstand. „Odin!“ „Was ist los? Du störst meinen Schlaf.“ Hätten Blicke töten können, der eben angekommene Collin wäre längst im Jenseits gewesen. „Wehe dir, wenn es nichts Wichtiges ist.“ Doch auch Collins Blick verriet eine unausgesprochene Verärgerung. „Du hattest die Aufgabe, Caleb unschädlich zu machen! Und nun gehe ich die Straßen entlang und sehe ihn munter und eindeutig lebendig in ein Taxi springen!“ „Das ist nicht möglich“, erwiderte Odin, doch seine Besorgnis war erweckt worden. „Ich habe mich ausreichend um die Sache gekümmert.“ „Anscheinend ist ausreichend aber nicht ausreichend! Du hättest es sehr gut machen sollen, dann hätten wir jetzt nicht das Problem, dass er den Wächterinnen alles brühwarm auf die Nase bindet!“, fuhr Collin ihn an. „Beruhige dich, es verläuft alles nach Plan“. Odin erhob sich aus seinem pompösen Sessel. „Ich habe dir gesagt, ich würde ihn unschädlich machen. Eben das habe ich getan. Die Ihallasporen haben eine hübsche kleine Nebenwirkung. Vermischt man die Tropfen mit ein paar pulverisierten Sachimsamen, können sie Gefühle ins Gegenteil umkehren.“ „Unser Auftrag lautete, ihn zu töten“, wiederholte Collin. „Stattdessen vergiftest du das Mädchen. Ich frage dich nun, was nützt uns das?“ „Du wirst es schon erfahren, wenn es soweit ist. Mein Plan reicht viel weiter, als du denken kannst.“ Odin setzte sich wieder hin und schloss die Augen. „Du hast den Auftrag auf deine Art und Weise begonnen und bist gescheitert. Das Feuer hat ihn nicht erwischt und Cornelia hat dich versetzt. Nun lassen wir deine aggressive Art außen vor und gehen das ganze taktisch an. Und jetzt lass mich schlafen.“ „Zeig dein wahres Gesicht, Traumwandler!“, keifte Cornelia. Inzwischen hatten Will und Irma sie eingeholt. „Cornelia, ich –“ Aber sie ließ ihm keine Chance, zu antworten. „Los, gib dich zu erkennen!“ Will war die erste, die erkannte, was hier wirklich lief. Sie nickte Irma zu und zusammen zogen sie Cornelia von Caleb herunter, was sich als ziemlich schwierig gestaltete. „Lasst mich los! Er ist der Feind, er ist es!“ „Cornelia, halt die Klappe!“, schrie Will. Mit verschränkten Armen trat sie an Caleb heran, der immer noch flach auf den Rücken lag. Skeptisch sah sie auf ihn herab, während Irma Cornelia davon abhielt, erneut auf Caleb loszugehen. „Hm. Schwierig zu sagen, ob es der echte ist oder nicht.“ Sie stupste ihn mit der Schuhspitze an. Als Cornelia diese Worte erreichten, hielt sie inne. Ein Gefühlschaos brach in ihr aus, das sich hinter den glasigen blauen Augen abspielte. Echt? Sie hatte nicht einen Moment daran gezweifelt, dass Caleb eine Fälschung war, ein Trugbild, wie in ihrem Traum. Doch sollte es nun so sein, dass der echte Caleb vor ihr lag? Mit zitternden Lippen versuchte sie, Ordnung in die vielen Emotionen zu bringen, die über sie hereinbrachen. Da waren Schmerz, Unsicherheit, Schüchternheit, Ratlosigkeit, Unmut, Ärger, aber was sie irritierte war, dass sie keinerlei positive Gefühle verspürte. Keine Freude, Hoffnung, Zuneigung und auch keine Liebe. Sie hatte in den letzten fünf Jahren so viele Gedanken daran verbraucht, wie sie reagieren würde, wenn Caleb ihr gegenüberstehen würde. Alle möglichen Situationen hatte sie durchgespielt, aber nun, da es soweit war, hatte sie nicht mit dieser Möglichkeit gerechnet. „Cornelia? Hey, wo gehst du hin?“ Tonlos hatte sie sich umgedreht, Caleb den Rücken zugewandt und ging nun langsamen Schrittes davon, noch immer von einer Taubheit befallen, die sie sich nicht erklären konnte. „Hast du eine Ahnung, was mit ihr los ist?“ Will schüttelte den Kopf. Indes hievte sich der lädierte, echte Caleb auf. Er hatte sich kaum verändert. Beinahe dieselbe Kleidung, dieselben Gesichtszüge, denselben Ausdruck in den Augen. „Ich denke, du hast uns einiges zu erklären.“ „Das hat ja alles geklappt wie am Schnürchen“, kicherte ein junger Mann. Sein langes schwarzes Haar hob sich kaum von der Dunkelheit ab und auch sein Versteck hinter einem zerschlagenen Fenster der alten Kläranlage bot ihm perfekten Schutz. Er strich sich mit seinen Fingerkuppen sanft über die Lippen und zog danach mit selbigen ein Mobiltelefon aus der Jackentasche. „Armand?“, fragte dieselbe rauchige, dunkle Stimme, die vorhin schon Collin geantwortet hatte. „Was hast du für Neuigkeiten?“ „Die Zielperson ist auf die Wächterinnen getroffen. Wie viel hast du von den Ihalla verabreicht?“ „Zehn Gramm in einem halben Kilo. Wie macht sie sich?“ „Besser, als gedacht. Sie hat ihn für einen Traumwandler gehalten. Denkst du nicht, dass es eine unsichere Sache ist, sie selbstständig handeln zu lassen? Wer versichert uns, dass sie den Kaffee regelmäßig trinkt?“ „Die Monotonie der Menschheit“, sagte Odin. „Ich habe sie beobachtet. Jeden Morgen trinkt sie eine Tasse Kaffee. Ausnahmslos.“ „Hm“, machte Armand. Er schien nicht richtig überzeugt. „Es ist immerhin dein Auftrag, Odin.“ „Wieso unterschätzt bloß jeder die Macht von ein paar winzigen Samen ?“, fragte er rhetorisch, ohne dass ihn der Zweifel seiner Handlanger tatsächlich berührte. „Sie hat dem lieben Dr. Blight erzählt, dass sie den Kaffee gerne trinkt. Und ich habe sie beobachtet, als sie es wirklich tat. Du solltest nicht an meinen Methoden zweifeln, zumal du selbst deinen Auftrag vermasselt hat.“ Armand überging die Bemerkung mit einem Zischen. „Hiermit ist meine Aufgabe erledigt. Ich ziehe mich zurück. Solltest du mich noch brauchen, weißt du ja, wo du mich findest.“ Er legte auf und im nächsten Moment verschwand er durch ein Portal. „Ich werde mich auf keinen Fall im selben Raum aufhalten wie er.“ Zwanzig Minuten später und etliche Kilometer weiter stand Cornelia mit verschränkten Armen vor dem Chinarestaurant an der zweiten Ecke Main Street und weigerte sich, durch die Türe hindurch zu gehen. „Ist das dein Ernst? Du möchtest lieber in deinem dünnen Seidennachthemd in der Kälte stehen, mit nichts als einer Jacke, anstatt da drinnen eine warme Nudelsuppe zu essen? Komm schon!“ Will legte ihre Hand auf Cornelias Arm, doch diese dachte nicht einmal im Traum daran, die Verschränkung zu lösen und ihre Barrikade aufzugeben. „Wir haben Hay Lin um ein Uhr nachts aus dem Bett geklingelt und sie hierher geschleppt, wir haben ihre Großmutter aufgescheucht und schlussendlich haben wir auch noch Taranee mit unserem Anruf so dermaßen in Panik versetzt, dass sie vermutlich einen Autounfall haben wird, weil sie so aufgeregt ist. Und jetzt bist du, gerade diejenige, die immer die Besonnenste und Erwachsenste von uns war, so stur und möchtest allen Ernstes nicht da reingehen, weil ebenjener Mann dort steht, den du noch immer liebst? Ich möchte ja nichts verschreien, aber das könnte eine neue Chance sein!“ Cornelia verzog nur den Mund. „Das ist keine neue Chance. Er kann mir von mir aus sonst wo runterrutschen – ich möchte ihn nicht sehen. Blight hat mir endlich geholfen, ihn nicht mehr zu lieben, da mache ich mir diesen Erfolg doch nicht kaputt!“ „Arrgh…“, stöhnte Will. Sie fuhr sich genervt durch die Haare. „Schau, hör zu und pass auf. Wir haben die Akte Blight bereits besprochen und seine Methoden als unzulänglich erachtet. Außerdem kannst du kaum behaupten, ihn nicht mehr zu lieben, wenn du bei seinem bloßen Anblick Herzklopfen bekommst! Richtig?“ Cornelia fühlte sich ertappt, doch sie blieb stur. „Ist mir egal! Ich gehe jedenfalls kein Risiko ein.“ „Rein verdammt!“ Mit Gewalt riss Will die Türe auf und stieß Cornelia hinein. „Von mir aus, aber ich spreche kein Wort mit ihm!“ Als Will den Blick von ihr abwandte, drehte sie jedoch schon wieder um. „Du bleibst hier! Stell dich nicht an wie ein Kleinkind! Los, gib mir deine Jacke.“ Cornelia tat, wie ihr geheißen, auch wenn ihr nicht ganz wohl dabei war, in einem kurzen, recht betonenden blauen Zweiteiler vor demjenigen zu stehen, der sie nur als Mädchen kannte – was sie nun eindeutig nicht mehr war. Caleb schien gerade genau das zu bemerken, doch er wandte der Höflichkeit halber den Blick ab, als Cornelia an ihm vorbeiging, um sich zu den anderen zu setzen, die ebenfalls im Nachtgewand versammelt um den Tisch saßen. „Ich komme mir mies vor“, raunte Hay Lin. Ihr Kopf rutschte von ihrer Handfläche ab und knallte fast gegen den Tisch. Sie musterte Cornelias Pyjama und sah dann auf ihr eigenes Baumwollhemd hinab, auf dessen Front Harvard stand. „Sagt mir das nächste Mal, dass es einen Dresscode gibt!“ „Willst du nun wirklich darüber diskutieren, dass Cornelia wie frisch aus dem Ei gepellt aussieht, obwohl sie sich im Dreck gesuhlt hat?“, fragte Irma missmutig. „Das ist doch eh nichts Neues. Gehen wir zu den wichtigen Dingen über.“ Cornelia überging die erste Bemerkung. „Du meinst, was er hier macht?“ Sie war über ihren eigenen abfälligen Ton überrascht, ließ sich jedoch nichts anmerken. Auch die anderen taten so, als hätten sie es nicht bemerkt. „Ich meinte eher, wer uns umbringen will – mal wieder“, meinte Irma mit genervtem Unterton. „Langsam wird das ganze nämlich echt langweilig. Ich habe Stephen gesagt, dass ich in ein paar Tagen wiederkomme!“ „Dann ruf an und sag ihm, dass es noch dauern wird?“, schlug Cornelia nicht minder genervt vor. „Das ist wohl derzeit unser geringstes Problem.“ Irma murmelte eine Beleidigung vor sich hin, doch auch diese wurde mit unangenehmem Schweigen übergangen. Glücklicherweise kam Mrs. Lin in den Essbereich und setzte sich zu ihnen an den ungedeckten Tisch. „Wie ihr sicherlich bereits herausgefunden habt, haben sich eure Kräfte reaktiviert.“ Einstimmiges Stöhnen. „Ein wenig mehr Begeisterung bitte, Mädchen!“, forderte Mrs. Lin, aber die Motivation ließ angesichts der müden Mienen zu wünschen übrig. „Jaah, wir sind alle total begeistert“, raunte Cornelia und überschlug die schlanken, nackten Beine. „Was gibt es Schöneres, als um halb zwei in einem Chinarestaurant zu sitzen, festzustellen, dass alle alten Probleme wieder da sind“ – sie warf einen bösen Seitenblick auf Caleb – „und auch noch neue Sorgen zu haben, zusätzlich zu den anderen, die man als Erwachsener sowieso schon hat! Ich brauche bis Ende des Monats noch ein Konzept für meine Diplomarbeit, damit mir niemand das Thema wegschnappt, außerdem habe ich in drei Wochen eine äußerst wichtige Prüfung über psychometrische Intelligenztheorien und eine über Entwicklungstheorien! Ich habe keine Zeit, mich wieder mit Riesenechsen und verrückten Weibern herumzuschlagen, die gibt es auf der Uni nämlich zu Genüge – zumindest die verrückten Weiber.“ „Komm mal wieder runter, Prinzessin“, winkte Irma ab. „Wir wissen alle, was für ein stressiges Leben du hast.“ Sie verdrehte die Augen. „Hört auf jetzt, alle beide!“, ging Will dazwischen. Sie wandte sich Mrs. Lin zu, die amüsiert den Schlagabtausch beobachtet hatte. „Unser primäres Problem ist, dass wir keine Ahnung haben, was hier eigentlich los ist. Wissen Sie etwas, Mrs. Lin?“ „Ich dachte schon, du würdest nie fragen, Will“, schmunzelte die Alte. Sie ließ sich neben ihrer Enkelin nieder. „Ihr habt recht, Wächterinnen. Es ist eine neue Bedrohung aufgetaucht. Wer sie ist und was sie vorhat, liegt außerhalb meiner Erkenntnis, doch ich bin sicher, sobald Caleb seine Informationen mit uns geteilt hat, werde ich euch ein paar Geschichten erzählen können, die euch sicherlich helfen werden.“ Alle Blicke – außer Cornelias – wandten sich Caleb zu, der stumm an der Wand gelehnt dastand. „Du bist uns wirklich eine Erklärung schuldig, Caleb“, sagte Will streng. „Wir hören?“ Nachdenklich und mit ernstem Blick stieß er sich von der Wand ab und machte einen Schritt auf die Wächterinnen zu. Er vermied es sichtlich, Cornelia anzusehen. „Ich hatte gar nicht vor, euch mein Wissen vorzuenthalten. Doch es wird euch nicht gefallen.“ Kapitel 7: The Other Sister --------------------------- … 
It's always like together we can overcome everything
 … S I E B E N „Schieß los, wir sind ganz Ohr“, forderte Will in reserviertem Ton. Sie waren alle sichtlich schlecht auf Caleb zu sprechen, doch dieser ließ sich davon nicht beirren. „Um euch zu erklären, was es mit dem Ganzen auf sich hat, muss ich etwas weiter ausholen.“ „Tu dir keinen Zwang an“, murmelte Cornelia verstimmt. Caleb ignorierte auch diese Bemerkung. „Vor fünf Jahren, als ich auf Elyons Bitten hin bei ihr am Hofe blieb, war mein Aufenthalt nur von kurzer Dauer. Mein Freiheitsdrang und meine Abenteuerlaune vertrugen sich nicht mit der gesetzten Etikette des Palastarrangements. Ich bat Elyon, mich freizustellen, und mich meine Wege gehen zu lassen. Sie gewährte mir diesen Wunsch. Von da an streifte ich ziellos durch die Wälder und Städte Meridians, um eine Aufgabe für mich zu finden. Ich weilte nie lange an einem Ort, obgleich ich wunderschöne Landschaften entdeckte, in denen ich mich gerne niedergelassen hätte. Auf meinen Reisen kamen mir viele Gerüchte zu Ohren – dass es neue Wächterinnen gäbe, dass es Männer sein sollten, dass in der Stadt grüner Regen vom Himmel gefallen wäre, und dass Phobos eine zweite Schwester hinterlassen haben soll; unglaubwürdiges Gerede der Leute. Doch insbesondere das letzte Gerücht kam mir öfters zu Ohren denn die anderen. Dass Phobos tatsächlich eine zweite Schwester haben soll, wurde mit jedem Tag wahrscheinlicher. Sie sei schöner als jedes menschliche und nichtmenschliche Wesen, stärker als die jüngere Schwester und besessen davon, Meridian zu beherrschen und somit Elyon vom Thron zu stürzen.“ „Schwachsinn, wenn ihr mich fragt“, warf Irma ein. Sie lehnte sich gelangweilt zurück und hob skeptisch die Augenbraue. „Ich glaube das auch nicht“, stimmte Cornelia zu. „Wenn er noch eine Schwester hätte und sie dasselbe Ziel verfolgt wie er es einst getan hat, hätten sie gemeinsame Sache gemacht.“ „Eben weil sie dasselbe Ziel hatten, stellte sie die größte Bedrohung für ihn dar“, unterbrach Caleb. „Überlegt doch mal. Phobos strebte nach Macht und zwar nach der absoluten, nach der alleinigen. Eine Schwester, die eben das genauso wollte, hätte entweder seine Pläne vereitelt, um selbst die Alleinherrschaft zu erlangen, oder er hätte diese mit ihr auf Basis einer Regentschaft teilen müssen. Aufgrund dessen raubte er ihre Kräfte und versiegelte sie in einem Berg, fernab jedweder Zivilisation. Neunzehn Jahre lang suchte Phoebe nach einem Weg, ihre Macht wieder zu erlangen und nun hat sie sie endlich wieder.“ „Wer glaubt denn so einen Blödsinn?“, rief Irma. Mrs. Lin übernahm es, für Caleb zu antworten. „Das Gerücht, dass Phobos eine zweite Schwester haben soll, hält sich hartnäckig seit vielen, vielen Jahren. Es gibt eine Geschichte, nach der, als Phobos und Phoebe als Zwillinge geboren wurden, die Kräfte der beiden zusammen so stark waren, dass sie durch viele hundert Kilometer voneinander getrennt aufgezogen werden mussten. Der hohe Rat des Königreiches erkannte die Gefahr und beschloss, dass nur einer der beiden in Meridian bleiben konnte, aus Angst, die beiden könnten gemeinsam zu stark werden und das Gleichgewicht der Welt stürzen. Phoebe, mit der Schönheit einer Göttin gesegnet, sollte niemals erfahren, dass sie die Prinzessin war. Doch wie der Zufall spielte, drang das sorgsam gehütete Geheimnis als Gerücht bis an die verwinkeltsten, abgelegensten Orte. So auch nach Sinistra, einem kleinen Landstrich am Rande des Königreichs, wo Phoebe in Frieden mit sich lebte. Sie war sechzehn Jahre alt, als die Lüge aufflog und damals waren ihre Kräfte bereits sehr groß. Sie sah nicht ein, wieso ihr Zwillingsbruder Phobos in Saus und Braus in einem Schloss leben durfte und sie selbst, ihrer Meinung nach zu einer Königin geboren, ihr Dasein als armes Bauernmädchen fristen musste. Zu dieser Zeit dachte sie nicht daran, Herrscherin zu werden. Sie wollte nur den Wohlstand, der ihr zustand. Doch als sie die schwere Reise zum Schloss geschafft hatte und ihr Bruder bereits die Macht an sich gerissen hatte, wuchs die Gier nach ebendieser Macht. Sie, vom Wesen her gerissener und hinterlistiger als Phobos, schaffte es, unbemerkt ins Schloss zu gelangen und ihn fast zu töten. Der verunglückte Anschlag zeigte Phobos auf, zu was Phoebe fähig war und so beschloss er kurzerhand, ihre Fähigkeiten zu rauben, zu versiegeln und sie als gewöhnliches Straßenmädchen in den Bergen auszusetzen, denn töten konnte er sie nicht. Durch ihre Adern floss immerhin dasselbe Blut, das auch ihn am Leben erhielt.“ Will war die erste, der die Sache nicht völlig aus der Luft gegriffen erschien. „Also hat es Phoebe, nun, da sie ihre Macht wieder hat, darauf abgesehen, Elyon ihrer Herrschaft zu entheben?“ „Nicht direkt“, sagte Caleb. „Es geht das Gerücht um, sie sei geschwächt. Ihre Fertigkeiten sind nicht mehr so machtvoll wie einst, da sie durch Phobos’ Siegel und die lange Zeit, die sie unter dem Bann gestanden hatten, viel an Stärke eingebüßt haben. Um sie zu regenerieren, benötigt sie ein wichtiges Artefakt.“ „Und da kommen wir ins Spiel“, setze Will fort. Sie hatte verstanden. „Sie braucht das Herz von Kandrakar, um ihre Macht wieder aufzuladen. Doch das Herz haben wir und wir haben es versteckt, nachdem es nicht mehr gebraucht wurde. Aber wie wollte sie es finden?“ Dafür hatte Caleb wieder eine Erklärung: „Phoebe hat die Fähigkeit, Portale zu kreieren. Sie sandte die wenigen Diener, die sie hat, in eure Welt und setzte sie darauf an, das Herz von Kandrakar zu finden.“ „Armand!“, schrie Irma plötzlich und fuhr auf. „Darum hat er diese Show mit dem Amulett abgezogen.“ „Oder“, wandte Cornelia ein, „er hatte tatsächlich einfach nur eine ausgeprägte Affinität für diese Sachen, Phoebe – oder wie auch immer – ist tatsächlich nur ein Gerücht und wir interpretieren alle tatsächlich einfach nur so viel in die ganze Sache hinein, dass das Amulett glaubt, es würde wirklich gebraucht werden.“ „So einfach ist das nicht.“ Mrs. Lin lächelte verzeihend. „Das Herz von Kandrakar ist nicht so leicht zu täuschen.“ „Außerdem habe ich Beweise.“ Caleb ging ein paar Schritte auf den Tisch zu, entschied sich aber dann doch, sicherheitshalber etwas weiter weg stehen zu bleiben. „Jemand, egal ob es Phoebe ist oder nicht, möchte das Herz von Kandrakar und deshalb beobachtet dieser jemand euch.“ Er zeigte auf Will, Cornelia und Hay Lin. „Das ist doch Schwachsinn“, wandte Irma ein. „Totaler Stuss, wenn ihr mich fragt. Gib es zu, du wolltest Cornelia einfach nachstellen, weil du weißt, dass du einen Fehler gemacht hast!“ „Irma!“, schalten Will und Cornelia sie gleichzeitig aus verschiedenen Gründen – Will, weil sie glaubte, Irma hätte Cornelias Gefühle verletzt, und Cornelia, weil sie nicht wollte, dass diese Geschichte aufgewärmt wurde. „Fakt ist“, setzte Caleb fort, den es nicht berührt zu haben schien, „dass wieder Portale geöffnet sind, sonst wäre ich nicht hier. Diejenigen, die das Herz wollten, mussten unweigerlich auf euren Fersen bleiben, also blieb ich soweit als möglich in eurer Nähe, was sich allerdings als ziemlich unmöglich herausstellte. Ihr geht echt viel rum und drei auf einmal konnte ich nicht im Auge behalten.“ „Das heißt, du hast uns nachspioniert?“, fragte Will entrüstet. „Du hättest zumindest etwas sagen können! Das ist eine Sache, die uns alle betrifft!“ „Solange ihr eure Kräfte nicht hattet, hättet ihr mir sowieso nicht geglaubt und ich war mir nicht einmal sicher, ob ihr überhaupt noch Wächterinnen werden konntet, oder ob diese Aufgabe bereits einer anderen Generation übertragen wurde. Solange ihr keine Wächterinnen wart, hat euch die Sache eben nicht betroffen. Aber, um nun auf den Punkt zu kommen, beim Feuerwerk hat euch jemand aus dem Dickicht beobachtet.“ „Also warst das nicht du?“ Cornelia schien enttäuscht zu sein. Sie hätte dafür die Hand ins Feuer gelegt. Auch für die Sache am Balkon zu Weihnachten. „Nein und ja“, korrigierte er. „Ich war dort, aber ich habe nicht euch beobachtet, sondern auf den gewartet, der euch beobachten wollte. Ich wusste, er würde an diesem Tag wieder da sein. Mein Ziel war es, seine Identität herauszubekommen und ihn unschädlich zu machen, bevor ihr aktiv in die Sache involviert werdet. Als die erste Rakete explodiert ist, hab ich ihn dann gesehen. Aber noch bevor ich mich anschleichen konnte, hat Cornelia mich entdeckt und ist in meine Richtung gestürmt, sodass ich keine Wahl hatte, als zu flüchten. Natürlich war ich schneller, also brauchte ich keine Angst zu haben, gefasst zu werden, doch ich hatte die Rechnung ohne den Feind gemacht, der viel gerissener ist, als ich dachte. Er wusste, dass ich seine Spur aufgenommen hatte –“ „Wie ein Hund“, warf Irma böswillig ein. „– und stellte mir eine Falle. Es war klar, dass ich Cornelia und Will nicht aus den Augen lassen würde, daher passte er den perfekten Zeitpunkt ab, ließ mich ihn entdecken und lockte mich an eine von ihm präparierte Stelle.“ Will verstand als erste: „Dahin, wo das Feuer ausbrach?“ „Korrekt. So wie ich das sehe, hatte er es genau geplant. Ein Helfer sollte um eine ausgemachte Uhrzeit einen Feuerpfeil genau zu der Stelle schießen, die mit Brandbeschleuniger versehen war. Aber es lief schief, denn ich bemerkte ihn ein paar Minuten zu früh und als nicht nur ich zu früh die Verfolgung aufnahm, sondern auch Cornelia mich verfolgte, war der Plan hinüber.“ Irma hatte Zweifel: „Aber es ist doch schon ziemlich seltsam, dass sich Will und Cornelia genau an dem Ort befinden, wo genau zu der Zeit ein völlig anderer umgebracht werden soll. Das scheinen mir recht viele Zufälle zu sein. Logischer wäre es, wenn die zwei das Ziel gewesen wären. Findest du nicht?“ Caleb ignorierte den gehässigen Unterton in ihrem offenen Angriff gegen ihn und wollte eben seine Theorie zum Besten geben, als ihm Cornelia zuvor kam. „Der einzige Zufall war, dass ich Caleb gehört habe“, erklärte sie. „Und das war kein wirklicher Zufall, sondern eher ein vorhersehbares Ereignis – bei der Lautstärke, die er an den Tag gelegt hat.“ „Aber wieso seid ihr gerade an dem Ort gewesen, an dem das Feuer war?“, wollte Irma immer noch skeptisch wissen. „Weil jeder geschehene Schritt seine Ursache in dem eigentlichen Plan hatte“, fuhr Cornelia fort. „Will lief mir hinterher, ich lief Caleb hinterher und Caleb lief dorthin, wohin ihn dieser ominöse neue Feind lockte, also zu den benzingetränkten Bäumen. Folglich kam auch ich zu dieser Stelle, allerdings um ein paar Minuten zu früh als geplant, da Caleb ja auch früher losgelaufen war.“ „Und warum seid ihr dort geblieben?“ Irma war immer noch nicht überzeugt. „Hast du es schon vergessen? Ich bin gegen den Baum gelaufen.“ „Und gegen den zweiten“, ergänzte Will. „Hat übrigens ziemlich heftig ausgesehen“, kommentierte Caleb. „Danke für deine Fürsorge“, gab Cornelia bissig zurück. „Ich bin also gegen den Baum gelaufen, weil ich zu schnell und die Umgebung zu dunkel war. Als ich an der Stelle vorbeigekommen bin, habe ich einen Geruch wahrgenommen und war ganz kurz abgelenkt. Durch diese Ablenkung konnte ich den dicht zusammenstehenden Bäumen nicht ausweichen und bin logischerweise dort liegen geblieben. Als Will kam, haben wir noch geredet und ich musste mich erst erholen, weil mir alles wehtat. Das waren etwa fünf Minuten, bis das Feuer ausbrach.“ „Um das ganze abzukürzen“ – Irma hob einen Zeigefinder – „Phoebe will wissen, wo das Herz von Kandrakar ist, schickte Spione, die es finden sollten, und unser Mister Superheld hat uns beobachtet, damit er die Helfer finden konnte, um zu verhindern, dass sie das Herz stehlen. Soweit korrekt?“ Einverstandenes Nicken. „Dann bleibt immer noch die Frage, was wir jetzt tun, wie wir es tun und inwiefern wir überhaupt etwas tun können.“ „Dort anfangen, wo wir den neuesten Hinweis entdeckt hatten?“, schlug Cornelia vor. „Armand wäre eine Möglichkeit.“ „Willst du etwa nach Frankreich fliegen?“ „Wieso nicht? Es wäre ein Anfang und ich war noch nie auf der Rue du Faubourg Saint-Honoré!“, schwärmte sie. „Was ist das? Ein monumentales Gebäude aus dem ersten Weltkrieg?“, fragte Hay Lin. „Eine Einkaufsstraße.“ Cornelia erntete böse Blicke. „Schon gut, war doch nur Spaß! Aber was sollen wir eurer Meinung nach sonst tun?“ „Auf Taranee warten und bis dahin schlafen“, beschloss Will. „Ich bin hundemüde, durchgefroren und dreckig. Ihr Flug kommt heute Mittag an, bis dahin sollten wir uns ausruhen und vor allem etwas essen!“ Der Vorschlag fand allgemeinen Anklang und sie standen mit schweren Gliedern auf, nun, da die Müdigkeit die Aufregung übertrumpfte. „Wo wollt ihr hin?“ Caleb schien verwirrt. Er sah den jungen Frauen fragend nach. „Nach Hause?“, ätzte Cornelia. Mit einer lässigen Handbewegung warf sie ihr Haar zurück und ließ ihren Mantel um die Schulter gleiten. „Wir haben nämlich eigene Wohnungen mit gemütlichen Betten, in die wir uns nun legen werden. Ich habe ja keine Ahnung, wo du schlafen wirst, aber –“ „Bei uns“, unterbrach Will sie. Ihre Miene gefror im Sprechen. „Was? Kommt nicht in Frage!“ Will setzte ein entschuldigendes Lächeln auf, zog Cornelia grob zur Seite und senkte die Stimme zu einem bedrohlichen Zischen. „Jetzt hör mal zu, ich habe keine Ahnung, was dein Problem ist, aber ehrlich gesagt haben wir gerade größere Sorgen als dein Verhalten, das ich zugegebenermaßen überhaupt nicht nachvollziehen kann. Aber es ist mir auch egal. Sieh zu, dass du das in den Griff bekommst!“ Sie ließ sie wieder los. Sanfter fügte Will hinzu: „Sobald wir zuhause sind, reden wir darüber, ja?“ „Aber wieso ausgerechnet bei uns? Er kann doch auch bei Hay Lin übernachten oder hier“, flüsterte Cornelia beinahe flehend. Will senkte die Stimme erneut: „Es hat Eric schon nicht gefallen, dass seine Freundin mitten in der Nacht von drei hysterischen Frauen geweckt wird und beim Niesen die Wohnung demoliert und ich bin mir sicher, dass er auch nicht darüber erfreut sein wird, wenn besagte Freundin einen Meridianer mit nach Hause nimmt, also reiß dich zusammen – du bist keine vierzehn mehr! Und ehrlich mal, willst du es riskieren, dass er etwas anstellt, wenn er alleine hier ist?“ Cornelia erwiderte nichts, sondern verzog nur den Mund und stolzierte aus dem Restaurant. Die Fahrt mit dem Taxi von der Main Street in Pivally bis zur Laverelley Lane am East End war eine ausgesprochen schweigsame, angespannte und unbequeme. Irma hatte sich dazu breitschlagen lassen, vorübergehend bei Hay Lin zu nächtigen, um Caleb den Platz auf der Schlafcouch zu überlassen und während dieser abwesend mit verschränkten Armen auf die Rückenlehne des Beifahrersitzes starrte, über die Teile von Wills flammend rotem Haar ragten, saß Cornelia wie auf Nadeln so weit an die Türe hinter dem Fahrersitz gepresst, dass es beinahe weh tat. Die einzige, der die Situation nach außen hin herzlich egal war, war Will, doch auch sie machte sich still Gedanken darüber, was das alles zu bedeuten hatte. „Laverelley Lane achtzehn, bitte sehr die Damen und der Herr.“ Die schwere, dunkle Stimme des Taxifahrers war das einzige, das außer dem Radio Geräusche gemacht hatte. Umso erleichterter waren alle Insassen, als drei von vieren ausstiegen. „Laverelley Lane am East End!“, flötete sie gezwungen fröhlich. „Ich liebe diese Alliterationen! Wir haben die Wohnung nur genommen, weil der Straßenname so schön ist.“ Doch niemand reagierte angemessen auf ihre Bemerkung. Als sie die dunkle Wohnung betraten, wurde es auch nicht besser. Die schwere Stille lastete wie tausend Kilo Wasser auf der gedrückten Atmosphäre und ließ die Minuten, die sie aufgrund der Sparlampe im Halbdunkeln verbringen mussten, unendlich lange erscheinen. „Caleb, du kannst in einem Shirt von mir schlafen, ich müsste noch ein paar Männersachen haben – schau mich nicht so an, ich schlafe gerne in weiten Sachen! Ich hole sie schnell, Cornelia wird dir in der Zwischenzeit etwas zu Trinken anbieten. Nicht wahr?“ Der letzte Teil war eine unterschwellige Warnung, welche die Gewarnte nur mäßig befriedigend zur Kenntnis nahm. Sie lehnte lässig mir verschränkten Armen am Türstock zwischen Küche und Wohnzimmer und machte erst keinerlei Anstalten, irgendetwas zu tun, doch dann gab sie ihren inneren Kampf zwischen Sturheit und Heulkrampf auf. „Möchtest du etwas trinken, essen, rauchen, schnupfen? Wir haben Wasser, Kaffee, Tee, wobei ich glaube, dass der über die Jahre lebendig geworden isz, also eher nicht zu empfehlen. Dann haben wir noch Cola, Fruchtlimonaden, Apfelsaft, Blutorangensaft, Milch, Medikamente jeder Art, Tabak –“ „Ich denke, ich habe verstanden, auf was du hinaus willst“, unterbrach Caleb sie. „Ich wäre mit einem Wasser glücklich.“ Und als er diesen Satz ausgesprochen hatte, war er froh, nicht Irma gegenüber zu stehen. „Kommt sofort.“ Der harte Unterton war nicht zu überhören, die Abfälligkeit übertünchte jede gespielte Höflichkeit. „Hier.“ Sie drückte ihm das Glas in die Hand und dann schwiegen sie wieder. Es dauerte unnachvollziehbar lang, bis Will mit einem passenden Schlafgewand wiederkam, doch als sie es endlich tat, fand sie ein etwas verstörendes Bild vor: Caleb, nach den vielen Jahren nur mehr knapp einen halben Kopf größer als Cornelia, stand einen Meter von dieser entfernt, die Finger um das unschuldige Glas geklammert, während sie immer noch mit verschränkten Armen am Türrahmen lehnte und zu ihm sah. Die Art, wie sie sich ansahen, und das war das Verstörende, war eine Mischung aus verachtender Abneigung auf der einen und ratlosem Missmut auf der anderen Seite. „Ähm, hier.“ Will wedelte vor Calebs Augen mit dem Oberteil herum, um den bohrenden Blickkontakt zu unterbrechen. „Da ist eine finnische Death Metal Band drauf, darum sieht es ein wenig, ähm, wild und zerstört aus, aber lass dich von dem blutenden Totenkopf und dem Typen mit der triefenden Axt dahinter nicht irritieren, die sind alle ganz lieb. He-he.“ Das gekünstelte, verlegene Lachen ging in einem Murmeln unter und damit war die Konversation der drei Parteien erledigt. Caleb dankte für das Shirt und wurde danach von den beiden Frauen alleine zurück gelassen. In dieser Nacht schlief keiner der drei gut, und das aus ziemlich ähnlichen Gründen, wenn man die Sorgen, die in ihren Köpfen herumschwirrten, auf die fundamentale Ursache zurückführte. Caleb, besonnen und kontrolliert wie er nun einmal war, hatte seine äußerste Verwirrung über Cornelias Verhalten nicht nach außen getragen, doch gerade das machte ihm verständlicher Weise am meisten zu schaffen. Nicht, dass er gehofft hätte, eine neue Chance geboten zu bekommen, das war weder wünschenswert noch möglich, doch er hätte niemals mit einer so tiefgreifenden Bitterkeit, einer so grundlegenden Verhärtung ihrerseits gerechnet. Dass er ihr damals das Herz gebrochen hatte, wusste er. Ihre Gefühle waren offensichtlich gewesen und seine Absichten, wenn auch ehrenwert, für ein Mädchen ihres damaligen Alters untragbar. Er wusste, dass es nicht funktioniert hätte. Sie war zu jung gewesen, aus einer anderen Welt, aus einem anderen Leben. Die kurzweilige Überschneidung ihrer Wege war eine Unvermeidlichkeit gewesen, doch sie hatte etwas Besseres verdient, als eine Liebe, die auf der Basis von Unterschieden gediehen war. Und nun musste er sehen, dass sie ihn hasste; dass gerade das, was er zu verhindern versucht hatte, eingetroffen war: Verbitterung und Schmerz. Seine einzige Intention war es gewesen, ihr das lange, tiefe Leid zu ersparen, das eine Beziehung mit den damaligen Gegebenheiten gebracht hätte. Sie hätten nicht in der Welt des anderen leben können und die Portale hatten sich mit dem Erlischen des Herzens von Kandrakar geschlossen. Es hätte nur Möglichkeiten verbaut, wenn sie damals im Geiste zusammen geblieben wären. Doch nun, so unglaublich es war, legte die Frau, die er vor langer Zeit als Mädchen geliebt hatte, eine solche Aversion gegen den an den Tag, den sie vor langer Zeit geliebt hatte, sodass er sich fragte, ob es wirklich dieselbe Person war. Natürlich, sie war erwachsen geworden, keine Frage. Ihren veränderten Körper und Lebensstil, die wohlgeformten, perfekten Rundungen und die hart erarbeitete Eigenständigkeit hatte sie sehr effizient und deutlich gezeigt, aber nicht eine Sekunde hatte er geglaubt, dass ihr ehrlicher, aufrichtiger, liebevoller Charakter so in Mitleidenschaft gezogen werden und sich so stark verändern würde. Er hatte sie verletzt, ja, aber das war lange her und er hatte es auf eine ehrenwerte Art getan, der nichts vorzuwerfen war. So behandelt zu werden, das hatte er nicht verdient. Über eben dieses Thema machte sich auch Will Gedanken. Es machte sie verrückt, sie nicht zu verstehen. All die Tränen, all die Aufregung und der Schmerz – für was? Für was war das alles gut gewesen, wenn Cornelia, nun, da der Verursacher wieder da war, so reagierte? Es ließ ihr keine Ruhe. „Hey, wach auf!“, rief Will im Flüsterton, nachdem sie es meisterhaft geschafft hatte, den Hindernissparcour durch das Wohnzimmer zu meistern und ohne weltbewegende Laute in Cornelias Zimmer zu gelangen. „Wasn loos?“ Sie rieb sich verschlafen die Augen. „Will? Was machstn du hier?“ Das Murmeln mündete in einem herzhaften Gähnen, dann war Cornelia endlich völlig wach. „Oh Mann, wieso weckst du mich um –“ Ihre Augen flitzten auf den LED-Wecker. „- fünf Uhr früh? Ich bin gerade erst eingeschlafen!“ „Also bist du die ganze Zeit wach gelegen? Ich konnte auch nicht schlafen.“ „Und das ist ein Grund, mir den Schlaf zu rauben?“ Cornelia hob eine Augenbraue. „Ich brauche meinen Schönheitsschlaf!“ „Schöner wär eh kitschig, also reg dich ab“, komplimentierte Will. Sie ließ sich im Schneidersitz auf Cornelias Bett nieder, nachdem diese die Füße angezogen hatte, um Platz zu schaffen. „So. Wir reden jetzt. Du hast einiges zu erklären.“ „Du spielst auf Caleb an?“ „Unter anderem. Also, was ist dein Problem?“ Cornelia seufzte und fuhr sich gedankenverloren durch die Haare. Ihre Miene wurde weicher und nachdenklicher. „Ich weiß es nicht, ganz ehrlich. Was auch immer in den letzten Stunden passiert ist, ich dachte nicht, dass ich so reagieren würde. Ich habe die ganze Zeit nachgedacht und es passt gar nichts zusammen. Jahrelang heul ich mir wegen ihm die Augen aus, wünsche mir im tiefsten Inneren, dass er zurück kommt, und nun, da ich ihn wieder sehe, fühle ich mich, als wäre ich in tausend Teile zersprungen.“ „Was meinst du denn damit?“ Will legte den Kopf schief. „Es hat nicht gerade so ausgesehen, als würde dich das sonderlich berühren – eher nerven.“ „Das ist es ja gerade.“ Sie biss sich auf die Lippen. „Als ich ihn gesehen habe, hat mein Herz einen so großen Sprung gemacht, dass ich nicht dachte, ihn auch nur ansehen zu können, ohne zusammenzubrechen, aber nichts! Nicht einmal annähernd. In der einen Sekunde verspüre ich das Bedürfnis, ihm um den Hals zu fallen und in derselben Sekunde legt sich auch schon das Bedürfnis darüber, ihm meine Faust ins Gesicht zu schlagen – verstehst du, was ich meine? Als würdest du einen Teppich über eine Pflanze legen.“ „Blight hat wirklich ganze Arbeit geleistet, aber gesund hört sich das nicht an. Und vor allem nicht normal.“ „Aber es ist genauso!“, warf Cornelia ein. „Du hast doch gesehen, wie er mich ansieht.“ Will verdrehte die Augen. „Ja, wow, er sieht dich an, als hätte er dich seit Jahren nicht gesehen und würde mit der Situation nicht umgehen können, wie kann er nur? Ich möchte nicht sagen, dass er an der Gesamtsituation unschuldig ist, aber du machst es ihm nicht gerade leichter, sich mit diesen Gegebenheiten zurechtzufinden.“ „Ich weiß, ich weiß.“ Sie ließ den Blick aus dem Fenster schweifen. „Damals alles abzubrechen war die einzig reale Lösung, die sich uns geboten hat und daran tragen wir beide keine Schuld, sondern die vielen Hindernisse, wie andere Welten und so ein Kleinkram eben. Ich liebe ihn ja nicht mehr.“ „Aber erst seit du Blight aufgesucht hast.“ Cornelia schüttelte den Kopf. „Ich habe ihn schon lange nicht mehr geliebt, aber ich konnte die Erinnerungen nicht loslassen. Dr. Blight hat mir nur dabei geholfen, die Vergangenheit hinter mir zu lassen. Aber jetzt, wo ich Caleb lebendig vor mir habe, da sollte es wehtun und das tut es auch, aber während ich eigentlich in Tränen ausbrechen sollte, wünsche ich ihm die Pest an den Hals.“ „Das wird sich legen, ich bin mir sicher.“ Aufmunternd legte Will ihre Hand auf Cornelias Knie. „Sobald die Situation nicht mehr ganz so neu ist und die natürlich Hysterie vergangen ist, die entsteht, wenn man um Mitternacht solche Dinge erlebt, wird sich alles bessern und ihr könnt als Freunde zusammenarbeiten.“ Und noch während Will das sagte, wusste sie, dass es so nicht ablaufen würde. Es würde nicht so einfach sein, vor allem, da sie ahnte, wie Cornelias wahre Gefühle aussahen. Jeder Blinde mit Krückstock sah, wie sehr es die beiden quälte, zusammen und doch getrennt zu sein. Aber das musste nun hinten anstehen, solange das Damoklesschwert über ihnen schwebte. Es würde noch früh genug zu dem Punkt kommen, an dem die beiden den Bogen überspannten – egal in welche Richtung. Kapitel 8: Things Unexpectedly ------------------------------ … If we stayed like that, it's fine not being strong
 … A C H T Der Morgen nach der ereignisschwangeren Nacht war ganz und gar nicht nach Cornelias Geschmack und auch Will und Caleb sonnten sich in Verstimmung, wenn auch aus etwas anderen Gründen. Während die beiden letzteren nämlich irgendwann eingeschlafen und frei von allen Sorgen ins Land der Träume geschwebt waren, hatte Cornelia kein Auge mehr zugemacht. Das Gespräch mit Will hatte sie die ganze Zeit beschäftigt und je mehr sie darüber nachdachte, desto wahrscheinlicher erschien es ihr, dass sie Caleb gegenüber so reserviert sein musste, um ihm nicht noch einmal zu verfallen und verletzt zu werden. Der andere Grund, wieso sie nicht schlafen wollte, war, dass sie Angst hatte, im Schlaf wieder Calebs Namen zu schreien und das war das Letzte, das sie ihn hören lassen wollte. "Morgen", sagte sie, die Hände um die heiße Kaffeetasse geschlungen, als Caleb in die Küche kam. ‚Cornelia – die Hilfreiche‘, las er zwischen ihren Fingern den roten Schriftzug auf dem Gefäß. "Ich weiß wieder, wieso ich die Erdlinge nie verstehen werdeF." "Gib dir keine Mühe, es zu versuchen", erwiderte Cornelia, ohne ihn anzusehen. "Du kannst dich setzen, wenn du willst. Kaffee ist in der Kanne dort drüben, Wurst und Käse sind im Kühlschrank. Wir haben aber kein frisches Gebäck mehr." Caleb, mit diesen Informationen überfordert, ignorierte letztere und besah die Filterkaffeemaschine skeptisch. "Und das schwarze Zeug da drinnen schmeckt?" Sie nickte. "Hm. Sieht irgendwie aus wie Schleim von meridianischen Muhlschnecken." "Ich bin so frei und frage nicht nach. Trink es oder lass es." Dann wandte sich Cornelia wieder der Zeitung zu, wenn auch nur um nicht weiterreden zu müssen. Trotzdem ihre Augen über den Artikel flitzten, beobachtete sie Caleb hin und wieder aus den Augenwinkeln, wie er zögerlich versuchte, die Kanne aus der Halterung zu ziehen und sich den Kaffee eingoss. Sie beobachtete ihn auch, als er einen Schluck machte, den Mund verzog und nur aus guter Manier herunterschluckte. "Milch und Zucker, dann schmeckt’s besser", kommentierte sie trocken, ohne aufzusehen. Ein leichtes Lächeln huschte über ihre Lippen. "Im Kühlschrank – das weiße, große Ding." "Danke." Sie schwor, einen leichten Unterton gehört zu haben, doch dieser war nicht zu definieren. "Wo ist Will?" "Schläft noch." "Darf ich mich ein wenig umsehen?" "Tu, was du nicht lassen kannst." "Nur, um etwaige Fluchtwege und Waffen im Falle eines Angriffes festzumachen." Und dann war da wieder dieses Schweigen, diesmal jedoch weitaus weniger angespannt als Stunden zuvor. Cornelia tat weiterhin so, als würde sie ihre Zeitung lesen und Caleb machte sich daran, die Küche zu inspizieren. Er sah aus dem Fenster, maß die Größe mit Schritten, machte sämtliche Laden und Kästen auf und öffnete sogar den Großteil aller Dosen, Plastikschalen und Flaschen, die er fand. Cornelia, schlussendlich doch vom Lesestoff aufsehend, kommentierte knapp den Inhalt jener Gefäße, die er nicht zu kennen schien. "Curry. Cayennepfeffer. Tabasco. Kümmel." "Ich weiß, dass das Kümmel ist." "Ich mein ja nur", sagte sie matt und hob die Hände. "Thymian. Teebeutel. Keine Ahnung, das steht nur zur Dekoration da. Zucker. Mehl. Speisestärke. Backpulver. Das würde ich nicht öffnen." "Wieso?" "Das steht seit dem Vormieter da und ich denke, sogar der hat es von seinem Vormieter. Ist bestimmt schon zehn Jahre alt." "Was ist das da?" Er deutete auf die aufgerissene Packung von Blights Kaffee, die fein säuberlich mit einer Aromaklemme verschlossen war. Er entfernte die Klemme, wenn auch nicht ganz nach Anleitung, und entrollte den oberen Teil der Packung. "Den hat mir mein Professor geschenkt. Es ist ein äußerst teurer, handverlesener Kaffee aus Jamaika, soweit ich weiß." "Und der schmeckt?", fragte Caleb argwöhnisch. Er drückte die Ränder der Verpackung zur Seite, zögerte aber, sich den Inhalt anzusehen. Stattdessen wartete er auf Cornelias Antwort. "Nicht so richtig. Etwas zu bitter und penetrant für meinen Geschmack." "Und wieso trinkst du ihn dann? Er ist schon zur Hälfte leer", wollte Caleb wissen. Sein Blick ruhte noch immer auf Cornelia. "Hast du nicht zugehört? Das Zeug ist verdammt teuer, handverlesen und äußerst begehrt! Ich habe mich erkundigt, unter fünfzig Dollar pro viertel Kilo bekommt man so etwas nicht." "Aha." Doch er schien nicht richtig überzeugt. "Oh, Himmel!", rief er plötzlich und hielt den Kaffee so weit von sich weg, wie möglich. "Das stinkt entsetzlich! Wie Morast oder Schlamm oder Moder oder sonst etwas! Wie kannst du das trinken?" Er beeilte sich, das Pulver wieder zu verschließen und stopfte es in das Kästchen zurück, aus dem er es genommen hatte. "Der Geruch verliert sich und so schlimm wie es riecht, schmeckt es gar nicht", verteidigte Cornelia ihr Geschenk, auch wenn sie ganz Calebs Meinung war. Es schmeckte wirklich nicht gut – grauenerregend, um ehrlich zu sein. Doch wie gesagt, ein so teures Geschenk durfte nicht verschwendet werden. "Aber wo ich von Morast spreche, der Geruch erinnert mich an etwas…" "Schlamm?", schlug Cornelia mit hochgezogenen Augenbrauen vor. "Oder Dung?" "Nein, etwas, das in Meridian wächst. Aber wahrscheinlich bilde ich mir das nur ein." "Wahrscheinlich…", murmelte Cornelia. Nun wandte sie sich wieder der Zeitung zu und betete, dass Will endlich erwachen würde. "Und was ist das?", durchbrach Caleb die Stille erneut. Um Beherrschung ringend ballte sie die Hand unter dem Tisch zur Faust. Sie war genervt, und wie! Ganz plötzlich musste sie sich stark zusammenreißen, um keine patzige Antwort zu geben. Als hätte der Geruch des Kaffees ihre Laune sinken lassen. "Postkarten", presste Cornelia hervor. Ja, eindeutig, da war wieder diese Verachtung, dieser aufkeimende Hass, der sich über die entspannte Stimmung legte. Der Geruch des Kaffees wehte nun zu ihr hinüber und sie versuchte sich darauf zu konzentrieren, anstatt auf die tobenden Gefühle in ihrem Inneren. "Aus…Wo liegt bitte Lisel Dabe Au?", fragte Caleb, als er Irmas erste Postkarte betrachtete, unter der noch weitere aus Frankreich hingen. "Man spricht es L’Isle-d’Abeau aus und das liegt nahe Lyon – und nein, das hat nichts mit einem Löwen zu tun und man spricht es ebenfalls anders aus." "Und wo liegt Pouries?" "Das spricht man wiederum so aus, wie es da steht. Paris." "Ihr habt eine seltsame Welt. Manche Namen werden so ausgesprochen, wie man sie sieht, andere völlig anders. Was macht das für einen Sinn?" Caleb fasste sich verwirrt an die Stirn. "Damit Leute wie du sich nicht zurechtfinden und gar nicht erst dorthin gelangen! Die Franzosen, die waren ein kluges Volk!" "Sag mal, was genau habe ich dir getan, dass du mich so behandelst?" Calebs Stimme war lauter und rauer geworden. Auch sein Gesicht ließ Verärgerung erkennen. "Ich bin nur hier, um euch zu warnen und um euch das Leben zu retten! Und das ist der Dank? Wüste Beschimpfungen, exzentrisch zur Schau getragene Verachtung und ungerechtfertigtes Missfallen über meine Anwesenheit? Es reicht mir langsam, dass du mich nach all den Jahren so behandelst! Das mit uns ist ewig her. Ich bin hier rein beruflich." "Ist auch besser so, klar?", schnauzte Cornelia ihn an. Sie fuhr hoch, sodass ihr Stuhl rücklings umfiel und knallte die Hand auf den Tisch. "Was bildest du dir ein? Dass ich die ganzen fünf Jahre nur dagesessen bin und geweint habe? Sicherlich nicht! Mein Leben ist weitergegangen! Ich habe mit einem Notenschnitt von eins Komma eins die Schule abgeschlossen und einen der begehrtesten Studienplätze ergattert, die es in Heatherfield gibt! Ich bin gut in dem, was ich tue und habe ein wunderbares Leben – ohne dich! Und dass du hier bist, ist nur eine temporär begrenzte Unannehmlichkeit, ebenso wie diese Phoebe!" "Du vergleichst mich mit deinem derzeitigen Todfeind? Na, herzlichen Dank! Jetzt weiß ich wenigstens, woran ich bei dir bin! Und nur, dass du es weißt, auch mein Leben ist weitergegangen! Ich bin glücklich damit und ich brauche weder dein Verständnis, noch deine Vergebung, um weiterhin glücklich zu sein. Schieb nur nicht mir die ganze Schuld in die Schuhe! Wenn du nicht damit fertig werden kannst, ist das dein Problem!" "Aaah!", kreischte Cornelia wütend. "Rede ich hier gegen eine Wand, verdammt noch mal? Ich sagte doch, dass ich längst damit durch bin! Ich habe keinen einzigen Gedanken an dich verschwendet, nicht eine Sekunde! Und nur, dass du es weißt, ich bin ebenfalls glücklich! Ich kündige hiermit die Notwendigkeit, mit dir ein weiteres Wort zu sprechen!" Die Feindseligkeit wurde glücklicherweise von Will unterbrochen, bevor Caleb darauf antworten konnte. "Schreit hier bitte nicht so herum, ich habe noch geschlafen." Sie erntete bitterböse Blicke, ignorierte sie jedoch und gähnte herzhaft. "Cornelia, könntest du bitte bei Hay Lin durchklingeln und ihr sagen, sie soll mit Irma im Schlepptau herkommen? Wir müssen besprechen, was wir nun tun werden." Als Cornelia gerade mit gerümpfter Nase und erhobenem Haupt in den Flur stolzierte, warf Will Caleb einen skeptischen Blick zu. "Was hast du gesagt, dass sie so in Rage gebracht hat? Ich habe das Geschrei erst ab dem Vergleich mit dem Todfeind mitbekommen." Doch Caleb schien sich durch den scherzhaften Unterton nicht milder stimmen zu lassen. "Ich habe gar nichts gesagt, um das klar zu stellen. Sie ist als erste ausgetickt, nur weil ich gefragt habe, warum sie mir die kalte Schulter zeigt." Will rollte mit den Augen. "Kannst du dir das nicht denken?" Als keine Antwort kam, beantwortete sie die Frage selbst: "Sie hat Angst, sich wieder in dich zu verlieben und erneut mit gebrochenem Herzen zu enden und ja, ich weiß, du trägst keine Schuld daran, dass es damals so geendet hat, also schau mich nicht so an! Aber für Cornelia war es nicht leicht –" "Oh, ich habe das Gefühl, dass es ihr sehr leicht gefallen ist, so wie sie sich aufführt." Sie lächelte schief und klopfte ihm aufmunternd auf die Schulter. "Versuch bitte, es zu ertragen und dem Ganzen mit Gleichmut gegenüber zu treten. Cornelia ist, wie du weißt, damals kein allzu einfacher Charakter gewesen und das hat sich bis heute nicht gerade ins Gegenteil verkehrt. Wir anderen sind auch nicht glücklich, wie es damals gelaufen ist und du musst verstehen, dass vor allem Irma, die trotz aller Schwierigkeiten mit Cornelia dennoch ihre Freundin ist, ihr Missfallen über deine Präsenz zum Ausdruck bringen wird. Auch mir fällt es schwer, dich so zu mögen wie früher und die Tatsache, dass du hier in unserer Welt bist, auf unserer Couch schläfst und unser Essen isst, sollte dir das Recht rauben, allzu streng mit uns zu sein." "Will!", schallte es plötzlich vom Flur zu den Ohren der Gerufenen. "Komm mal eben!" Will schenkte Caleb noch einen freundschaftlichen Klaps auf den Oberarm, dann ging sie neugierigen Schrittes zu Cornelia, die seltsamerweise kicherte und über das ganze Gesicht strahlte. "Ja. Mhm. Natürlich. Kein Problem, ehrlich. Sie ist gerade hergekommen, ich geb’ sie dir eben. Ja, hat mich auch gefreut. Klar, können wir mal machen. Ich freu mich schon darauf. Bis dann." Sie legte die Handfläche schützend über die Muschel des Telefonhörers und sah Will schelmisch an. "Ich gebe dir den Hörer unter einer Bedingung. Du schaltest den Lautsprecher an, damit ich zuhören kann." "Ähm…wer ist es denn?", fragte Will irritiert. Um was machte Cornelia bloß so ein Theater? "Versprich es." "Gib mir einfach das Telefon." "Versprich es." "Gib schon her! Egal wer es ist, es ist sicherlich privat!" Dann fiel es ihr wie Schuppen von den Augen! Darum wollte Cornelia also zuhören. Sie hatte James an Silvester ihre Telefonnummer gegeben und darauf bestanden, angerufen zu werden. "Gib endlich her!" "Versprich es", wiederholte Cornelia und hielt den Hörer hoch. Da sie um gut acht Zentimeter größer war als Will, kam diese nicht ran und musste schlussendlich doch resignieren. Von ihr aus, sollte Cornelia ihren Spaß haben, wenn Will dem Kerl aufgrund der derzeitigen Situation einen Korb geben musste. "Okay, ist ja gut, schalt das verdammte Teil schon an!" Cornelia drückte triumphal grinsend auf den Freisprecher und gab Will den Hörer hinunter. "Hey, James, ich dachte schon, du meldest dich nie!", flötete Will ins Telefon, doch dann setzte ihr Herz aus. "James?" "Matt?" "Wer ist James?" "Bist du das, Matt?" "Jedenfalls nicht James." "Oh. Mein. Gott!" Will fiel fast in Ohnmacht. Die Röte schoss ihr ins Gesicht, ihr Herz erholte sich vom Stillstand und begann zu flattern und mit einem Schlag schien ihr die Welt wie in rosa Watte gepackt. "Matt, oh, ähm, tut mir Leid, ähm, James, also, ähm, hehe, das ist ein, ein ähm Studienkollege von mir. Er sollte mich wegen – … wegen einer Prüfung anrufen, weil ich den Lernstoff vergessen habe. Ähm, ja, so ist das. Ha-ha." Dann warf sie Cornelia den Todesblick zu. Ihre Lippen formten die Worte: Du bist so gut wie tot! "Keine Sorge, Will, du musst mir nichts erklären", lachte Matt, den ihre Unsicherheit zu amüsieren schien. Vielleicht gab sie ihm auch den Mut, nicht einfach wieder aufzulegen, nachdem sie anscheinend einen anderen erwartet hatte. "Ich bin wieder im Lande, darum dachte ich, wir könnten uns treffen und ein wenig plaudern. Als Freunde. Wenn du möchtest." "Natürlich möchte ich!" Sie bekam das Grinsen gar nicht mehr aus ihrem Gesicht, so glücklich war sie über diese beinahe schon schicksalhafte Wendung. "Wann wo? Ähm –" Sie räusperte sich "– ich meine, wann würde es dir passen?" Matt lachte erneut. "Morgen um drei im Blurb Corner?" "Okay, alles klar! Bis dann!" "Bis dann, ich freu mich schon darauf." "…Bist du noch dran?" "Ja – wieso legst du nicht auf?" Sie grinste verlegen. "Keine Ahnung. Du solltest auflegen?" "Das Mädchen hat den Vorrang. Pardon, die Dame." "Das finde ich ungerecht." "Wisst ihr was?", fiel Cornelia ein. "Ich lege für euch auf." Sie drückte den Gabelumschalter und nahm Will das Telefon aus der Hand. "Hey, was –" "Ich habe dir eben einen Gefallen getan, Will, hinterfrag es nicht und vertraue mir. Irma und Hay Lin sind in zehn Minuten da. Und sie bringen Taranee mit." Von da an war Will völlig zu vergessen. Sie schwebte durch die Wohnung wie ein Geist, still und lautlos und mit einem so penetranten Glücksgefühl, dass ihre Freundinnen ihr – obgleich sie sich sehr für sie freuten – das Dauergrinsen aus dem Gesicht prügeln wollten. Sie mussten den Anruf Wort für Wort durchgehen, zerlegten alles in kleine Teile und deuteten alle einzelnen Elemente, denn Will konnte von nichts anderem mehr sprechen. "Denkt ihr, er will noch etwas von mir?", fragte sie, den Kopf in die Hände gelegt, mit diesem abwesenden Gesichtsausdruck, den sie die ganze Zeit angelegt hatte. "Auf jeden Fall", bestätigte Cornelia. Sie hatte Matts genauen Wortlaut an die acht Mal wiedergeben müssen, ehe Will Ruhe gegeben hatte. "Aber er hat doch das Wort Freunde benutzt, nicht wahr?", wandte Irma ein. Sie war ganz und gar nicht damit einverstanden, dass das Wohnzimmer in der Laverelley Lane zu einem Liebesratgebezimmer geworden war. "Womöglich möchte er einfach reden und sich auf den neuesten Stand bringen lassen?" "Na klar, darum hat er ausgerechnet seine Ex angerufen." Cornelia warf ihr Haar zurück. "Ich sage, er hatte Heimweh und hat sich gedacht, nun, da er wieder hier ist, könnte er die Beziehung wieder aufnehmen. Und damit hat er ja eindeutig Recht. Seht sie euch doch nur mal an! Völlig weggetreten." "Sie hat mich nicht einmal umarmt", beschwerte Taranee sich. "Irgendwie beachtet mich sowieso keiner hier. Ich würde mal gerne wissen, was überhaupt los ist und was er hier verloren hat." Sie deutete auf Caleb, der sich in die hinterste Ecke des Zimmers verzogen hatte, da der Mädchenkram seiner Aussage nach seine Ohren schmerzen ließ. "Das ist einfach erklärt, aber ich denke nicht, dass du es wirklich wissen willst." "Ich habe wohl keine Wahl." Und nachdem Taranee auf den neuesten Stand gebracht worden war, Caleb sich dazu herabgelassen hatte, sich wieder zu ihnen zu gesellen (wenn auch auf den Platz am weitesten entfernt von Cornelia, der das nur recht war) und Will wieder einigermaßen ansprechbar war, ging die hitzige Diskussion los. "Ich hätte es eher wissen müssen!", rief Taranee verzweifelt. "Ich habe einen Notenschnitt von eins Komma null und habe es nicht geschafft, zu verstehen, was damals passiert ist! Ich hätte beinahe den Chemiesaal abgefackelt und den Hörsaal und als meine Gardinen einfach so Feuer gefangen haben, hätte ich es doch spätestens wissen müssen!" "Das hilft uns jetzt auch nichts mehr", gebot Irma ihr Einhalt. "Fakt ist, dass so eine Psychoschnepfe nach dem Herzen von Kandrakar trachtet – mal wieder. Wir sollten ein Portal suchen, nach Meridian gehen und der Schreckschraube den Saft abdrehen, solange ihre Kräfte nicht voll wieder da sind." "Ja, natürlich", spottete Cornelia mit verschränkten Armen und sarkastischen Gesten. "Spazieren wir durch ein Portal, das wir nicht kennen, zu einem Feind, von dem wir nichts wissen, an einen Ort, dessen Lage wir nicht kennen, und kämpfen gegen magische Kräfte, deren Wirkung wir nicht kennen. Toller Plan!" "Wenigstens ist es einer", konterte Irma. "Bitte, Miss Oberschlau, schlagen Sie doch etwas vor." "Was weiß ich? Ich bin Psychologiestudentin! Gib mir ein Zehnminutengespräch mit dieser Phoebe und ich kann dir sagen, was ihre Probleme sind, das war’s aber auch schon!" "Ihr seid doch hier die Studentinnen!" Irma zeigte auf Will, Cornelia und Taranee. "Ich bin nur eine Einzelhandelskauffrau und Hay Lin Restaurantfachfrau! Ihr seid die klugen Köpfe, macht Vorschläge!" "Ganz recht, wir sind Studentinnen", sagte Cornelia. "Man hat uns beigebracht, nicht selbstständig zu denken, zu hinterfragen, zu analysieren, zu sinnieren und zu diskutieren. Wir sind Opfer des Bildungssystems, das uns staatlich geprüften Lernstoff vorlegt, aufgrund dessen unsere Leistungen bemessen werden. Wir sind unselbstständig und unfähig, eigene Ansichten zu haben!" "Dann hinterfragt nicht, denkt nicht und diskutiert nicht und wir nehmen meinen Plan. Damit hat sich die Sache." Zufrieden lehnte Irma sich auf die Rückenlehne des Sofasessels, doch Cornelia gab nicht so leicht auf. "Nur weil wir nicht denken sollten, heißt das nicht, dass wir es nicht tun. Taranee ist doch unser schlaues Hirn. Bitte, die Bühne gehört dir. Mach schnell einen Plan, damit wir das hinter uns bringen." Doch Taranee winkte ab. "Ich bin überhaupt nicht mehr in diesem ganzen Wächterinnenjob verankert, ich muss mich erst wieder einfinden. Außerdem bin ich Chemiestudentin. Wenn ihr etwas sprengen, vergiften, rot färben oder rauchen lassen wollt, bin ich euer Mann, aber für das Kalkül ist wohl eher Will zuständig." "Die ist noch immer unzurechnungsfähig", meinte Cornelia. "Hey!" Will hatte nun endlich wieder ihr Honigkuchengrinsen abgesetzt. "Ich bin total da, seht ihr? Voll bei der Sache. Also, wie sieht der Plan aus?" "Ja", hüstelte Irma. "Voll bei der Sache, wir sehen es." "Mädels, ehrlich jetzt." Caleb erhob sich und schritt mit hinter dem Rücken verschränkten Armen durch das kleine Wohnzimmer. "So kommen wir nicht weiter." "Und wer hat dich jetzt zum General ernannt?", fragte Cornelia. "Ich kenne mich mit euren Sprachgebräuchen nicht gut aus, also war das eben eine ernst gemeinte Frage oder nur eine subtile Gemeinheit?", stellte er die Gegenfrage in zynischem Unterton. "Gemeinheit am Arsch…" "Und war das jetzt eine direkte Beleidigung oder eher eine offenkundige Anzüglichkeit?" "Du bist doch echt-", grollte sie, doch er überging es. "Die Fakten: Phoebe hat ihre geschwächten Kräfte wieder. Eine Hand voll Leute ist hinter euch her, darunter ein Traumwandler. Er weiß, dass ihr das Herz von Kandrakar, das Zielobjekt, reaktiviert habt. Die nächste Intention ist sicherlich ein Angriff. Irgendwer, der sich in euer Leben geschlichen hat, jemand Unauffälliges, dem ihr alles erzählen würdet. Diese Menschen werden euch unter einem Vorwand trennen und angreifen, weil sie nicht wissen, wer das Juwel hat. Sobald sie angreifen, ist unsere Chance da. Wir überwältigen den Handlanger und pressen die Information aus ihm heraus." Er schlug mit der Faust auf seine Handfläche. "Sehr schöne Visualisierung, Caleb", lobte Cornelia unernst, "aber da gibt es ein Problem: Wie sollen wir uns verteidigen, wenn wir separiert sind? Will ist die einzige, die unsere Kräfte erwecken kann." "Wir stellen ihnen eine Falle. Heute Abend geht ihr aus. Fünf Freundinnen, die sich nach langer Zeit wieder sehen und ein wenig Spaß haben möchten. Macht euch schick und geht irgendwohin, wo ihr Erdenmädchen normalerweise hingeht, wenn ihr feiern wollt. Irgendwann wird eine von euch müde und verabschiedet sich früher von den anderen. Der Rest bleibt noch zum Schein und feiert. In sicherem Abstand verfolgen wir den Lockvogel dann und greifen ein, sobald sie angegriffen wird." "Und wer spielt den Lockvogel?", wollte Irma wissen. "Ich scheide aus. Armand ist längst aufgeflogen." "Und ich bin gerade aus Englang gekommen", meinte Taranee. "Ich denke außerdem nicht, dass mich jemand aushorchen wollte." "Denk genau nach. Hattest du niemanden, der ein wenig komisch war? Der sich außerordentlich für deine Vergangenheit interessiert hat oder für Schmuck? Für Hexenzirkel, magische Artefakte oder sonstigen Kram, der uns ähnlich sein könnte?" "Nein, Irma, ich bin mir sicher", beharrte Taranee. "Ich habe nicht allzu viele Freunde dort. Meine beste Freundin heißt Ophra Coy und ich gebe zu, sie hat eine ausgeprägte Neigung zur Transzendent und zu okkulten Aktivitäten, aber sie hat sich nie so richtig für meine Vergangenheit interessiert. Zumindest nicht mehr, als eine beste Freundin es tut." "Hm, aber sie wäre eine Möglichkeit, nicht wahr?", stellte Cornelia fest. "Aber Taranee hat Recht. Die Möglichkeit, dass Ophra ihr so schnell gefolgt ist, ist etwas weit hergeholt." "Aber", wandte Caleb ein. "Sie wissen vermutlich alle, wie ihr ausseht. Wer wen observiert hat, ist unerheblich für unser Vorhaben. Will scheidet jedenfalls aus, weil sie tatsächlich das Herz trägt." "Dann sollten wir Cornelia nehmen", schlug Irma vor. "Bitte? Wieso das denn?", brüskierte diese sich. "Die Lockvögel sind doch immer die hübschen Wehrlosen, du bist also perfekt dafür. Außerdem nimmt man dir am ehesten ab, dass du schlapp machst." "Ich glaube, ich habe mich verhört!" "Nicht streiten, Mädchen", ging Will dazwischen. "Ich finde die Idee gar nicht schlecht. Eine muss immer den Kürzeren ziehen und du hast nun mal schlechtes Karma, Cornelia. Also, dann ist es entschieden. Und nun entschuldigt mich bitte, Wolke sieben ruft." Sie setzte wieder ihren verklärten Blick auf und fuhr damit fort, alle paar Sekunden zu seufzen. Ein paar Stunden später herrschte auf den ganzen sechzig Quadratmetern hektisches Treiben. Fünf Mädchen drängten sich im Bad um den Spiegel und trugen Lippenstift auf, wuselten durch das Wohnzimmer in Cornelias Zimmer und wieder zurück und ignorierten dabei ganz und gar Calebs ununterbrochene Kommentare. "Ich verstehe euch Frauen nicht", "Wieso ziehst du dich schon wieder um?" und "Das sieht genauso aus wie vorher!" waren nur wenige Sätze einer vielfältigen Palette an Aussagen, die seine Ungeduld repräsentieren. Irgendwann hatte sich Will dazu herabgelassen, ihm zu erklären, was es mit dem Trubel auf sich hatte, doch auch das hatte keine Linderung geschaffen. "Wir präparieren einen Hinterhalt und keine Modenschau!" "Aber solange wir uns nicht trennen, können wir Spaß haben. Und Spaß haben wir nur, wenn wir wissen, dass wir umwerfend aussehen." Sie drehte eine Pirouette. "Und um umwerfend auszusehen, brauchen wir diese Zeit." "Außerdem ist es nicht falsch, in jeder Lebenslage gut auszusehen", ergänze Cornelia, die gerade mit einer großen Flasche Haarspray durch das Wohnzimmer ging und sich die sanften Goldwellen fixierte. Dass sie lediglich einen kurzen Bademantel anhatte, unter dem frech ein Stück Spitzenbüstenhalter hervorlinste, schien sie in diesem Moment gar nicht zu merken. "Sag mal, wie viel wiegst du eigentlich, Cornelia?", schrie Irma von Cornelias überdimensionalem Kleiderschrank panisch hervor. "Ich glaub das nicht!" "Etwas mehr als fünfzig Kilo auf einem Meter siebzig. Wieso?" Doch die Frage erübrigte sich beim Anblick Irmas. Cornelia hielt sich schnell die Hand vor den Mund, um ihr schallendes Gelächter zu unterdrücken. "Mist!", fluchte Irma. "Hör auf zu lachen! Das gibt es doch nicht, dass ich in deine Sachen nicht reinpasse! Sieh dir das an, nicht einmal der unterste Knopf geht zu!" Sie deutete auf die schwarze Hose, deren Verschlüsse ungeschlossen unter ihrem Bauchnabel auseinander gingen. "Die ist ja auch nicht für die Hüfte gedacht", lachte Cornelia. Sie fasste an den Bund der Hose und zog ihn mit einem Ruck hoch. "Die Knöpfe gehören an die Taille. Das sind die Siebziger." "Passt trotzdem nicht. Hier, die kannst du anziehen." "Danke, dass ich meine Sachen tragen darf, wie großzügig." "Nicht wieder streiten, heute wollen wir für ein paar Stunden unsere Reunion feiern, ja?", schlichtete Will diplomatisch. "Hey, Hay Lin, das wollte ich anziehen!" Und dann, schlussendlich nach gut einer Stunde, waren fünf wunderschöne junge Frauen bereit, in einen der bekanntesten Clubs zu gehen, den sie aufgrund der wunderbaren Lage nahe dem Park ausgewählt hatten. Laut Caleb war der Park der ideale Ort – bei Nacht Angst einflößend, in sich abgeschieden, dunkel, still und vor neugierigen Blicken abgeschirmt. Hier konnte man sich für einen Hinterhalt verstecken und sich fernab der Augen unschuldiger Passanten verwandeln. Außerdem kannte Hay Lin den Türsteher. "Dann lasst uns feiern!", riefen sie zusammen, als alle fünf die Jacken abgelegt hatten und die schimmernden Neonlichter ihr Sichtfeld berührten, während ein paar Dutzend Meter weiter eine dunkle Gestalt darauf wartete, dass sie wieder herauskamen. Kapitel 9: Things More Unexpectedly ----------------------------------- … Now that you have shed your tears like me when I cried my heart out … N E U N "Es tut gut, wieder zusammen zu sein!", schrie Will über die lärmende Musik hinweg. Sie hatten durch Hay Lin, die allem Anschein nach ein echtes Partygirl geworden war, einen Tisch in einem ruhigeren Teil der Tanzbar bekommen. Das Etablissement hätte zu jedem erdenklichen Anlass gepasst. Es war modern gestaltet, mit Neonlichtern versehen, einer Nebelmaschine ausgestattet und beherbergte nicht nur eine pittoresk blinkende Bar am einen Ende, sondern sogar drei Tanzflächen, deren Böden zu jedem neuen Takt in passenden Farben blinkten. Von ihrem Tisch in der hinteren Reihe aus konnten die fünf Wächterinnen in Ruhe beobachten, wie sich halbnackte Körper aneinanderschmiegten, Eifersuchtsszenen noch auf der Tanzfläche ausbrachen und spielend leicht neue Freundschaften geschlossen wurden. Der blonde Mann mit den blauen Augen, der Cornelia an ein männliches Abbild von sich erkannte—wie auch immer sie auf diesen verworrenen, gänzlich unpassenden Gedanken gekommen sein mochte—hatte mittlerweile eine hübsche Brünette erfolgreich angetanzt. Es dauerte nicht lange, bis sie an die Bar torkelten, beide bereits einen leichten Schwips vortäuschend, um am nächsten Tag nicht bereuen zu müssen, was die Nacht noch brachte. Nachdem der Blonde aus ihrem Sichtfeld verschwunden war, wandte Cornelia sich wieder dem eifrigen Gespräch zu, das sich an ihrem Tisch aufgetan hatte. Bevor sie ihrem Job nachgingen, wollten sie tun, wozu sie offiziell hergekommen waren. Kein Caleb dieser Welt konnte ihnen mit seinem übersteigertem Pflichtbewusstsein diese Abend mies machen. Auch nicht mit dem schlechten Gewissen, das er ihnen versuchen würde einzureden, sobald er merkte, dass sie diese Sache nicht ernst nahmen. Noch nicht. Es dauerte lange, bis die aktuellsten Neuigkeiten ausgetauscht worden waren. Zwei Stunden lang vergaßen sie ihren Auftrag, um zu sein, was sie die letzten fünf Jahre lang gewesen waren: junge Frauen. Taranee erzählte von ihrem heimlichen Verehrer, der ihr vor einiger Zeit Blumen geschickt hatte, sich dann jedoch als Spinner mit Akne und einem Hang zu giftigen chemischen Substanzen herausgestellt hatte, was Irma ihr die nächste halbe Stunde lang mit jeder Silbe vorhielt. Sie selbst hielt mit ihren Errungenschaften kaum hinter dem Berg. Ihr Haus, ihr Auto, ihr Job, ihr Verlobter, die neunzehnjährige Wächterin des Wassers lebte das Leben einer standhaften Frau. "Und wann kommt das erste Kind, meine Dame?", fragte Cornelia spitzbübisch. "Halte dich lieber ran, sonst ist dein Leben in Rente, wenn du so schnelle Schritte machst." "Du bist doch nur neidisch, weil du ein Fach studierst, in dem nur Freaks sitzen, Corny!" "Nenn' mich nicht Corny!", fauchte sie, einen Finger anklagend auf ihre Freundin gerichtet. "Ich bin kein Müsliriegel, und schon gar kein Freak. Dieses Studienprogramm ist angesehen, wissenschaftlich fundiert, faktenbasiert, anwendungsorientiert und nützlich!" Irma unterdrückte lautes Gelächter. "Hokuspokus sage ich!" "Du kannst mich mal, sage ich!" "Mädchen!", rief Will die Streithennen zur Ordnung, ehe jemand an die hohen Decken gehen konnte. Sie übergab das Wort umsichtiger Weise an Hay Lin, die erneut eine Wiederholung dessen wiedergab, was sie bereits vor einer dreiviertel Stunde erzählt hatte. Es dauerte eine weitere dreiviertel Stunde, bis sie wieder endete und nachdem die wichtigsten persönlichen Neuigkeiten endlich ausgetauscht worden waren, wanderten ihre Körper wie automatisch zur Tanzfläche, über welche die übliche House- und Technomusik schallte. Während Will, Irma und vor allem Hay Lin ganz in ihrem Element waren, passten die anderen beiden Damen jedoch recht schnell und verzogen sich mit zwei alkoholfreien Cocktails wieder in das Séparée. "Die haben sich alle nicht verändert", meinte Taranee und nippte an ihrem Glas. Cornelia fingerte an ihrem blauen Strohhalm herum. "Du dich aber auch nicht. Immer noch die engagierte, kluge Streberin. Es ist schön zu sehen, dass manche Dinge gleich bleiben." "Ehrlich gesagt, ich denke nicht, dass wir uns jemals komplett ändern werden. Du warst auch schon immer diese ernste, skeptische Realistin." "So ist das eben mit uns", sagte Cornelia und stützte das Kinn auf den Handrücken. "Ich hätte mir nur gewünscht, dass wir uns unter anderen Umständen wiedersehen. Ich befürchte, wir sind gar nicht mehr in diesem Weltrettungskram drinnen. Und um nun einmal mit der Wahrheit herauszurücken, ich habe überhaupt keine Lust darauf." Sie trank das halbe Glas in einem Zug leer. "Sie sollten aufhören, überall Grenadine hineinzuschütten. Das alles passt mir ganz und gar nicht." Taranee lachte. "Ich habe noch nie jemanden getroffen, den das so nervt." "Ich meine doch nicht den Cocktail", korrigierte Cornelia. "Dieses ganze Verwandeln und Weltretten und so, das bin ich nicht mehr. Eine Wächterin zu sein war vor langer Zeit meine Aufgabe. Da war es cool und aufregend, aber inzwischen habe ich damit abgeschlossen. Ich möchte nicht mehr diese süßen, putzigen Flügelchen auf meinem Rücken haben und auch nicht um fünf Jahre älter wirken. Dann sähe ich aus wie vierundzwanzig und das ist um fünf Jahre näher an der dreißig als meine neunzehn! Außerdem habe ich einen Job, ein Studium, eine Menge Arbeit und nächsten Monat eine extrem wichtige Prüfung, da habe ich nun echt keine Zeit für das Ganze. Zudem trage ich dann diesen lila Rock und lila ist so was von out!" Sie sahen sich kurz an – Cornelia ernst, Taranee fassungslos –, dann lachten sie laut los. "Um ernst zu bleiben, ich sehe die Gefahren viel deutlicher als damals. Als Kinder waren wir unbesorgt, nicht so ängstlich. Wir wussten nicht, was auf dem Spiel stand, haben einfach übersehen, dass wir dabei hätten draufgehen können. Diese ganzen Gefahren erscheinen mir viel schlimmer als früher." Taranee nahm ihre Hand. "Aber sieh' doch einmal die Vorteile. Wir haben viel mehr Wissen als damals, viel mehr Erfahrung und vielleicht auch mehr Macht. Unsere Kräfte wachsen mit unserer mentalen Stärke und da wir alle eigenständig sind, haben wir sicherlich größere Kräfte als mit vierzehn. Außerdem ist lila niemals out." Sie brachen in schallendes Gelächter aus und in diesem Moment war ihnen beiden, denjenigen, die am meisten Angst hatten, so leicht ums Herz, dass sie alle Sorgen für die nächsten Minuten vergaßen und so unbeschwert redeten, als wäre sie noch in der High School. "Hey, wieso habt ihr schon so früh schlapp gemacht?", zog Irma sie auf, als sie mit den anderen wieder zum Tisch kam. Es war inzwischen kurz nach halb zwölf. "Wir sind müde geworden", erklärte Cornelia, doch dann fiel ihr jemand auf. "Ist das Matt da drüben?" Sie deutete auf eine Gruppe junger Männer, die sich um die Bar tummelten. "Was? Wo? Oje, wie sehe ich aus?" Panisch versuchte Will ihr vom Tanzen wirr gewordenes Haar zu ordnen. "Ist doch völlig egal, du kannst da nicht rüber gehen!", verbot Irma es ihr. "Hast du vergessen, warum wir eigentlich hier sind?" "Stimmt." Cornelia nickte. "Ich bin nämlich extrem müde und werde dann mal nach Hause gehen." "Geht's vielleicht noch etwas auffälliger und gespielter?", nörgelte Irma. "Mach du es doch!" Sie wandte den Kopf ab. "Außerdem hört uns hier drinnen sowieso keiner, der nicht unmittelbar bei uns steht. Ich verstehe mein eigenes Wort ja nicht einmal. Also, bis später." Mit stapfenden Schritten durchquerte sie das Tanzlokal und griff etwas rabiat ihren unschuldigen Mantel, dessen Schlaufe sich am Kleiderständer verhakte und sie beim Versuch, wütend wegzugehen, zurückhielt und zu Fall brachte. Sie dachte schon, gleich den dreckigen Boden unter ihrer teuren Hose zu spüren, aber stattdessen fingen schlaksige Arme sie mehr schlecht als recht und richtete sie wieder auf. "Alles in Ordnung?" "Matt! Danke, ja." Verlegen blickte sie in Wills Richtung, doch man sah sie hinter der Ecke nicht. "Schön dich zu sehen. Ich wollte gerade gehen." "Dachte ich mir fast. Ist Will auch hier?" "Will?" Unschlüssig trat sie von einem Bein auf das andere. Sollte sie es ihm sagen? Lügen war immerhin eine Todsünde. "Nein, ich bin mit Studienkollegen hier." Was sollte es, sie glaubte sowieso nicht an Gott. "Aber ich bin total müde, es ist ja auch schon spät. Halb zwölf immerhin. Also, mach's gut!" "Cornelia, warte!" Wäre ja auch zu schön gewesen. "Tut mir leid, dass ich dich das frage, aber ich muss einfach. Wie hat Will meinen Anruf aufgenommen?" Kurz und schmerzlos, Hauptsache kurz, sagte Cornelia sich in Gedanken. "Sagt dir Wolke sieben etwas? Ich denke, das ist mehr Information, als ich dir hätte sagen dürfen. Du bist ein netter Kerl und du wirst sie gut behandeln. Ich hoffe zumindest, dass du aus diesem Grund angerufen hast?" "Nun ja, im Prinzip…", begann er. "Ist ja auch egal, besprich das mit Will. Ich muss jetzt echt los. Man sieht sich!" "Warte! Willst du echt alleine nach Hause gehen? Es ist spät und dunkel. Ich würde ein schlechtes Gewissen haben, wenn ich dich nicht wenigstens bis zu einem Taxi bringen würde." Er ging lächelnd an ihr vorbei und hielt ihr die Türe auf. "Oh, nein", zischte Cornelia. "Matt, echt, das ist lieb von dir und ich würde wirklich gerne diesen Service in Anspruch nehmen, aber ich bin schon groß. Ich schaff das schon." "Na gut, wie du willst." Er ließ sie passieren und schloss mit unsicherer Miene die Türe hinter ihr. Matt war von Natur aus mit einer gesunden Portion Neugierde ausgestattet, aber er hatte gelernt, diesem kindlichen Drang nicht immer nachzugeben. So auch heute Nacht. Er schwor sich, nicht nachzufragen. Will war nicht hier, also gab es keinen Grund, misstrauisch zu sein. Er schwor sich aufrichtig, der Sache nicht nachzugehen, doch als er Irma und Hay Lin auf die Toilette verschwinden sah, fielen alle guten Vorsätze von ihm ab. Da war etwas im Busch! Die übliche Mädchenrunde wieder vereint, eine davon mit äußerst merkwürdigem Verhalten und auch noch eine Lügnerin. Warum hätte Cornelia ihm nicht sagen sollen, dass sie mit ihren alten Freundinnen hier war, wenn nicht aus einem Grund, den normale Menschen nicht erfahren durften? Doch nun war nicht die Zeit, sich diesen Fragen zu stellen. Er war sich sicher, dass hier etwas vor sich ging. Und er musste wissen, was. Als plötzlich Wills restliche Freundinnen inklusive ihr selbst aus dem Club schlichen, entschied er, dass es Zeit war zu handeln. "Jungs, ich muss mich heute leider früher verabschieden", entschuldigte er sich bei seinen Freunden. "Der Flug war echt anstrengend und ich glaube, ich leide an einem Jetlag. Also, wir sehen uns!" Matt ließ seinen Freunden nicht einmal Zeit, etwas darauf zu antworten, so schnell verließ er das Lokal. Cornelia war natürlich längst weg, also musste er den anderen folgen, die aber vermutlich genau ihre Richtung einschlagen würden. Cornelia fühlte sich äußerst unwohl. Sie wusste, dass ihre Freunde und Caleb – welcher derzeit nicht so richtig zu ihren Freunden zählte – nur wenige Meter hinter ihr waren, doch es beschlich sie trotzdem ein unangenehmes Gefühl. Sie wurde natürlich von ihren Freunden und Caleb – der vermutlich auch nie wieder zu ihren Freunden zählen würde – verfolgt, aber da war noch jemand anderes. Dumm von ihr, wo sie doch wusste, dass die Handlanger Phoebes sie beschatteten. Wann würden sie angreifen? Würden sie es überhaupt? Hatten sie die Falle durchschaut? Und wer kam da vorne aus dem schummrigen Licht der Laternen auf sie zu? Ein Feind? Ein Passant? "Dr. Blight?", rief sie verdutzt. "Was machen Sie denn hier?" "Ich gehe mit meiner Hündin spazieren. Jessica, sitz! Sag hallo zu Miss Hale." Cornelia, zwar tierlieb, aber vorsichtig, beugte sich nur aus Höflichkeit hinunter, um den Collie zu streicheln. Er war äußerst zutraulich und hatte einen sehr klaren Blick, anders als alle anderen Hunde, die sie jemals gesehen hatte. Es war, als würde die Hündin ihr direkt in die Augen schauen, als würde sie jedes Wort von dem verstehen, was gesagt wurde. Beunruhigt durch diese Vorstellung ließ sie schnell von dem Tier ab und wandte sich wieder Dr. Blight zu. "Sie scheinen ein eher nachtaktiver Mensch zu sein. Um beinahe Mitternacht trifft man sonst nicht allzu viele Menschen, die ihren Hund ausführen." "Meine Jess ist es, die von der nachtaktiven Sorte ist. Sie sehen heute übrigens sehr hübsch aus. Kommen Sie von einer Party mit ihren Freundinnen?" "Ja, das tue ich. Ich war eben auf dem Heimweg." Plötzlich raschelte etwas aus dem Hintergrund. Cornelia fasste sich erschrocken ans Herz, doch sie vermutete nur Will und die anderen hinter dem Geräusch. "Es ist für eine junge Dame nicht sicher um diese Uhrzeit", meinte Blight mit einem Blick auf seine Uhr. "Das East End ist beinahe vier Kilometer von hier, ich bringe Sie nach Hause." "Danke, Dr. Blight, aber ich muss ablehnen." "Kommen Sie, ich würde wirklich nicht gut schlafen, wenn ich Sie alleine in den dunklen Gassen wissen müsste, nachdem Sie unsere gestrige Sitzung verabsäumt haben. Ich habe mir schon Sorgen gemacht, Ihnen sei etwas zugestoßen." "Oh, das tut mir leid", entschuldige sie sich. Sie wollte nur schnell weg, um Blight nicht in Gefahr zu bringen. "Ich hatte einfach furchtbar viel zu tun und dabei habe ich völlig vergessen, abzusagen…" Und da dämmerte es ihr langsam, aber sicher. War das hier wirklich ein Zufall? Die Hündin sah sie noch immer mit diesem durchdringenden Blick an. Blight schien ihre Unsicherheit zu merken. "Was ist los? Fühlen Sie sich nicht wohl? Ich bringe Sie besser nach Hause." "Nein", verneinte sie vehement. Sie machte einen Schritt zurück, doch da war es bereits zu spät. Der Hund sprang mit ohrenbetäubendem Kläffen auf sie zu. Sein Fell wurde im Flug zu einer Vielzahl schimmernder, schwarzer Stacheln und seine Schnauze verformte sich zu einem reißerischen Maul mit überstehenden Eckzähnen. Das Vieh warf sie um und bohrte seine scharfen Zähne in Cornelias Unterarm, mit dem sie versucht hatte, es abzuwehren. Reflexartig stemmte sie ihre Beine in den Bauch des Ungetüms, doch es war zu schwer als dass sie es über sich werfen hätte können. Trotzdem winselte es schmerzvoll auf. "Wächterinnen, seid vereint!", ertönte endlich Wills Stimme in der nächtlichen Stille, die nur durch das Heulen und Knurren des Untiers durchbrochen wurde. Cornelia fühlte, wie die Stärke ihren Körper durchströmte. Sie schlug ihre Hand auf den Boden, der sogleich zerbröckelte, und schleuderte einen Erdbrocken mit voller Kraft gegen das Monster. Es flog johlend gegen einen Baum. "Auf es!", befahl Will. Während die anderen drei mit Feuer, Wasser und einem Wirbelsturm auf das Tier losgingen, flog sie zu der fluchenden Cornelia, die am staubigen Pflastersteinweg des Parks lag, ihren Arm an den Körper gepresst, um die Blutung zu stillen. "Geht's?" Sie wollte ihr aufhelfen, doch Cornelia wich zurück. "Ja, danke, ich werd's überleben, denke ich. So ein Mist! Ich kann den Arm nicht mehr bewegen!" Mühsam raffte sie sich auf. Währenddessen war auch Caleb mit seinem Schwert auf das Vieh losgegangen, doch als er ihre Beschwerde hörte, machte er mit einem eleganten Rückwärtssalto über das Gesicht des Monsters Kehrt. "Gib her." Er riss ihren Arm hoch. "Au! Den könnte ich unter Umständen noch brauchen!", keifte sie und wollte den Arm aus seinem Griff winden, doch sie konnte ihn überhaupt nicht mehr rühren. Caleb reagierte gar nicht erst auf den lautstarken Protest, sondern kniete sich vor sie hin und legte die Lippen über die Bisswunde, die aussah wie eine Kreuzung aus Schlangen- und Raubtiergebiss. "Hey! Was soll –" Doch Will stieß sie in die Seite, um sie zum Schweigen zu bringen. Inzwischen hatten die drei Kämpferinnen das Untier in meterdickes Eis eingeschlossen und überprüften, ob der Käfig stark genug sein würde. Er war es nicht. Es befreite sich in Sekundenschnelle. "Verdammt!", fluchte Irma. "Wir brauchen hier ein bisschen Erde!" "Ich glaube, sie ist gerade beschäftigt." Hay Lin zeigte auf den kleinen Menschenauflauf, der sich um Cornelia herum gebildet hatte. "Wir schweben in Todesgefahr und trotzdem dreht sich alles noch um sie, das gibt's ja nicht! – Pass auf!" Irma feuerte einen Wasserstrahl auf das Vieh, das Hay Lin um ein Haar mit seinen scharfen Reißzähnen verfehlt hatte. "Cornelia! Beeil dich mal ein bisschen!" "Wieso sie auch immer Stress machen muss", zischte diese ein paar Meter abseits des Kampfschauplatzes. "Bist du bald fertig, oder soll ich ihn dir dalassen?" "Wenn du das kannst, ja. Wenn nicht, dann sei ruhig und lass mich meine Arbeit machen, bevor du deinen Arm nie wieder bewegen kannst." "Ist ja schon gut. Dann probieren wir es eben so." Cornelia schloss die Augen und sammelte ihre Kräfte einen Moment. Mit der unversehrten Hand stieß sie so fest sie konnte auf den Boden unter ihr. Dann herrschte Stille. Eine Sekunde, zwei Sekunden, drei Sekunden, vier Sekunden. Plötzlich vibrierte die Erde. Ein feiner Haarriss zog sich von ihrer Faust weg in Richtung des Feindes, der gerade mit Feuer beschossen wurde. Gespannt sah Will dem Riss zu, der mit jedem Zentimeter näher an sein Ziel kam. Cornelia riss die Augen auf, entfaltete die Faust und riss ihren heilen Arm in die Luft. Es dauerte wieder einen kurzen Moment, bis die Auswirkungen sichtbar wurden. Um das Vieh bildete sich eine Mulde, die sich mit einem mal auftat und ihre Oberfläche auf es schlug. "Gut gemacht", lobte Will, doch es war noch nicht zu Ende. Es durchbrach sein Grab und sprang in die Höhe. Im Sprung nahm es Irma mit, die lauthals schreiend gegen einen Baum krachte. "Caleb, ich will dich ja nicht hetzen, aber beeil dich!" "Ich bin schon fertig. Aber beweg ihn nicht zu viel, sonst könnte sich das Restgift verteilen", warnte er eindringlich. "Kann ich nicht versprechen", erwiderte Cornelia ernst. Sie sah ihn einen Moment lang an, unschlüssig, ob sie ihm danken sollte oder nicht, doch dann entschied sie sich für Letzteres, stand auf und flog zu den restlichen Wächterinnen. "Ich glaube es wird Zeit für eine kleine Landschaftsänderung!" Sie warf die Hände über den Kopf. Ein großer Felsbrocken löste sich vom Gehweg und zertrümmerte auf dem Monster. "Und ein wenig Feuer, um das Ganze zu festigen!" Taranee schleuderte einen gewaltigen Feuerstrahl auf das Trümmerfeld. Das Vieh kreischte und bellte lautstark. "Es widersteht den Flammen! Cornelia, kannst du ein Erdbeben erzeugen, damit Irma Wasser unter der Oberfläche leiten kann?" "Was hast du vor? Willst du etwa…" "Einen Geysir erzeugen, ganz richtig. Irma?" Die Gerufene nickte zuversichtlich und reckte den Daumen empor. Sie verteilten sich; Irma nahm ihre Position genau über dem Feind ein, Cornelia landete hinter einem Busch am Anfang des Parks, um die größtmögliche Spannweite für das Erdbeben zu bekommen und Taranee setzte sich genau neben sie. Aber sie waren nicht alleine. "Matt?", rief Taranee ungläubig. "Was machst du denn hier? Nein, warte, ist gerade unwichtig. Bleib einfach neben mir." Sie gab Cornelia ein Zeichen und diese stemmte die Hände auf den Erdboden. Er bebte unter den Erschütterungen. Weiter vorne zog Irma hunderte Liter Wasser durch die Erde in ihre Richtung. Taranee legte indes ihre Hände auf Cornelias, um Hitze in den Wasserstrom zu leiten. "Cornelia, jetzt!", schrie Taranee. Umgehend machte Cornelia sich daran, das Epizentrum des Erdbebens auf einen Punkt unter dem Monster zu verlegen. Sie verstärkte die Intensität, sodass der Boden sich auftat und Irmas Wasser wie eine Fontäne herausschoss. Durch die Erhitzung war es lange über den Siedepunkt heraus und statt dem eigentlichen Wasser kam heißer Dampf herausgeströmt, den Hay Lin in einen Wirbelsturm verwandelte. Der Wirbel schleuderte das Untier meterweit in die Höhe, verbrannte es und ließ es danach krachend auf den Boden fallen. "Ist es endlich tot?", fragte Irma, die erschöpft auf den Knien landete und die Flügel hängen ließ. "Sieht so aus", meinte Will. Sie stupste den leblosen Körper vorsichtig mit der Schuhspitze an, aber er regte sich nicht. "Na endlich." Sie löste die Verwandlung seufzend auf. "Wo sind Cornelia und Taranee?" "Hier sind wir und wir haben ein Geschenk für dich", rief Cornelia. Sie winkte lächelnd. "Ich hab dir gesagt, du sollst ihn möglichst wenig bewegen!", tadelte Caleb mit zusammengezogenen Augenbrauen. "Frauen…" "Es ist immer noch mein Arm, Mister –" Doch ihr fiel keine passende Bezeichnung ein, also beließ sie es dabei. Will hatte indes Matt erblickt und trat unruhig mit gefalteten Händen von einem Bein aufs andere. "Hey, hallo, Matt. Schön dich zu sehen." "Auch schön dich zu sehen. Ich konnte es nicht erwarten, dich zu wiederzusehen, also dachte ich mir: 'Geh ihr einfach nach und begrüße sie', aber das ist leider etwas danebengegangen." "Du hast dich gar nicht verändert", meinte Will mit geröteten Wangen. "Neugierig bis aufs Letzte." "Leute? Tante Irma unterbricht ja nur ungern euren Flirt, aber wir haben hier gerade wichtige Dinge zu klären. Zum Beispiel, was dieses Ding da war und was der Kerl damit zu tun hat, dem es gehört!" "Dr. Blight ist sicherlich nicht der Besitzer davon!", wandte Cornelia scharf ein. "Er ist ein äußerst angesehener Psychologe. Wahrscheinlich wurde er benutzt, um an mich heranzukommen! Dieses Ekel hat sich als sein Haustier ausgegeben und als es mutiert ist, ist er vor Angst weggelaufen! Wir müssen ihn finden und sicher gehen, dass ihm nichts geschehen ist!" "Hörst du dir selber zu?", unterbrach Irma. "Es liegt doch auf der Hand, dass der Typ eindeutig was damit zu tun hat!" "So ein Unsinn! Er ist nur eine Marionette!", verteidigte Cornelia ihn weiter. "Ich bin mir sicher, dass er ein Handlanger von Phoebe ist! Wer hat schon einen Hund und merkt nicht, dass es in Wahrheit ein ekelhaftes Monster ist?" "Ein Oruck", meldete sich Caleb. "Ein was?", fragten fünf verwirrte Mädchen und Matt. "Orucks sind sozusagen die Haustiere der Bösen", erklärte er. "Es sind ziemlich intelligente, aber eher schwache Tiere. Sie können und haben von allem ein bisschen. Ihre Zähne enthalten Lähmgift, aber es beschränkt sich auf die injizierte Umgebung. Sie sind recht schnell, aber durchaus einzuholen. Ihr Fell kommt einem Panzer gleich, sehr resistent gegen fast alles, aber der ungeschützte Bauch ist dafür sehr empfindlich. Außerdem hat es sehr scharfe Krallen, aber die brechen leicht ab. Ein Allzweckhaustier eben, das man sich meist nur aus Spaß an der Freude hält. Hätte man euch töten wollen, hätte man kein so schwaches Tier geschickt. Irgendwas ist daran faul. Ich bin Irmas Meinung. Wir müssen auf jeden Fall diesen Blight finden und ihn unschädlich machen." "Ich wiederhole gerne: Dr. Blight ist ein sehr angesehener Wissenschaftler und Dozent. Er hat einen glänzenden Ruf und lebt seit Jahren hier! Er kann nichts damit zu tun haben!" "Bist du wirklich so naiv? Glaubst du echt, dass er zufällig gerade heute und hier auftaucht? Woher wusste er, wo du wohnst? Warum bestand er darauf, dich nach Hause zu bringen?" Calebs Stimme wurde lauter, doch auch Cornelias Ton stand ihm um nichts nach. "Was weiß ich, aber sicherlich nicht aus böser Absicht! Er ist ein guter Mensch!", rief sie wütend. "Er hat dich manipuliert, Cornelia!" "So ein Unsinn!", schrie sie ihn zornig an. "Du hättest nur gerne, dass ich dir weiterhin hinterher heule, damit du dich wie ein toller Hecht fühlst!" "Du solltest dir mal selber zuhören", konterte Caleb nicht minder wütend. Er stieß sie gegen einen dick gewachsenen Baumstamm und stützte seine Arme links und rechts von ihrem Kopf ab, sodass sie gefangen war. "Jetzt hörst du mir gefälligst zu, okay? Ich habe recherchiert, nachdem du den Namen das erste Mal erwähnt hast und Dr. Harvey Blight ist ein vierundachtzigjähriger Mann, der an Alzheimer leidet und sich für einen Mann namens Charly Chaplin hält, wer auch immer das ist! Irgendjemand hat sich als Blight ausgegeben, um an das Herz von Kandrakar heranzukommen. Er hat dein Bewusstsein darauf hingedrängt, nicht an mich zu denken, um deine Träume besser verzerren zu können! Ich weiß nicht wieso es gerade so funktioniert, aber es ist die einzig mögliche Erklärung! Er ist ein Traumwandler!" Caleb wandte den Kopf ab, um sie nicht ansehen zu müssen. "Beeinflusste Verarbeitung", murmelte Cornelia plötzlich mit weit aufgerissenen Augen. Plötzlich war es klar. Sie war so dumm gewesen! Das Kapitel erschien vor ihrem inneren Auge ganz klar und deutlich, als wäre es hier. Wie oft hatte sie diese Seite gelesen auf der Suche nach einer Antwort und die ganze Zeit stand sie schon dort! "Was?" Caleb verstand nicht. Er sah sie nun wieder an, doch Cornelias Blick fixierte einen Punkt, der nicht in der Realität lag. "Träume verarbeiten jene Inhalte, die während des Tages nicht hinreichend aufgeschlüsselt wurden", wisperte sie schnell, ihre Stimme überschlug sich beinahe. "Kontinuierliche Erinnerungen werden innerhalb ihres Kontextes zum Traum, wenn keine suffizienten Lösungsvorschläge gebracht werden. Doch zwingt man das Bewusstsein, ein Problem als bewältigt zu sehen, hören die Traumbilder auf und machen den nächst dringlichen Platz." "Ich blick nicht mehr durch", gab Caleb zu. Hinter ihm sagte Will: "Wenn Cornelia loslegt tut das keiner mehr, aber sie resümiert das ganze am Ende noch mal für uns Normalintelligente, du musst nur abwarten." Währenddessen war Cornelia gedanklich bereits viel weiter. "So konnte er in meine Träume gelangen!" "Könntest du das bitte so erklären, dass auch wir durchblicken?", forderte Irma ungeduldig. Cornelia tauchte unter Calebs Armen hindurch. "Solange mein Bewusstsein damit beschäftigt war, an Caleb zu denken, konnte mein Unbewusstsein nicht auf den nächsten Inhalt zugreifen. Caleb war in meinen Träumen immer noch Caleb, ich sah nur jene Bilder, die tatsächlich passiert waren. Aber sobald ich anfing, meine Gedanken von ihm zu entfernen, so wie in der Nacht vor Weihnachten, als mir Blight seine Karte gab, konnten die Träume vom Traumwandler beeinflusst werden, da ein Inhalt nicht mehr omnipräsent war und die Kapazität eines Traumes einnahm. Mit der Ablenkung hat er sich eine Nische geschaffen, in die er schlüpfen konnte! Ich hätte früher darauf kommen müssen!" "Erklärst du bitte, auf was?" Irma bedachte sie mit einem fordernden Blick. "Jedes Mal, wenn etwas Signifikantes in meinem Leben passiert ist, waren die Träume anders als die üblichen, wenn meine Gedanken voll von Caleb waren. Aber es ist mir nie aufgefallen, weil er entweder nicht vorkam und ich wusste, dass dieselben Träume nicht kontinuierlich wiederkehren, sondern ab und zu aussetzen, oder weil die Abweichungen so minimal waren, dass ich sie auf unbewusste Wünsche oder Ängste schob. Doch sobald Blight in mein Leben trat und meine Träume beeinflusste, war ich gezwungen, über sie nachzudenken, da sie mir abstrus vorkamen!" "Warte mal", warf Will ein. "Ich träume manchmal von fliegenden lila Wildschweinen, das ist auch seltsam und meine Träume hat dieser Traumwandler, oder wie auch immer, nicht beeinflusst." "Das kommt daher, dass deine Träume von deinem Unbewusstsein produziert wurden und sie daher zwar seltsam waren, aber dir nicht seltsam vorkamen", erklärte Cornelia, doch noch immer schien niemand zu verstehen. "Träume, die unseren eigenen Gedanken und Gefühlen entspringen, können uns inhaltstechnisch seltsam vorkommen, aber nicht in der Art und Weise, wie sie sich darbieten. Ein lila Wildschwein kam dir komisch vor, aber kam dir auch die Art komisch vor, in der du geträumt hast? Würdest du sagen, dieser Traum war in seiner Art anders als andere?" "Ähm…nein?" Will war überfordert mit der Frage, doch sie ließ sich nichts anmerken. Cornelia wollte sichtlich auf etwas hinaus. "Eben!", rief sie überzeugt und drehte sich schwungvoll um. "Mir kam der Inhalt komisch vor, ja, aber auch die Art, in der ich träumte. Als wäre ich übergeschnappt. Die Erklärung liegt nun auf der Hand: Blight hat meine Träume infiltriert und mir Bilder gezeigt, die seine Gedanken produziert hatten. Sobald mein Unbewusstsein von Caleb als zentralem Thema abließ und er an Wichtigkeit verlor, fütterte er es mit seinen Bildern, ehe es auf die nächst größere Angelegenheit in meinen Gedanken greifen konnte. Versteht ihr?" Taranee versuchte zusammenzufassen: "Du willst uns also sagen, dass der Traumwandler dir falsche Träume eingepflanzt hat, um dich zu manipulieren. Aber wieso?" Caleb hatte die Antwort. "Um an das Herz von Kandrakar zu kommen. Niemand außer den Wächterinnen weiß, wo es versteckt liegt. Die Kraft war jahrelang inaktiv und Phoebe dachte, ihr hättet eure Macht verloren. Daher erachtete sie diesen Zeitpunkt als den passenden, um nach dem Herzen zu suchen." "Richtig", stimmte Cornelia zu. "Er schlüpfte also in meine Träume, während seine Helfer auf anderen Wegen versuchten, euch die Information zu entlocken." "Aber wieso gerade deine? Er hätte doch genauso gut Wills oder meine nehmen können!", warf Hay Lin ein. Cornelia biss sich auf die Lippe. "Ich bot das leichteste Ziel." Ihre Augen wanderten zu Boden. "Zum einen war ich Blights Studentin und wusste davor nicht, wie er aussah. Zum anderen war es vermutlich am einfachsten, meine Träume umzuformen. Dadurch, dass eine Person konstant vorkam, konnte er die Rolle dieser Person übernehmen. Traumwandler können vermutlich nicht als Manifestation in den Träumen anderer Personen auftreten. Sie müssen Besitz von einer Person ergreifen, die in diesem Traum vorkommt. Und bei mir konnte er sicher sein, dass ich jede Nacht von einer Person träume und so ergriff er Besitz von meinem Traum-Caleb." "Warte, du träumst von mir?", flüsterte Caleb entsetzt. Er wollte Cornelias Handgelenk nehmen, doch sie entzog es ihm schnell wieder, als hätte sie nur zufällig ihr Haar gerade in diesem Moment zurückwerfen müssen. "Bilde dir nichts darauf ein", zischte sie. "Und was machen wir jetzt?", wollte Caleb wissen, um den peinlichen Moment zu überspielen. "Wir machen gar nichts", beschloss Will. "Ich finde, du hast bereits genug angerichtet, Caleb. Nicht nur heute." Ihr ernster Blick verbot ihm jedwede Antwort. "Außerdem können wir heute ohnehin nichts mehr tun. Wir sollten nach Hause fahren und die Sache überdenken. Matt?" "Was?" Er schreckte auf, als man ihn so direkt ansprach. "Ich denke, wir müssen unser Treffen morgen verschieben. Es tut mir wirklich leid, aber du siehst ja: Wir haben wieder einmal eine Menge Ärger." "Wenn ich euch helfen kann, egal wie, ruft mich an." Er gab ihr einen Kuss auf die Wange und wandte sich zum Gehen. "Das war mal wieder nötig", murmelte Irma. Sie warf Will einen kurzen Blick zu, doch diese war bereits in ihrer eigenen Welt, fernab jeder Sorge. Kapitel 10: Remnant Love ------------------------ … 
I can't escape the veil you weaved for me with all my thoughts held tight to you … Z E H N Will war für den Rest der Nacht nicht richtig ansprechbar. Sie nickte zwar brav und murmelte auch manchmal Antworten auf Fragen, doch diese waren immer falsch und bezogen sich zumeist auf eine ganz bestimmte Person, die ihr völlig den Kopf verdreht hatte. Irma, Hay Lin und Taranee gaben es nach einer viertel Stunde auf, mit den anderen über mögliche weitere Vorgehensweisen zu sprechen, denn Will war weggetreten und ohne ihre Autorität fingen auch Cornelia und Caleb wieder an, sich zu zanken. Egal, was er sagte, sie beschwerte sich darüber, wies ihn zurecht oder beleidigte ihn, was er natürlich nicht auf sich sitzen ließ. So entschied man, oder eher die einzigen, die klar denken konnten, dass man, oder eher alle die nicht klar denken konnten, schlafen gehen sollten und man, also alle, am nächsten Tag im Silver Dragon besprechen würden, was nun geschehen werde. So verabschiedeten sich alle mehr schlecht als recht und riefen zwei Taxis, die sie in die beiden Wohnungen brachten, welche als Zweigstellen des Hauptquartiers dienten. Taranee hatte anfangs ein Hotel nehmen, doch Hay Lin davon nichts wissen wollen. Cornelia hatte indes versucht, die Schlafplätze so zu tauschen, dass Taranee statt Caleb in ihrer Wohnung schlief, aber das war schiefgegangen. Zum einen wollte Hay Lin dem ohnehin schüchternen Eric keinen möglichen Konkurrenten vorsetzen, an dem er sich verletzen könnte, zum anderen fürchtete sie, die peniblen Nachbarn könnten Verdacht schöpfen, sie sei in falschen Kreisen unterwegs, denn Calebs Manieren waren nach wie vor nicht richtig gesellschaftstauglich und dem Getratsche wollte sie sich nicht aussetzen. Außerdem, und das war der Hauptgrund, hielt sie weiterhin an ihrer Meinung fest, man solle die beiden, Caleb und Cornelia, einfach beisammen lassen, dann würde die Liebe von alleine wiederkommen. So wurde es erneut eine äußerst unangenehme Heimfahrt mit dem Taxi von der Downtown ans East End. Doch im Gegensatz zur dazu äquivalenten ersten Taxifahrt, in der eine unangenehme Stille geherrscht hatte, herrschte nun eine unangenehme Spannung, die durch bösartiges Zischen regelrecht zerhexelt wurde. "Er ist ein Mensch. Wir dürfen ihn da nicht mit reinziehen." "Und? Du bist eine Blume!" "Man nennt es Flüsterer und das war echt tief, sogar für deine Verhältnisse." "Meine Verhältnisse? Ach, setze ich denn neue Maßstäbe?" "Zumindest erreichst du die gesetzten allemal!" "Argh, ich könnte dich…ich würde so gerne…nein, ich werde dich…argh!" Cornelia ballte die Hand zu einer Drohgebärde und beugte sich nach hinten. "Streitet doch nicht an diesem wundervollen Tag", flötete Will aus ihrer anderen Sphäre. Sie hatte den Kopf gegen die kühle Fensterscheibe gelehnt und sah gedankenverloren in den Nachthimmel. "Will, reiß dich zusammen! Du bist keine vierzehn mehr", informierte Cornelia sie schnippisch. Dann drehte sie sich wieder um und murmelte: "Führt sich auf wie im Kindergarten." Caleb konnte sich einen ebenfalls gemurmelten Kommentar nicht verkneifen: "Und du etwa nicht?" "Das will ich überhört haben." Damit war die Diskussion beendet, denn Will war eingeschlafen und Caleb dachte nicht daran, Cornelia neuen Brennstoff zu geben, um ihm einzuheizen. Dass sie ihm verbal und somit rhetorisch überlegen war, war keine Kunst. Er war ein Krieger, ein Mann der Fäuste und sie, ein Mädchen, neigte eindeutig dazu, sich in der Kunst der psychologischen Kriegsführung zu profilieren, worin er keine Chance hatte. So hüllte sich auch diese Heimfahrt in totes Schweigen, bis Cornelia den Fahrer bezahlte und Caleb damit beauftragte, die schlafende Will hinauf in den vierten Stock zu tragen. "Du weißt ja, wo alles ist. Leg sie auf ihr Bett und lass sie einfach schlafen. Aber sei vorsichtig, sie hat einen leichten Schlaf. Gute Nacht." Und dann herrschte wieder Totenstille um die drei Personen herum. In dieser Nacht wagte Cornelia es, einzuschlafen, wenn auch nicht gewollt, sondern aus überwältigender Müdigkeit. Sie hatte seit gestern nicht geschlafen und selbst wenn sie sich unwohl fühlte bei dem Gedanken, Caleb könnte von ihren Alpträumen erfahren, wenn sie wieder einmal schreiend und weinend aufwachte, verspürte sie doch auch ein gewisses Wohlgefühl bei dem Gedanken, dass Caleb nur ein Zimmer weiter lag. "Himmel, Schluss damit!", mahnte sie sich selbst. "Keine positiven Gefühle jemandem gegenüber, der mir wehtun könnte. Schwör es dir, Cornelia, schwör es! Los!" Sie sah ihr Spiegelbild an, das ihr auffordern entgegenblickte, aber weder es, noch sie selbst gaben einen Ton von sich. "Schwör dir, dich nicht noch einmal in ihn zu verlieben – besser noch, ihn gar nicht erst wieder zu mögen. Komm, mach endlich!" Aber es blieb still im Raum. Resignierend seufzend ließ sie sich auf ihr Bett fallen und zog sich die Schlafkleidung umständlich im Liegen an. Und noch bevor sie die Decke über ihren Körper ziehen konnte, fielen ihre Augen zu und der Traum begann. Die Kälte in Cornelias Zimmer verlegte den heutigen Traum auf ein riesengroßes Eisschelf, das ihr überhaupt nicht bekannt vorkam. Sie stand alleine dort, ohne eine einzige Menschenseele. Der eiskalte Wind peitschte gegen ihre zarte Haut, die unter dem leichten Kurzpyjama nur wenig Schutz fand. Zitternd schlang sie ihre Arme um sich, doch es half nichts. Sie schrie nach ihren Freundinnen. Der Sturm wurde immer schlimmer, bis das Heulen ihre Stimme übertönte, dann schlugen feine Hagelkörner, vom Wind getragen, auf ihren Körper. Cornelia spürte weder Finger, noch Zehen, und sie wusste nicht, wo sie war, wohin sie gehen sollte. Ein tiefes Gefühl der Verzweiflung und Einsamkeit überrannte sie. Es trieb ihr Tränen in die Augen, die beim Herunterrollen zu Eis gefroren und klirrend auf den Schneeboden fielen. Stehen half nichts. Entschlossen drehte sie ihren steifen Körper um. Sie befahl ihren widerspenstigen Gliedern, sich vorwärts zu bewegen, vom Rand des Schelfs weiter ins Innere. Sie hoffte, auf eine Siedlung oder Ähnliches zu treffen. Unbewusst und unwillkürlich rief Cornelia die Namen ihrer Freundinnen weiterhin, ohne sie zu hören. Und plötzlich lichtete sich der Schneesturm ein wenig. Er gab die Sicht auf eine schemenhafte Gestalt frei, die durch den Schnee auf sie zu watete. Anfangs dachte sie, es wäre Will, doch der Schemen war eindeutig männlich. Und da ging es ihr auf. "Na super", zischte sie. Endlich hatte sie verstanden. Es war wieder ein Traum, einer jener Träume, in denen nichts passierte und man nur hilflos durch eine unbekannte Umgebung irrte, bis man das Gefühl hatte, verfolgt zu werden und begann, zu fliehen. Aber hier war es umgekehrt: Jemand kam auf sie zu. Und sie wusste, wer es war. Wer sonst kam in allen ihren nächtlichen Ausflügen vor – egal in welcher abgelegenen Gegend? Sie hoffte nur, nicht loszuschreien. Doch nun, da ihr klar war, dass sie träumte, wusste sie sich zu beherrschen. Wie angewurzelt verharrte Cornelia auf der Stelle. Ihr Arm legte sich schützend über ihre Augen, aber die Eiseskälte gelangte trotzdem noch an ihr Gesicht. Nun wartete sie. Sie wartete Stunden, bis die Gestalt nur mehr wenige Meter vor ihr war und sie ihr Gesicht zu erkennen glaubte. Und dann, so unerwartet wie nur etwas, tat sich der Abgrund auf. Instinktiv, das Wissen um den Traum über Bord geworfen, rannte Cornelia schreiend auf den Abgrund zu. Sie erwischte das Handgelenk der Gestalt nur mehr ganz knapp. "Caleb!", kreischte sie verzweifelt. Sein lebloser Körper baumelte von ihren schlanken Armen gehalten am Rande der kilometertiefen Schlucht. Langsam, aber sicher, verließen sie die Kräfte. "Hilfe! Hilfe!" Aber es kam niemand. Der Körper wurde immer schwerer, die Last unerträglich. Calebs Handgelenk entglitt ihr mit jeder Sekunde mehr und mehr, bis sich nur mehr ihre Fingerspitzen ineinander verhakt hatten. Und dann fiel er. "Neeeein!" Ihr eigener schriller Schrei ließ Cornelia in ihrem Zimmer erwachen und von dem Lärm erschrocken gellend kreischen. "Cornelia!" Caleb war in ihr Zimmer gestürmt, nur in Unterhose und dem Shirt der Heavymetal Band. "Was ist passiert? Hat dich jemand angegriffen?" Nun erst sah sie das Schwert in seiner Hand. "Nein, niemand, es war –" Sie stockte und sah beschämt zu Boden. "Es war nur ein Alptraum." "Dir geht es also gut?", versicherte er sich. Seine Miene verriet eine Mischung aus Besorgnis und Unbehagen. "Physisch ja." Aber als sie merkte, wie peinlich ihre Antwort war, verbesserte sie: "Ja, mir geht es gut. Es war ja nur ein Traum. Ähm…was habe ich denn geschrien?" Vor der Antwort fürchtete sie sich mehr, als vor dem Traum. "Nichts", meinte Caleb nur schlicht. "Du hast einfach geschrien. Dir geht es wirklich gut?" "Sehe ich etwa nicht so aus?" Cornelia erschrak über ihren feindseligen Ton. "Tut mir leid, ich will nicht schon wieder streiten. Das alles wühlt mich nur ziemlich auf." Er lächelte matt. "Das kann ich verstehen. Die neue Gefahr, der neue Kampf, die neue Unordnung und die erneute Aufgabe, als Wächterinnen die Welt zu beschützen." "Ja. Ja, genau das – und…" Sie brach ab. Es auszusprechen bedeutete, Schwäche zuzugeben. Aber es war sowieso zu spät. Ihr Mund arbeitete ohne ihre Einwilligung. "Und du." Caleb machte einen Schritt auf das Bett zu, ohne wirklich näher zu kommen. Er war nicht sicher, ob er dieses Gespräch weiterführen wollte und vor allem sollte. Es konnte übel ausgehen. "Was meinst du mit ich?" Cornelia holte tief Luft. Es kostete sie einige Überwindung, das auszusprechen, was sie sorgsam vermieden hatte zu denken und zu fühlen. "Damit meine ich, dass mich dein Auftauchen aus der Bahn geworfen hat." "Deshalb hasst du mich?" "Was bedeutet schon Hass?", sinnierte sie. Ihr Herz klopfte schneller, als sie wie von selbst aufstand, zu ihm hinüberging und dicht vor ihm stehenblieb. Es war ihm sichtlich unangenehm. "Stimmt schon, du hast mich verlassen, aber darum hasse ich dich nicht. Ich war im ersten Moment nur enttäuscht." "Cornelia, ich –" Aber sie sprach einfach weiter. "Weißt du, ich dachte die ganze Zeit über, dass mich dein Auftauchen aus der Bahn werfen würde, dabei war es nur der Gedanke daran. Ich hatte Angst, dir wieder zu verfallen. Darum habe ich dich anfangs so geringschätzig behandelt." Caleb war völlig überfordert. Ihre Worte hatten irgendwie keinerlei Logik. Was zum Henker meinte sie bitte? Plötzlich nahm sie seine Hand. Gedanken strömten in seinen Kopf, die zu fassen er nicht fähig war. Was sollte das alles? War das ein abstruser Traum seiner eigenen Wünsche? War es ein verdrehtes Spiel des Traumwandlers? Oder war Cornelia jetzt völlig übergeschnappt? Sie sah ihn ernst an, stellte sich auf die Zehenspitzen und war nur mehr wenige Zentimeter von seinem Gesicht entfernt, als sie schlagartig stoppte. "Ich mag dich nicht." Der Moment der verqueren Zärtlichkeit war schlagartig vorbei. Sie begann amüsiert zu lachen, machte eine elegante Pirouette und jubelte stumm triumphal. "Ich war so dumm!" Sie sprach mit unangebrachter Erleichterung, gar Euphorie. "Ich dachte allen Ernstes, ich könnte mich wieder in dich verlieben, nach all der Zeit. Aber das werde ich nicht, weil ich es gar nicht kann! Das ist klasse! Ich hab mir die ganze Zeit umsonst Sorgen gemacht!" "Bist du übergeschnappt oder so?", fragte Caleb sie halb ernstlich besorgt, halb fassungslos. Sie machte ihm sogar ein bisschen Angst. "Um das klar zu stellen" – sie wurde wieder ernster – "ich bin dir nicht böse. Ich hab dich so abwertend behandelt, weil ich Angst hatte, dir wieder zu verfallen. Aber das ist vorbei. Ich hab das mit mir geklärt. Da sind keinerlei romantischen Gefühle mehr dir gegenüber. Du bist mir einfach unsympathisch. Wahrscheinlich werden wir weiterhin streiten, aber das hat nichts damit zu tun, dass du mich abserviert hast, sondern damit, dass ich dich einfach nicht leiden kann." Nun, da ihr klar geworden war, dass sie keinerlei Gefahr lief, ihm wieder zu verfallen, war ihr Herz um so viel leichter. Caleb sah das scheinbar nicht ganz so gelassen. Sein Gesicht verriet Verwirrung und Empörung. "Vielen Dank für diese Information", höhnte er ungläubig. "Du konntest das nicht etwas netter formulieren?" "Wozu umschreiben, wenn es so viel einfacher geht?" "Vielleicht, um meine Gefühle nicht zu verletzen? Außerdem habe ich dich nicht verlassen, ich habe meine Pflichten über meine Gefühle gestellt und die negativen Konsequenzen gegen die positiven Belohnungen abgewogen." "Nenn es, wie du willst, jedenfalls bin ich deswegen nicht böse und auch nicht verbittert. Wir können also ganz normal miteinander umgehen. Wie zwei Menschen, die sich einfach nicht leiden können." Caleb wollte schon protestieren, doch er fand keine Worte dafür. Dass sie ihn abfällig behandelt hatte, war verständlich gewesen, das hatte er erwartet – aber das? Sorglosigkeit und Leichtigkeit über ein Thema, das ihn selbst aufgrund der Schuldgefühle zerfraß? Andererseits, wenn sie selbst es so einfach sah, wieso sollte er dann anders darüber denken? Mit ihren Ansichten waren seine Probleme gelöst und das war durchaus zu begrüßen. Er musste sich keine Gedanken mehr machen, ihre Gefühle zu verletzen oder ihren ohnehin schon verletzten Gefühlen einen weiteren Stich zu versetzen oder ihre Seele in Stücke zu zerfetzen. Wenn sie sich nicht länger über diese Sache definierte, war das für ihn nur gut. In Zukunft konnte er sich wehren, denn sie standen nun auf gleicher Stufe. Er war nicht länger der Buhmann, der sie gekränkt hatte und nun im Nachteil war. "Hast du nichts dazu zu sagen?" Cornelia deutete sein Schweigen als Unsicherheit, aber Caleb zerstreute ihre Zweifel schnell. "Nein, du hast alles gesagt, was zu sagen war, denke ich." Er streckte ihr die Hand entgegen. "Freunde?" "Reduzieren wir es auf Mitmenschen", scherzte Cornelia. Einverstanden ergriff sie Calebs Hand und drückte sie als Zeichen ihrer Anerkennung. "Da das nun geklärt wäre, hätte ich gerne ein paar Antworten." Er wartete ein Nicken ab. "Frage Nummer eins: Wieso wohnst du hier? Dein Zimmer war doch sehr schön und vor allem größer als die ganze Fläche hier." "Ah, gehen wir zum Smalltalk über?", fragte Cornelia skeptisch. Ihr erschien das eben Geschehene irgendwie unwirklich. Dass es ihr so leicht gefallen war, sich sicher zu sein, dass sie sich niemals mehr in ihn verlieben würde, war seltsam – beinahe magisch. "Nennen wir es Informationsbeschaffung. Ich möchte mich gerne erfahren, was alles passiert ist." "Wenn du unbedingt willst." Sie warf einen kurzen Blick aus dem Fenster. "Aber es ist keine allzu schöne Geschichte." "Ich bin gewappnet." Cornelia wollte bereits loslegen, die Wahrheit zu erzählen, doch obgleich es ihr leichter gefallen wäre, ihm zu erzählen, dass sie sich seinetwegen abgekapselt hatte und darum mit ihren Eltern in Konflikt geraten war, besann sie sich doch auf die andere Version. "Nachdem diese ganze Wächtergeschichte vorbei war, haben wir uns alle auseinander gelebt. Wir waren zwar noch befreundet, aber mit der Zeit wurden andere Freunde wichtiger. Ohne diesen ganzen Weltrettungskram konnten wir uns außerdem mehr oder minder gut auf die Schule konzentrieren und darüber nachdenken, wie unsere Zukunft aussehen würde. Meine Mutter ist Restauratorin und sie hatte sich stark dafür eingesetzt, mir ein Praktikum zu verschaffen, über dessen Empfehlung ich an einer teuren Privatschule aufgenommen wäre. Sie arbeitet seit dem Beginn ihrer Karriere an einem alten Schloss mit großen Anbauten und vielen heiklen Statuen. Die Restauration macht sie ganz alleine, da es früher zu unserem Familienbesitz gehörte, aber der Stadt als Museum zur Verfügung gestellt wurde, nachdem mein Großvater dem Aufwand dieses großen Baus nicht mehr gewachsen war. Die wichtigsten Räumlichkeiten sind seit Jahren fertig und auch in Betrieb, aber der Anbau und der Garten, die noch aus der Renaissance stammen, erfordern noch einiges an Arbeit. Darum wollte sie, dass ich die Arbeit fortführe. Aber vor drei Jahren entschied ich mich, nach meinem Schulabschluss doch lieber Psychologie zu studieren, als auf die Architekturfachschule zu gehen. Das hat ihr nicht gepasst. Wir sind aneinander geraten, ziemlich oft und heftig, nicht nur wegen diesem Thema. Es war einfach nicht mehr auszuhalten. Will indes wollte endlich mehr Platz für sich, da ihr Bruder immer größer und vor allem lauter wurde. Also schlossen wir zwei unzufriedenen Seelen uns zusammen und mieteten dieses Appartement. Nun ja, diese winzige Wohnung." "Beeindruckend. Du bist erwachsen geworden." Doch das hätte er besser nicht gesagt. Cornelias Miene verfinsterte sich zu einem Todesblick, der ihn schnell verbessern ließ. "Nicht, dass du damals kindisch gewesen wärst, du warst mit Abstand die Erwachsen–" "Nützt nichts mehr", schnitt Cornelia ihm das Wort ab. "Fällt dir nicht auf, dass du dir ziemliche Frechheiten erlaubst? Ich habe dir gerade Waffenstillstand angeboten, zumindest was die ungerechtfertigten Angriffe angeht und du zerstörst es damit, dass du mich daran erinnerst, wieso du Schluss gemacht hast. Vielen Dank." "Cornelia, ich wollte nicht…ich dachte, das wäre Vergangenheit?" "Ach, lass mich einfach in Ruhe!" Mit einem Satz sprang sie auf und stieß ihn zur Türe hinaus. Diese knallte sie mit so einem enormen Krach zu, dass sie selbst vor Schreck zusammenzuckte. Und dann brach es über sie. Ihre Muskeln versagten ihr den Dienst, sie sank in sich zusammen, die Arme um die Knie geschlungen und weinend. Das Schluchzen drang durch die Walnusstür, doch Calebs Misslaune wegen des Rausschmisses – des ungerechtfertigten Rausschmisses – machte seine Ohren taub für die Hilferufe des Mädchens, das ihn gerade eben mehr als jeden anderen gebraucht hätte. "Was ist bloß mit mir los?", schluchzte Cornelia leise. Ihre Haare verdeckten ihr die Sicht und ihre Lippen zitterten unkontrolliert. "Das ist ja schlimmer als in der Pubertät…verdammt…was geschieht hier?" Ihre Stimme brach. Diese Gefühlschwankungen, diese Mischung aus Manie und Depression, das schlug langsam auf ihre Nerven. Sie war fertig mit sich und der Welt. Dass es noch nicht einmal angefangen hatte, wusste sie ja nicht einmal. Der Morgen brach an, aber niemand reagierte darauf. Will war zwar bereits um acht Uhr wach, doch sie brachte die Zeit der Stille damit zu, Zeitung zu lesen und dem Radio zu lauschen. Sie hatte wunderbar geschlafen! Irgendwann war sie zwar aufgewacht und hatte Cornelia und Caleb streiten gehört – schon wieder –, doch das hatte sie nicht weiter berührt. Es kam ja – unverständlicherweise – sehr häufig vor, dass die beiden sich fetzten. Wieso auch immer, denn ein jeder sah ihnen an, dass sie schlicht und einfach noch Gefühle füreinander hatten. Egal welcher Natur nun genau. Ebenjene beiden waren von dem Streit allerdings anscheinend so erschöpft, dass sie bis in die Mittagsstunden hinein schliefen. "Morgen", murmelte Caleb. Er ließ sich von Will Kaffee anbieten, doch der bloße Gedanke daran schien in ihm Brechreiz auszulösen. Vielleicht war es aber auch nur der Anblick Cornelias, die mit düsterem Gesichtsausdruck fertig angezogen in die winzige Küche kam. "Warte, ich sitze auf deinem Platz." Er machte Anstalten, aufzustehen, doch sie winkte ab. "Bleib sitzen, ich habe nicht die Absicht, mich in diesem Raum aufzuhalten. Es stinkt hier." "Cornelia?" Will sah ihr verwirrt nach. "Ich esse heute im Silver Dragon", ließ Cornelia sie wissen. "Ich brauche frische Luft, also gehe ich schon einmal vor. Bis dann." Mit einem Karacho, das an die heutige Nacht grenzte, schlug sie die Eingangstüre zu. "O je, was hast du denn gesagt?", wollte Will wissen. Dabei wusste sie genau, dass Caleb wahrscheinlich keine Schuld an ihrer schlechten Laune trug. "Sag nichts, ist auch egal. Hier, das ist ein Zwanziger, der sollte bis zum Silver Dragon reichen. Mainstreet. Der Fahrer sollte wissen, wo das ist. Wir treffen uns in einer Stunde dort. Sei pünktlich und lass die Wohnung ganz! Sperr ab!" "Wo willst du hin?" Sie griff nach einer Tasse, die sie für Cornelia gefüllt hatte und leerte den Inhalt in einen Plastikbecher mit Deckel. "Ihr nach und sie aufheitern." Empört sah Caleb ihr nach. "Und was ist, wenn sie mich beleidigt hat? Ich könnte vielleicht auch Aufmunterung gebrauchen!" "Dann gib deine Männlichkeit gleich bei ihr ab! Du bist ein Krieger und kein Weichei, also mach dich nicht lächerlich!" Sie winkte zum Abschied und lief Cornelia so schnell sie konnte nach. "Cornelia! Warte doch!" Will drückte ihr den Becher in die Hand. "Hier, dein kostbarer Was-weiß-ich-was-Kaffee. Was war denn nachts los? Ich habe nur Türen fliegen gehört." "Er hat mich provoziert", sagte Cornelia schnippisch. "Hat er?" Sie sah ihre Freundin durchdringend an, bis diese ertappt zur Seite sah. "Okay, ich gebe zu, ich hätte nicht böse auf ihn werden müssen, aber es ist mein gutes Recht." "Weil du die Ex bist?" "Nein! Das ist vorbei! Weil…nun, es ist…ich weiß es nicht." Resignierend ließ sich Cornelia an der Bushaltestelle nieder. "Keine Ahnung, was mit mir los ist. Am Anfang war es eine Egalität, die ich ihm gegenüber empfunden habe, aber jedes Mal, wenn ich denke, dass ich alles im Griff habe, kommt diese Verachtung wieder hoch. Es ist nicht einmal so, dass ich mich wieder in ihn verlieben könnte, das habe ich heute Nacht gemerkt. Ich finde ihn unsympathisch und mein Herz rast auch nicht, wenn ich ihn sehe. Ich empfinde nur mehr Abscheu." "Ich verstehe zwar nicht, wieso und warum, aber du musst damit klar kommen und das in den Griff bekommen", mahnte Will ernst. "Wenn wir kämpfen und du hast nicht vollkommenes Vertrauen zu uns allen, dann weiß ich nicht, wie wir gewinnen sollen. Versprich mir, ihn normal zu behandeln. Kleine Zankereien sind erlaubt, mehr aber nicht." "Versprochen." Weitaus mehr diskutiert wurde über Wills Vorschläge zwei Stunden später, nachdem sich alle Wächterinnen samt Yan Lin und Caleb im Keller des Silver Dragon eingefunden hatten. Es war, als hätte man sie fünf Jahre zurückgeworfen. Der alte Treffpunkt, die alten Treffenden, die gleichen Charaktere, äquivalente Probleme. "Ich habe mir Gedanken darüber gemacht", eröffnete Will die Kriegsbesprechung. Sie stützte ihre Hände auf den schweren Holztisch, um den sie sich regelmäßig versammelt hatten, um Pläne zu machen. Der Ausblick war immer noch derselbe wie vor Jahren: Hay-Lin an die Wand gelehnt, Irma auf dem alten Sessel, Taranee mit zusammengezogenen Beinen daneben, Cornelia mit überschlagenen Beinen und skeptischen Augen auf der anderen Seite, Caleb als gelassener Krieger mit verschränkten Armen abseits und Yan Lin mit gefalteten Armen vor den Stiegen. "Folgendes: Wir wissen nicht, wie mächtig Phoebe ist. Wir wissen nicht, wo sich ihre Handlanger aufhalten. Wir wissen nicht, was sie als nächstes plant. Wir wissen nicht, auf wen genau sie es abgesehen hat. Wir wissen nur, dass sie in Meridian ist. Ich schlage vor, wir warten den nächsten Angriff ab, überwältigen den Angreifer und zwingen ihn dazu, uns zu Phoebe zu führen. Irma kann ja sehr überzeugend sein, wie wir wissen." "Ich bin völlig aus der Übung", widersprach diese wenig begeistert von dem Vorhaben. "Andernfalls hättest du schon vor einer Minute aufgehört zu sprechen." "Außerdem", ergänzte Caleb, "können wir nicht sicher sein, dass der Angreifer weiß, wo seine Herrin sich befindet. Sie könnte überall sein. Es ist sicherer für sie, niemandem ihren Aufenthaltsort zu offenbaren. Ihre Untergebenen treffen sich mit ihr vermutlich außerhalb ihres Verstecks. Sie weiß, welche Kräfte ihr habt und wie weit diese reichen." "Ich kann nicht glauben, dass ich das sage, aber ich stimme sowohl Irma, als auch Caleb zu – oh, Gott, mein Seelenfrieden ist dahin." Cornelia überschlug die Beine neu. "Wenn wir sie angreifen wollen, müssen wir entweder warten, bis sie sich uns zeigt, oder wir reisen nach Meridian und suchen sie dort, was aber unwahrscheinlich dumm wäre. Wie du korrekt bemerkt hast, wissen wir nichts von ihr. Der Überraschungsmoment geht uns also auch flöten. Insofern können wir nichts anderes tun, als zu warten, bis sie den nächsten Schritt macht." "Oma, hast du vielleicht eine Sage oder eine Geschichte, die uns weiterhelfen kann?" Yan Lin sah zu Boden und schwieg einen Moment. "Leider nicht, meine liebe Hay Lin. In diesem Fall kann ich euch nichts erzählen. Aber ich kann euch etwas über die Kräfte Phoebes erklären." Sie wurde ungeduldig dazu gebeten. "Als Phobos und Phoebe geboren wurden, wurden ihnen der Legende nach ausgleichende Gaben zugeteilt. Um sich nicht gegenseitig bereits im Mutterleib zu vernichten, erhielten sie jeweils konträren Fertigkeiten." "Wenn Phobos also einen Felsen zerstört, kann Phoebe ihn wieder zusammensetzen?", resümierte Will verwirrt. "Im Prinzip ja. In Wahrheit ist es natürlich viel komplexer und was du beschrieben hast, liebe Will, war die Wirkung. Nehmen wir an, Phobos kann tatsächlich Felsen mit seinem bloßen Gedanken daran zerschmettert, so kann Phoebe sie nicht wieder zusammensetzen, aber sie besitzt diese zerstörerische Kraft in der anderen Richtung. Wenn er also mit weiß schießt, schießt sie mit schwarz." "Das bedeutet, wir müssen nur Phobos' Talente rekapitulieren und sie umkehren, dann haben wir Phoebes Repertoire! Wir brauchen einen Stift!" Will wollte bereits loslaufen, aber Yan Lin hielt sie zurück. "Wisst ihr denn, was Phobos' Kräfte sind? Er hat nur einen kleinen Bruchteil davon eingesetzt. Seine wahre Schlechtheit definierte sich seinerzeit durch sein Kalkül, mit dem er alles und jeden manipulierte. Er stürzte Meridian in Dunkelheit, alleine durch sein Geschick und nicht durch seine Macht. Seine Kräfte umzukehren hilft euch also nicht viel, insofern, als dass ihr sie gar nicht wirklich kennt." "Okay, das sieht mir sehr nach einem Problem aus", fasste Hay Lin schlussendlich zusammen. "Also können wir nichts anderes tun, als zu hoffen, dass wir das irgendwie schaffen. Das heißt, wir leben einfach weiter und warten auf den nächsten Angriff." "Leider, meine lieben Wächterinnen, bleibt euch nichts anderes zu tun übrig. Doch bevor ich euch entlasse, möchte ich euch erst noch etwas erzählen. Es betrifft Cornelias Träume." Kapitel 11: Earth Vial ---------------------- … It looks like the winter sky is crying dripping snow like frozen tears, embraced by humming symphony I wish I'd never hear … E L F "Woher wissen Sie von meinen Träumen?", fragte Cornelia skeptisch. Sie warf Hay Lin, die sich duckte, einen bösen Blick zu. "Das war privat!" "Gib Hay Lin keine Schuld", hielt Yan Lin die Wächterin der Erde zurück. "Sie tat nur das, was sie für richtig hielt. Diese Träume, Cornelia, sie sind etwas Besonderes. Genau wie die Luft zukünftige Dinge wahrnehmen kann, ist die Erde dazu befähigt, an vergangenen Ereignissen festzuhalten, um ihre Realität aufrecht zu erhalten. All die Jahre über, in der das Herz Kandrakars inaktiv war, hast du durch diese Träume deine Fertigkeiten behalten. In deiner Gegenwart stirbt noch immer keine Pflanze, egal was du damit tust, nicht wahr? Früher war das nicht so. Ihr alle dachtet, eure Fähigkeiten wären mit dem Kristall erloschen, dabei hat er sie seinerzeit nur verstärkt und nicht gänzlich ausgemacht. Ihr habt mit dem Wächterdasein abgeschlossen und es zu eurer Vergangenheit gemacht. Aber durch Cornelias Träume, in denen Personen aus Meridian oder Kandrakar vorkamen, behielt sie sich die Vergangenheit als gegenwärtig, wodurch ihre Kräfte nie völlig erstarben. Eure natürlich auch nicht, denn ihr hattet sie die ganze Zeit über, allerdings weniger präsent als Cornelias." "Ganz toll!", spottete diese. "Wirklich grandios. Und ich musste mir natürlich gerade die Erinnerung aus Meridian behalten, in der ich den Wunsch verspürte, zu sterben! Das wäre ja wirklich zu schön gewesen, wenn es eine glückliche Erinnerung gewesen wäre. Wieso muss immer alles mit Leid und Schmerz zusammenhängen?" "Einfach erklärt", setzte Yan Lin fort. "Die stärksten und eindrucksvollsten Erinnerungen sind die schmerzlichsten. Glück bleibt uns weniger gut im Gedächtnis als Leid. Lernt ihr das nicht auf der Universität?" Cornelia grummelte etwas, antwortete aber nicht. "Zudem verbindet euch beide mehr, als auf den ersten Blick erkennbar scheint. Cornelia und Caleb." "Ja, ihr fangt beide mit einem C an", murmelte Irma gespielt begeistert. "Ernsthaftigkeit war noch nie deine Tugend, Irma", lächelte Yan Lin gutmütig. "Aber ich muss dich enttäuschen. Es ist etwas, das über diese zufällige Alliteration hinausgeht. Es hat, wie beinahe alles, mit euren Elementen zu tun." "Klar, natürlich sind die beiden füreinander bestimmt", rief Irma sarkastisch, "immerhin waren sie ja auch so glücklich miteinander! Die Hälfte der Zeit war er eine Blume! Außerdem, und das ist wieder ein Beweis meiner grenzenlose Liebe zu Cornelia, die ich manchmal ausgrabe, bin ich völlig auf ihrer Seite. Er hat sie verletzt, er hat Schluss gemacht und wegen ihm hat sie mehr gelitten als ein Schwein beim Ausbluten – ja, ich weiß, ekeliges Beispiel. Aber zusammengefasst: Wenn sie füreinander bestimmt wären, hätten sie sich damals nicht getrennt." "Die Liebe geht manchmal eigenartige Wege." "Das ist doch total bescheuert!", warf Irma erneut ein. "Jetzt hör mal auf, dauernd dazwischen zu quatschen!", fuhr Cornelia sie an. "Ich will das hören." Caleb schien ebenfalls äußerst interessiert zu sein, obgleich er gleichgültig wirkend an der Wand lehnte und sich noch immer strickt weigerte, sich dazuzusetzen. Mrs. Lin räusperte sich, um sich endlich wieder Gehör zu verschaffen. "Was ich euch erzählen möchte ist der Grund, der erklärt, wieso ihr beide, die ihr am weitesten voneinander entfernt sitzt, füreinander bestimmt seid und, Caleb, ich sehe deinen Gesichtsausdruck, selbst wenn ich mit dem Rücken zu dir stehe, also hör auf so zu tun, als würde dich das nicht interessieren." Sie räusperte sich erneut. "Habt ihr euch noch nie darüber Gedanken gemacht, was die Elemente mit euren Charakterzügen und Eigenschaften zu tun haben? Ihr selbst seid vielmehr mit euren Fähigkeiten verbunden, als ihr denkt. Cornelia, ansehnlich und jung wie eine eben erst aufgegangene Blume, nachdenklich und besonnen wie ein jahrhundertealter Baum. Dein Element ist vielleicht nicht das mächtigste, aber es ist das einzige, das mit seiner Umgebung interagiert. Die Erde ist sehr sensibel. Pflanzen brauchen Zeit, um zu wachsen, sie stellen sich auf neue Situationen ein und entwickeln sich stetig weiter. Die Erde ist das empfindlichste Element. Es kann kraftvoll sein, aber ist auch leicht zerstörbar. Durch diese Empfindsamkeit, durch die du dich auszeichnest, bist du in der Lage, Feinheiten wahrzunehmen. Um nun auf Caleb zu sprechen zu kommen, muss ich euch daran erinnern, dass er einst ein Flüsterer war; ein Mann, erschaffen aus einer Pflanze. Ihr versteht, auf was ich hinaus möchte?" Will ging ein Licht auf. "Das bedeutet, sie liebt Caleb, weil er eine Pflanze ist?" Mrs. Lin lachte. "So in etwa. Ich wollte darauf hinaus, dass eine tiefe Verbindung zwischen dem Element der Erde und einem Teil der Erde besteht. Ein fleischgewordenes Element der Erde ist unweigerlich ein Teil von Cornelia. Darum hat sie von ihm geträumt. Die Beziehung der beiden basiert auf einer natürlichen Verbindung der Umwelt zu ihren Bewohnern und ist durch die Menschlichkeit der beiden zu einer in unserer Gesellschaft als Liebe definierten Empfindung geworden." "Sie liebt ihn, weil er eine Pflanze ist", wiederholte Will ungläubig. Es grenzte schon fast an Lächerlichkeit. "Es ist nicht nur die Tatsache, dass er aus dem erschaffen wurde, das sie verkörpert", korrigierte Yan Lin. "Die Basis gründet sich wohl auf diesem Umstand, aber würde ein anderer Flüsterer kommen, würde Cornelia nichts weiter als tiefe Verbundenheit verspüren und keine echte Liebe. Die Liebe kam durch Ereignisse, Charakter und Situationen." Plötzlich knallte Cornelia ihre Handfläche lautstark auf den Tisch. "Jetzt reicht's!" Sie stand auf und stieß dabei den Stuhl um, auf dem sie gesessen hatte. "Ihr redet hier über mich, als wäre ich gar nicht hier! Aber ich bin es nun einmal und bevor ihr beschließt, dass ich den da liebe", sie zeigte anklagend auf Caleb, der ungerührt den Blick abwandte, "möchte ich noch gerne etwas klarstellen: Ich – mag – ihn – nicht. Um ein für allemal alle eure Vermutungen zu zerstreuen sage ich es noch einmal: Ich mag ihn nicht. Seine Art nicht, sein Aussehen nicht, seinen Charakter nicht und seine Ansichten nicht. Er ist mir völlig egal und es ist mir auch egal, dass er einmal eine Pflanze war. Ihn wieder zum Menschen zu machen war der größte Fehler meines Lebens und hätte ich dieselbe Wahl noch einmal, würde ich diese verfluchte Blume zertreten und anzünden!" Schockiert über ihre eigenen Worte, die direkt an Caleb gingen, hielt sie sich die Hand vor den Mund. Das durfte nicht wahr sein – hatte sie gerade wirklich das gesagt, was ihre Ohren gehört hatten? Tränen der Verzweiflung stiegen in ihr auf. Was war bloß los mit ihr? Auch die übrigen Frauen am Tisch waren entsetzt, aber vor allem getroffen hatte es Caleb, der gezwungen war sie mit aufgerissenen Augen und starrer Mimik anzusehen. "Es – Ich – Ich muss an die frische Luft", stotterte sie, ehe die Tränen sie übermannten. So schnell sie ihre Füße tragen konnten, rannte sie durch die Küche aus dem Hintereingang. Ihr Herz hämmerte von dem Sprint, ihr Atem ging nur stoßweise und ihr war schwindelig. Alles drehte sich, oder drehte nur sie sich? Die verlassene Sackgasse verschwamm vor ihren Augen und plötzlich lag sie auf dem matschigen Straßenbelag, der von Pfützen und Müll gesäumt war. Ihr Herz pochte noch immer, als wäre es mit Drogen vollgepumpt und würde sofort aus ihrer Brust springen. "Was passiert mit mir?", wisperte sie. Der Schweiß rann ihr von der Stirn, obgleich ihr ohne Jacke eiskalt war. Schüttelfrost und Hitzewallungen packten sie zeitgleich, stießen sie durch ein Meer aus Kontrasten. Und dann trat ein Paar schwarzer Lederschuhe in ihr Sichtfeld. Es waren Männerschuhe und die Stimme kannte sie eindeutig – es war die Stimme, der sie vertraut hatte. "Und ich dachte schon, Sie hätten die Ihalla gar nicht getrunken." "Doktor….Blight?" Ihre Stimme war schwach, kaum wahrzunehmen. Blight kniete sich neben sie und zog eine reichlich verzierte Ampulle an einer Goldkette aus dem Inneren seiner Manteltasche. "Was…?" "Shht." Er hielt ihr den Mund zu. "Wir wollen keine Aufmerksamkeit erregen. Ihre Freunde werden Ihnen wahrscheinlich bald folgen, also verzeihen Sie mir bitte, wenn ich Ihnen heute nur eine Blitztherapie verordne, Miss Hale." Er werkelte an dem Flakon herum, bis er den Verschluss des Behälters aufgemacht hatte. Darin befand sich dunkle Erde, die er nun achtlos über Cornelia kippte. Die feinen Bröckchen brannten ihr in den Augen, aber sie wagte nicht, diese zu schließen. Dabei waren ihre Lider das einzige, das sie noch bewegen hätte können. Eine eigenartige Starre machte sich an ihrem Körper zu schaffen. Sie fühlte sich, als wäre sie unter Steinen begraben. "Oh, nur eine kleine Nebenwirkung des Kaffees, den ich Ihnen geschenkt habe. Er hat den schönen Effekt, sich leise und schleichend im Körper zu sammeln, bis Sie schlussendlich kollabieren. Dass es so lange gedauert hat, spricht nur für seine Genialität. Mit jedem Schluck, den Sie getrunken haben, meine Liebe, löste sich ein Teil Ihrer Kräfte. Oder sollten wir nun anfangen, uns zu duzen, wo ich doch gleich deine gesamte Macht besitzen werde? Derartiges verbindet doch, nicht wahr?" Er zischte irgendwelche unverständlichen Worte und plötzlich fühlte Cornelia sich, als würde sie ausgesaugt werden. Ihr Verstand wurde schummrig, das Licht verschwamm vor ihren Augen, ihre Muskeln wurden immer schwerer. "Halt!" Will warf sich mit voller Kraft auf Blight. Der Flakon segelte durch die Luft, doch Blight raffte sich schnell wieder auf. Er machte einen Hechtsprung auf das Gefäß zu, ebenso wie Caleb. Sie krachten aneinander, Blight fing das zerbrechliche Fläschchen auf. "Cornelia, kannst du aufstehen? Hey, Cornelia! Sprich mit mir!" Sie spürte, wie zwei Paar Arme sie aufzerrten. Das Stehen war schwer, aber es war möglich. Die Starre hatte sich gelöst. Taranee und Hay Lin stützten sie noch zur Sicherheit, als Will rief: "Wächterinnen, seid vereint!" Es waren die schrecklichsten Sekunden seit langem für Cornelia – und das, obwohl sie in letzter Zeit viel Leid durchlebt hatte. Was hatte Blight getan? Hatte er ihr etwa ihre Kräfte geraubt? Würde sie sich verwandeln oder nicht? Die fünf Abbilder der Auramere schossen aus dem Kristall und auf die Besitzer zu. Quintessenz, Wasser, Feuer, Luft und … Erde! Cornelia fiel ein Stein vom Herzen, als sie vom Boden abhob. Ihre Kräfte waren noch da! Motiviert durch die glückliche Fügung, schoss sie auf Blight zu, doch noch bevor sie ihn erreichte, wurde sie von etwas anderem zu Boden gerafft. Es war ein Mann, der sich um ihre Taille geschlungen und sie abgefangen hatte. "Armand!", kreischte Irma. Sie kam Cornelia schnell zu Hilfe. Währenddessen waren auch andere Feinde eingetroffen: Taranees afroamerikanische Freundin, Ophra Coy, Cornelias Weihnachtsmarkt-Date, Collin Tuesdale, Hay Lins Stammgast, Mr. Allen Mitchem, und schlussendlich auch Wills Studienkollege, Jack Carpenter. "Es steht sechs gegen sechs, das ist doch zu schaffen!", schrie Will mit entschlossenem Lächeln. Caleb hatte bereits sein Schwert gezogen und lieferte sich einen harten Kampf mit Armand, der von Cornelia abgelassen hatte. Diese wiederum hatte sich mit Irma daran gemacht, Blight ordentlich einzuheizen. "Wächterinnen, verteilt euch! Irma, du übernimmst Ophra, Taranee beschäftigt sich mit Mitchem und Hay Lin – um Himmels Willen, es ist doch egal, wie ihm das Szechuan Huhn letztes Mal geschmeckt hat! – übernimm Jack!" "Ah, also bleibst du für mich übrig?", höhnte Collin. "Schade eigentlich, ich hätte sehr gerne mit Cornelia zu Abend gegessen. Wir hätten sicherlich viele Gemeinsamkeiten gehabt!" "Ich hab gewusst, dass mit dir etwas nicht stimmt! Na warte!" Es entbrannte ein erbitterter Kampf, doch er wurde jäh unterbrochen, als ein Lichtblitz von Blight ausgehend die abgelegene Gasse erleuchtete. Geblendet von dem Licht kniffen die Wächterinnen und Caleb ihre Augen zusammen. Dann gellte ein Schmerzensschrei durch die Luft. Als sie ihre Augen wieder öffneten, lag Cornelia auf dem Boden. Ein dünnes Rinnsal Blut bahnte sich seinen Weg von ihrer Schläfe talwärts. Blight trat einen Schritt zurück. In seiner Hand hielt er den Flakon, der nun mit einem grünlichen gasähnlichen Etwas gefüllt war, das innerhalb seines Gefängnisses wild herumwirbelte. "Dumm gelaufen, meine Damen." Er deutete eine Verbeugung an. "Ich empfehle mich." Mit seinem nächsten Rückschritt waren er und die anderen unter Donnergrollen verschwunden. Erst standen die Zurückgelassenen nur verwirrt da, dann brach die helle Panik aus: Cornelias Name wurde gekreischt, sie wurde vorsichtig umgedreht und angesprochen, aber sie rührte sich nicht. Nun fiel ihnen auf, dass sie sich zurückverwandelt hatte, während sie selbst noch in den lila-türkisen Gewändern waren. "Ich glaube, wir haben ein ernsthaftes Problem…", sagte Will düster. Man hatte Cornelia in Hay Lins altes Zimmer über dem Silver Dragon gebracht, wo sie noch immer bewusstlos unter ihrer Decke lag. Die übrigen Wächterinnen hatten sich mit Caleb wieder in den Keller verzogen, wo sie allesamt schwarzmalten. "Was sollen wir ohne ihre Kräfte machen?", fragte Will, doch die Frage galt eher ihr selbst. "Wir sind zu viert nicht stark genug. Und wenn es zum Kampf kommt ist sie schutzlos! Wir können sie nicht überwachen, da wir sicherlich alle mit den Feinden beschäftigt sind. Aber sie muss mit, denn falls wir es schaffen, den Flakon zu schnappen, muss die Kraft schnell freigesetzt werden. Das gibt es doch nicht!" Wütend fuhr sie auf, schlug auf den Tisch und setzte sich dann wieder. "Es bringt nichts mehr." Taranee ließ sich neben Will nieder. "Bisher hatten wir etwas, das die Angreifer wollten, aber nun haben sie etwas, das wir wollen. Wir müssen nach Meridian und sie suchen." "Sobald Cornelia erwacht ist, jedenfalls", stimmte Will zu. "Hoffentlich wird das überhaupt der Fall sein. Sie sah schwach und käsig aus…" In diesem Moment steckte Yan Lin den Kopf durch die Türe. "Keine Sorge, Wächterinnen, eure fünfte ist wieder bei Bewusstsein. Und sie hat nach Caleb gefragt." "Was?" Irritiert hob er eine Augenbraue. "Okay, wenn sie mich sehen möchte. Wahrscheinlich ist ihr im Schlaf eine Gemeinheit gekommen, die sie mir an den Kopf werfen möchte." Mit verschränkten Armen folgte Caleb der Alten die Stiegen hoch in den ersten Stock. "Sie hat nicht direkt nach dir gefragt, aber ihr erstes Wort, nachdem sie das Bewusstsein erlangt hat, hat sich angehört wie dein Name. Ich denke, ihr habt einiges zu bereden. Aber nicht jetzt. Erst einmal braucht sie nur deine Anwesenheit. Sei nicht zu hart zu ihr." "Wie könnte ich?" Er biss sich auf die Lippen, dann trat er ein und schloss sachte dir Türe hinter sich. Vor ihm bot sich ein erschreckendes Bild. Von dem Blutgerinnsel war nur mehr die Quelle übrig, eine Platzwunde an der linken Schläfe, die provisorisch mit Wundauflage und Verband umwickelt worden war. Cornelia selbst war blass, wie ein Gespenst, die Wangen etwas eingefallen und die blutunterlaufenen Augen geschlossen – sie war dennoch schön. Dumme Gedanken, Caleb, mahnte er sich. "Darf ich reinkommen?", fragte er leise. Jeder Schritt der schweren Lederschuhe auf dem Holzboden tönte in der absoluten Stille laut wie ein Erdbeben. Cornelia öffnete die Augen nicht. "Du bist doch schon drinnen", stöhnte sie. "So habe ich mich das letzte Mal nach einem verhängnisvollem Samstag gefühlt." "Was ist ein verhängnisvoller Samstag?" "Das ist das Problem daran. Man kann sich daran nie erinnern." Sie verzog den Mund zu einem leichten Lächeln. "Au…" "Du solltest dich nicht anstrengen", riet Caleb ihr. Sachte setzte er sich auf den Stuhl neben ihr. Seine Hand strich von selbst eine Strähne ihres goldblonden Haares aus ihrem Gesicht. "Ich bin hier", flüsterte er. "Du kannst beruhigt schlafen." Plötzlich begann ihr Gesicht schwach zu zucken. Erst sah es aus, als würde sie gleich einen epileptischen Anfall bekommen, doch stattdessen stahlen sich Tränen aus den geschlossenen Augen, die von leisem Schluchzen begleitet wurden. "Wieso weinst du?" Aber er bekam keine verbale Antwort. Stattdessen spürte Caleb Cornelias Hand, die seine umschloss. "Hör bitte auf. Es tut mir weh, dich so zu sehen." "Damit…machst du es nur…schlimmer", schniefte Cornelia mit brüchiger Stimme. Ihre Augen öffneten sich, doch sie schienen keinen Punkt zu fixieren. "Ich weiß nicht wieso, aber alles, was ich gesagt habe, das war eine Lüge." Endlich drehte sie ihren Kopf und sah ihn an. Ihre Lippen bebten, ihre Lider versuchten die Tränen wegzudrücken, aber sie kamen immer wieder nach. "Ich weiß nicht, wie ich dich so behandeln konnte. Ich weiß nicht, warum ich dich so verabscheut habe, aber das war nicht ich. Ich könnte dich nie willentlich verletzen. Weil ich…weil ich…" Nun brach Cornelias Stimme gänzlich und sie begann heftig zu schluchzen. Mühsam setzte sie sich unter Zucken auf. "Nicht", bat Caleb, aber es kam einem Flehen gleich. Er wollte nicht, dass sie weinte. "Du weißt nicht, was du sagst. Du bist verzweifelt, hast keine Kräfte mehr und fühlst dich machtlos und schwach. Alles, was du jetzt sagst, entspringt der Situation, nicht deinen Gefühlen." Aber er glaubte selbst nicht daran. Und während Cornelia seine Hand fester drückte, begann Calebs Herz heftiger in seiner Brust zu schlagen. "Ich liebe dich, Caleb." Sie sah ihn unverwandt an, mit einem so klaren, wenn auch verklären Blick, der keinen Zweifel an der Wahrheit ihrer Aussage ließ. "Ich brauche dich." "Cornelia…" Caleb wusste nicht, was er sagen sollte. Abscheu, Hass, Verachtung und dann das. Und doch, trotz aller Klarheit, aller Einfachheit, wusste er keine Antwort auf die Frage, die er sich stumm stellte und die Cornelia laut aussprach. "Wie soll es weiter gehen? Ich weiß nicht, was hier geschieht…gerade eben möchte ich dich am liebsten von einem Dach stoßen und keine Stunde später drohe ich zu ersticken, wenn ich dich nicht bei mir weiß. Wie kann das sein?" Die Frage galt lange nicht mehr Caleb. In ihren Gedanken spielte Cornelia alle Möglichkeiten durch – Einbildung, Wunschdenken, Verzweiflung angesichts des Verlustes ihrer Kräfte, Spontanremission. Aber die wahre Verzweiflung lag darin, dass sie keine Antworten fand. "Du solltest dir darüber klar sein, was du willst." "Dich." Cornelia wandte den Blick ab. "Im Moment. Ich weiß nicht, wieso. Vielleicht habe ich wirklich Angst. Aber vielleicht ist es auch nur eine logische Konsequenz." "Was meinst du?" Dabei wusste er es genau. Er wollte es nur aus ihrem Mund hören. "Ich bin nie ganz über dich hinweggekommen." Sie hatte den Blick noch immer abgewandt. Ihre Finger krallten sich in die Bettdecke. "Und jetzt, da du hier bist, hatte ich erst Angst, dich wieder in mein Herz zu schließen; die verdrängten Gefühle wiederzuerwecken. Aber genau das ist geschehen. Alles, was ich weiß, ist, dass das, was ich jetzt empfinde, ehrlich ist." Caleb berührte ihre Wange mit seinen Fingerspitzen. Sanft zwang er sie dazu, ihn anzusehen und beugte sich zögernd vor. Es sah nach einem Kuss aus, doch anstatt dessen lehnte er seine Stirn gegen die ihre. "Ich kann dir nicht sagen, was du hören willst", flüsterte er mit gequälter Stimme. "Ich weiß auch nicht, ob ich jemals können werde. Alles, was ich weiß, ist, dass ich dich vermisst habe; dass meine Tage ohne dich trostlos und leer waren; und dass es wehgetan hat, dich so gleichgültig mir gegenüber zu sehen." "Das muss mir für den Anfang genügen", wisperte Cornelia. Sie erwachte mit Tränen in den Augen und einem Schrecken im Herzen. Es pochte langsam, aber intensiv. Was war passiert? War es ein Traum gewesen? Verwirrt sah sie sich um und erblickte Caleb, der auf dem Sessel neben ihrem Bett saß, genauso wie in dem vermeintlichen Traum. "Habe ich etwas gesagt?", wollte sie wissen. "Gerade eben schon. Wieso?" "Ich hatte einen seltsamen Traum", gab sie leichtsinnig zu. Ihr Verstand riet ihr, nicht weiterzusprechen und glücklicherweise hörte ihr Mund auf ihn. "Aber es ist nicht weiter wichtig." Viel wichtiger war die Frage, was es zu bedeuten hatte. Das klopfende Herz war noch immer da, dabei hätte es sich schon längst beruhigen müssen. Außer der Traum war nicht die Ursache, sondern ein gewisser jemand…aber das war absurd. Wieso plötzlich? Das wäre völlig unlogisch. Mit einem Mal sollten alle alten Gefühle wieder da sein? Sie konnte das nicht ganz glauben. "Ist wirklich alles okay, Cornelia? Du siehst verstört aus." "Ja, es ist alles gut", versetzte sie schnell. "Ich war nur in Gedanken." "Möchtest du darüber reden?" Caleb schien jedenfalls keine Veränderung durchgemacht zu haben. Er war nach wie vor distanziert und sachlich. Im Gegenzug schien er aber auch keine Veränderung an Cornelia bemerkt zu haben. "Nein, es ist wirklich nicht wichtig." "Wieso wolltest du mich sehen? Yan Lin sagte, du hättest nach mir gefragt?" "Kann mich nicht daran erinnern", murmelte sie verlegen. Es entsprach der Wahrheit. "Aber es ist schön, dass du da bist." Caleb stockte. Er beugte sich skeptisch nach vor. "Bist du krank? Fieber? Wahn? Fieberwahn? Schock? Vor ein paar Stunden hättest du mich am liebsten zertreten und verbrannt." "Ich, ähm, ich bin vermutlich einfach durch den Wind. Nimm mich nicht ernst." "Schade. So gefällst du mir um einiges besser. Ich meine, wenn du mich nicht beschimpfst, verfluchst oder zusammenschlagen willst." Sie lachte gezwungen. "Kann ich mir denken." Und aus welchem Grund auch immer, versetzte ihr die reine Gewissheit einen Stich. Aber war das möglich? Konnte es sein, dass sie sich tatsächlich wieder verliebt hatte? "Was treiben die denn da oben so lange?", maulte Irma. Sie pustete gelangweilt eine kurze Strähne über ihrer Stirn weg. "Ich denke nicht, dass wir es wissen wollen", meinte Will trocken. "Entweder, sie bringen sich gegenseitig um, oder…ach, was mach ich mir vor? Die werden nie wieder zueinander finden. Ist wahrscheinlich auch besser so, sonst endet der Abschied nur wieder mit Tränen und Verbitterung." "Ich bin mir nicht sicher", warf Yan Lin ein. Nachdenklich sah sie zur Decke des Kellers. Doch das war eine Frage, welche die beiden alleine zu klären hatten. Um abzulenken sagte sie: "Cornelia hat im Halbschlaf das Wort Ihalla gemurmelt." "Und wer ist diese Ihalla?", wollte Hay Lin wissen. "Nicht wer ist die Frage", verbesserte ihre Großmutter. "Eher was. Ich habe davon gehört, als ich einst noch eine Wächterin war, aber mein Gedächtnis ist nicht mehr vollständig. Ihr müsst herausfinden, was es bewirkt. Meridians Bibliothek birgt die Antwort sicherlich. Sobald Cornelia genesen ist, müsst ihr euch auf den Weg machen." "Dann lasst uns hinauf gehen und zusehen, dass wir sie wieder fit machen!", forderte Will auf. Sie gingen hinauf und fanden die beiden – zu ihrer Enttäuschung – nicht in eindeutigen Posen, sondern einen Meter weit auseinander sitzend und schweigend. Schnell waren sie in den Plan eingeweiht und ebenso schnell gewährte man Cornelia noch ein Vieraugengespräch mit Will. "Ich bin so dumm!", brach es aus Cornelia heraus, als sie alleine waren. "Du bist Studentin, also im Allgemeinen nicht. Wieso denn konkret?", fragte sie verwirrt. Cornelia skizzierte ihr grob ihren Traum und den Wandel ihrer Gefühle. Sie beschrieb das pochende Herz, das Verlangen, Caleb zu umarmen, und die Ähnlichkeit zu ihren früheren Empfindungen. "Wow, das ist ja mal was." Will war mit der Situation ein wenig überfordert. "Heißt das, du liebst ihn wieder?" "Keine Ahnung! Das versuche ich ja gerade herauszufinden. Ich bin fast durchgedreht wegen diesen Schwankungen – Hass, Liebe, Hass, Liebe, Tränen, Trauer, Hass und dann das! Als wären meine Hormone außer Kontrolle. Aber ich denke, dass ich ihn derzeit wieder liebe. Ist das so abwegig?" "Ja, eigentlich schon. Du hast ihn verabscheut! Ich will dir deine Gefühle ja nicht vorschreiben, aber es ist doch schon sehr seltsam. Vor vier Stunde hättest du ihm am liebsten den Kopf eingeschlagen und jetzt das. Da ist doch was faul! Ich möchte wirklich nicht schwarzmalen, aber womöglich haben diese Typen deine Gefühle manipuliert? Ich meine, er hat dich eindeutig mit etwas vergiftet oder mit einem Bann belegt, sonst wäre er nicht an deine Kräfte gekommen. Vielleicht hat er dabei irgendwelche Schaltkreise umgelegt?" "Jetzt mach mal halblang!", rief Cornelia energisch. "Ich bin doch kein Computer, bei dem Sicherungen durchbrennen können! Ich hatte Angst, mich wieder zu verlieben, darum habe ich meine Gefühle weggesperrt und nun ist es erst recht passiert. Blight hat mich eindeutig vergiftet – mit diesem verfluchten, ekelhaften Gebräu. Aber meine Gefühle kann er doch kaum manipuliert haben. Oder?" "Ich kenne mich damit echt nicht aus. Wir sollten Taranee oder Hay Lin –" "Nein!" Cornelia zog Will ganz nahe an sich heran und sah ihr warnend in die Augen. "Niemand, absolut niemand darf davon erfahren! Sie würden spotten und Caleb würde es herausbekommen. Das kann ich echt nicht brauchen! Kein Wort zu irgendjemanden, verstanden?" "Versprochen." Wie auf Signal trat der Rest ein, angeführt von der energischen Irma. "Los geht's, machen wir uns auf nach Meridian!" "Dürfte ich vorher noch –", begann Cornelia, doch die sie ignorierende Will holte bereits entschlossen das Herz von Kandrakar aus ihrer Hosentasche. Vor ihnen bildete sich ein blau leuchtender Riss mitten im Raum. Blätter flogen wie wild herum, als ein lauer Wind durch das Zimmer fegte. Das Portal war so dicht an ihnen, dass es sie regelrecht einsaugte und dann waren sie in Meridian. Fünf Jahre. Und es hatte sich nichts verändert. Auch nicht Wills Zielgenauigkeit. "Nun, nicht ganz wo ich hin wollte, aber immerhin", entschuldige Will sich. "Sag bloß!", spottete Irma. "Du wolltest also nicht in diesem Schlammtümpel landen? Hätte ich nicht gedacht." Missmutig zog sie sich aus dem Sumpf und wischte den Schlamm von ihrer Haut. "Beschwert euch nicht!", fauchte Cornelia bösartig. Sie und Hay Lin waren die einzigen, die geistesgegenwärtig zur Seite gesprungen und somit sicher auf der trockenen Wiese gelandet waren. "Seht ihr das? Ich wollte eigentlich noch fragen, ob ich mir vielleicht unter Umständen, wenn es sich einrichten ließe, eine Hose anziehen dürfte!" Jetzt erst bemerkten die anderen, dass sich Cornelia mit zusammengepressten Schenkeln das Shirt so weit als möglich hinunter zog. "Aber nein, weil es so schön warm ist, lassen wir Cornelia doch ohne Unterbekleidung herumspazieren! Ist ja auch kaum peinlich! Wer hat mich überhaupt ausgezogen?" Schäumend vor Wut bekam sie gar nicht mit, dass Caleb hinter sie trat und seinen Mantel über ihre Schultern hängte. "Hier. Bevor du dich erkältest." Sie schlang den Mantel fest um ihren Körper. "Danke." "Gern geschehen." "Kein Gezanke?", fragte Irma enttäuscht. "Wie langweilig. Dann sollten wir uns jetzt auf zum Palast machen." Leiser fügte sie an Hay Lin und Will gewandt hinzu: "Was auch immer mit den beiden passiert ist, es war mir lieber, als sie sich gestritten haben. Da ist eindeutig was faul." Hay Lin klopfte ihr auf die Schulter. "Blödsinn. Sie können einfach nicht anders. Du hast doch gehört, was Oma gesagt hat. Sie sind auf eine höhere Art miteinander verbunden. Wahre Liebe. Wie romantisch!" "Ich glaub, ich krieg das Kotzen." Irma ahmte Brechreiz nach, besann sich dann aber wieder. "Lassen wir sie einfach, die werden sich noch früh genug wieder in die Haare kriegen. Da wette ich drauf." "Fünfzig Dollar?" "Die Wette gilt. Du bist ziemlich optimistisch, Hay Lin." "Ich nenne das romantisch. Und Will, du musst nicht so ein Gesicht machen, bei Matt und dir ist das noch viel schlimmer." Die Angesprochene verdrehte nur die Augen. "Los jetzt, wir haben keine Zeit zu verlieren. Die Antwort muss dort oben liegen." So viel also zu ‚Keiner darf etwas merken'. Der einzige, der Cornelias schlagartige Veränderung nicht bemerkte, war Caleb. Kapitel 12: Old Fellows ----------------------- … Enticed by someone's softly spoken words, Caressed the scars you brought on me, And far away my wail, that hushed alone … Z W Ö L F Der Aufstieg zum Schloss war mühsam. Nicht nur, dass sie beinahe fünf Kilometer weit weg und am Fuße des Schlossberges waren, sie mussten auch noch Wills schlechte Laune über ein verpasstes Date mit Matt und ihr Missfallen über Cornelias schlagartigen Gefühlswandel ertragen und Cornelias Nörgelei über den steinigen Weg (denn sie hatte nicht nur keine Hose, sondern auch noch keine Schuhe), über Kopfschmerzen und über die Kälte erdulden. Zudem waren sie gezwungen, sich Taranees und Hay Lins Fachgesimpel über mögliche Lösungen des Ihalla-Rätsels anzuhören, welches aber mehr Fragen als Antworten brachte und mehr Vermutungen in den Raum stellte, als man eigentlich brauchte. Und nachdem sich alle außer dem tapferen und leicht genervten Caleb Cornelias Schimpftiraden über die Wanderbedingungen angeschlossen hatten und Will sich dazu bereiterklärte, ihnen allen Flügel zu beschaffen, war Cornelias Laune auf dem Nullstand, was jedoch nicht in den üblichen Beschwerden gipfelte, sondern in ungewöhnlich ernster Miene und enormer Schweigsamkeit. Sie erreichten das Schloss schließlich nach einigen Pausen, die Cornelia auf das Dringlichste verlangte. Der Aufstieg hatte durch diverse Streitigkeiten und Diskussionen beinahe eine Stunde gedauert, doch sie konnten alles in allem stolz auf ihre Zeit sein. Auch, dass Will sie gleich hätte näher zum Schloss bringen hätte können, hatte zur Debatte gestanden, aber das hatte selbige sofort wieder unterbunden. Nachdem sie den Schlosswachen erklärt hatten, dass sie die ehemaligen und nun wieder neu vereinten Wächterinnen der unendlichen Dimensionen vor sich hatten, die der Königin ein dringendes Anliegen vorzutragen hatten, und ihnen versichert hatten, dass Cornelia keine Verrückte war, die eine exhibitionistische Ablehnung gegenüber Unterbekleidung hatte, wurden sie eingelassen und bekamen sogleich eine Audienz bei ihrer Majestät persönlich. "Cornelia!" Es war ein erfreuter, überglücklicher Ruf einer alten Freundin und nicht der gemäßigte, höfische Gruß einer ehrwürdigen Hoheit, der die Wächterin ereilte. Es war auch keine standesgemäße Begrüßung, welche dieser zuteilwurde, sondern eine stürmische Umarmung, die beide beinahe von den Füßen riss. "Ich freue mich ja so sehr, dich zu sehen! Wie groß und schlank du bist und wie schön! Die Erdenmänner reißen sich sicherlich um dich! Oh, Cornelia, ich habe dich so sehr vermisst!" "Ich dich auch, Elyon. Es ist zu lange her. Wo du gerade von meiner Statur sprichst, sieh dich nur an!" Elyon hatte sich in der Tat verändert. Ihre Größe belief sich zwar lediglich auf zarte eins sechzig, aber ihr Gesicht war spitzer und definierter geworden. Die kindlichen großen Augen waren erwachsenen, gutmütigen gewichen und die weibliche Figur ließ sich unter dem Herrschergewand ein wenig erahnen. Sie trug auch nicht länger den türkisen Sack – pardon, Umhang – sondern ein langes Kleid mit selbiger Farbe, dessen Schulterfreiheit von einem weißen Stehkragen untermalt wurde. Zudem hatte sie teuren Schmuck angelegt und ihre Haare, immer noch zu zwei Zöpfen gebunden, waren um einiges länger als vor fünf Jahren. "Sag mir bitte nur, wieso trägst du keinen Rock?" Elyon musterte sie skeptisch. "Nicht, dass du es dir mit dieser Figur und diesen langen Beinen nicht erlauben könntest, aber es ist doch recht kalt. Und dieser Mantel entspricht auch nicht deinen sonstigen Kleidungsgewohnheiten – es sei denn…" Cornelia und auch die anderen Wächterinnen waren in dem Moment vergessen, als Elyons freudestrahlenden Augen denjenigen erblickten, welcher als Letzter eingetreten war und sich eher im Hintergrund hielt. "Ich traue meinen Sinnen nicht! Caleb!" Elyon lief an den jungen Frauen vorbei, alles andere in Gleichgültigkeit verkommen, auf Caleb zu und umarmte ihn stürmisch, beinahe noch enger, als sie es bei Cornelia getan hatte. "Caleb, mein teurer Freund, wie sehr habe ich dich vermisst." "Eure Hoheit, bitte…" Seine Lippen sprachen zwar Protest aus, jedoch legten auch seine Arme sich um Elyon. Es versetzte Cornelia einen Stich. "Wir sind geschäftlich hier, königliche Hoheit." Calbe löste sich aus dem Griff und kniete vor Elyon nieder, die nun ernst wurde. "Ich dachte bereits, dass ihr nicht einfach so herkommen würdet. Das Herz Kandrakars wurde wieder aktiv, nehme ich an? Und euer Anliegen bezieht sich auf Phoebe." "Woher weißt du das?", fragte Will. "Sämtliche Gerüchte dringen bis hinauf in den Palast." Nachdenklich schritt Elyon im großen Saal hin und her. "So auch jenes um Phoebe. Das Gerücht hält sich seit Jahren und es gab keinerlei Beweise, also schenkte ich ihm nicht viel Aufmerksamkeit. Dass sie nun einen Teil ihrer alten Kräfte wiedererlangt haben soll, ist mir ebenfalls zu Ohren gekommen. Aber die Leute tratschen viel, wenn ihnen langweilig wird. Dass ihr nun hier seid, Cornelia ohne Rock –" "Wieso ist mein Kleidungsstil denn bitteschön immer ein Thema?!", regte sich diese auf, wurde aber schnell von Will besänftigt, die ihre Hand auf Cornelias Schulter legte. "– sagt mir, dass die Gerüchte wohl ihren wahren Kern haben müssen. Sie hat deine Kräfte, nicht wahr?" Ein Nicken war Elyon Antwort genug. "Und nun wollt ihr mich um Hilfe bitten? Leider muss ich euch enttäuschen. Ich habe keine Ahnung, wo sich Phoebe aufhält. Sie ist wie Rauch. Präsent in der Angst der Bevölkerung und auch in meiner, jedoch nicht richtig zu sehen." "Eigentlich", korrigierte Will. "Wollten wir dich um Erlaubnis fragen, deine Bibliothek benutzen zu dürfen. Wir haben Informationen, die wir recherchieren müssen." Um nicht unverschämt zu sein, dichtete sie schnell hinzu: "Aber natürlich benötigen wir sicherlich deine Hilfe, wenn es zum Kampf kommt. Es würde uns zumindest den Vorteil sichern." Elyon ließ eine Dienerin rufen. "Anne, wärst du so freundlich, meine alten Freunde in unser Archiv zu bringen? Stelle ihnen alles zur Verfügung, was sie benötigen. Das hat oberste Priorität." "Vielen Dank, Hoheit", sagte Cornelia, wobei letzteres Wort eher wie ein Kosename klang. "Du bist richtig erwachsen geworden." "Auch eine Königin ist davor leider nicht gefeit", scherzte Elyon. "Nun beeilt euch. Wir haben keine Zeit zu verlieren. Ich werde in der Zwischenzeit auf meine Spähtrupps warten. Vielleicht haben sie Informationen." "Königliche Hoheit", hielt Caleb sie zurück. Er kniete erneut nieder. "Erlaubt mir, eine Bitte vorzubringen." "Ich habe ihm hundertmal das Du angeboten, aber er hört ja nicht", sagte Elyon an die Wächterinnen gewandt. "Es sei dir gewährt." "Angesichts der Lage bitte ich Euch, mich wieder in Euren Dienst zu stellen. Eure Truppen brauchen jemanden wie mich, das wisst Ihr. Es wäre mir ein Anliegen, die nächste Einheit Späher zu leiten. Wenige Menschen kennen sich so gut in den Wäldern aus wie ich." "Hm." Elyon überlegte nicht lange. "Wie du möchtest. Damit bist du offiziell wieder im königlichen Dienst. Du hast Recht, ich brauche jemanden wie dich. Sobald die Truppen eingekehrt sind, bestimmst du deine Mannschaft. Vorausgesetzt, die Wächterinnen können dich entbehren?" Sie sah fragend zu ihnen. Innerhalb der Gruppe warfen alle Cornelia Seitenblicke zu. Diese nickte schwach, aber entschlossen. Was hätte sie auch tun sollen? Das war eben Caleb, so wie sie ihn kannte und lie- … mochte. Nachdem dies geklärt war, wurden sie, Caleb zurücklassend, von Anne in die große Bibliothek geführt, die von ihrem ursprünglichen Ort unter der Erde in einen sonnendurchfluteten Raum nahe dem Innenhof verlegt worden war. Anne war ein aufgewecktes Mädchen, das viel plapperte, aber ansonsten keinerlei besonderen Merkmale aufwies. Und dennoch konnte Cornelia sie nicht leiden. Diese Tatsache hatte einen einfachen Grund, der auf das Gespräch zurückging, welches geführt wurde, als man zusammen in die Bibliothek ging. "Ich bin ja so froh, die Königin so erfreut zu sehen. Ich arbeite seit drei Jahren hier und in dieser Zeit kam mir ein ums andere Mal zu Ohren, dass unsere Königin einem Menschen sehr nachtrauert." "Ja, sie und Cornelia waren beste Freundinnen", erklärte Will wie die Selbstverständlichkeit selbst. "Cornelia? Nein, eine Frau meinte ich nicht. Es gehen Gerüchte um, dass die königliche Hoheit gewisse Gefühle für einen jungen Rebellen entwickelt haben soll, der einige Zeit hier am Hofe gelebt habe." Anne senkte ihre Stimme, als würde sie ein Staatsgeheimnis ausplaudern. "Man erzählt sich, der junge Mann kam nicht mit der Etikette des Hofes klar und habe deshalb die Affäre nach einigen Monaten beendet. Es kamen auch Gerüchte auf, die Königin sei schwanger von ebenjenem Mann, doch diese haben sich bald zerstreut. Möglich wäre es aber dennoch gewesen." Während der ausführlichen Erklärung war Cornelia immer langsamer geworden, um dem stechenden Worten nicht unterliegen zu müssen, doch Annes Flüsterton hallte an den Marmorwänden des menschenleeren Flurs so penetrant wider, dass sie nicht zu überhören waren. "Es wäre also möglich gewesen", presste sie verärgert, aber leise zwischen geschlossenen Zähnen hervor. Mit angezogenen Schultern und zu Fäusten geballten Händen stapfte sie in gebührendem Abstand hinter den anderen her, die scheinbar mehr dazu wissen wollten. Anne jedoch wusste nicht mehr darüber, bis auf das Gerücht, dass der junge Mann außerordentlich gut ausgesehen habe und davor sogar eine Liaison mit einer Wächterin gehabt haben soll. "Liaison…ich köpfe sie", zischte Cornelia. Will ließ sich ebenfalls nach hinten fallen. "Hey, Cornelia, bleib ruhig. Die Kleine weiß nicht, wovon sie redet. Ich bin mir sicher, Caleb hatte nie – " "Da liegt ja mein Problem", flüsterte Cornelia aufgebracht. "Ich weiß, dass da mehr zwischen ihnen war, als bloße Freundschaft. Zumindest hat sich etwas angedeutet." Will nahm ihre Hand. "Selbst wenn mal was war, das ist Jahre her. Und sein ganzes Verhalten deutet darauf hin, dass er dich liebt. Mit Elyon hätte er es leichter, denn sie lebt in Meridian, dennoch ist er bei dir." "Von wegen." Sie sah wütend zu Boden. "Das hat nichts zu bedeuten. Ich weiß nicht einmal, ob meine Gefühle echt sind oder nur ein vorübergehendes Erscheinungsbild der Machtlosigkeit oder gar ein Bannspruch, der auf mir lastet." "Das redest du dir nur ein", versicherte Will ihr. "Versuch einfach, dich vorrangig auf deine Aufgabe hier zu konzentrieren, das lenkt ab und klärt deinen Kopf. Wir haben leider größere Probleme als diese komplizierte Liebesgeschichte. Erst einmal müssen wir versuchen herauszufinden, was Ihalla ist und dann müssen wir deine Kräfte zurückholen." "Du hast Recht!" Entschlossen hob Cornelia ihren Blick wieder. "Jetzt ist nicht die Zeit zum Trübsal blasen! Harvey Blight wird es mir bitter büßen, auch nur daran gedacht zu haben, mir meine Kräfte zu rauben! Und meine Gefühle zu ändern. Egal in welche Richtung!" "So kenne ich dich! Aber erst einmal müssen wir uns mit Recherche begnügen." Sie waren nach wenigen Schritten beim Archiv angekommen und wurden von Anne eingelassen. Der Raum war sehr hoch und hell. Die Regale rankten sich fast bis hinauf zur Decke, wo die obersten Abteilungen nur mit hohen Holzleitern erreichbar waren. Die Decke selbst war eine Kuppel aus grünem und blauem Mosaikglas, das Sonnenlicht durch den kreisförmigen Raum schickte. Es war beeindruckend, nicht zuletzt durch die wuchtigen alten Bücher – der Großteil in Leder gebunden – die einen äußerst archaischen Eindruck machten. "Wie sollen wir bei diesem Repertoire auch nur ansatzweise etwas finden, das uns weiterhilft?", stöhnte Irma. Sie sah missmutig zu den Spitzen der Regale hinauf. Mit einem kleinen Hüpfer flog sie hoch und zog wahllos ein Buch aus der Reihe. "Tem – Anfang und Ende eines Reiches. Tja, das war's wohl nicht." Sie steckte es wieder zurück. "Sie haben hier sicherlich eine bestimmte Ordnung", meinte Taranee. "Vermutlich ist das hier die Geschichtsabteilung. Wir müssen nach etwas suchen, das mit Magischen Artefakten oder Kräutern oder Tränken zu tun hat. Blight hat nicht zufällig gesagt, was Ihalla genau ist, oder?" Sie hatte sich an Cornelia gewandt. Diese verneinte. "Überhaupt nicht. Ich kann mich nicht mal richtig daran erinnern, was er genau gesagt hat. Zu diesem Zeitpunkt war ich hirnleistungstechnisch nicht mehr ganz auf dem Zenit meines Potenzials." "Also tappen wir im Halbdunkeln", schloss Will. "Schön, wir haben aber immerhin einen Namen, das ist äußerst hilfreich. Also, Wächterinnen, machen wir uns auf die Suche!" Sie verteilten sich so gut als möglich im ganzen Raum, deckten zu fünft aber lediglich einen kleinen Teil der Fläche ab. Hin und wieder fanden sie Hinweise und Erwähnungen, doch nie Konkrete Nennungen der Ihalla. Die Suche dauerte Stunden und gefühlte Tage. Irma war die erste, der die planlose Herumschauerei auf die Nerven ging. Während die anderen noch emsig Bücher um Bücher wälzten, machte sie es sich indes in einem Zwischengang gemütlich und las die jüngere Geschichte Meridians in der Hoffnung, sie würde Informationen über Phoebe und Phobos finden. Doch Phoebes Kräfte, Pläne, aber auch ihre ganze Existenz wurde in den Kapiteln nur vage behandelt. Dass sie tatsächlich existierte, darüber schrieb kein einziger der dicken Schinken. Wäre Irma nicht unmittelbar in dieses Geschehen verstrickt, würde sie selbst daran zweifeln, dass es Phoebe gab. Indes hatten sich Taranee und Hay Lin zusammengeschlossen, um eine effizientere Suche zu gestalten, was sich jedoch als schwierig herausstellte. Sie hatten zu Anfang nach Stichwörtern Ausschau gehalten, die auf eine passende Abteilung schließen ließen, doch die Bibliothek war einfach zu weitläufig. Eine Bibliothekarin gab es auch nicht, also mussten sie improvisieren. "Das Herz von Kandrakar ist sicherlich hilfreich", schlug Hay Lin vor. "Und ich weiß auch schon wie!" Taranee rief die übrigen zusammen. Als sie alle im Gang mit den modernen Künsten versammelt waren – was länger dauerte, da Cornelia ja nicht fliegen konnte. "Hört zu, Mädels, ich habe den perfekten Plan! Zumindest in der Theorie. Will kann doch mit dem Kristall Portale zwischen den Welten kreieren und dabei eruieren, wohin wir transportiert werden. Wir kreieren also ein Portal in unsere Welt zurück, dann öffnen wir eines, das uns direkt zu dem Buch bringt." "Da gibt es nur ein Problem", wandte Will ein. "Ich kann den Ort nur festlegen, wenn ich weiß, wo er ist. Aber ich habe keine Ahnung, wo wir hin müssen." "Und da kommt mein genialer Verstand ins Spiel." Taranee zwinkerte ihr zu. "Der Kristall ist ein magisches Artefakt und wie alle magischen Dinge, hat es so etwas wie Intelligenz. Keine richtige, aber es braucht Potenzial, um Dinge wie Zaubersprüche oder Wirkungen zu interpretieren. Wir nutzen dieses Potenzial einfach, indem wir die Funktionsweise des Kristalls als Schlüssel umdrehen." "Ich steig aus", murrte Will. "Es ist ganz einfach. Normalerweise sagst du dem Herz, wo das Portal uns hinbringen soll. Es nimmt irgendwie deine Gedanken auf und folgt ihnen. In unserem Fall heute machen wir es einfach in umgedrehter Weise. Du sagst dem Portal, was du finden willst und es kreiert das Portal dort. Wir lassen es quasi selbstständig arbeiten." "Hm." Will war skeptisch. "Einen Versuch wäre es wert. Okay, probieren wir es." Cornelia hielt sie zurück. "Warte kurz! Wenn wir schon auf die Erde zurück reisen, könntest du uns in unsere Wohnung schicken? Ich brauche unbedingt etwas Ordentliches zum Anziehen!" "Ich versuch's." Will hielt das Herz Kandrakars hoch und schloss die Augen. Plötzlich schoss – wie gewohnt – ein blitzblauer Strudel mit Sogwirkung aus dem Nichts heraus. Sie schritten eilig hindurch und siehe da! Sie kamen tatsächlich nur wenige Meter von der Eingangstüre 402 in der Laverelley Lane entfernt an. Das Treppenhaus war glücklicherweise menschenleer. "Seht ihr? Meine Genauigkeit wird besser." Will schloss die Türe auf und wartete mit den anderen auf Cornelia, die für ihre Verhältnisse in Windeseile fertig angezogen war. "Ich fasse es nicht", murmelte Irma. "Wir werden das böseste Böse überhaupt bekämpfen und du siehst aus wie ein Topmodel. Hast du noch nie etwas von praktischer Kleidung gehört?" Cornelia sah flüchtig an sich herab und wandte sich dann der Angreiferin zu: "Du bist doch nur neidisch! Außerdem trage ich nichts Aufwendiges, es wirkt an meiner Person einfach gut." Die anderen drei gaben ihr in Gedanken neidlos Recht. Sie trug tatsächlich nur – unüblich für ihren Stil – eine schlichte blaue Jeans und einen ebenso einfachen grau melierten Pullover, unter dem ein weißes Tanktop hervorblitzte. Irma war dennoch der Meinung, Cornelia habe sich für einen gewissen jemand hübsch gemacht. "Erstens, Irma, bin ich hübsch und muss mich nicht hübsch machen. Zweitens, beeinflusst dieser gewisse jemand meinen Kleidungsstil ganz und gar nicht. Und drittens, könnten wir bitte aufhören verschlüsselt über mein nicht vorhandenes Liebesleben zu sprechen und auch meine Klamotten außen vor lassen? Immerhin bekämpfen wir bald das böseste Böse überhaupt!" Irma erwiderte nichts darauf. "Da das geklärt wäre, sollten wir wieder zurückgehen", schlug Will vor. "Und da wir gerade von einem gewissen jemand sprechen, ich habe mir da was überlegt." Die anderen horchten gespannt auf. "Da Cornelia temporär keine Kräfte besitze und nicht einmal ansatzweise etwas Sinnvolles tun kann, dachte ich mir, unser Topmodel könnte wohl ein wenig Kampftraining absolvieren. Ihr wisst doch noch, wir haben in der Schule ein paar Mal am Karateunterricht teilgenommen und an der Selbstverteidigung für Frauen. Daran könnte man doch anknüpfen." "Aha!", rief Irma triumphal. "Ich wusste es! Du willst darauf hinaus, dass Caleb ihr helfen soll!" Aber Cornelia fiel ihr ins Wort. "Die Idee ist dumm. Ich möchte nicht noch mehr Zeit mit ihm verbringen, sonst garantiere ich für nichts – in beide Richtungen." "Soll heißen du köpfst ihn oder schläfst mit ihm?", resümierte Irma provokant. "Ha-ha", machte Cornelia trocken. "Meine Idee ist gut, gebt es zu", forderte Will, um den Streit zu unterbinden. An Irma gewandt fügte sie hinzu: "Es wäre zumindest zweckdienlicher, wenn Cornelia sich soweit verteidigen kann, dass sie vorzugsweise nicht gleich draufgeht. Und das sage ich als Anführerin. Außerdem ist es sicherlich nicht verkehrt, wenn ihr das mal klärt." Es wurde zugestimmt mit dem Argument, dass man eine Sucherin entbehren konnte, doch die wahren Beweggründe waren äußerst vielfältig. Hay Lin war weiterhin davon überzeugt, dass sich wieder eine Liebesbeziehung zwischen den beiden entwickeln würde. Irma wollte zu gerne sehen, wie sich die beiden weiterhin zankten, denn sie fand das amüsant. Taranee war tatsächlich der Überzeugung, ein wenig Training könnte helfen. Und Cornelia, als einzige Eingeweihte in ihr Gefühlschaos, wusste, dass eine Ablehnung nur zu unnötigen Fragen führen würde. Sie vertraute Will und deren Entschlossenheit. Zudem war es wirklich keine schlechte Idee, zumindest ein paar der alten Kenntnisse aufzufrischen. Mit diesen und ähnlichen Überlegungen öffnete Will ein Portal, das in den Empfangsbereich des Palastes führte, durch welches Cornelia geschickt wurde. "Da das geklärt wäre, sollten wir hoffen, dass das Herz einen hohen Intelligenzquotienten hat." Will glaubte nicht recht daran, dass Taranees Vorschlag funktionierte, doch sie wollte es versuchen. Sie leerte ihren Geist, was gar nicht so einfach war. Immer wieder kamen diverse Gedanken in ihren Sinn. Erst nach ein paar Minuten schaffte sie es, sich nur auf das Ziel zu konzentrieren. Sie stellte sich keinen Ort vor, sondern nur das Buch. Dann öffnete sich tatsächlich ein Portal. "Du hast es geschafft!", rief Hay Lin freudig und sprang als erste durch die Pforte. Die anderen folgten ihr gespannt. Die Idee war gut gewesen, doch an der Umsetzung haperte es gewaltig. Sie befanden sich wieder in der Bibliothek Meridians. Es war kein außergewöhnliches Buch zu sehen und auch sonst war keine Veränderung zu entdecken, bis auf dass sie sich in einem anderen Gang befanden, relativ am Ende des Raumes. Taranee forderte sie auf, die nächsten Regale zu durchsuchen und etwas enttäuscht machte man sich an die langweilige Beschäftigung. Es dauerte beinahe eine Stunde, bis man endlich Irma vom dritten Regal rufen hörte: "Ich hab es! Hier ist es!" Erleichtert trat der Rest hinter sie und das aufgeschlagene Buch. Es war kein allzu auffälliges Buch. Ein schlichter grüner Ledereinband, goldene Lettern in altertümlicher Schrift und eine angebundene Samtkordel als Lesezeichen machten den ganzen Band aus. Er war auch nicht allzu dick, lediglich zweihundert Seiten. Irma hatte eine Seite im letzten Drittel aufgeschlagen. Die Kapitelüberschrift lautete IV. Bedingungsaktive Manipulativa. "Ich verstehe zwar nicht, was das heißen soll, aber im zweiten Unterpunkt ist Ihalla aufgelistet." "Es bedeutet, dass die Wirksamkeit der Tränke oder was auch immer an Bedingungen gebunden ist. Vermutlich Einnahme, Dosis und weiteres", erklärte Taranee. Sie nahm das Buch in die Hand, blätterte um und begann zu lesen. "Die Ihalla, auch Insomnia oder Traumpflanze genannt, ist eine Knollwurzelpflanze, die nur in extrem sumpfigen Gebieten mit natriumhaltigem Boden vorkommt. Sie wird von Insomnitari, den Traumwandlern, gezüchtet, um deren Kräfte zu verstärken. Die Ihalla, solange unbehandelt, ist in ihrer Reinform nicht giftig und bewirkt keine speziellen Effekte. Nur die Insomnitari sind dazu bemächtigt, aus ihr ein Pulver zu gewinnen, mit welchem sie in die Träume von Menschen schlüpfen können, um diese sowohl zu manipulieren, als auch zu kreieren oder gänzlich löschen können. Wird die regelmäßige Einnahme unterbrochen, so schließt sich der Geist und die Insomnitari sind unfähig, sich in die Träume ihrer Opfer einzuschleichen. Die Ihalla zeichnet sich durch ihren starken Eigengeruch, ihre Bitterkeit und den trockenen Geschmack aus, verursacht jedoch, in Verbindung mit sehr aromatischen Basisprodukten, eine leichte Abhängigkeit." "Das hilft uns so was von gar nicht weiter!", stöhnte Will genervt. "Dass Blight ein Traumwandler ist und sich in Cornelias Träume geschlichen hat, wussten wir bereits. Aber was bedeutet der Teil mit dem aromatischen Basisprodukt?" "Vermutlich", schlug Taranee vor, "dass er das Pulver der Ihalla irgendwo untergemischt hat. Ich frage mich nur, was es war…" "Der Kaffee", schlussfolgerte Will stöhnend. "Trotzdem. Es bringt uns nicht weiter! Wir haben keine Ahnung, was als nächstes passieren wird. Und auch nicht, wo sich die Feinde aufhalten und was sie tun werden." Will nahm Taranee das Buch aus der Hand und schlug es missmutig zu. "Aber wenn wir schon einmal hier sind, sollten wir die Zeit nutzen. Suchen wir nach irgendetwas, das uns hilft." Plötzlich hatte Taranee einen Geistesblitz. "Könnt ihr euch erinnern, als wir auf Zambala Nerissas Aufenthaltsort ermitteln wollten? Cornelia hat damals die Bäume und Sträucher gefragt. So in der Art zumindest. Wir könnten dasselbe doch auch auf Meridian probieren. Es wäre zumindest eine Möglichkeit." Will wippte unruhig von einem Fuß auf den anderen. "Die Idee ist prinzipiell nicht schlecht. Aber Cornelia hat keine Kräfte, schon vergessen?" "Aber", rief Taranee begeistert, "wir können dasselbe doch auch mit Wasser oder Luft machen! Der Nachteil an Cornelias Kräften ist, dass nicht überall lebende Pflanzen wachsen. Luft ist aber überall und auch unterirdische Wasseradern sind häufig anzutreffen, egal wie klein diese auch sein mögen." "Das ist ja ganz nett", unterbrach Hay Lin sie, "doch meine Fähigkeiten funktionieren so nicht. Du willst, dass ich Phoebe und Blight orte. Das kann ich natürlich tun, aber meine Reichweite ist sehr begrenzt. Drei, vier, vielleicht fünf Kilometer, das war's dann aber auch schon." "Und bei Wasser funktioniert das schon gar nicht", fügte Irma hinzu. "Wasser lebt immerhin nicht. Ich habe keine mentale Verbindung dazu, also kann ich es nichts fragen. Und selbst wenn, diese Wasseradern sehen nichts unter der Erde." Es breitete sich betretenes Schweigen aus. Jede für sich überlegte, was sie noch für Möglichkeiten hatten, doch so richtig einfallen wollte ihnen nichts. "Mir ist vorhin etwas eingefallen", informierte Irma sie nach einer schieren Ewigkeit des Nachdenkens. "Das wollte ich euch schon sagen, aber ihr habt so ein Trara gemacht." "Was ist es?", fragte Will ungeduldig. "Ich hab was über diese Traumwandler gelesen. Oberste Priorität hat doch, Cornelias Kräfte wiederzuerlangen. Wartet, ich hol das Buch." Sie verschwand hinter einer der vielen Ecken und kam wenig später mit einem sehr dicken Buch wieder, in dem sie suchend herumblätterte. "Hier ist es. Die Residenz der Traumwandler sind Sumpfgebiete im Norden. Außerdem steht etwas darüber, dass sie immun gegen die Wirkung der magischen Artefakte sind." "Also können wir das nicht so machen die bei der Suche nach dem Buch", schlussfolgerte Will nachdenklich. "Mist. Das bedeutet, wir müssen sie suchen … andererseits, wartet mal. Sie wollen, wie immer, das Herz von Kandrakar. Ich sage, okay, geben wir es ihnen." "Bist du wahnsinnig?", fuhr Irma sie an. "Ich meinte damit eine Falle", klärte Will sie auf. "Wir schnappen uns Cornelia und Caleb und ein paar von seinen Rebellenfreunden. Mit denen platzieren wir uns auf einem schönen, übersichtlichen Ort, wo wir unsere Zelte aufschlagen und gar nichts tun, bis sie uns angreifen. Und bevor ihr Einwende erhebt, denkt doch mal nach. Sie wollen das Herz von Kandrakar, also müssen sie es sich wohl oder übel holen. Sie müssen früher oder später angreifen und selbst wenn sie wissen, dass es eine Falle ist, werden sie kommen, denn eine bessere Möglichkeit bietet sich gar nicht." Die anderen versanken in überlegtes Schweigen, dann stimmte Irma als erste zu. "Ich finde den Plan gut. Geben wir ihnen eines auf die Mütze! Die werden ihr blaues Wunder erleben." Kapitel 13: Preparations ------------------------ … I was dancing inside a trap … Of softly spoken word with every inch I tripped Over your threads you stretched at night when I was still asleep … D R E I Z E H N Cornelia bekam von dem als Erfolg getarnten Misserfolg nichts mit. Sie war im Gegenteil dazu damit beschäftigt, nicht allzu aufdringlich zu wirken, um keinen falschen Eindruck bei Elyon und Caleb zu erwecken. Im Gefühleverstecken war sie aber glücklicherweise schon immer Meisterin gewesen. Ihre Ernsthaftigkeit und über die Maßen reichende Selbstkontrolle, die sie erstaunlicherweise seit dem Verlust ihrer Kräfte wieder hatte, wenn sie in Calebs Nähe war, halfen zusätzlich dabei, einen kühlen Kopf zu wahren. Und der Grund ihrer Bitte, der rein praktischen Zwecken entsprang, machte ihr auch das Gewissen so leicht, als habe sie keinerlei Hintergedanken. Ebendiese versuchte sie nämlich gekonnt nicht zu denken, denn hätte sie es getan, dann wäre die ganze Aktion weitaus weniger praktisch als sie sich darbot. "Du möchtest bitte was?" Caleb stutzte und Elyon verkniff sich ein verwundertes Grinsen. "Training. Schlicht und einfach die Grundlagen der Selbstverteidigung." "Du weißt aber schon, dass ich ein Kämpfer und kein Verteidiger bin?" Er musste sich zusammenreißen, nicht laut loszulachen. Cornelia und kämpfen? Das war, als würde ein Krieger seine Waffen nach den Modefarben der Saison auswählen. "Hör zu, im Ernst, ich denke nicht, dass du dafür geeignet bist, einen Kampf mit Fäusten auszufechten. Wie willst du mit diesen zarten Händen zuschlagen oder mit diesen dünnen Beinen einen Tritt versetzen?" "Bei dir klingt meine Figur ja wie eine Beleidigung…", murmelte sie, besann sich jedoch schnell wieder auf den Ernst der Lage. Sie hatte sich ohnehin viel zu lange gehen lassen. Nun war Seriösität gefragt. "Hör zu, im Ernst", wiederholte sie, "ich möchte nicht untätig herumsitzen und darauf warten, von jemandem gerettet zu werden." Caleb fuhr sich nachdenklich durch die Haare und stützte den Kopf auf. "Ich weiß nicht. In ein paar Stunden kann ich dir nicht allzu viel beibringen. Außerdem bleibe ich die ganze Zeit in deiner Nähe, wenn es zum Kampf kommt. Und dann sind ja auch noch die übrigen Wächterinnen da." "Und wenn sie verhindert sind? Wenn sie gerade in der Klemme stecken und kein Auge auf mich haben? Und wenn du ebenso verhindert bist? Ich weiß, dass ich nicht viel ausrichten kann mit meiner bloßen Muskelkraft, aber ich will mich zumindest nicht völlig schutzlos fühlen! Wer weiß, vielleicht verschafft mir ein einziger Schlag eine Sekunde mehr, die irgendjemand braucht, um mich zu retten. Außerdem kann ich ja schon einiges vom SFF." "Was ist SFF?" "Selbstverteidigung für Frauen. Also, was ist?" Cornelia spielte nun ihre letzte Karte raus, als sie merkte, wie Caleb immer noch zögerte. Sie trat näher an ihn heran – wobei sie immer noch einen gebührenden Abstand von einem Meter hielt – und blickte aus großen Augen zu ihm auf. "Argh, ich hasse es, wenn du das tust! Schön, bis der Spähtrupp eintrifft üben wir ein wenig. Die wichtigsten Kniffe kann ich dir hoffentlich beibringen." Er wandte sich an Elyon. "Königliche Hoheit, hättet Ihr einen Raum, in dem wir uns aufhalten könnten?" Sie nickte und ließ jemanden rufen, der sie in die geeigneten Räumlichkeiten brachte. Das ihnen zugewiesene Zimmer hatte, wie auch alle anderen Räume, sehr hohe Decken, die mit Goldleisten umrahmt waren. Der Boden war aus stabilem Marmor, der an seiner Oberfläche alle auf ihm befindlichen Gegenstände in blassem Ton widerspiegelte. Das Mobiliar war hochqualitativ, wenn auch äußerst sporadisch. Außer einer mit rotem Samt bespannten Couch standen noch zwei dazu passende Sofasessel, eine spärlich bestückte Vitrine und ein glänzender Mahagonitisch im Raum. Zusammen mit ein paar Bildern und den weinroten Vorhängen mit goldener Kordel vor der weißen Fensterfront war die Einrichtung komplett. "Es war, soweit ich weiß, vor Jahren das Frühstückszimmer der entfernten Verwandten der Herrscherfamilie, wie Cousinen oder Cousins. Aber da die Königsfamilie nunmehr nur aus der Königin und einem inhaftierten Ex-König besteht, wird es nicht mehr gebraucht", erklärte Caleb, während er Tisch und Sessel an die Wand stellte, um die volle Fläche des imposanten Saals nützen zu können. "Ich finde das unfair", meinte Cornelia nur, ohne weiter auf seine Informationen einzugehen. "Ich muss zwanzig Stunden die Woche arbeiten, um mir lächerliche sechzig Quadratmeter mit einer Mitbewohnerin leisten zu können und Elyon hat ein Frühstückszimmer mit einhundert Quadratmetern, das sie nicht einmal braucht. Irgendwas ist in meinem Leben gewaltig schief gelaufen." "Dafür weißt du alles was du hast zu schätzen", erwiderte Caleb, immer noch Möbel rückend und daher eher beiläufig. "Ich habe allerdings nicht viel, was ich zu schätzen wissen kann." Sie trat nun ans andere Ende der Couch, um ihm beim Heben der schwereren Stücke zu helfen. "Ich verdiene etwa fünfhundert Dollar. Abzüglich der Studiengebühren, Fahrtkosten, des Stroms, Essens, der Miete und diversen Sonderzahlungen wie Reparaturen oder Gerätschaften bleibt am Monatsende nicht viel übrig." "Mit Geld könnte ich ohnehin nicht umgehen. Es ist bewundernswert, wie Menschen es schaffen, alles zu kalkulieren und in einem solchen Stil zu leben, dass sie mit dem Einkommen auskommen. Ich könnte das nicht." "Man lernt es", sagte Cornelia schlicht. "Fangen wir an?" "Gerne. Ich würde gerne mal sehen, was du denn von diesem SFF kannst. Greif mich an, egal wie. Nur spucken, kratzen und beißen sind nicht erlaubt." Caleb stellte sich mit hinter dem Rücken verschränkten Armen breitbeinig in die Mitte des Raumes hin. Cornelia atmete tief durch. Sie war ungewöhnlich nervös. Schnell rief sie sich wieder alles in Gedanken, das sie sich von dem Kurs gemerkt hatte. Bitte, lass das halbe Jahr nicht umsonst gewesen sein!, flehte sie in Gedanken, während sie so schnell sie konnte auf Caleb zulief und zum Schlag ausholte. Er fing ihre Hand blitzschnell ab, umschloss sie mir seiner Faust und drehte ihr Handgelenk so um, dass sie sich mitdrehte und plötzlich mit dem Rücken an seiner Brust stand. "Neuer Versuch." Caleb ließ sie los und nahm seine Ausgangsposition wieder ein. "Versuch dieses Mal, dein Vorhaben nicht ganz so offensichtlich zu gestalten. Überrasch mich. Zuschlagen ist nicht immer die effektivste Methode." Cornelia legte sich, wie ihr geheißen, eine Strategie im Kopf zurecht. Wieder rannte sie auf ihn zu, dieses Mal ohne Angriff bis zur letzten Sekunde. Doch dann war es auch schon zu spät. Sie hatte zu lange gewartet und Caleb, der nur darauf vorbereitet war, eine Hand oder einen Fuß abzufangen, wurde mit vollem Karacho umgerannt. Aus Reflex schlang er schützend seine Arme um Cornelias Körper. Zusammen kugelten sie ein paar Meter über den harten Boden, denn auch wenn sie recht wenig Kraft hatte, so hatten jahrelanges Eislauftraining ihren Anlauf doch äußerst schwungvoll und schnell gemacht. Als sie endlich zum Stillstand kamen, lag Cornelia auf ihm, immer noch durch Calebs Griff an seine Brust gepresst. Bis auf ein paar kurze Aufschläge in den Umdrehungen hatte sie nichts abbekommen, aber er, der sowohl den ersten als auch den zweiten Aufprall erlebt hatte, kniff stöhnend die Augen zusammen. "Was sollte denn das werden? Ist das dein neues Hobby?", presste er hervor. Der Marmorboden war wirklich sehr hart gewesen. "Ich wollte dich erst angreifen, wenn ich ganz nah an dir dran bin", erklärte Cornelia sich süßlich entschuldigend. "Aber dann war es zu spät. Und was meinst du mit neues Hobby? – Oh, das!" Sie erinnerte sich an das Zusammentreffen vor ein paar Tagen. War das wirklich erst ein paar Tage her gewesen? Es schien so furchtbar weit weg. "Verzeihung. Geht's?" "Ja, hab schon Schlimmeres überlebt." Erst jetzt bemerkte er, dass er die Arme noch immer um sie geschlungen hatte. "Entschuldige", murmelte er schnell, ließ aber erst nach ein paar weiteren Sekunden los. "Danke, dass du mich beschützt hast. Der Boden hätte mich sicherlich fertig gemacht", scherzte sie, aber der Dank war ehrlich gemeint. "Wie wäre es, wenn du mir lieber ein paar Verteidigungsgriffe beibringst?" "Vorschlag angenommen." Sie rafften sich auf und gingen dazu über, theoretische Handgriffe zu besprechen und diese langsam auszuführen. Cornelia war eine gelehrige Schülerin, die schnell begriff. Sie konnte die einfachen Sachen bereits in der ersten halben Stunde und auch die fortgeschrittenen Kombinationen meisterte sie vergleichsweise schnell. Natürlich war an einen effektiven Einsatz im Hitzegefecht nicht zu denken, aber immerhin hatte sie eine reelle Chance, sich im Ernstfall mehr als eine Minute auf dem Feld zu halten. "Ich bin beeindruckt", schloss Caleb die Übungsstunde nach gefühlten acht Tagen. "Du hast kein einziges Mal gefürchtet, dein Nagel könnte abbrechen." "Haha", machte Cornelia nur. Sie dachte unwillkürlich an ihre Gefühle vor zwei Tagen. Bei einem solchen Satz hätte sie ihn längst durch den Fleischwolf gedreht, nun jedoch entlockte er ihr nur ein müdes Lächeln. Diese Veränderung schien auch Caleb zu bemerken, denn er sah aus, als wolle er etwas loswerden. Nach ein paar schweigsamen Sekunden beschlossen beide jedoch, es bei dem derzeitigen Stand der Dinge zu belassen. "Und was jetzt?", fragte er. "Mehr als das kann ich dir nicht beibringen." "Jetzt suche ich die anderen Wächterinnen und erkundige mich nach dem Stand der Dinge. Dann werden wir weitersehen." Aber sie brauchte nicht lange zu suchen. Als sie mit Caleb gerade auf dem Weg in den großen Saal waren – Caleb hatte darauf bestanden, sie zu begleiten, damit sie sich nicht verirrte –, kamen ihnen Will, Irma, Taranee und Hay Lin bereits entgegen. "Wir müssen mit Elyon reden." Ohne weitere Worte zog Will Caleb und Cornelia mit sich. Sie hatte mit einer Mischung aus Eifer, Anspannung und Zweifel gesprochen, die auf einen Plan schließen ließen, welcher aus Not heraus geschmiedet worden war. Ohne Umschweife begann sie zu erklären, als sie alle im Thronsaal anlangten. "Elyon, wir haben eine Bitte." "Ich höre?" "Die Nachforschungen haben recht wenig ergeben. Sie besagen hauptsächlich jene Dinge, die zwar wissenswert, aber für uns derzeit wertlos sind." Sie skizzierte in groben Zügen das Wichtigste der Ihalla. "Wichtig ist aber ohnehin fürs Erste, dass wir Cornelias Kräfte zurückerlangen. Aus diesem Grund möchten wir uns Caleb und ein paar andere Kämpfer ausleihen. Wir werden Phoebes Handlangern eine Falle stellen. Sie wollen das Herz von Kandrakar, also werden wir es als Köder benutzen. Sie müssen uns früher oder später angreifen, um es zu bekommen. Aus diesem Grund werden wir eine Art Lager fernab aller Hindernisse aufschlagen und darauf warten, dass sie uns angreifen. Sobald sie es tun, werden Irma und ich versuchen, Blight die Karaffe zu entreißen, während alle anderen den Rest in Schach halten." "Ich verstehe den Grundgedanken, aber was macht euch so sicher, dass sie die geraubte Kraft bei sich tragen?", fragte Elyon mit berechtigtem Zweifel. "Wir wissen es nicht. Aber wir hoffen es. Es ist unsere einzige Möglichkeit", erklärte Will. "Wir werden außerdem versuchen, so viele Gegner als möglich unschädlich zu machen. Wenn wir genügend Handlanger ausgeschaltet haben, wird Phoebe persönlich kommen müssen, um die Arbeit zu erledigen. Und dann ist sie fällig." Elyon erhob sich überlegend. Sie ging ein paar Schritte durch den Raum, ehe sie antwortete. "Der Plan scheint mir vernünftig und gut durchdacht, wenn sein Erfolg auch an manchen Stellen vom Glück abhängen mag. Andererseits haben wir gegenwärtig keine andere Wahl, wie ich zugeben muss. Sofern Caleb damit einverstanden ist, Teil dieser Unternehmungen zu sein, steht es ihm natürlich frei, mit euch zu gehen. Was meine übrigen Soldaten anbelangt, so werdet ihr auf ihre Rückkehr warten müssen. Zurzeit sind sämtliche meiner Truppen auf Kundschaftung und diejenigen, die sich hier befinden, sind das Mindestmaß, welches die Sicherheit des Palastes gewährt. Ich kann keinen von ihnen entbehren. Ich erwarte allerdings ein paar Trupps bereits in drei Tagen zurück. Finden sich unter ihnen Freiwillige, welche sich euch anschließen möchten, so gewähre ich ihnen dies. Zwingen werde ich sie jedoch nicht. Ich hoffe ihr versteht das?" Die Wächterinnen nickten. "Am besten beauftragt ihr Caleb mit der Zusammenstellung eines Teams. Er weiß am besten, wer geeignet ist und wie viele Personen ihr brauchen werdet." "Eine sehr gute Idee", sagte Will. "Wäre das okay für dich?" Caleb, der während Elyons ausführlicher Rede genügend Zeit gehabt hatte, sich zu entscheiden, zögerte nicht lange. "Natürlich. Ich betrachte es als meine Pflicht meinem Land gegenüber, alles in meiner Macht stehende zu tun. Wenn es für euch in Ordnung ist, würde ich aber nicht nur königliche Soldaten aufnehmen, sondern auch einige meiner alten Freunde hinzuziehen. Der Spähtrupp muss also ohne mich auskommen." Will war natürlich einverstanden und auch die anderen Wächterinnen hatten dagegen nichts einzuwenden. "Da das geklärt wäre, sollten wir nach Hause gehen, um Vorbereitungen zu treffen. Hier können wir derzeit nicht viel tun." "Du bleibst hier, nicht wahr?", fragte Cornelia an Caleb gewandt. Sie bemühte sich, keinerlei unangebrachte Emotionen in ihre Worte zu legen und war überrascht, wie leicht es ihr fiel. "Ja. Wir haben keine Zeit zu verlieren." "Dann Morgen." Indes hatte Will längst das Portal geöffnet und alle hindurch geschickt. Cornelia und sie selbst gingen als letzte hindurch, dann schloss es sich ebenso schnell, wie es geöffnet worden war. "Du brennst bereits darauf, dieses Abenteuer zu erleben, habe ich Recht?" Elyon lächelte schmerzhaft. "So viele Jahre haben wir uns nicht gesehen und nun, da du wieder bei mir bist, ist dir nichts lieber, als schnell wieder zu gehen." "Versteht mich nicht falsch, Hoheit", wandte er ein, "es hat nichts mit Euch zu tun. Ihr wisst ebenso gut wie jeder andere, dass ich nicht lange untätig an einem Ort verweilen kann. Zudem kann ich nicht zusehen, wie meine Heimat Gefahr läuft, zerstört zu werden." "Natürlich. Das verstehe ich." Sie musste sich fast auf die Zehenspitzen stellen, um seine Schulter berühren zu können. "Aber ebenso gut wie du weiß auch ich, was der wahre Grund für dein Mitkommen ist." Elyon machte eine kurze Pause. "Niemand hätte jemals gedacht, dass eine einzelne Person eine solche Macht über einen rebellischen Geist wie dich besitzen würde." "Ich weiß nicht, auf was Ihr hinauswollt." "Du möchtest sie beschützen. Du kannst sie nicht einfach so gehen lassen", präzisierte Elyon. "Würde ihr etwas passieren, würdest du dir nie verzeihen. Alleine der Gedanke daran, sie könnte Schmerz erleiden, lässt dich leiden. Ich habe mit angesehen, wie du gelitten hast und wie du Zerstreuung in den Weiten des Reiches gesucht hast. Letzen Endes bist du doch nicht von ihr losgekommen." "Bitte, hört auf, davon zu reden. Ich habe keine Ahnung, was oder wen Ihr meint. Wenn Ihr mich nun entschuldigt, würde ich gerne damit beginnen, meine Männer um mich zu versammeln." Elyon nickte nur und ein paar Sekunden später war er auch schon im Eilschritt verschwunden. Das Portal hatte die Wächterinnen in Hay Lins Wohnung hinter der Main Street geführt. Eigentlich hatte Will sie in ihr eigenes Zimmer bringen wollen, doch ihre Zielgenauigkeit war noch immer nicht das Gelbe vom Ei. Aufgrund der überraschenden Destination hatte Eric, der solche Auftritte nicht gewohnt war, sein Essen quer über den gesamten Teppich verstreut und schimpfte nun genervt über die Situation. Hay Lin schaffte es nur mit Mühe und Not ihn zur Ruhe zu bringen, denn als er sich nach kurzer Zeit abgeregt hatte, hatte sie ihm eröffnet, wieder eine Wächterin zu sein. "Nein, nein, nein", wiederholte er nun schon seit geschlagenen fünf Minuten, ohne auf die Erklärungsversuche seiner Freundin zu hören. "Das erlaube ich nicht! Das ist Vergangenheit. Wir sind verlobt, wir wollen bald dieses schöne Haus in Sheffield kaufen und wir möchten Kinder! Wenn du stirbst, was soll dann werden? Wir haben eine Zukunft! Ich kann ohne dich doch nicht weiterleben!" "Eric, Schatz, beruhige dich bitte endlich", sagte Hay Lin genervt. Sie hatte den Arm um ihn gelegt und tätschelte seinen Kopf. "Du übertreibst maßlos, Liebling. Ich werde nicht sterben und außerdem haben wir das schon so oft gemacht. Die Welt retten ist für uns nichts Neues. Du wirst sehen, in ein paar Wochen sind wir wieder zurück und alles läuft ganz normal weiter wie gehabt." "Ein paar Wochen?", stöhnte er. "Wenn du schon gehen musst, möchte ich mit." "Auf keinen Fall", entschied Hay Lin streng. "Du hast keine magischen Kräfte und du kannst auch nicht kämpfen. Zumindest nicht gegen solche Gegner. Ich hätte viel zu viel Angst, dass dir etwas zustoßen könnte." "In was für einer Welt leben wir, in der der Mann zuhause sitzt, während seine Frau die Welt rettet? Vergiss es. Entweder ich komme mit oder du bleibst. Wenn du alleine gehst, hätte ich viel zu viel Angst, dass dir etwas zustoßen könnte." "Wir werden darüber beraten, okay?", gab Hay Lin auf. Sie küsste ihn auf die Wange. "Und nun müssen wir Vorbereitungen treffen." "Er kommt nicht mit", sagte Will, als sie auf dem Weg zum Silver Dragon waren, das nur wenige hundert Meter von der Wohnung entfernt lag. "Es ist viel zu riskant. Stell dir vor, er wäre in Gefahr und du würdest ihm zu Hilfe eilen. Dann wärst du abgelenkt und wirst womöglich dabei verletzt und kannst ihm zudem nicht helfen." "Ich weiß das doch. Das habe ich nur gesagt, um ihn zum Schweigen zu bringen. Es ist nicht leicht für ihn, dass ich die Stärkere in unserer Beziehung bin. Egal in welchem Belangen." "Okay. Da das geklärt wäre, hast du ein neues Problem, Hay Lin: Wie kannst du es wagen, uns nichts von deiner Verlobung zu sagen?" Will funkelte sie gespielt böse an. "Das steht ja alles noch in der Schwebe", verteidigte Hay Lin sich. "Wir haben noch keinen Hochzeitstermin und so richtig am Laufen ist die Sache noch nicht. Wir wissen nur, dass wir irgendwann einmal heiraten wollen. Aber wann und wie, das ist noch nicht entschieden." "Unglaublich", rief Cornelia erfreut. "Ist das nicht unbeschreiblich? Zwei von uns fünf sind verlobt!" "Krieg dich wieder ein", konterte Irma. "Wer weiß, wie lange ich noch verlobt bleibe. Stephen hat seit fünf Tagen nichts von mir gehört und ich wollte ihn eigentlich gleich nach meiner Ankunft in Heatherfield anrufen. Und vor allem spätestens in ein paar Tagen zurück sein. Er wird sich schon Sorgen machen." "Du kannst unser Telefon im Restaurant benutzen", bot Hay Lin an. "Wir haben einen recht günstigen Tarif." Sie kamen wenige Minuten später zu dritt im Silver Dragon an. Will und Cornelia hatten sich entschuldigt, um ihre Vorgesetzten um einen längerfristigen, natürlich unbezahlten, Urlaub zu bitten und im Notfall einen Familiennotfall vorzuschieben, welcher sie ins Ausland erbat. Hay Lin indes begann alsbald nach der Ankunft im Restaurant einen lautstarken Streit mit ihren Eltern, die sie keinesfalls für unbestimmte Zeit im Geschäft entbehren wollten. Und auch Irma blieb nicht lange von einer Auseinandersetzung verschont. "Salut, Stephen, Irma à l'appareil. Comment ca va?", grüßte sie freudig ihren Verlobten, als er nach dem achten Freizeichen den Hörer abnahm. Seine Stimmte klang allerdings nicht allzu fröhlich. "Aucune idée. Wie soll es mir schon gehen?", rief er erregt durchs Telefon. "Hör zu, es tut mir leid, dass ich mich erst jetzt melde! Es ging nicht eher! Je suis désolé – vraiment!" "Ich höre?" Er klang äußerst verärgert. Irma seufzte schwer. "Keine Stunde nach meiner Ankunft waren zwei meiner alten Freundinnen in Gefahr. Ich musste ihnen helfen. Und dann haben sich die Ereignisse überschlagen! Immer, wenn ich anrufen wollte, kam etwas dazwischen – neue Probleme und Hindernisse. Und als ich endlich Zeit hatte, war da dieses Verbindungsloch! Mitten in Heatherfield, kannst du das glauben? Keiner hatte Empfang mit dem Handy, ich schwör's dir!" Es war einige bange Sekunden lang still am anderen Ende der Leitung, dann brach Stephen in schallendes Gelächter aus. "Du meldest dich fast eine Woche nicht und das ist deine Entschuldigung? Ein Funkloch? Chérie, wirklich, du musst keine Märchen erfinden, das weißt du. Du wirst schon deine Gründe haben. Ich vertraue dir. Aber das nächste Mal schreib zumindest eine SMS. Ich hoffe, die Dinge haben sich inzwischen entspannt?" Irma zögerte und biss sich auf die Lippen. "Je ne sais pas ce que je dois dire…nicht wirklich. Es ist alles viel komplizierter geworden. Vermutlich muss ich noch einige Wochen hier bleiben." "Einige Wochen?!" Stephen war schockiert. "Ist das dein Ernst? Soll ich herkommen? Mein Chef gibt mir sicherlich ein paar Tage frei. Und was ist mit deinem Job?" "Das hat alles Nachrang", erklärte Irma geduldig. "Ich kann dir den Grund nicht sagen, es ist alles zu komplex, aber du musst mir vertrauen. Es geht nicht anders. Ich habe vor meiner Abreise mit Marion geredet. Sie gibt mir solange frei, wie ich brauche." "Soll ich kommen? Ich nehme den nächsten Flug nach Heatherfield." "Nein!", rief sie entschieden. "Okay, das kam jetzt falsch rüber. Ich wollte sagen, dass es keinen Sinn hätte. Das ist so ein Frauending. Wir kommen klar. Halt Marion einfach hin und wenn sie fragt, wieso ich noch nicht zurück bin, sag ihr, dass meine Mutter in Heatherfield einen schweren Zusammenbruch hatte und für ein paar Wochen intensive Pflege braucht. Sollte das nicht reichen, dann sag außerdem, dass mein Bruder Chris vermutlich einen Tumor hat und operiert werden muss." "Mon Dieu, Irma, pur de bon? Ich kann doch deine Chefin nicht anlügen!", stöhnte Stephen. "Du kannst. Du musst. Du wirst. Glaub mir, es ist für alle Beteiligten das Beste. Ich liebe dich." "Moi aussi, je t'aime. Tu me manques." "Du fehlst mir auch. Bis bald." Sie küsste die Luft neben dem Hörer und legte schweren Herzens auf. Das Gespräch hatte ihr mehr zugesetzt, als sie Stephen hatte hören lassen wollen. Auf Hay Lins fragenden Blick winkte sie schnell ab: "Es ist alles in Ordnung. Er konnte auch gar nicht viel Protest erheben, weil er noch in seiner Firma ist." "Du klingst übrigens echt süß, wenn du Französisch redest", zog Hay Lin sie auf. Sie verzog nur das Gesicht. "Gewohnheit. Normalerweise reden wir nur Englisch, wenn wir ganz unter uns sind. Sobald wir telefonieren sprechen wir Französisch, damit der andere auch in der Landessprache antworten kann. Die Franzosen sind sehr ausländerfeindlich, da möchte man am liebsten nur französisch sprechen. Aber in meiner grenzenlosen Fürsorge für euch habe ich in Muttersprache gesprochen, damit ihr auch was versteht." "Alles klar", meinte Hay Lin nur und ließ die unnötige Rechtfertigung ansonsten unkommentiert. Doch nicht überall verlief der temporäre Abschied so glatt. Will und Cornelia, beide eigentlich die Unabhängigsten, hatten schwerwiegendere Probleme. Cornelia, weil ihrer Chefin vor wenigen Tagen eine Teilzeitangestellte gekündigt hatte und sie nun hoffnungslos unterbesetzt war, und Will, weil jemand ganz Bestimmtes sich gerade jetzt wieder in ihr Leben einmischen musste. "Hör zu, Liebes, ich kann ja verstehen, dass du ein Privatleben hast", sagte Claire erschöpft, nachdem ihre Angestellte ihr die Lage am Telefon erklärt hatte "aber nachdem Angela weg ist, brauche ich unbedingt diese fünfzehn Stunden! Es konnte ja keiner ahnen, dass sie so plötzlich wegzieht! Nicht einmal sie selbst, sonst hätte sie sicherlich früher angekündigt, uns verlassen zu wollen! Nun stehe ich hier mit den Ausläufern des Weihnachtsgeschäftes, einem immensen Haufen an Umtauschware und nur zwei Mitarbeiterinnen! Cornelia, ich bitte dich, verschieb deine Reise nur um eine Woche!" "Claire, ich kann ja verstehen, in welcher Misslage Sie sich befinden", setzte Cornelia erneut an, "dennoch bin ich regelrecht gezwungen, meinen Abreisetermin einzuhalten. Es geht hier um sehr viel, ich möchte nicht sagen – um Leben und Tod!" Sie verlieh ihrer Stimme genügend Ausdruckskraft, um Claire vollends von der Dringlichkeit des Belangens zu überzeugen. So richtig einverstanden war diese aber immer noch nicht. Den ganzen Weg vom Silver Dragon zum Taxistand und vom Taxistand zum East End diskutierten Arbeitnehmerin und Arbeitgeberin, aber schlussendlich, als schon jedwede Hoffnung auf abhängiger Seite verloren geglaubt war, kam dieser das freundschaftliche Verhältnis der anderen Seite zum Rest der Familie zugute. Claire gab schlussendlich doch nach, gerade noch rechtzeitig, um mit angemessenem überschwänglichen Dank verabschiedet zu werden. "Also ist bei dir alles geklärt?", ließ sich Will bestätigen. Sie gab dem Fahrer Geld und stieg aus. Cornelia nickte erschöpft. Die Verhandlung hatte ihr einiges abverlangt. "Dann ist ja alles gut. Ich werde Mr. Lockheart vom Festnetztelefon anrufen, dann kann ich mir noch überlegen, wem von meiner Familie es schlecht geht und wieso ich – ach du lieber Himmel!" Ihre Kinnlade fiel mit ohrenbetäubendem Krach hinunter. Vor der Eingangstüre stand, im Schutz der Plexiglasüberdachung an die Wand gelehnt, Matt wahrhaftig und in Farbe. Er zitterte leicht und schien bis aufs Mark durchgefroren. Eilig lief Will auf ihn zu und umschloss seine steifen Finger mit ihrer von der Autoheizung gewärmten Händen. "Um Gottes Willen, was machst du denn hier? Es hat Minusgrade! Wie lange stehst du schon hier?" "Zwei Stunden?", presste er mit einem schiefen Lächeln hervor. "Ich habe ehrlich gesagt keine Ahnung. Die Minuten verschwimmen mit der Zeit, wenn das Hirn gefriert." "Und was machst du hier, außer dir den Tod holen?", fragte Will aufgebracht. Cornelia indes machte sich auf den Weg in die Wohnung, um der Kälte zu entgehen und das verliebte Beinahe-wieder-Paar alleine zu lassen. Allerdings machte Will ihr einen Strich durch die Rechnung, denn diese wollte partout nicht mit Matt alleine sein: "Warte, Cornelia, ich komme mit!" Aber im Schnee stehen lassen konnte sie ihn auch nicht. "Möchtest du mit hineinkommen? Auf eine Tasse heißen Kakao vielleicht?" "G-Gerne", bibberte Matt dankbar. Er wurde sogleich in das Domizil geführt, welches die beiden Frauen ihr Eigen nannten. "Ihr habt es sehr schön hier", bemerkte er. Will drückte ihm eine dampfende Tasse in die Hand. "Danke. Um auf deine Frage zurückzukommen, ich habe auf dich gewartet. Deine Mum hat mir die Adresse gegeben. Ich habe seit zwei Tagen versucht dich zu erreichen, aber du bist nie ran gegangen und dein Handy war immer ausgeschaltet." Will warf einen kurzen Blick auf den blinkenden Anrufbeantworter: Vier Nachrichten – gerade genug, um als hartnäckig zu gelten, aber doch so wenige, um als charmant durchzugehen. "Oh, verstehe." Sie kramte ihr Mobiltelefon aus der Tasche. "Hey, Terry, wieso hast du nicht durchgestellt? Ich könnte dich erwürgen!" "Sorry", kam es genervt nur für die beiden Wächterinnen hörbar von dem Handy zurück. Sie wandte sich wieder Matt zu, der im ersten Moment an ihrer geistigen Gesundheit zu zweifeln schien, sich dann aber wieder ihrer Fähigkeiten entsann. "Tut mir echt leid, ich war nicht zuhause und mein Handy…nun, es war schon an, aber da wo ich war, hatte ich nicht viel Empfang. Und wenn, dann hat mein Handy gebockt", fügte sie scharf an das Gerät gerichtet hinzu. "Meridian?" "Ja, könnte man so sagen." Und schon befand er sich wieder mitten drin. Wenn sie nun nicht aufpasste, dann wäre er wieder in Gefahr. Das musste sie sofort unterbinden. "Aber es ist nichts Tragisches." "Natürlich nicht", meinte Matt sarkastisch. "Das letzte Mal, als wir uns sahen, wurdet ihr auch nicht von einem ekelhaften Ungeheuer angegriffen. Es ist ja auch nicht so, dass eure Kräfte wieder da sind und, dass das etwas zu bedeuten hat. Sag mal, willst du mich für dumm verkaufen?" "Nicht direkt für dumm, aber habe ich eine Chance auf geistig etwas zurückgeblieben?" Sie lächelte entschuldigend, doch Matt ging nicht darauf ein. Darum setzte sie nach: "Das ist nicht dein Kampf. Wie immer ist es der unsere. Wenn du uns also entschuldigen würdest…" Sie sah sich nach Cornelia um, doch diese war bereits in ihrem Zimmer verschwunden, um zu packen. "So einfach geht das nicht", unterbrach Matt. Er langte nach ihrem Arm, als sie aufstehen wollte und zog sich zeitgleich hoch. Im nächsten Moment küssten sie sich. Der Kuss war wie jeder andere, nichts Ausgefallenes, nicht in einer dramatischen Situation gegeben und auch nicht mit diversen Hintergedanken. Dennoch hatte er eine Bedeutung. Beide wussten sofort, dass sie einander nicht missen wollten. "Du kannst trotzdem nicht mit", verbot Will entschieden. "Und du kannst mich auch nicht mit so hinterlistigen Mitteln umstimmen! Egal was du nun sagen willst, es ist mir egal. Ich kann dich dort nicht beschützen und die Gegner sind mächtiger als jemals zuvor." "Ich kann sicherlich irgendwie helfen. Du weißt, dass ich mich ansonsten irgendwie einschleichen werde." "Ich hatte befürchtet, dass du das sagst." Sie überlegte kurz. "Und dennoch, nein. Das kann ich nicht verantworten." "Will, ich –" "Matt. Nein. Das ist mein letztes Wort." Sie schubste ihn unsanft aus der Küche in den Flur. "Da ist die Türe, durch die wirst du gehen und du wirst mich erst wieder in ein paar Wochen sehen, wenn alles vorbei ist. Und wehe, du verwendest noch einmal solch unlautere Mittel!" Damit warf sie ihn regelrecht aus der Wohnung und schlug die Eingangstüre hinter ihm zu. Sicherheitshalber lugte sie scheu durch den Spion, um seinen Abgang zu überprüfen. Als Matt außer Sicht war, raste sie ihn Cornelias Zimmer. "Er. Hat. Mich. Geküsst. Dieses Schwein!" Cornelia, ahnungslos und verwirrt, schlug gespielt entsetzt die Hände vor den Mund. "Oh nein! Welch Ungeziemtheit, seine Freundin zu küssen! Was ist jetzt genau dein Problem?" "Ich bin nicht mehr seine Freundin!", korrigierte Will energisch. "Und dass er mich geküsst hat, war ein perfider Plan, um mit nach Meridian zu dürfen. Er wollte mir in einem schwachen Moment die Erlaubnis entlocken, aber da hat er sich geschnitten!" "Ja. Klar." Cornelia warf die letzten Utensilien in ihren Rucksack. "Zusammengefasst: Du liebst ihn noch, er liebt dich noch, ihr seid wieder zusammen und er kommt mit. Korrekt?" "Nein! Also, eigentlich, ich weiß nicht, keine Ahnung…" Will ließ resignierend die Schultern hängen. "Ja. So in etwa." In diesem Moment klingelte es. Cornelia öffnete die Türe lachend, bat Matt mit einem wissenden Grinsen hinein und rief Will herbei. "Hast du es dir anders überlegt?", fragte er lächelnd. "Du findest ohnehin eine Möglichkeit, uns nachzuschleichen", antwortete sie, ihn missmutig beäugend. "Woher wusstest du, dass ich nachgebe?" "Ich kenne dich seit fast sechs Jahren. Standhaftigkeit war noch nie deine Stärke. Du hast schon immer eher zu Wankelmütigkeit geneigt." Er lud sich selbst auf einen Orangensaft ein, während Will nur die Augen verdrehte. "Wann geht es los?" "Sobald ich gepackt habe. Möchtest du vielleicht noch einmal bei dir Zuhause vorbeischauen, um Wäsche zu holen oder so?" "Nur, um dann festzustellen, dass ihr bereits weg seid, wenn ich wiederkomme? Auf keinen Fall." Will verdrehte erneut die Augen. "Überleg es dir. Es wird sicherlich länger dauern, denn unsere Feinde sind gewieft. Ich verspreche dir, wir werden auf dich warten. Wir treffen uns in zwei Stunden im Silver Dragon." "Schwörst du auf das Herz von Kandrakar?" Will biss sich auf die Lippen, doch so oder so, er würde mitkommen. "Ich schwöre auf das Herz von Kandrakar. Geh jetzt, sonst revidiere ich!" "Schon gut, ich gehe ja schon. Zweimal aus derselben Wohnung geschmissen werden innerhalb von zehn Minuten, das soll mir einer nachmachen!" "Geh!", forderte Will mit Nachdruck. Als sie die Türe hinter ihm geschlossen hatte, wandte sie sich an Cornelia: "Wenn das gut geht, fresse ich einen Besen." Ihr sorgenvoller Blick wanderte langsam aus dem Fenster und fixierte den grauen Nachmittagshimmel. Wenn das gut geht… Kapitel 14: Journey ------------------- … Even though I didn't understood the reasons clearly I still fought for sake of heart and soul of mine, abandoned by the very touch my skin received by you … V I E R Z E H N Obgleich sich alle rechtzeitig im Silver Dragon einfanden, beschloss man doch einstimmig – außer Matt, denn diesen hatte man dem Stimmrecht enthoben – die Nacht zu nutzen, um sich auszuruhen. Erst, als Taranee diesen weisen Vorschlag gemacht hatte, war nämlich der Stress ein stückweit abgefallen und sie alle hatten gemerkt, wie sehr die Müdigkeit in ihren Knochen steckte. Die folgende Nacht begann also für sie bereits um sieben Uhr abends und endete um sechs Uhr früh, als Will aufwachte und sich einen Schluck Wasser holen wollte, dabei aber unglücklicherweise mit einem Höllenlärm über sämtliches Inventar stolperte. Nachdem alle anderen halbwegs wach waren, beschloss man ebenso einstimmig wie am Vortag, genügend geschlafen zu haben und endlich nach Meridian zurückzukehren. Will öffnete also ein Portal und im Nu standen sie in einer der zwei königlichen Vorhallen. "Wo sind die denn alle?" Irma sah sich skeptisch um. Das gesamte Schloss schien dunkel zu sein. Taranee machte mit erhobenem Zeigefinger Licht. "Hallo-o?" "Es ist sieben Uhr morgens, was denkst du, wo die alle sind?", fragte Cornelia rhetorisch, doch das Ende ihres Kommentars ging in herzhaftem Gähnen unter. "Ich schlage vor, wir teilen uns auf und suchen nach irgendjemandem, der zu unserer Unternehmung gehört." Sie spalteten sich also auf und gingen in Zweiergruppen im Schloss umher. Will hatte es unter dem Vorwand, sie müsse mit dem derzeit schwächsten Mitglied gehen, geschafft, sich Matt zu entziehen und stattdessen mit Cornelia zu suchen, welche allerdings über den vermeintlichen Grund dieser Zusammenarbeit mehr als unerfreut war. "Ich musste einfach irgendetwas sagen", entschuldigte Will sich schief lächelnd. "Matt und ich alleine…das geht nicht gut. Er würde irgendwie anfangen, über unsere nicht vorhandene Beziehung zu reden oder ich würde anfangen und dann wäre da dieser peinliche Moment, der nicht geklärt werden würde, ehe nicht einer von uns in Lebensgefahr schwebt. Das kann ich derzeit echt nicht brauchen." "Aha", machte Cornelia skeptisch. "Und wieso genau möchtest du nicht mit ihm darüber sprechen? Dass ihr noch viel füreinander empfindet ist doch offensichtlich." "Weil – und das sage ich mit vollster Aufrichtigkeit – eine Romanze unter diesen Bedingungen mehr Nachteile als Vorteile in sich birgt. Außerdem weiß ich nicht richtig, was ich wirklich für ihn empfinde. Klar, ich freue mich, dass er wieder ein Teil meines Lebens ist und ich gebe zu, dass in mir ein paar alte Gefühle aufgeflackert sind, aber ob das reicht, um noch einmal anzufangen, weiß ich beim besten Willen nicht." "Interessant." Will erwartete mehr zu hören, doch Cornelia schwieg sich über dieses Thema aus. Sie hatte wohl ihre eigene Meinung und hätte diese auch gerne zum Besten gegeben, aber ihre törichte Freundin hätte sie ebenso wenig akzeptiert wie sie selbst die einfache Tatsache, dass sie scheinbar nie über Caleb hinweg sein würde – großartige Aussichten. Denn, wie allgemein bekannt, hatte Will seit Matt sehr wohl Beziehungen gehabt, die über Körperlichkeiten hinausgegangen waren. Insofern war sich Cornelia also selbst nicht allzu sicher, ob Will nicht doch mit ihm abgeschlossen hatte. 'Mädels? Ich habe jemanden gefunden!' Die beiden erschraken auf das Heftigste, als Taranees Stimme in ihrem Kopf widerhallte. Sie hatten die Fähigkeit der Telepathie völlig vergessen. "Wie ging denn das", murmelte Will konzentriert. "Ah, genau!" 'Wen denn?' 'Caleb und Vathek. Wir sind im Innenhof. Durch die Vorräume durch, dann links und die zweite Türe wieder links', erklärte Taranee. 'Alles klar', mischte Hay Lin sich ein, die zusammen mit Matt in Richtung Dorf gegangen war. Sie fanden sich eilig im noch schlafenden Innenhof ein, in dem ein gutes halbes Dutzend gähnender Männer saß. Unter ihnen waren, wie angekündigt, Caleb und Vathek, aber auch andere bekannte und unbekannte Gesichter. Ebenfalls anwesend waren Aldarn und Drake. Die restlichen zwei Mitglieder der Operation waren ihnen unbekannt. Caleb übernahm als Anführer die Vorstellung. "Das sind Tristan, ehemaliges Mitglied der Rebellion, und Lilith, eine äußerst geschickte Wanderdiebin, die ich auf meinen Reisen der letzten Jahre kennen gelernt habe." Lilith war sehr klein, keinen Meter sechzig, hatte eine zierliche, aber stramme Figur und sah mit ihren langen schwarzen Wellen und ihren dunklen Augen eher aus wie eine kostbare Sammlerpuppe, die im Regal eines Gothic Freaks einen Ehrenplatz hatte. Tristan war das genau Gegenteil. Er war ein sehr groß gewachsener, bäriger Mann mit Vollbart und hellbraunem, wirren Haar. Caleb wirkte plötzlich neben den beiden ziemlich normal und gar nicht wie jener verwegener Krieger, der er zweifelsohne war. Sein Stirnrunzeln machte es kaum besser. "Und wer ist das? Eine Art Geheimwaffe?" "Das ist Matt, Caleb. Du kennst ihn." Will verdrehte die Augen. "Und ich möchte nicht, dass seine Anwesenheit infrage gestellt wird. Er ist ein Mitglied des Teams. Außerdem ist er auf freiwilliger Basis hier, so wie ihr alle. Hoffe ich zumindest. Niemand zwingt euch, mit uns diesen Kampf auszustehen. Hast du ihnen erklärt, um was es geht?" Caleb bejahte. Er sah Matt weiterhin skeptisch an. Ja, jetzt erinnerte er sich auch wieder. Er hatte ihm früher mal ein paar Kampfgriffe gelehrt. Matt war gar nicht mal so untalentiert gewesen. Will hatte indes begonnen den Plan zu erläutern. "Der sogenannte Plan besteht mehr oder minder daraus, einen Kampf zu provozieren. Die Problematik in dem Vorgehen liegt darin, dass eines unserer Mitglieder seiner Kräfte beraubt wurde. Um siegreich gegen Phoebe vorgehen zu können, müssen wir Cornelias Kräfte zurückerobern. Wir werden unser Lager irgendwo fernab der Städte und Dörfer aufschlagen, um Kollateralschäden vorzubeugen. Soweit das Prinzip. Wie genau wir vorgehen werden, besprechen wir vor Ort, sobald wir Beschaffenheit und Gegebenheit der Umgebung kennen. Noch Fragen?" Niemand meldete sich, also brach man auf. Caleb erklärte, auf Elyon zu warten wäre sinnlos, da ihr Vorhaben bereits bewilligt worden war. Will hatte allerdings den Eindruck, dass er eine weitere Begegnung mit ihr aus irgendeinem Grund vermeiden wollte; wieso auch immer. Sie machten sich also schweigsam und zügig im Dunkel der frühen Morgenstunden auf den Weg. Ein genaues Ziel hatten sie nicht; lediglich Calebs Versicherung, den besten Platz für ihr Vorhaben zu kennen. Die Reise gestaltete sich anfangs als äußerst schweigsames Unternehmen. Während die Wächterinnen nämlich still ihren eigenen Überlegungen nachhingen, waren Caleb, Vathek, Drake und ins besondere Lilith von Natur aus eher ruhige Zeitgenossen. Die einzigen beiden, die sprachen, waren der bärige Tristan und der ohnehin beinahe immer zum Plaudern aufgelegte Aldarn, welche den Schluss der Kompanie bildeten. Denn es hatte sich nach der ersten halben Stunde eine Art Formation gebildet, bedingt durch Beziehungen, Freundschaften und Vorlieben. Caleb, als einziger wissend, wohin man ging, führte die Gruppe zusammen mit Vathek an der Spitze an. Die beiden wechselten kaum Worte, und wenn, dann waren sie strategischer Natur; somit bisweilen uninteressant für irgendwelche anderen Ohren. Hinter ihnen hatten sich Irma, Hay Lin und Matt eingereiht, denn wieder einmal hatte Will es erfolgreich geschafft, sich von ihm aus einem pseudoguten Grund abzusondern. Sie ging nämlich in gebührendem Abstand hinter ihnen, begleitet von Cornelia und Taranee, die eine Weltmeisterschaft im Nichtssagen eröffnet hatten. Danach kam Lilith, schräg dahinter Drake und noch weiter hinten der schon erwähnte Abschluss in Form von Aldarn und Tristan. Alles in allem eine theoretisch durchdachte Aufstellung, jedoch war diese ebenso unnötig wie eine leere Regentonne in der Wüste, denn es war klar, dass kein Regen in der Trockenzeit fallen würde. Will hatte es aus eben dem Grund – mit eben dieser Metapher erklärt – abgelehnt, sie zu verwandeln. Es würde unnötig Kraft kosten und zudem auch noch irrsinnig auffallen. Wie die Wächterinnen aussahen, war nämlich nur in der Hauptstadt verbreitet, wo sie sich Großteils aufgehalten hatten. In den ländlicheren Gegenden – man mochte nicht sagen Pampa – waren den Menschen nämlich nur die Gerüchte und Erzählungen zu Ohren gekommen. Mit genau dieser Information, welche Caleb nach etwa einer Stunde einvernehmlicher Stille mitteilte, brachte er dann endlich den Stein der gepflegten Konversation ins Rollen. "Viele haben von den Taten gehört und natürlich ihre Auswirkungen gespürt. Es ranken sich einige Gerüchte um euch." Er verzog den Mund zu einem leichten Lächeln. "Einige schwören darauf, die Wächterinnen seien alle Blauhaarig. Andere wiederum behaupten, mit eigenen Augen gesehen zu haben, dass die Wächterinnen Frauen mittleren Alters seien. Dann gibt es wieder diejenigen, die der Meinung sind, es seien winzige Knirpse von nicht mehr als sechs Jahren. Ich hörte sogar eine Version eines Mannes, der behauptete, sein Sohn wäre der Wächter des Wassers." "Wie schmeichelhaft", zischte Irma mit finsterer Miene. Caleb fuhr ohne die Unterbrechung zu beachten fort. "Dennoch sind einige sehr wohl klug genug zu erahnen, dass ihr die Wächterinnen seid, die ihnen einst die Freiheit brachten." "Bei dir klingt das ja wie eine Beleidigung", meinte Cornelia halblaut. Angesichts des interessanten Themas hatten Will, Taranee und sie selbst nach vorne aufgeschlossen. "Es ist keine Beleidigung, aber wenn ihr auf Lobreden aus seid, dann kommt wieder, sobald ihr nichts mehr zu tun habt. Sollte herauskommen, dass ihr tatsächlich die Wächterinnen seid, die Helden Meridians, dann können wir ein effizientes Vorankommen vergessen. Sie werden euch in ihre Häuser schleppen, euch Essen und Wein anbieten, Loblieder auf euch singen und euch anflehen, ihre Gastfreundschaft noch länger in Anspruch zu nehmen. Die ländliche Bevölkerung ist äußerst minimalistisch erzogen worden, allem voran die ältere Generation. Sie möchten euch ihren Dank in Form ihrer Freundlichkeit zollen. Aber wenn ihr alle Höflichkeiten annehmt, und das müsst ihr, wenn ihr anderen Familien gegenüber nicht beleidigend sein wollt, dann hält uns das zu sehr auf." "Fertig mit der Lehrstunde, Herr Professor?", fragte Will. Sie ließ sich Calebs Worte noch einmal kurz durch den Kopf gehen. "Aber du hast recht. Wir sollten nach Möglichkeit unerkannt bleiben. Allerdings hätte uns das früher einfallen sollen. Mit den modernen Sachen fallen wir auf wie ein bunter Hund." "Dann sind wir alle einmal bitte froh, dass wir Caleb als Anführer haben, denn er hat euch die hier besorgt. Vathek, würdest du?" Auf Calebs Aufforderung hin zog der blaue Riese einen Sack unter seiner Kleidung hervor. Sorgsam zog er fünf identische Mäntel heraus, die er den Mädchen reichte. "Und du rückst erst jetzt damit heraus, weil…?" "Weil ich warten wollte, bis ihr froh darüber seid, dass wir Mäntel haben. So habe ich zum einen meine Wichtigkeit als strategischer Anführer geltend gemacht und zum anderen sehe ich gerne Cornelias Gesicht, wenn sie erkennt, dass ich doch nicht so dumm bin, wie sie es gerne hätte." "Ach, halt doch deine Klappe", murmelte diese nur. Von Boshaftigkeit war allerdings wenig zu erkennen. Sie verschränkte als unterstreichende Geste die Hände vor der Brust und wandte den Kopf ab. Will sah sie unnötigerweise von der Seite mahnend an. Das Gesprächsthema verlief sich nach ein paar Minuten in Nichtigkeiten. Angesichts der nicht für jedermann ansprechenden Themen der Unterhaltung, teilte man sich wieder in Kleingruppen auf, um die Privatgespräche aufzunehmen. Diesmal erzielte der Zufall jedoch eine andere Kombination. Matt, seinerseits ebenso gerissen wie Will, hatte schnell erkannt, welches Spiel sie spielte und beschlossen, der Partie beizutreten. Durch einen ausgeklügelten Plan, der all sein taktisches Kalkül verlangte, schaffte er es endlich, mit Will alleine auf gleicher Höhe zu sein. Besser gesagt: Er blieb einfach stehen, bis sie nebeneinander waren und Hay Lin, die schnell verstand, brachte ihre Erzählung von einem verletzen Waschbären schnell zu einem Ende. "Ich muss das auch Irma und Cornelia erzählen!", sagte sie nur, etwas übertrieben lachend. Dann war sie auch schon im Laufschritt auf dem Weg nach vorne. "Was willst du?", fragte Will missmutig, auch wenn sie die Antwort schon kannte. "Reden." "Dann rede." "Ich verstehe. Du willst also nicht mit mir sprechen. Du gehst mir aus dem Weg. Wieso, das ist mir noch schleierhaft. Aber ich weiß, dass du das nicht lange durchhältst. Ich habe deine Stimme am Telefon gehört, als ich das erste Mal anrief." Er faltete die Hände und riss die Augen auf. Mit hoher Stimme stotterte er: "Oh, Matt, ähm, ja – ich…ich würde mich g-gerne mit dir treffen!" Er sah sie wissend an. "Du kannst mir nichts vormachen. Du stehst noch immer auf mich." Will knurrte und verzog den Mund. "Du hältst dich wohl für supertoll, nicht wahr, Mister Macho? Kommst zurück und erwartest, dass alles so ist wie früher. Du kannst mich nicht mehr so leicht um den Finger wickeln." "Wir haben uns gestern geküsst, Will." "Ich – das war …" Will brach mangels schlagfertiger Argumente ab und sagte stattdessen: "Ich stehe außerdem nicht auf dich, du- du! Das sagt man heutzutage nicht mehr. Wir sind keine vierzehn. Mag sein, dass ich mal in dich verliebt war…" "Mag sein?" "…aber das war vor langer Zeit. Wir haben uns seit drei Jahren nicht mehr gesehen, seit mehr als zwei Jahren nicht einmal etwas voneinander gehört. Ich habe mich verändert, du hast dich verändert, die Gegebenheiten haben sich verändert." Matt zerschlug das Argument mit einer strengen Armbewegung. "Deine Größe hat sich verändert!", meinte er. "Du bist um ein paar Zentimeter gewachsen, aber sonst war es das auch schon. Will, so wie ich hier neben dir gehe, du bist immer noch die selbe wie früher. Ja, ich gebe dir schon recht, Gefühle können sich verändern, aber doch nicht innerhalb weniger Tage. Denn als ich dich das letzte Mal gesehen habe, da warst du noch eindeutig in mich verliebt." Genervt verdrehte sie die Augen. "Wenn ich dir den Grund nenne, akzeptierst du dann meinen Standpunkt und lässt mich in Ruhe?" "Kann ich nicht versprechen, aber versuch es ruhig." "Okay, wie du willst." Will holte tief Luft, dann sagte sie schnell, ohne dazwischen zu amten: "Ja, ich bin noch in dich verliebt vielleicht liebe ich dich sogar weiß Gott keine Ahnung ich bin mir da nicht sicher aber wenn ich das zugebe dann muss ich dauernd daran denken und dann unterlaufen mir Fehler ich bin die Anführerin und als solche habe ich die Verantwortung für das Gelingen unseres Vorhabens insofern –" Sie holte endlich tief Luft. "– Sei mir nicht böse, Matt, aber wenn ich mir wirklich eingestehe, noch immer Gefühle für dich zu hegen, dann könnte das alles gefährden, was wir unbedingt tun müssen, um Meridian zu retten. Um womöglich die gesamte Dimension zu retten. Mal wieder." "Oh, okay." Mehr brachte der wie erschlagene Matt nicht über die Lippen. Eine solche Antwort, und vor allem eine so einleuchtende Begründung, hatte er nicht erwartet. Damit war das Thema zwischen ihnen erledigt und sie schwiegen sich an, so wie es auch noch die nächsten Tage zugehen würde. Zu selbiger Zeit kam Hay Lin vorne bei Irma, Tarnee, Cornelia, Caleb und Vathek an, die in einem verwirrenden Stimmengewirr hektisch aufeinander einredeten. Sie brauchte ein paar Minuten, um zu erahnen, um was es bei dem Streitgespräch ging. Dabei kam sie auf zwei verschiedene Grundprobleme: Die Kluft zwischen der Infrastruktur der Peripherie und jener des Zentrums und das Wetter. Ersteres Thema behandelten Cornelia, Caleb und Vathek, wobei sich letzterer eher zurückhielt und nur seine Meinung abgab, wenn sie ausdrücklich von einer der Seiten verlangt wurde. Angefangen hatte die hitzige Diskussion mit einer kleinen Bemerkung von weiblicher Seite über den unguten Zustand der Wege. Caleb hatte daraufhin erklärt, wie wichtig der Landbevölkerung die Tradition sei und wie unwichtig es ihnen ist, wie der Zustand der Verbindungen sei, da man ohnehin selten sein Dorf verließ. Cornelia, in ihren Gedanken Utopistin, hatte dann etwas zu heftig erwidert, es sei eine Anmaßung, den Menschen dieses Denken zuzuschreiben, solange sie keine Alternativen kannten. Der leicht bissige Nachdruck, den sie in ihre bestimmte Stimme gelegt hatte, hätte alleine dem Zweck dienlich sein sollen, keinen ihre neu aufgekeimten Gefühle merken zu lassen und zudem war sie als Studentin der Psychologie immer auf eine gute Debatte aus, doch sie waren zu überzeugend gewesen. Caleb, in seinen Gedanken immer noch Rebell, hatte diese vermeintliche Kriegserklärung nicht lange auf sich sitzen lassen und war somit unter vollem Feuergefecht mit Schwergeschützen in den Kampf eingestiegen. Unter dieses rasante Wortgefecht, das jedoch zum Großteil von Cornelia bestritten wurde, da sie rhetorisch einfach überlegen war, mischte sich aber auch noch ein anderes, das von Taranee und Irma geführt wurde. In diesem ging es, völlig konträr zum Ernst des lautstärkeren Streits, um die exakten Grad Celsius, also einfach darum, wie kalt es nun de facto war. Hay Lin amüsierte sich an den sich ständig überschneidenden Diskussionen, bis die beiden Mädchen übereinkamen, dass die Grad derzeit um den Nullpunkt herum liegen mussten. Mit dieser Einigung fand auch bald das zweite Gespräch ein Ende, wenn auch überraschend sachlich. Die anderen beiden Kontrahenten hatten sich darauf geeinigt, dass sowohl diese als auch die andere Meinung auf jeweils einen etwa gleich großen Teil der Bevölkerung zutreffen möge. Hay Lin hatte inzwischen die Geschichte mit dem Waschbären längst vergessen. Und so begannen sie nun wieder mit dem Schweigen, das erst nach knapp einer Stunde gebrochen wurde, als Irma und Vathek– wieso auch immer – schon lange den Platz mit Aldarn getauscht hatten und sich leise mit Tristan unterhielten. Auslöser war, wer hätte es gedacht, Cornelia, die sich zusammen mit Taranee langsam und leise, aber sicher und immer lauter werdend, über Erschöpfung beklagte. Sie waren seit etwa drei Stunden unterwegs und auch die anderen Damen spürten inzwischen einen gewissen Grad an Erschöpfung. Die Reise wurde auf Calebs Drängen dennoch fortgesetzt, denn niemand schaffte einen erfolgreichen Widerspruch gegen seine Befehle. Früher war es Cornelias Aufgabe gewesen, ihn zur Vernunft zu bringen, doch diese war offensichtlich zu schwach dafür und in Wahrheit einfach nicht gewillt, einen Streit mit ihm vom Zaun zu brechen. Dennoch erreichte sie mit ein wenig mehr Gezeter, dass sie bei nächster Gelegenheit in einem Gasthaus halten würden, um ein wenig Wegzehrung zu sich zu nehmen. Als dann endlich ein Dorf in Sicht war, verwehrte Caleb ihnen jedoch den sofortigen Eintritt. Sie waren noch etwa zehn Minuten von der größeren Häuseransammlung entfernt, als er urplötzlich stehen blieb und sich zu ihnen umdrehte. "Wir sind fast ein Dutzend Leute. Selbst wenn wir nicht auffällig gekleidet sind, so fällt es dennoch auf, wenn eine so große Gruppe bestehend aus so unterschiedlichen Gefährten in eine Kneipe einkehrt. Das hier ist zwar eines der größeren Dörfer, aber trotzdem ist das Risiko zu groß, unnötig Aufmerksamkeit zu erregen." "Und was schlägst du vor, Häuptling Camouflage?", wollte Cornelia ungeduldig wissen. "Was ist Camouflage? Ist ja auch egal. Wir werden in Kleingruppen hineingehen und vor allem nicht alle in dasselbe Gasthaus und nicht zur selben Zeit. Sieben von uns gehen vor, der Rest kommt eine halbe Stunde später nach. Teilt euch am besten in unauffällige, plausible Gruppen auf und schauspielert ein wenig." Sie teilten sich also taktisch klug auf. Irma ging, wenn auch etwas widerstrebend, mit Drake voran. Taranee hatte die Ehre, als Liliths Cousine mit dieser und ihrem angeblichen Ehegatten Aldarn als nächste zu gehen. Danach folgten Tristan, Hay Lin, Matt und Will, wobei letztere nur in der Hoffnung mitging, Caleb würde so klug sein und diese Chance ergreifen, um mit Cornelia kurz alleine zu sein. Er war in der Tat so klug, wenn auch nur mit etwas Nachhilfe seitens Vatheks, der es vorzog, als Wesen mit speziellen kulinarischen Vorlieben, sein Essen anderweitig zu beschaffen. Cornelia brannte bereits darauf, ihn danach zu fragen, was er essen wolle und vor allem, woher er es sich zu beschaffen gedenke, doch Caleb riet ihr in weiser Voraussicht davon ab, denn sie hätte sich nur den Appetit verdorben. "Bleiben also nur wir beide übrig", meinte er nüchtern nach einiger Zeit der Stille. "Wir warten noch ein paar Minuten, dann machen wir uns auf den Weg. Die Gasthäuser sind um diese Uhrzeit immer randvoll mit den Geschäftsleuten, die ihr spätes Frühstück zu sich nehmen möchten. Könntest du trotzdem das hier weiter nach vorne geben?" Er zog die obere Kordel des Umhangs fester zu, damit man nichts von Cornelias Kleidung sehen konnte. "Seltsam." Verwirrt blickte sie ihn an. "Was denn?" "Normalerweise hasst du es, wenn ich dir Ratschläge gebe oder dich bevormunde. Hier hatten wir beides in einem Satz plus eine anzügliche Bewegung. Ich hätte schwören können, gleich eine Ohrfeige zu bekommen." "Lässt sich schnell nachholen", scherzte sie herausfordernd. Dann wandte sie den ernster gewordenen Blick geradeaus, um ihn nicht ansehen zu müssen. "Ich habe mich in den letzten Tagen wirklich dumm aufgeführt. Die Sache mit dem Verwelken und die Beleidigungen –…ich habe überreagiert. Und es tut mir leid." Caleb wusste erst nicht was er sagen sollte, doch dann stand er auf und reichte ihr die Hand, um ihr aufzuhelfen. "Ich vergebe dir. Vorwiegend, weil ich zur Hälfte ebenso Schuld daran trage wie du und auch, weil ich dir im Grunde meines Herzens niemals böse sein könnte, selbst wenn ich es wollte." Der Moment war perfekt. Alles war in sich stimmig. Wie sie sich ansahen, wie sich ihre Münder zu einem sanften Lächeln verzogen – die gesagten Worte, die gedachten Worte, die empfundenen Gefühle, alles passte. Und dennoch, obgleich es so viele Faktoren gab, die einen Kuss oder zumindest weitere Worte der Zärtlichkeit gefördert hätten, sagte Cornelia nur dieses: "Gut zu wissen. Gehen wir endlich? Ich habe Hunger." Der Moment war vorbei, die Stimmung verweilte ungenutzt wie das Damoklesschwert weiterhin über ihnen, bereit, genau dann hinunter zu sausen, wenn es am meisten unpassend war. Aber woher war sie gekommen? Wieso war Cornelia plötzlich nett? Sie war nie sprunghaft gewesen. Caleb konnte sich das nicht erklären. Waren Frauen wirklich so kompliziert? Oder war Cornelia einfach besonders schwierig? Vielleicht hatte er auch einfach was verpasst. Er wollte jedenfalls die schlagartig aufgekommene Harmonie nicht angreifen. Es war gut so, wie es war. Keine Schimpfwörter, keine Beleidigungen, aufrichtige Nettigkeit. Und dennoch … es war seltsam. Das ganze Frühstück über sagte er kein einziges Wort, selbst wenn er sich von Cornelia angesprochen fand. Diese interpretierte das Schweigen theoretisch richtig, praktisch aber völlig falsch. Sie nahm an, dass es etwas mit dieser Spannung zu tun hatte, die sie vorhin gespürt hatte. Er musste das einfach gemerkt haben! Daraus schlussfolgerte sie, dass er weitere dieser Momente unterbinden wollte. Aus diesem vermeintlichen Grund bemühte er sich nun ihrer Meinung nach, nichts zu sagen, um ihr zu versichern, dass es keinerlei Bedeutung gehabt hatte und keinerlei Folgen nach sich ziehen würde. Was er allerdings wirklich dachte, war völlig anderer Natur. Er war kurz davor gewesen, sie zu küssen. Auf was hinauf? Das fragte er sich nun, da alles vergangen war, fortwährend. So knapp! Es hätte alles hier enden können; die ganze Litanei, die Odyssee seiner Gefühle. Denn während Cornelias Gefühle einen rasanten Wandel durchgemacht hatten, waren die seinen gleich geblieben – und das seit fünf Jahren. Ja, er liebte sie noch immer und so wie es aussah, würde es auch ewig so bleiben. Mit ihrer Art hatte sie ihm allerdings gezeigt, wie sie davon dachte und er hatte sich entschieden, den weniger schmerzvollen Weg zu gehen. Mitziehen statt ankämpfen. Es war das Beste für alle Beteiligten, wenn es auf beiden Seiten niemals wieder zu zärtlichen Empfindungen kommen würde, wenngleich bei ihm Hopfen und Malz verloren waren. Er konnte zumindest erfolgreich seine Gefühle verstecken. So hatte er sich wenigstens darüber gefreut, wenn auch nur schweren Herzens, dass sie für ihren Teil damit fertig zu sein schien. Damit hätte er gut leben können. Nun allerdings war die Sachlage eine andere. Er hatte sehr wohl die Veränderungen in Cornelias Verhalten bemerkt, doch seiner festen Überzeugung nach, die von ihren ersten paar Zusammentreffen geprägt worden war, waren sie lediglich die Resultate strengster Selbstkontrolle aufgrund des Waffenstillstandes, den sie in der Nacht vor ein paar Tagen geschlossen hatten. Aber zu ebenjener Überzeugung passte dieser Moment nicht und das war der wahre Grund, der ihm zu denken gab. Er war sich so sicher gewesen, Cornelias Gefühlswelt sei ihm gegenüber nicht nur abgekühlt, sondern zu Eis gefroren. Doch in diesem einen verflixten Moment, da war eindeutig eine gewisse spürbare Spannung vorhanden gewesen. Und da war der Knackpunkt seiner Theorie. Er verstand als starker Krieger nicht viel von Romantik, aber trotzdem wusste er dank gesundem Menschenverstand genug darüber, um dem Entstehen eines solchen Moments nicht nur die Schuld eines einzelnen beizumessen. Doch wenn Cornelia ihm gegenüber keine Empfindungen mehr hatte, die über Brechreiz hinausgingen, dann hätte nie ein solcher Moment entstehen dürfen. Es war verwirrend. Und dabei war es so einfach. Doch manchmal sah sogar der klügste Mann den Wald vor lauter Bäumen nicht. Kapitel 15: Hot Served Jealousy ------------------------------- … Left alone I climbed the steep valley I excavated once again, Your whisper still ringing in my mind, when I understood What was important is "you" in my heart … F Ü N F Z E H N Die Reise wurde fortgesetzt, ebenso schweigsam wie sie angefangen hatte. Caleb war noch immer in Gedanken versunken, Cornelia wollte ihn nicht dazu zwingen, mit ihr zu reden, und der Rest folgte dem Beispiel der beiden Anführenden. Es hatte sich nämlich inzwischen eingebürgert, dass eben erwähnte zusammen mit Aldarn die Spitze des Zuges bildeten. Der Zufall hatte nach einer Reihe verschiedenster Geschehnisse darüber entschieden und man wollte das bewährte System nicht anfechten. Es herrschte die ganze Zeit über eine angenehme Ruhe. Ab und zu wurden Worte gewechselt, diese waren jedoch selten von Belangen. Zu viel Konversation schlug ihnen allen nur aufs Gemüt, wie sie festgestellt hatten, denn sie führte entweder zu Streit, Befangenheit oder tiefsinniger Nachdenklichkeit. Und eben das konnte man derzeit überhaupt nicht gebrauchen. Aufgrund dieser Tatsachen hatte sich ganz automatisch eine Formation gebildet, in der nur Konstellationen zu finden waren, die sich intern wenig mitzuteilen hatten. Alles in allem wanderte man also still und im Einklang mit sich und der Natur durch das Outback Meridians, bis es Nacht wurde, man ein einstweiliges Lager aufschlug und am frühen Morgen wieder aufbrach. Am Abend waren sie dann am Ziel. "Das ist es." Hinter ihm versammelte sich eine Menschentraube, die den Platz prüfend beäugte. Will als Anführerin war die erste, die etwas dazu sagte. "Es ist gut. Sehr gut sogar. Das alles kommt uns sehr gelegen. Großartige Arbeit, Caleb." Anerkennend klopfte sie ihm auf die Schulter. Der Ort war tatsächlich für ihr Vorhaben äußerst geeignet. Es war eine mittelgroße Lichtung, vielleicht hundert Quadratmeter, umringt von hochgewachsenen Laubbäumen sowie bodennahen Büschen. Die letzten Sonnenstrahlen vor der Dämmerung drangen vereinzelt und doch reichlich durch die spärlichen Lücken der dichten Bewaldung und berührten den kahlen, harten Boden des ovalen Waldausschnitts. Das einzige, das aus der nährstoffarmen Erde ragte, waren eine große Felsformation mit abgerundeten Ecken und zwei kleinere kantige Felsen. "Es ist wunderschön hier", hauchte Hay Lin begeistert. Cornelia schauderte neben ihr. "Was hast du?" "Ich finde es schrecklich." Caleb drehte sich zu dem Rest der Gruppe um und sagte, bevor sie weitersprechen konnte: "Hier wächst seit einem Jahr nichts mehr. Wieso, das weiß keiner. Diese Lichtung ist zwar sehr bekannt aufgrund ebendieser Besonderheit, jedoch kommt nie jemand hierher. Zum einen, weil die Reise gefährlich und lang ist, zum anderen, weil man bereits versucht hat, den Grund für die Wachstumshemmung zu finden, aber keinen finden konnte." "Hier kann nichts wachsen, weil der Boden tot ist", sagte Cornelia düster. Sie schlang die Arme um ihren Oberkörper, um die aufkommende Gänsehaut zu verhindern, was ihr jedoch nicht gelang. "Vor Jahrzehnten war es einmal ein sehr schöner, eindrucksvoller Ort, an dem vor allem seltene Pflanzen wuchsen. Das Wachstum verhielt sich vergleichbar zu unserem Regenwald – viele Arten, aber wenige Individuen derselben." "Woher weißt du das?", fragte Will irritiert. Sie trat näher an Cornelia heran, um ihr sorgenvoll die Hand auf die Schulter zu legen. Hay Lin tat dasselbe. "Ich kann es vor mir sehen." Cornelia schüttelte die Hände ab, um langsam ein paar Schritte in die Lichtung hinein zu gehen. "Seit mir Kadma auf Zamballa gezeigt hat, wie man mit Pflanzen spricht, habe ich es geübt. Es geht allerdings nicht oft, zumindest nicht auf der Erde. Aber hier, wo die magische Energie alles Leben durchströmt, sprechen sie eine sehr deutliche Sprache. Sie zeigen mir Bilder von vergangenen Zeiten, als diese Lichtung keine war, sondern ein besonderer Teil des Waldes, in dem man eine besonders hohe magische Konzentration spüren konnte." "Erzählen sie auch, was passiert ist?", wollte Irma drängend wissen. "Dann könnten wir ein Buch darüber schreiben und als Finder der Antwort berühmt werden!" "Irma!" Will boxte ihr mahnen in die Seite. "Sie sagen, dass es eine hellblonde Frau war, groß gewachsen und sehr schön, mit mächtigen Kräften." "Hört sich ganz nach Phoebe an", sprach Irma ihrer aller Gedanken laut aus. "Diese Frau raubte dem Ort seine magische Energie, um sich selbst damit zu bereichern. Sie kam hierher, saugte die Energie und ließ somit alles Leben sterben, das auf dem Erdflecken wuchs, unter dem die Konzentration des Spirits hoch war." "Der Spirit", erklärte Aldarn den ratlosen Gesichtern der Wächterinnen, "ist die Lebensenergie Meridians. Er ist Quelle für Königin Elyons Kraft, er ist das, aus dem alles Leben in dieser Welt geboren wird und er ist das, was es am Leben erhält." Caleb fiel ihm ins Wort: "Es gibt Gegenden, an denen der Spirit sehr hoch ist und welche, an denen er nur spärlich oder gar nicht vorhanden ist. Der Reichtum der Flora und Fauna an bestimmten Orten hängt direkt mit der Intensität des Spirits zusammen. Diese Orte sind durch eine unsichtbare Grenze vom Rest abgetrennt, ähnlich einem Wasserglas, damit der Spirit nicht hinaus fließen kann. So erhält sich der Teil Meridians seine Lebensenergie. Wenn aber nun jemand, zum Beispiel Phoebe, den Spirit eines in sich geschlossenen Bereichs abschöpft, dann stirb innerhalb dieser Linie alles, ohne Hoffnung, jemals wieder lebendig zu werden." "Das bedeutet, wir müssen dem kargen Fleckchen hier seinen Spirit wiedergeben, sobald Phoebe zur Strecke gebracht ist!", schlug Irma eifrig vor, doch Caleb musste sie enttäuschen. "Einmal verschwunden, kann die Energie dem Ort nicht mehr zurückgegeben werden. Dieser Umkreis ist für immer tot, dagegen kann nichts getan werden. Es ist vergleichbar mit einem jedem Leben auf Meridian. Jeder Mensch lebt von dem Spirit. Wenn er weg ist, ist man gestorben, und kann nie wieder lebendig gemacht werden. Verstehet ihr?" Sie nickten verstanden, doch Cornelia verzog das Gesicht. "Müssen wir denn hier bleiben? Gibt es keinen anderen Ort, an dem wir warten? Es ist unheimlich. Obwohl ich zurzeit keine magischen Kräfte habe, spüre ich dennoch ein großes Unbehagen an einem Platz, an dem alles tot ist." "Es ist ohnehin merkwürdig", bemerkte Taranee, "dass du die Pflanzen hören kannst. Ist das nicht normalerweise eine Eigenschaft, die das Element der Erde mit sich bringt?" Sie zuckte mit den Schultern. "Vermutlich konnte er nur meine aktiven Kräfte stehlen und nicht die passiven. Bestimmte Fähigkeiten wie diese besondere Feinfühligkeit sind mir scheinbar geblieben." "Wir sollten ein Lager aufschlagen", unterbrach Caleb die vagen Spekulationen bestimmt. "Könnt ihr denn Zelte aufbauen?" Er beäugte die Mädchen misstrauisch. "Natürlich!", meinte Will wie die Selbstverständlichkeit selbst. "Im Zeltlager haben wir das auch schon geschafft." Keine halbe Stunde später standen alle Zelte, bis auf das der Wächterinnen – wer hätte daran gezweifelt? Die Konstruktion, die eher den Namen Misslingen tragen hätte sollen, stand nicht nur völlig verkehrt und verdreht da, sie wirkte außerdem auch nicht gerade stabil, wenngleich recht kreativ umgesetzt. Sie werkten beinahe eine Stunde an dem unkomplizierten Viermannzelt herum, bis sich Will dazu bereit erklärte, die aufdringlich angebotene Hilfe von Aldarn in Anspruch zu nehmen. Weitere zehn Minuten später stand die Behausung korrekt aufgebaut am hinteren Rand der Lichtung. Sie hatten entschieden, die drei Zelte in einem Dreieck aufzustellen, die Eingänge an den Außenseiten, um im Falle eines Angriffs schnell agieren zu können. Der freie Innenraum war dabei groß genug belassen worden, um gemütlich ein Lagerfeuer, sowie ein knappes Dutzend hungriger Individuen unterzubringen, die sich angesichts der aufkommenden Nachtkälte um das Feuer drängelten, welches Lilith und Tristan gemacht hatten, während die Mädchen damit beschäftigt gewesen waren, beim Zeltaufbau seriös zu wirken. Genauer gesagt drängten sich nur Will, Irma, Hay Lin und Matt darum, denn die anderen hatten entweder genügend Würde oder ausreichend Männerstolz, um sich den wärmenden Flammen fern zu halten, solange sie noch nicht drohten zu erfrieren. So entstand eine lärmbehaftete, jedoch äußerst entspannte Atmosphäre, die man die Reise über gemisst hatte. Langsam tauten die Gemüter auf, die vor wenigen Minuten noch so erschöpft von der langen Wanderung waren. Auf diesem Wege wurde die gepflegte Konversation wieder aufgenommen, um den ermüdenden Tag ausklingen zu lassen. Die bezog sich auf Vergangenheiten, Geschichten und alsbald auf persönliche Themen, die durch Taranee ihren Anfang fanden. Angefangen wurden jedoch mit den Vergangenheiten der interessantesten Gefährtin. "Sag mal, Lilith, wie bist du dazu gekommen, hier mitzumachen?", wollte Cornelia interessiert wissen. Sie hatte da ihre persönliche Vermutung, wollte diese jedoch bestätigt wissen. Lilith, davon überrascht, sich direkt angesprochen zu finden, brauchte einige Sekunden, um sich zu ordnen. "Meine Familie lebte in einem kleinen Bauerndorf nahe der Hauptstadt. Die Nähe zu ihr war wohl der Grund, wieso Phobos unsere kleine, namenlose Gemeinschaft zuerst unter seine Herrschaft gestellt hatte. Das war Jahre davor passiert. Wir lebten also mit unserem Schicksal, nicht nur den Zehend abgeben zu müssen, sondern beinahe alles, das wir unser Hab und Gut nennen konnte. Doch eines Tages, an einem Sommertag vor sieben Jahren, als ich gerade zehn Jahre alt geworden war, gingen Phobos' Gefolgsmänner zu weit. Sie verlangten, alle erstgeborenen Söhne zu töten und statuierten ein Exampel an meinem ältesten Bruder, den sie gewaltsam seiner Familie raubten und vor aller Augen enthaupteten. Dieser Vorfall, so grausam er war, rüttelte die Bewohner unserer Gemeinde wach. Sie gingen mit Heugabeln und Sensen auf die Gardisten los. Es war ein furchtbares Blutbad. Wie du dir vorstellen kannst, endete das Intermezzo mit herben Verlusten auf unserer Seite und nur wenig Einbußen der gegnerischen Fraktion. Die glücklichen Überlebenden wurden dazu gezwungen, zu sklavenähnlichen Bedingungen für Phobos zu arbeiten." "Das tut mir leid, ich hätte nicht fragen sollen", unterbrach Taranee leise mit aufrichtigem Mitleid, aber Lilith schien das ganze weit weniger zu berühren, als die unbeteiligte Zuhörerin. Sie fuhr sachlich fort: "Ich war eine der unglücklichen Überlebenden. Sie sortierten aus. Die arbeitsfähigen wurden in den Palast gebracht, die zu schwachen gleich getötet. Mich erachteten sie als zu mager. Sie waren gerade im Inbegriff, meinem Leben ein Ende zu machen, als plötzlich jemand zu meiner Rettung eilte. Es waren eine handvoll tapferer Männer, welche die Gardisten mühelos besiegten. Ich war ihnen sehr dankbar, doch dem einen, der mein Leben gerettet hatte, indem er das auf mich herabsausende Schwert mit seinem eigenen gestoppt hatte, dem fühlte ich mich zu besonderem Dank verpflichtet und diese Ehrerbietung zolle ich ihm auch heute noch." Cornelia, die aufmerksam zugehört hatte, ahnte bereits, wer der wackere Held gewesen war und schielte heimlich zu Caleb, der schwach lächelte, wobei es eher gezwungen aussah, als ehrlicher Freude entsprang. "Aus Dankbarkeit, aber auch aus Egoismus wollte ich den Rebellen beitreten – aus Dankbarkeit, weil ich ihnen allen mein Leben verdankte, und aus Egoismus, weil ich hoffte, sie würden mir die Familie ersetzen, die ich wenige Minuten vorher verloren hatte. Doch der Anführer, ein tapferer, jedoch auch zu ehrvoller Mann, schlug meine Bitte aus. Er wollte nichts davon wissen, ein kleines Mädchen in seinen Reihen zu haben. Es sei zu gefährlich für mich. Aus diesem Grund setzte er mich bei einem Geschwisterpaar ab, kinderlos und unverheiratet, das für mich sorgen sollte. Doch in meinen jungen Jahren verstand ich die Ablehnung als Kränkung. Ich lief keine Stunde später weg. Um mich durchzuschlagen begann ich bald zu arbeiten, wo es ging. Aber wenige wollten die Hilfe eines kleinen, schwachen Mädchens in Anspruch nehmen. Also eignete ich mir Fingerfertigkeiten an, die mir neue Möglichkeiten eröffneten. Ich stahl mich sozusagen durchs Leben." "Bist du fertig?", unterbrach Caleb mit finsterer Miene. Er hatte die Arme verschränkt, den Kopf abgewandt und murmelte leise etwas vor sich hin, das jedoch keiner der Anwesenden verstand. Um die kurzweilig düstere Stimmung zu vertreiben, suchten alle ein anderes Thema. Hay Lin fand es. "Der ist ja toll", bemerkte sie, auf einen Ring deutend, dessen silberne Oberfläche den Schein des großen Feuers reflektierte. "Ja, nicht wahr?" Lächelnd berührte Irma das Schmuckstück. "Mein kleiner Bruder, Chris, hat ihn mir zu Weihnachten geschickt, als ich wegen des Schneesturms nicht nach Heatherfield fliegen konnte. Es war auch eine supersüße Karte dabei, die er selbst gemacht hat. Sie hat zwar ausgesehen, als wäre sie von einem Auto überfahren worden, aber sie kam wenigstens von Herzen." "Brüder sind was Tolles", bestätigte Taranee. "Peter hat mir inzwischen verziehen, mit Cornelia befreundet zu sein, also sah er sich dazu genötigt, mir ein paar neue Tanzschuhe zu kaufen." "Bitte was?", stieß Cornelia stutzig aus. "Tanzschuhe! Mit Rauledersohle – rutschfest, aber nicht klebrig." "Ha-ha. Ich meinte die Sache mit dem Verzeihen, mit mir befreundet zu sein. Wie kommt er dazu?" Taranee warf ihr einen unschlüssigen Blick zu, ob sie wirklich mit der Wahrheit herausrücken sollte, doch das allgemeine Interesse war bereits geweckt worden, also blieb ihr wenig anderes übrig, als mit einer Erklärung herauszurücken. Verschwiegenheit hätte der Sache bloß einen noch schlimmeren Charakter verliehen. "Du weißt doch noch", begann sie zögerlich, "dass ihr vor vier Jahren zusammen ward." "Ach, echt?", äffte Cornelia sarkastisch. "Hätte ich ja fast vergessen." Sie fand jedoch schnell ihren Ernst wieder angesichts der Tatsache, dass zwischen ihr und Caleb bloß Hay Lin saß. "Er war ziemlich in dich verknallt, das weißt du ja auch sicherlich noch", fuhr Taranee behutsam fort. In Wahrheit hatte Peter in Cornelia seine erste große Liebe gefunden, doch diese im Vertrauen erworbene Information war unter diesen Umständen fehl am Platz. "Jedenfalls war es nicht gerade die feine englische Art, wie eure Beziehung geendet hat, wenn du verstehst, was ich meine." "Oh, ich bitte dich", rief sie unwillkürlich aus. "Er ist doch kein kleiner Junge mehr! Damals war er wie alt – fünfzehn plus vier; neunzehn Jahre! Und es war vielleicht nicht die feine Englische, aber sie war völlig adäquat." "Was ist denn passiert?", wollte Matt unvorsichtiger Weise wissen. Damit fing er sich nicht nur einen bösen Blick von Cornelia ein, sondern auch einen schneidenden von Caleb, der ihm allerdings nur versehentlich ausgekommen war. "Ich ziehe die Frage zurück." "Nein", entschied Cornelia scharf. "Erzähl es ruhig, Taranee. Sie können es ruhig wissen! Es gibt nämlich nichts zu sagen, zu dem ich nicht in den Grundfesten meiner Überzeugung stehe." Taranee seufzte ermüdet. "Müssen wir das denn durchkauen?" "Du hast damit angefangen. Bring es also zu Ende." Einem solchen Argument konnte kein Verstand etwas widersetzen, dennoch hegte Taranee keinerlei Ambitionen der Aufforderung nachzukommen. Aber sie brauchte es auch nicht. "Wo willst du hin?", fragte Cornelia, denn Caleb war mit finsterem Blick aufgestanden. "Das Feuer geht bald aus, wir brauchen neues Holz", meinte er ebenso finster, wie sein Blick war. "Aber nimm nur das Totholz!", rief sie ihm nach, als er mit schnellen Schritten die Runde verließ. "Das Lebende hat ein Recht darauf, weiterzu-!" "Cornelia!" Vier mahnende Blicke und die gleiche Anzahl an vorwurfsvollen Stimmen schnitten ihr das Wort ab. Die Schuld von sich weisend hob sie achselzuckend die Arme. Ihre Lippen formten stumm ‚was denn?'. "Geh ihm bitte nach und klär das, bevor das eskaliert!", befahl Will, obgleich der Satz inhaltlich eine Bitte enthielt. "Schon gut, ich geh ja schon." Äußerlich die Augen verdrehend, stand Cornelia auf, um Caleb nachzulaufen. Innerlich hatte sie bereits auf einen solchen Ausgang spekuliert, obgleich sie sich nun, da sie das Ziel erreicht hatte, sarkastisch beglückwünschte. 'Super, Cornelia, und, was machst du, sobald du mit ihm alleine bist?', fragte sie sich selbst. 'Er will ja nicht einmal mit dir reden. Gerade dir wird er sein Herz ausschütten!' 'Mach jetzt!', funkte Taranee dazwischen, die durch Cornelias Konzentration deren Gedanken gehört hatte. Aber Letztere kam nicht mehr dazu, zu antworten, denn sie hatte Calebs Rücken erblickt, der mit gesenktem Kopf und auf den Knien aufgestützten Armen auf einem gefallenen Baumstamm saß. Langsam ging sie auf ihn zu, machte jedoch im entscheidenden Moment wieder Kehrt. Sei nicht feige!, forderte sie sich selbst auf. Unsicher drehte sie sich also wieder um, machte ein paar Schritte auf ihn zu und drehte dann erneut um. "Was willst du?", fragte Calebs unfreundliche Stimme, die durch die Dunkelheit einen unheimlichen Klang bekam. "Erklären." Beim Hören von Cornelias Stimme drehte er sich erschrocken um. Sein Gesicht wurde erst bleich, dann rot, doch das blieb in der Finsternis von seinem Gegenüber unbemerkt. "Tut mir leid, ich dachte, du wärst Lilith. Sie trägt mir immer noch nach, dass ich sie damals zurückgelassen habe. Darum stellt sie gerne meine Kompetenzen infrage." "Muss hart sein", bemerkte Cornelia, obgleich sie keine Ahnung hatte, weshalb. Unaufgefordert setzte sie sich neben ihn. "Wieso?" Mist. Ertappt. Also erfand sie etwas. "So wie ich das sehe, fühlt sich ein Mann, der so lange in einer Anführerposition war wie du, in seiner Autorität untergraben, sobald jemand sein Regime anzweifelt. Ein Infragestellen seiner Kompetenzen durch einen früheren Untergebenen lässt einen überlegten Anführer eine angemessene Zeit seine Führungsart überdenken. Sobald diese innere Reform durchgeführt ist, versucht der Anführer folglich eben jenen Skeptiker vom Gegenteil zu überzeugen, um an die anderen Untergebenen zu appellieren. Der Appell kann dabei aus einer indirekten Frage nach der persönlichen Meinung oder einer direkten Warnung bestehen, es nicht zu wagen, sich zu widersetzen. Du befindest dich gerade in der Krisenphase, in der du versuchst, dich vor dir selbst zu rechtfertigen und dir zu versichern, dass Lilith keinen plausiblen Grund hat, dich infrage zu stellen." Caleb sah sie nur verdutzt an. "Bitte was?" "Das nennt man Psychologie." "Ist doch alles Humbug." "Ist es nicht", empörte sich Cornelia. "Das ist eine beweisbare, exakte Naturwissenschaft mit messbaren Ergebnissen zu bodenständigen, logischen Theorien." "Humbug", wiederholte er. "Hamburg." "Was?" "Hm?" "Was ist Hamburg?" "Wer sagt was von Hamburg?", fragte Cornelia verwirrt. "Du!" "Ich glaube, du solltest langsam schlafen gehen. Du sprichst wirres Zeug. Und zu deiner Information, Hamburg ist eine Stadt in Deutschland. Aber woher du die kennst ist mir ein Rätsel." Sie stand kopfschütteln auf, um zu gehen. "Manchmal verstehe ich dich nicht." "Da geht's mir wie dir", scherzte sie. Nun ging sie wirklich. "Warte." Caleb hielt ihr Handgelenk, um sie am Gehen zu hindern. "Bitte", fügte er hinzu. "Was war diese Sache mit Peter?" "Nun kommen wir der Sache näher." Sie ließ sich zurückziehen und setzte sich erneut hin. "Was meinst du?" "Psychologie, Caleb, Psychologie." Cornelia zwinkerte ihm zu, aber auch diese freche Geste wurde von der Dunkelheit verschluckt. "Sei ehrlich zu dir selbst; wärst du von alleine mit dem Grundproblem herausgerückt? Antworte nicht, wir beide wissen es. Um dir also die Frage zu entlocken, die zu stellen du dich niemals herabgelassen hättest, musste ich dich erst zum Reden bringen. Thema dieser Rederei war ein völlig sinnfreier Satz, der einzig und alleine dazu diente, dir das Denken abzunehmen. Du hast durch dieses Pseudogespräch für kurze Zeit die Fähigkeit verloren, nachzudenken. Und diesen Verlust der Selbstkontrolle machte sich deine Impulsivität zu Nutze, um ans Tageslicht zu dringen; mit einer Frage, die zu stellen sich deine Selbstkontrolle verbot." "Du hast mich manipuliert!", wiederholte er erstaunt. "Lenk nicht ab." "Du hast mich echt manipuliert…" "Du sollst nicht ablenken", lenkte sie ein. "Caleb, wegen Peter-" Er schnitt ihr das Wort ab: "Ich will es eigentlich gar nicht wissen. Das ist deine Sache aus deinem Leben, die mich nichts angeht." "Hast du gedacht, ich würde alleine bleiben, bis du wiederkommst? Zumal die Chance auf dieses Ereignis gegen null konvergierten – und zwar von der negativen Achse aus." "Du sprichst in Rätseln." Sie winkte ab. Es entstand eine Stille, die einige Minuten andauerte, bis Caleb endlich den Mut fasste, das Gespräch wiener aufzunehmen. "Ich möchte es wirklich nicht wissen. Denn wenn ich es wüsste, wäre ich vermutlich dazu gezwungen, diesem Peter den Hals umzudrehen." Verblüfft wusste Cornelia anfangs keine anderen Worte, als: "Bist du etwas eifersüchtig?" Caleb, verärgert über seine eigene Torheit, erwiderte schnell: "Nein, aber wie es scheint, hat diese Geschichte kein gutes Ende genommen und da ich auf deiner Seite stehen muss, weil du dich mir gegenüber so freundlich verhältst, dass ich dir die gebührende Freundlichkeit zurück erweise, muss ich ihm wohl oder übel die ganze Schuld anlasten, was mir nicht sehr gelegen käme, da ich ein vorurteilsfreies Wesen habe." "Du bist eifersüchtig", fasste Cornelia zusammen, ohne ihn anzusehen. Caleb lächelte leicht, doch bejahte ihre Ausführung nicht, ebenso wenig wie er sie entkräftete. Ermutigt durch diesen ungewollten Wink, wagte sie es, weiterzusprechen, obgleich sie sich bis vor wenigen Sekunden noch sicher war, er würde außer Nichtigkeit nichts gegen sie empfinden. Diese Gefühlsregung vermochte jedoch der Situation einen anderen Blickwinkel zu verleihen. "Was Peter anbelangt, kann ich dich beruhigen", begann sie unaufgefordert. Caleb sagte zwar nichts, aber er schien aufmerksam zuzuhören. "Niemand muss Partei für ihn oder mich ergreifen. Die Sache ist in der Tat nicht allzu gut ausgegangen, aber nicht so, wie du es dir vorstellst. Wir können einander in aller Freundschaft begegnen, ohne dem anderen Böses zu wünschen. Meistens jedenfalls." Als er nicht reagierte, fügte sie ernüchtert hinzu: "Das war ein Scherz." "Aha." Unbeirrt setzte sie die Erzählung fort. "Nachdem wir siegreich vom Kampf gegen Nerissa zurück zur Erde gekehrt waren und unsere Kräfte deaktiviert gatten, habe ich ehrlich gesagt sehr lange gebraucht, um wieder in mein normales Leben zurückzufinden. Die Schule, die Freunde, alles schien in so weiter Ferne zu liegen, dass es mir einige Mühe kostete, normal zu sein. Aber nach ein paar Monaten ging es und nachdem sich alles eingependelt hatte, kamen Peter und ich zusammen." "Wie?" Sie zuckte mit den Schultern. "Wie man eben zusammenkommt. Ich war bei Taranee zu Besuch, er war auch da, wir unterhielten uns kurz und dann trafen wir uns mal hier, mal dort, bis wir einmal beschlossen, zusammen irgendwo hinzugehen." Sie wartete auf einen Kommentar, doch der blieb aus. "Anfangs war alles toll. Wir lachten, wir hatten Spaß, aber, um noch ehrlicher zu sein, ich vermisste den Kick in der Beziehung. Es lief nur solange gut, wie es aufregend war. Durch erbitterte Kämpfe, bösartige Todfeinde, die mir nach dem Leben trachteten, und heroischer Dramatik am laufenden Band sind meine Ansprüche ziemlich nach oben gegangen. Das war der Grund, wieso die Beziehung scheiterte. Es kriselte vier Monate lang, bevor es aus war. Peter versuchte zwar, mir durch Paint Ball, Squash und BMX Fahren die Aufregung zu geben, die ich verlangte, doch das waren nicht die richtigen Dinge für mich. Ich bin ein ziemliches Weichei, wenn es um Sport geht." "Also habt ihr euch auseinander gelebt?", resümierte Caleb fragend. "Nicht ganz", gab sie zögerlich zu. "Das, auf was Taranee angespielt hat, geschah am Ende des letzten Krisenmonats. Wir, Peter und ich, wollten essen gehen, doch ich war durch ein im Vorhinein gegebenes Versprechen dazu verdonnert worden, auf die wenige Monate alte Tochter unserer Nachbarn aufzupassen. Also kam er zu mir und der kleinen Isabella. Wir machten mit ihr am frühen Abend einen Spaziergang, um ein wenig Frischluft zu schnappen und da passierte es. Eine ältere Dame kam uns entgegen, blieb vor dem Kinderwagen stehen und beglückwünschte uns zu diesem süßen Baby. Sie lobte die ausgezeichnete Konstitution und bemerkte, sie habe die Augen ihrer Mutter. Ich berichtigte die Sache, jedoch in einem Ton, der Peter augenscheinlich missfiel. Er behauptete, ich hätte indirekt geleugnet, mit ihm überhaupt zusammen zu sein. Die Diskussion schaukelte sich hoch, bis sie eskalierte. Wir schleuderten uns Sachen an den Kopf, die seit Wochen ungesagt in der Luft gehangen hatten und damit war die Sache vorbei." Ein Seufzer ihrerseits beendete die Geschichte. "Womöglich", bemerkte Caleb, "hast du einfach nicht den Richtigen in ihm gefunden. Ich denke nicht, dass du ein Mensch bist, der ständig Adrenalin braucht. Du hast einfach einen Ausweg gesucht, nicht mit ihm zusammen sein zu müssen, weil du in Wirklichkeit jemand anderen geliebt hast." Cornelia lachte hohl. "Willst du damit auf dich anspielen? – Du spielst auf dich an! Aber ich darf dich beruhigen, der Grund war der, den ich genannt habe." Sie stupste ihn mit der Schulter neckisch an, doch anstatt wieder zurück zu wippen, verharrte sie wie erstarrt in der Berührung – beide Gesichter waren einander zugewandt – und dann war da wieder dieser Moment, noch deutlicher, als jemals zuvor – die Stille der Nacht, die Dunkelheit, stellenweise durchbrochen durch das spärliche Licht des Halbmondes; alles trug dazu bei, die Spannung dieses Mal viel deutlicher zu spüren. Und doch waren die begünstigenden Faktoren erneut nicht stark genug, um das zu bewirken, was als logische Konsequenz aus einer solchen Situation erfolgen sollte. Sie wandten sich mühsam ab, wenngleich dem einen die eigene Mühe größer erschien, als er dem jeweils anderen zugedachte. "Wir sollten zurück zu den anderen gehen, sonst schicken sie noch einen Suchtrupp los", scherzte Cornelia, um die Unbehaglichkeit zu überspielen. Caleb stimmte ihr zu, doch beide tätigten keine allzu großen Bemühungen, um ihre langsamen Schritte anzuspornen. Doch sie hätten noch zwei Stunden wegbleiben können, denn inzwischen hatte sich die müde Runde zerstreut, um in die jeweiligen Zelte schlafen zu gehen. Nur noch Tristan zog seine Runden auf der Lichtung, denn er war für die erste Wache eingeteilt worden, welche die Verantwortlichkeit mit sich brachte, das Feuer nicht ausgehen zu lassen. Aber als er die beiden erblickte, verspürte er keinen Drang, sie anzusprechen, so wünschten sie sich eine gute Nacht, wenn auch etwas befangen, und gingen zu Bett. "Ich hoffe nur", murmelte Cornelia halblaut, "dass es hier so etwas wie Kaffeepflanzen gibt, sonst sterbe ich." "Du bist süchtig danach, nicht wahr?", flüsterte Caleb, der die Bemerkung durch die Ruhe gehört hatte, als er gerade den Zelteingang öffnete. Doch er bekam keine Antwort, denn Cornelia war bereits im Zelt verschwunden und schlief sicherlich schon den Schlaf der Gerechten. Kapitel 16: Versus ------------------ … Now with the wind pushing our back, we can move on together … S E C H Z E H N Was Cornelia zu tun gedachte, blieb fraglich, doch der Schlaf der Gerechten war ihr nicht vergönnt. Einerseits hätte sie nicht eher Ruhe gefunden, bis sie das sich Zugetragene mit Will geteilt hatte, andererseits wollte sie in ebendieser Ruhe darüber schlafen, um sich dessen klar zu werden, was eben passiert war. Die Entscheidung, die bei ihr gelegen hatte, bis sie im Zelt war, wurde ihr jedoch sofort abgenommen. "Na, wie war's?", fragte Irma mit schelmischem Unterton. "Habt ihr ein wenig geschmust? Au! Das war mein Fuß!", stöhnte sie, da Cornelia in der Dunkelheit auf sie getreten war. "Echt? Verdammt. Ich dachte, ich würde dein Gesicht erwischen", zischte diese boshaft. "Los, erzähl schon! Wir wissen doch alle, dass du schon wieder in ihn verschossen bist." Sogar in der absoluten Schwärze der Nacht konnte Cornelia Hay Lins Grinsen sehen und sie wünschte, es ihr mit den Fingerkuppen nach unten ziehen zu können. Doch stattdessen trat sie auch ihr, wenngleich unbeabsichtigt, auf den Fuß. "Nach links! Au, das andere Links!" "Von mir oder dir aus?" "Von mir aus natürlich! Also jetzt rechts! Au, nein, das andere Rechts!" "Aber das ist rechts! Ich stehe jetzt mit dem Rücken zu dir!" "Dann links!" Diese und ähnliche Szenen wurden in einem penetranten Flüsterton gesagt, sodass die noch wachen Gefährten in den anderen beiden Zelten ein lautes Lachen unterdrücken musste. Doch nachdem die Navigation von Hay Lin Früchte getragen hatte und die fünfte Frau im Viermannzelt untergebracht war, fanden die anderen Wächterinnen endlich Zeit, Cornelia weiter auszufragen; diesmal jedoch so leise, dass niemand anderer außer sie selbst die Unterhaltung hören konnte. "Ich sage euch nichts darüber, okay?" Wie schön gelogen das war! Fünf Aufforderungen später, die ohne große Anstrengung vorgebracht worden waren, rückte sie schlussendlich doch mit der Sprache heraus. Sie erzählte haarklein die Details der Unterhaltung, zerrupfte jede Silbe, um sie zu analysieren und rang ihnen dann das Versprechen ab, niemanden etwas davon wissen zu lassen, nur um im Endeffekt viel aufgewühlter zu sein als vorhin. Sie waren inzwischen alle über das Alter heraus, in dem man Kichernd über derartige Gefühle im Dunkeln nebeneinander lag und den Nachnamen des Geliebten gepaart mit dem Vornamen der verliebten Freundin ausprobierten, zumal Caleb wohl keinen Nachnamen hatte und Cornelias Empfindungen wohl kaum auf einem Level waren, an dem sie solche Späße verkraften hätte können. So beschränkten sie sich darauf, ihr zuzuhören, aufrichtige Anteilnahme zu spenden und einen einzigen Vorschlag zu machen, der Nichtstun zum Inhalt hatte. "Ich finde, das wäre das Beste", stimmte auch Irma dem Rat zu, der ursprünglich von Taranee gekommen war. "Du kannst bisweilen wenig tun. Wir haben außerdem andere Probleme, die Vorrang haben. Und noch mal außerdem, ich möchte dir nicht deine Welt zerstören, aber er wird wieder in Meridian bleiben, während du zurück zur Erde gehen wirst." "Das weiß ich alles", murmelte Cornelia nachdenklich. "Ich gedenke auch nicht, wieder eine Liebesbeziehung mit ihm einzugehen. Zumal er dem ja eher abgeneigt scheint." "Nach dem was du erzählt hast, scheint er dem ganz und gar nicht abgeneigt zu sein", korrigierte Will ernst. "Ich möchte dir wirklich nicht in dein Leben pfuschen, das weißt du, aber ich denke auch, du solltest das Ganze nicht zu sehr wieder hochkommen lassen. Wenn es sein muss, unterdrück es mit Gewalt. Am Ende verletzt es dich ohnehin wieder." "Hm." Und damit war das Gespräch beendet. Der nächste Morgen brachte vor allem eines: Regen. Es war nur eine Frage der Zeit gewesen, bis sie einem Unwetter unterliegen würden, jedoch hatten sie alle gehofft, dass es noch etwas auf sich warten ließe. Die Hoffnungen, so wie meistens, wurden jedoch bitterlich enttäuscht, und da die Zelte jeweils nur vier bis fünf Mann fassten, musste man sich wohl oder übel in den eigenen Unterschlüpfen aufhalten. Zu ihrer aller Glück misste aber kaum jemand die Gesellschaft der Unerreichbaren, denn die einzigen, die eng verbunden waren, waren Cornelia und Caleb, wobei eben diese beiden sehr froh waren, der Anwesenheit des jeweils anderen ohne erlogene Entschuldigung zu entgehen. "Hätten wir die Eingänge ins Innere gelegt, dann hätten wir miteinander reden oder uns zumindest anschauen können", murrte Irma, doch niemand nahm sie ernst, denn sobald schlechtes Wetter war, stieß sie unentwegt Flüche aus, die sie nicht einmal selbst für voll nahm. Viel wichtiger war nämlich die Frage, wie sie an Essen kommen sollten. Der gesamte sorgfältig angelegte Vorrat befand sich in den anderen beiden Zelten, da sie Herren der Schöpfung sich bereit erklärt hatten, den zusätzlichen Ballast auf sich zu nehmen, um die zarten Schultern der Damen zu entlasten. Da hatten sie also den Salat. Sie hier, Essen wo anders. Das einzige, das in dem Damenzelt essbar war, waren ein halber Kilo Schokoriegeln und drei Eiskaffeebecher vom Erdensupermarkt, um die sich nun vier missgelaunte Frauen stritten, als wären sie Diamantketten. Die Glücklichen, die den Schatz erbeuteten, waren Will, Hay Lin und Irma, die jedoch freundschaftlich mit der Verliererin, Cornelia, teilten, womit der vorherige Kampf als unnötig in die imaginären Geschichtsbücher einging. "Es ist wirklich langweilig, nur zu sitzen und zu warten", murrte Irma erneut. "Der arme Matt…" Will hatte ihre Bemerkung übergangen. "Nicht, dass ich ihm nicht ein hartes Los wünschen würde – das würde dem Sturkopf schon ganz gut tun –, aber gleich das?" ihr entkam ein Seufzer. "Könnt ihr euch das vorstellen? Matt zusammen mit Caleb, Aldarn und Drake in einem Zelt! Der Arme." Ihr Blick schweifte hinaus in den strömenden Regen, denn sie hatten die Eingangstüre des Zeltes über dessen Spitze geschlagen, um freie Sicht auf die vor ihnen liegende Umgebung zu haben. Alle anderen Zelte hatten dies auch getan, um ein ideales Radar zu gewährleisten, das Angreifer schon von Weitem erspähen konnte. "Wisst ihr was? Ich werde ihnen kurz einen Besuch abstatten und nachsehen, ob er noch lebt." "Bring was zu Essen mit!", rief Irma ihr nach. Als Unterstreichung knurrte ihr Magen fürchterlich. Nicht nur das Wetter zehrte an ihren Kräften, auch die Kälte, die unbequeme Schlafgelegenheit, die Sorge und die fehlende Erholung raubten den auf diesem Gebiet des Kampfes unerfahrenen Wächterinnen die Energie. Sie glaubten allesamt, nicht einen Schritt tun zu können, als plötzlich ein gellender Schrei durch den Regen schnitt. Er kam eindeutig von Will. In Sekundenschnelle waren alle in den Regen gestürmt. Und was sie sahen, gefiel ihnen ganz und gar nicht. Schneller als erwartet hatten die erwarteten Feinde den Angriff gewagt und nun doch den Überraschungsmoment auf ihrer Seite. Die Angegriffenen waren unvorbereitet, geschwächt, unformiert. Sie hatten keinen Kampfplan, keine Energie. Trotzdem waren sie voller Eifer, diese Sache hinter sich zu bringen. So standen also scheinbar übermächtige Gegner vor ihnen – Blight, Collin, Ophra, Mitchem, Armand und Jack. "Letztes Mal stand es sechs gegen sechs", rief Will durch den strömenden Regen über die Lichtung, an deren Rand die Feinde urplötzlich aufgetaucht waren. "Aber dieses Mal steht es sechs gegen elf! Ihr habt keine Chance!" "Das werden wir sehen", rief Collin erregt zurück. Dann stürmte er auch schon los, ohne auf ein Signal zu warten. "Wächterinnen, seid vereint!", konterte Will ebenso erregt. Schnell war eine Verteilung gefunden, in der gekämpft wurde, doch diese Paarungen blieben nicht lange bestehen. Blight schaffte es durch die Kraft der Erde, die in seinem Besitz nichts von ihrer Mächtigkeit eingebüßt hatte, die Kontrahenten immer wieder zu trennen, um sie anderen Gegnern zuzuweisen, die eher die Chance hatten, die Guten zu besiegen. Kampfesgebrüll, Schwerthiebe und akustische Untermalungen schallten binnen weniger Sekunden über das nunmehrige Schlachtfeld. Cornelia kam sich beim Anblick des Kampfes schrecklich hilflos vor. Sie musste mit ansehen, wie Irma von Mitchem zu Boden geworfen wurde, wie Taranees Kräfte angesichts des Niederschlags ihren Dienst versagten, wie Will unüberlegter Weise einen Blitzschlag losließ, der auch Drake und Hay Lin traf, und sie musste mit ansehen – und das war vermutlich das Schlimmste –, wie sie alle ihr Bestes gaben, während sie selbst an den Rand des Geschehens verbannt worden war, um ohnmächtig Angst auszustehen. Beistand leisteten ihr nur Caleb und Matt, die sich entweder aus Sorge oder auf Wills Befehl hin schützend um sie gestellt hatten, um im Notfall agieren zu können. "Ich brauche hier Hilfe!", schrie Taranee. Die Hilfe kam in Form von einer großen Wasserfaust, die Irma über Armand ergoss. "Danke! Pass auf!" Armand hatte sich wieder aufgerappelt, um zu einem seiner Meinung nach vernichtenden Schlag auszuholen. Wenn er auch keine speziellen Kräfte hatte, so hatte er zumindest eine unmenschliche Schnelligkeit, gepaart mit übernatürlicher Stärke. Unbemerkt von aller Augen hatte er einen Baum entwurzelt, den er nun mit voller Kraft auf Irma schleuderte. In letzter Sekunde konnte Will den Baum mit einem Blitzschlag zerbersten lassen und nahm dabei sogar in Kauf, Kollateralschäden zu verschulden. Der Stamm zerfetzte in tausende kleine Teile, die zusammen mit den immer dicker werdenden Regentropfen zum durchweichten Erdboden schnellten. Einige davon trafen Feinde, einige Verbündete, doch den Hauptschaden erlitt Armand. Er wurde von dem Blitz getroffen, als dieser, ebenso wie ein heißes Messer durch Butter glitt, den Baumstamm durchdrang. Der elektrische Schlag gepaart mit dem Regen durchfuhr seinen Körper. Zurück blieb ein nachhallender Schmerzensschrei, der einem leblosen, verbrannten Körper entwichen war. Doch der Schrei erschütterte niemanden sonst, außer die gerade nicht Kämpfenden. Der Rest war zu konzentriert, als dass er die glückliche Wendung bemerkt hätte. Was jedoch sehr wohl bemerkt wurde, war, dass nun noch mehr Verbündete gegen die Angreifer kämpften und diese positive Tatsache wirkte sich rasant auf den Verlauf des Kampfes aus. Es folgte jedoch eine allgemeine Veränderung im Kampfstil der Gegner, denn wenn sie vorhin darauf erpicht waren, alle voneinander zu trennen, so gingen sie nun allesamt auf Will los – auf die Trägerin des Herzens von Kandrakar. Es gereichte den Wächterinnen und ihren Helfern sehr zum Vorteil, was die Feinde wenig bis gar nicht bedacht hatten. Denn praktisch gesehen, wenn theoretisch auch dieselbe Rechnung, konnten neun gegen fünf mehr ausrichten als zwei oder einer gegen einen. "Neue Strategie, Leute", informierte Will. "Wir brauchen Caleb hier und zwar dringend!" Der Gerufenen gab seinen Platz neben Cornelia sichtlich nur ungern auf, doch sie schien keinerlei Gefahr zu unterliegen, denn der Fokus des Kampfes lag rein auf dem Kristall um Wills Hals. "Caleb, konzentrier dich mit den Schwertkämpfern eher auf Ophra. Überlass den Rest uns anderen!" Einverstanden zog er sein Schwert. "Drake, Aldarn, Lilith, ihr habt Will gehört! Los!" Auf diesen Befehl hin entbrannte auf der einen Seite des Feldes eine erbitterte Schlacht zwischen vier Schwertern, denn Ophra war, wie Will richtig erkannt hatte, die einzige der Feinde, die über keinerlei übermenschlicher Fähigkeiten verfügte, sondern nur eine bewundernswerte Fertigkeit mit dem Schwert bewies. Der Kampf zwischen den Waffen war zwar die harmlosere von beiden, dennoch war ihr Klang markerschütternder als alle übrigen. Das metallische Reißen, das schrille Kreischen, wenn zwei Klingen aufeinander trafen, war Zeugnis jener Härte, welche die parallel verlaufende Schlacht noch ein wenig übertraf. "Wir kümmern uns um Mitchem, Collin und Jack, verstanden?", ereilte Wills neuer Befehl die übrig gebliebenen Kämpfer ihrer Fraktion. Doch das war leichter gesagt als getan. Wie sich nämlich herausstellte, verfügte Collin über mehr Kräfte, als sie gedacht hatten. Hay Lin war die erste, die das zu spüren bekam. Mit einem kleinen, aber sehr starken Orkan ging sie auf ihn los. Irma half ihr, indem sie den Regen zu einem Wassergefängnis formte, das ihrer Meinung nach ausbruchssicher war. Und dann geschah das Unvorhergesehen. Collin schloss die Augen und als er sie wieder aufriss, zusammen mit seinen Händen, die gen Himmel schnellten, folgte eine Druckwelle, die sie alle zurückschleuderte. Die Welle wurde begleitet von Erdbrocken, die durch die Luft flogen, und von einem ohrenbetäubenden Knall – er hatte den Erdboden explodieren lassen! Die fliegenden Wächterinnen wurden gegen die Bäume hinter ihnen geschleudert, alle anderen riss es von den Füßen. Vollkommen überrascht brauchten sie alle ein wenig, um sich zu orientieren. Die Zeit der Verwirrung nutzte Collin indes, um sich zu regenerieren. Dann ging der Kampf ebenso rasant weiter, wie er vor der Unterbrechung gewesen war. "Wir brauchen scheinbar schon wieder eine neue Strategie", schlug Will vor. Nachdenklich biss sie sich auf die Lippe, während sie, wie die anderen auch, versuchte, den kleineren Explosionen auszuweichen, die Collin nun kontinuierlich bewirkte. Die Lage, vorhin noch so vorteilhaft, erschien nun hoffnungsloser denn je. Durch seine Kraft wurden sie vom Kämpfen abgehalten. Während sie also alle geschwächt wurden, konnte er in aller Ruhe abwarten, bis er zufällig einen von ihnen traf, um somit die entscheidende Wende wieder herbeizuführen. Es war zum Verzweifeln! Durch die ständigen Angriffe waren weder die Wächterinnen, noch die anderen dazu in der Lage, nachzudenken. Sie fanden keine Strategie, die diesen Kampf für sie siegreich ausgehen lassen konnte. "Augen zu und durch, okay?", knurrte Will. Hay Lins Wind schlug ihr die klatschnassen Haare ins Gesicht. "Wir müssen ihnen doch irgendwie helfen können!", hauchte Cornelia verzweifelt. Sie beobachtete die Szenerie mit vor Entsetzen geweiteten Augen. Neben ihr ballte Matt die Hände zu Fäusten. Durch seine zusammengepressten Zähne entwich ein bedrohliches Knurren. "Um Himmels Willen, wir müssen was tun!" Gerade, als sie Matt nach einem Plan fragen wollte, preschte dieser plötzlich los. Durch den aufkommenden Nebel, der wegen Taranees Feuerstöße entstanden war, konnte sie nur mehr verschwommen seine Gestalt sehen, die in Richtung der Explosionen lief. Will bekam davon noch nichts mit, denn sonst hätte sie das Vorhaben schon im Keim erstickt, ohne Möglichkeit auf Gedeih. Doch sie war zu sehr mit Überleben beschäftigt, als dass sie auf ihre Umgebung achten konnte. An Cornelia und insbesondere Matt dachte sie in diesen Minuten gar nicht. Sie kämpfte mit der aufkommenden Erschöpfung, die sich langsam in ihrer Reaktion zeigte, welche negativ beeinflusst wurde. Das war auch der Grund für den fatalen Fehler, den sie beging. Will war immer noch dazu gezwungen, hilflos auszuweichen, ebenso wie die anderen. Die rasch aufeinander folgenden Explosionen hatten inzwischen abgenommen; anstatt ihrer hatte Collin eine neue Fähigkeit offenbart: Druck. Er konnte gezielt eine Art Luftstoß aussenden, der sogar stärker war als Hay Lins. Der unsichtbare Angriff konnte nur durch die Veränderungen der Regentropfen eruiert werden, was das Unterfangen, ihm auszuweichen, sehr schwierig machte. Will war gut darin, aber bald schon ließ ihre Konzentration in diesem Katz-und-Maus-Spiel nach. Ihre Augen begannen zu brennen und unschärfer zu sehen. Um die hoffnungslose Lage also nun doch noch rumzureißen, erdachte sie einen fragwürdigen Plan. Wächterinnen, hört ihr mich? Hört bitte nur zu, ohne mir etwas ausreden zu wollen – argh, verdammt! Sie wäre fast getroffen worden und war notdürftig im Schlamm gelandet, von dem sie sich schnell wieder abstieß, um dem nachfolgenden Angriff Jacks zu entgehen, der mit krallenähnlichen Händen auf sie losging. Die einzige Möglichkeit, den Kampf zu gewinnen, ist, Collin auszuschalten. Ich werde geradewegs auf ihn zufliegen, ohne Umwege. Er wird seine Angriffe auf mich lenken. Du bist verrückt!, kreischte Hay Lin innerlich. Er wird dich töten! Es ist ein Risiko, ich weiß, aber wenn er abgelenkt ist, dann könnt ihr ihn fertig machen. Du möchtest nur die Heldin spielen, so wie immer, fauchte Irma. Ihre Gedanken hatten einen bitteren Unterton. Aber ich sage dir, ein heroisches Opfer bringt keinem etwas. Es muss eine andere Möglichkeit geben. Doch Will hörte nicht mehr zu. Mit Tränen in den Augenwinkeln schnellte sie vor, um dem Kampf endlich eine Entscheidung zu bringen. Sie hielt tapfer die Augen geöffnet, obgleich sie ihrem Tod direkt in den Schlund flog. Nur noch wenige Meter, dann hatte sie Collin erwischt. Er hatte noch nichts getan, denn die Überraschung war zu groß gewesen. Jetzt aber, nachdem er sich geordnet hatte, holte er zum vernichtenden Schlag aus. Er formte mit den Fingern einen Kreis, blies hinein und so entstand die mächtigste Druckwelle, die er jemals geschaffen hatte. Sie erfasste Will, schleuderte sie meterweit nach hinten, so heftig gegen einen Baum, dass der durchweichte Stamm brach. Die Verletzte fand sich am Boden wieder, lebend, doch vor Schmerz gelähmt. In ihrem Mund schmeckte sie Blut vermischt mit nasser Erde, in ihren Ohren rauschte es. Plötzlich wurde das Rauschen von einem Knarren unterbrochen. Gelähmt vor Schmerz musste Will in ihrem Kopf schlussfolgern, dass der Baumstamm, gegen den sie gekracht war, so starke Schäden davongetragen hatte, dass er nun keinen Halt mehr fand. Während der Kampf auf der Lichtung weitertobte, fand sie sich schnell mit dem Schicksal ab, an einem umfallenden Baum den Tod zu finden. Der vage Schatten des Todbringers zeichnete sich über ihr ab, nun, da die Sonne ihren Weg durch die dicke Wolkenschicht fand, gerade rechtzeitig, um ihr das drohende Unheil vor Augen zu führen. Und dann war das Gewicht des schiefen Baumes zu stark, um von den dünnen Fasern noch gehalten zu werden. Das braune Ungetüm sauste auf sie herab. Vor ihr schrie jemand und dann krachte der Baum zu Boden. Doch zwischen Baum und Boden befand sich keine Will. Ihren Augen nicht trauend, selbige vor Angst weit aufgerissen, erblickte sie die morsche Rinde einen guten Meter vor ihr. Im selben Moment, als sie zu realisieren begann, was passiert war. Schlaksige, ihr wohl vertraute Arme hatten sich schützend um sie geschlossen und im letzten Augenblick zur Seite gerissen. Unter ihr lag Matt, der keuchend versuchte, die Schmerzen zu unterdrücken, welche die Rettungsaktion mit sich gebracht hatte. "Matt!", kreischte Will verzweifelt. Sie sah Blut an seinem Schenkel herunter rinnen. "Oh, Matt! Beweg dich nicht, du bist verletzt!" Nicht nur Tränen des eigenen Schmerzes, den sie ignorierte, drängten sich aus ihren Augenwinkeln, auch die Sorge und Panik, Matt könnte ernsthaft verletzt worden sein, ließen sie die Beherrschung verlieren. Hektisch riss sie sein Hosenbein ab, um die Wunde anzusehen. Doch noch bevor sie einen Blick darauf werfen konnte, ergriff er ihre Hand. "Mach dir keine Sorgen, das sind nur ein paar Kratzer", beruhigte Matt sie sanft lächelnd. Der erste Schmerz war bei ihm verschwunden, der Rest war gut auszuhalten. Im Gegensatz dazu versagten nun Will die Glieder. Vor Erschöpfung brach sie zusammen, sobald das Adrenalin aufgrund Matts Versicherung seines eigenen Wohlbefindens aus ihren Adern wich. Er fing sie auf, bevor sie zu Boden flog, obgleich es keinen Unterschied machte, denn Wills Körper war mit Verletzungen übersäht, ebenso wie ihre Kleidung dreckig und zerrissen war. Während die beiden Verletzten am einen Rande des Geschehens sich aufgrund der Kampfunfähigkeit aus der Schlacht heraushalten mussten, wurde dieser nur wenige Meter vor ihnen erbittert weitergeführt. Aldarn hatten zur selben Zeit das Bewusstsein verloren, als Will Collin angegriffen hatte, Drake war bereits Minuten vorhin durch Unachtsamkeit von Ophra ausgeschaltet worden. Die Lage war ernst, denn Ophra hatte es geschafft, in einem äußerst unfairen Kampf die Hälfte der Gegner beinahe spielend auszuschalten. "Geh und hilf den Wächterinnen!", keuchte Lilith. Sie fing mit dem Langschwert einen heftigen Hieb ab, der Caleb beinahe einen Arm gekostet hätte. Mit zusammengepressten Zähnen knurrte sie: "Ich komm hier klar, aber sie brauchen dich dringend!" Caleb nickte, wenn auch widerspenstig, doch er vertraute auf Lilith. Er wusste, wie gut sie war und alleine den Kampf zu bestreiten war sicherlich effektiver, als sich durch die Unkoordiniertheit gegenseitig ständig den Treffer zu verwehren. "Du hast Mut, Mädchen", rief Ophra, nachdem beide Kontrahentinnen einen Satz nach hinten gemacht hatten. "Mutig, aber töricht." "Weißt du, wie oft ich den Satz schon gehört habe?", schrie Lilith lachend zurück. "Man hat mich nicht ohne Grund gebeten, dieser Allianz beizutreten. Alleine hast du keine Chance gegen mich!" "Ich würde den Mund nicht zu voll nehmen!" Damit lief sie auf Lilith zu, die sich locker unter dem Schwertschlag hinweg duckte. Mit einer geschmeidigen Bewegung tauchte sie hinter ihrer Gegnerin auf, schlug zu und wurde abgewehrt. Ophra, in ihrer Siegesgewissheit durch die eindrucksvolle Präzision gedämpft, holte nun alles aus ihrer Performance heraus, was sie zu bieten hatte. Es entbrannte der heftigste Schwertkampf, den beide jemals geführt hatten; beide waren gut im Angriff und beinahe perfekt in der Abwehr. Die Auseinandersetzung folgte minutenlang demselben Schema: Ophra griff an, Lilith wich aus, griff danach an und wurde von Ophra abgeblockt. Nur ab und zu war die eine oder andere schneller, sodass bald einige leichte Schnittwunden die freien Hautstellen zierten, doch einen richtigen Treffer oder gar eine erkennbare Überlegenheit konnten die beiden nicht einmal annähernd für sich beanspruchen. Der Kampf wurde jedoch in einer solchen Schnelligkeit und mit solche einer Kräftigkeit ausgetragen, dass schon die kleinen Wunden mit der Zeit enorme Auswirkungen hatten. Bald verloren beide Seiten an Energie. "Ich werde das jetzt beenden!", beschloss Ophra nach einigen Minuten. "Dieser Kampf hat schon viel zu lange gedauert. Ich gebe zu, du bist sehr gut, aber hier kann nur eine gewinnen!" Die letzten Reserven sammelnd stieß sie einen Kraftschrei aus, dem ein Angriff in ungeheurer Schnelligkeit folgte. Mit gesenktem Schwer rannte sie auf Lilith zu, deren Augen die Bewegungen der Gegnerin gar nicht richtig erfassen konnten. Kein Blinzeln später stand Ophra breitbeinig vor ihr, das Gesicht vor Anspannung zu einer Angst einflößenden Grimasse verzogen, und riss die Klingenwaffe hoch. Den Streich von unten zu starten hatte Lilith, so geschult sie im Kampf auch war, nicht von ihrer Gegnerin erwartet. Mit Mühe und Not konnte sie einen kraftlosen Rückwärtssalto machen, der jedoch nicht genügen Schwung beinhaltete, sodass sie nicht wie geplant auf den Füßen landete, sondern hart auf den Erdboden fiel. Lilith blieb kurz die Luft weg, ihr Körper war ebenso kurz reglos vor Schock, da hatte Ophra bereits den geplanten Finalschlag begonnen. Mit einem neuen Schrei hob sie das Schwert beidhändig und stieß es hinab auf ihre am Boden liegende Gegnerin. Ein metallisches Schneiden folgte. Das ganze Schlachtfeld war für einen Augenblick still. Die Klinge des Schwertes durchstieß den Widerstand mühelos, dann dockte es an einem Stein an, der in der Erde eingebettet war, und wurde dadurch gestoppt. Liliths Herz pochte so wild, dass es beinahe sichtbar war. Es war mehr ein Reflex oder ein glücklicher Zufall gewesen, dass sie sich rechtzeitig zur Seite gerollt hatte, denn bevor die Spitze des Schwertes nicht haarscharf über ihr war, hatte sie nicht gedacht, sich rechtzeitig bewegen zu können. Nun lag sie da, sich kaum dessen bewusst, was geschehen war. Jetzt war sie im Vorteil. Ophra war mindestens ebenso geschockt wie Lilith, als ihre Waffe nur den Boden durchbohrt hatte. Der Schreck stand ihr ins Gesicht geschrieben, während sie all ihre Nerven über Bord warf. Unkontrolliert versuchte sie das Schwert mit kräftigen Rucken aus dem Boden zu ziehen, doch sie hatte so fest zugestoßen, dass es im Stein feststeckte, der unsichtbar in der Erde vergraben war. Das war nun Liliths Chance. Sie griff nach ihrem eigenen Schwert, das sie im Fall von sich geschleudert hatte, um nicht auf der Klinge zu landen, und startete ihrerseits den letzten Angriff. Caleb war, wie ihm geheißen, zu der anderen Gruppe gestoßen, die inzwischen einen wesentlich günstigeren Ausgang des Kampfes versprach, als zu Anfang. Tristan versuchte Collin in Schach zu halten, dem es gelungen war, die Angriffe der restlichen Wächterinnen abzuwehren, als er kurz durch Wills direkten Verzweiflungsakt abgelenkt worden war. Taranee und Irma halfen ihm dabei, während Hay Lin damit beschäftigt war, Mitchem zu überleben, der es scheinbar explizit auf sie abgesehen hatte. "Ich frage Sie ein letztes Mal", knurrte Hay Lin, als sie einen Teil des Regens durch kalten Wind in Eistropfen verwandelte, die nun in der Luft schwebten. "Warum hat Ihnen das Szechuan Huhn nicht geschmeckt?" Sie funkelte ihren ehemaligen Stammgast böse an. "Zu viel Salz", höhnte dieser nur, ohne sie ernst zu nehmen. Wer konnte es ihm verdenken? "Dann habe ich hier die Rechnung für ein halbes Jahr, in dem sie mit um fünf Prozent zu wenig Trinkgeld gegeben haben!" Mit einem Kraftschrei mobilisierte sie ihre Kräfte. Sie riss die Hände hoch, stieß sie danach nach vorne und das Eis folgte ihrem Willen. Es raste auf Mitchem zu wie Rasierklingen, zerschnitt seine Haut und verletzt wichtige Organe. Ein paar der Geschosse hatten den Körper durchbohrt, aus dem nun ein wenig Blut trat. "Wir ziehen uns zurück!", befahl Blight plötzlich, der sich dezent im Hintergrund gehalten hatte, um keine Aufmerksamkeit auf die Phiole mit Cornelias Kräften zu lenken. Doch die massiven Verluste hatten ihn aus der Bahn geworfen. "Nicht so schnell!", schrie Irma. Sie formierte sich zusammen mit den übrigen kampffähigen Wächterinnen, um auf Blight loszugehen. Ihre Flügel waren schneller als seine Konzentration, sodass er es nicht schaffte, sich rechtzeitig weg zu teleportieren. "Das ist dafür, dass einer Wächterin die Kräfte geraubt hast!" Sie schlug ihm kräftig mit dem Schwung aus dem Fluganlauf ins Gesicht. Blight taumelte mit blutender Nase zu Boden. Hay Lin setzte nach: "Das ist dafür, dass wir wegen dir in Zelten schlafen müssen!" Sie riss ihm den Flakon samt der Metallkette vom Hals und hinterließ dabei tiefe Kratzer. "Und das ist dafür, dass du einer der Gründe bist, wieso wir nicht in Frieden leben können!" Mit letzter Kraft ballte Taranee einen flackernden Feuerball in ihrer Handfläche zusammen. Es fehlten nur mehr wenige Zentimeter, ehe sie ihn für immer ausgeschaltet haben würde, doch es waren wenige Zentimeter zu viel. Im Angesicht des drohenden Todes sind Lebewesen zu enormen Taten fähig, nicht nur die, die auf der guten Seite stehen. So konnte auch Blight in bewundernswerter Schnelle so viel Kraft aufbringen, sich selbst und seine verbleibenden Teamkollegen lebend vom Schlachtfeld zu teleportieren. Als er das tat, passierten mehrere Dinge zugleich: Lilith setzte ihren Schwerthieb ins Leere, Tristan wurde von Collins eigentlich vernichtenden Angriff nicht getroffen und Caleb, der sich diesem von hinten genähert hatte, sprang durch die transparent werdende Silhouette hindurch in den Schlamm. Sie hatten gewonnen. Zumindest die eine Schlacht. Kapitel 17: Back To Normality ----------------------------- … I gripped your hand tightly in mine, Just like an innocent child … S I E B Z E H N Cornelia sank erschöpft vom bloßen Zusehen auf die Knie. Ihr Blick wurde leer, Tränen überwältigten sie, ihr Körper begann leicht zu zittern. Caleb war der einzige, der nicht damit beschäftigt war, nach den Verletzten zu sehen, oder vielleicht war er auch der einzige, der sich mehr um Cornelias geistigen Zustand sorgte als um den körperlichen der anderen, denn er war auch der einzige, der sofort alles stehen und liegen ließ, um ihr Beistand zu leisten. Beruhigend kniete er sich neben sie, um sie in seine Arme zu schließen. Cornelia umfasste zwar seinen Unterarm, doch so richtig mitbekommen tat sie seine Berührung nicht. "Shht", machte Caleb. Etwas anderes fiel ihm nicht ein. "Es ist vorbei. Wir haben es überstanden." "Ja. Ja, du hast Recht", presste sie mit belegter Stimme hervor. Ihr Blick war aber immer noch ins Leere gerichtet. "Ich dachte nur nicht, dass es so furchtbar ist, zusehen zu müssen und zu wissen, dass man nichts tun kann." "Jetzt ist es zu Ende. Du bist nicht mehr hilflos." Sachte zog er sie auf, stützte sie aber weiterhin. "Kannst du alleine stehen?" "Ja?" Der unsichere Unterton veranlasste Caleb aber dennoch dazu, nicht loszulassen. Sie sah noch etwas wackelig auf den Beinen aus. "Du solltest dich um die anderen kümmern. Mir geht es gut. Ich werde lieber nach Will sehen." Cornelia sah ihn ernst an. Langsam, aber bestimmt, löste sie sich von seinem Griff, um ebenso langsam, aber bestimmt, zu der bewusstlosen Will hinüber zu gehen. Inzwischen war der Regen zu einem leichten Nieseln verkommen, das durch die schwach scheinende Sonne kaum spürbar war. Das neue Wetter verlieh der Nachkriegssituation eine gedrückte Stimmung. Ebenso gedrückt war auch Matts Stimmung. Er hielt Wills lädierten Körper noch immer umfasst. Nur mit viel Überredungskunst gelang es Cornelia schließlich, sie ihm abzunehmen. Es dauerte zum Glück nicht lange, bis Will endlich wieder das Bewusstsein erlangt hatte und nachdem sie sich auf den neuesten Stand bringen hatte lassen, erklärte sie sich sogar dazu einverstanden, sich von Cornelia und Matt, dem im Endeffekt nichts Gröberes als ein klein wenig Blut fehlte, zu Calebs Zelt bringen zu lassen, in dem das Verbandszeug gelagert war. Es dauerte auch nicht lange, bis alle Verletzten vor dieses Zelt gebracht waren, allerdings fiel die Bilanz erschreckend aus. Drake und Aldarn, beide noch nicht bei Bewusstsein, hatten nicht nur sehr viel Blut verloren, sondern auch schwere Kopfverletzungen, weswegen sie auch nicht so schnell wieder fit sein würden. "Wir sollten sie in ein Krankenhaus bringen", schlug Will vor, deren Wunden inzwischen notdürftig versorgt waren. "Derartiges gibt es in Meridian nicht", meinte Caleb trocken. "Das einzige, das wir tun können, ist, sie in das nächste Dorf zu bringen und der Pflege einer Familie zu unterstellen." "Und wo ist das nächste Dorf?" "Eine halbe Tagesreise von hier entfernt, schätze ich." Er überlegte. "Mit zwei Ohnmächtigen vermutlich eine ganze Tagesreise, wenn nicht sogar mehr." "Dann bringen wir sie dort hin", befahl Will entschlossen. "Wir haben ohnehin keine neuen Anhaltspunkte, wo Phoebe sich aufhält, also sollten wir zurück in die Hauptstadt gehen und mit Elyon reden. Derzeit können wir nichts weiter tun. Immerhin haben wir Cornelias Kräfte wieder." "Ah, richtig", erinnerte sich Hay Lin überschwänglich. Sie zog aus ihrer Hosentasche den Flakon, der Cornelia so viel Unannehmlichkeiten beschert hatte. Mit übertriebener Ehrfurcht kniete sie sich vor ihr nieder und hielt die flache Hand mit dem Behälter hoch. "Ein wenig Erde, Milady." "Denkst du, ich kann es einfach aufmachen?" Skeptisch betrachtete Cornelia das gläserne Gefäß von allen Seiten. "Vielleicht verschwindet die Kraft dann einfach in der Luft…" "Wir haben keine andere Möglichkeit, als das einzige auszuprobieren, was uns möglich ist", beschloss Will ernst. "Schlag es einfach auf den Boden. Wird schon klappen." "Ich bin mir da nicht ganz so sicher wie du", zögerte Cornelia. Sie ließ die Phiole an der Kette baumeln. "Ich habe nämlich wirklich keine Lust, die ganze Zeit machtlos daneben zu stehen, während ihr Kopf und Kragen riskiert." "Mach endlich!" Irma riss ihr den Flakon aus der Hand, holte aus und warf es kräftig auf einen der nahegelegenen Felsen. Was dann geschah war zwar nicht unbedingt übermäßig eindrucksvoll, aber hatte doch einen bewegenden Beigeschmack. Das hellgrün leuchtende träge Gas entwich dem Glas in einer gewaltigen Wolke, die sich aufplusterte und urplötzlich wieder zusammenzog. Sie quetschte sich zusammen, bis sie eine Art Blase war und schwebte wie in Zeitlupe auf Cornelia zu, der ein erster Stein vom Herzen fiel. Die Blase stoppte kurz vor ihrem Oberkörper und verpuffte dann mit einem leisen Zischen. Gespannt warteten alle, was nun passieren würde, doch alles blieb ruhig. Ebenso gespannt und mit einem großen Teil Furcht, richtete Cornelia eine Handfläche sanft auf die Erde am Rand der Lichtung. Wenige Momente später spross eine winzige grüne Pflanze zwischen den Grashalmen hervor. Im Freudentaumel vergaß Cornelia beinahe zu atmen, so erleichtert war sie. Endlich fühlte sie sich nicht mehr schwach! "Dann können wir jetzt ja so richtig loslegen, nicht wahr?", eiferte sie strahlend. "Nicht so schnell", gebot Will ihr Einhalt. "Erst einmal müssen wir Aldarn und Drake versorgen. Sie können auf keinen Fall mit uns kommen, das wäre ihr Tod. Andererseits dürfen wir keine Zeit verlieren. Wir müssen irgendetwas tun." "Sehen wir es ein", unterbrach Cornelia sie. "Wir können nichts tun." "Das Beste wäre, wieder auf die Erde zurückzukehren und abzuwarten. Nun, da wir wieder W.I.T.C.H. sind und nicht mehr nur W.I.T.H., haben wir wenigstens eine Chance." "Du willst damit sagen, wir haben unser Leben Zuhause für ein paar Wochen lahm gelegt, nur um jetzt nach lächerlichen vier Tagen wieder zurückzukehren?", fragte Cornelia ungläubig. Sie rechnete nach. "Oder zumindest nach acht Tagen, denn bis wir wieder bei Elyon sind brauchen wir sicherlich genauso lange wie wir hergebraucht haben!" "Wir reisen sofort", korrigierte Will. "Immerhin haben wir das Herz von Kandrakar." Den anderen Mädchen schlief das Gesicht ein. "Eine kurze Frage, Frau Anführerin", knurrte Irma. "Wieso haben wir einen anstrengenden Fußmarsch auf uns genommen, wenn wir sofort mit dem Juwel reisen hätten können?" Ihr Blick verfinsterte sich. An diese Möglichkeit hatte niemand gedacht, außer Will, und die hatte anfangs keine allzu gute Erklärung. "Ich dachte mir, es wäre womöglich eine tolle Erfahrung? Mädels, tötet mich nicht gleich, lasst mich erst erklären!", sie hob abwehrend die Hände. "Ich habe es versucht! Ich habe es wirklich versucht! In der Nacht bevor wir aufbrachen, wollte ich ein Portal kreieren, das uns an den Ort bringt, den Caleb sich vorgestellt hat. Ich dachte, es würde so funktionieren wie bei der Suche nach dem Buch, aber es ging nicht. Es öffnete sich nicht einmal so etwas Ähnliches wie ein Portal." "Natürlich nicht, das haben wir doch bereits geklärt", mischte Taranee sich ein. Den funkelnden Blick Irmas nahm sie gerne in Kauf. "Wenn Will sich nichts unter dem Ort vorstellen kann, an den sie möchte, kann sie auch kein Portal kreieren." "Außerdem liegt es an dem Spirit", erklärte Caleb beschwichtigend, ehe Irma auf ihre Freundinnen einprügeln konnte. "Diese Portale bestehen aus reiner mobilisierter Energie. Wo keine Energie ist, kann sich auch keine mobilisieren. Nur an Stellen wo hohe Konzentrationen herrschen können Portale geöffnet werden." "Also nützt es gar nichts, dass ich heute weiß, wo ich mein nächstes Portal hinhaben will?" "Korrekt. Wir müssen erst ein paar Kilometer außerhalb des Rings gehen. Ich schlage vor, Vathek und Tristan bringen unsere Kampfunfähigen in das nächste Dorf. Sobald sie genesen sind, kommt ihr zurück in den Palast. Lilith, danke für deine Hilfe. Du kannst gerne bei Königin Elyon in den Dienst treten, das weißt du, aber ich vermute, du wirst dich wieder deinen Wanderungen hingeben." Er wandte sich an Will. "Ich bringe euch zu einem Ort, von wo aus ihr zurück zur Erde könnt. Anschließend werde ich auf direktem Wege zu Königin Elyon reisen, um zusammen mit den Spähtruppen Phoebe zu suchen. Sobald etwas von Belangen passiert, werde ich euch informieren. Mehr können wir derzeit wirklich nicht tun." "Wir haben ein großes Problem." Dr. Harvey Blight, demütig und lädiert, kniete vor einem Thron nieder, der aus einer Felsformation in einer verschneiten Höhle gemeißelt worden war. Auf dem kalten Stein saß eine schlanke Frau, großgewachsen mit platinblondem Haar, das ihr in langen Wellen beinahe bis zum Boden die Rückseite hinab fiel. Ihren grazilen Körper umgab ein Mantel aus dunkelbraunem Fell, ihren Kopf zierte eine goldene Dornenkrone mit schwarzen Kristallrosen zwischen den Stacheln. "Das sehe ich", hauchte ihre kalte Stimme. Sie hallte finster an den kahlen Kalkwänden wider. Neben ihrem ranghöchsten Untertan hatten sich Ophra und Collin unterwürfig auf den Boden gelegt. "Was ist deine Entschuldigung, Odin?" Blight alias Odin wagte nicht, aufzusehen. "Ich habe keine, meine Königin. Sie waren in der Überzahl. Das Mädchen der Erde hat ihre Kräfte wieder." "Dann müssen wir handeln. Du hast mich enttäuscht, Odin. Ich erwäge, dein Versagen zu bestrafen. Was hältst du von einem ehrlosen Freitod?" "Herrin, ich bitte Euch, ich kann noch von Nutzen sein! Lasst mich am Leben, dann werde ich Euch zum Sieg verhelfen. Ich habe einen Plan." Phoebe schnippte mit den Fingern. Aus dem Nichts erschien ein Kelch, randvoll mit Wein. Sie trank ihn in einem Zug leer. "Tu, was dir beliebt. Mehr enttäuschen als jetzt kannst du mich ohnehin nicht. Erläutere deinen Plan, dann werden wir sehen, ob ich dich am Leben lasse." "Wir müssen Meridian angreifen. An seinem stärksten Punkt. Sobald wir das Schloss eingenommen und die unrechtmäßige Königin Elyon gestürzt haben, wird das Reich uns zu Füßen liegen." "Hm." Phoebe ließ gelangweilt die Hand kreisen. "Wieso mit dem Schwachen anfangen, wenn man alles auf ein einziges Mal mit Einnahme des Zentrums unterwerfen kann? Ich gebe zu, die Idee gefällt mir. Aber sage mir, wie willst du mit zwei Gefolgsleuten gegen fünf Wächterinnen, eine Königin und ein Heer voller Soldaten und Söldnern ankommen?" "Ich werde Kreaturen finden, die Euch zu dienen als eine Ehre empfinden werden und nicht geblendet sind vom Lug und Trug der jetzigen Königin, die Euer Recht mit Füßen trat. In den Sumpfgegenden gibt es viele mächtige Schatten, die nur darauf warten, eine Chance zu bekommen. Ihr erinnert Euch an Audrey, meine Sprechstundenhilfe? Auch sie hat Kontakte in die tiefsten Winkel, wo die verachteten Monster nur darauf warten, Euch zugehörig zu sein." Phoebe befahl ihm, sich zu erheben. "Sag mir nur eines, Odin, treuer Diener, was hast du mit dem blonden Mädchen bezweckt? Du hast Zeit damit verschwendet, sie zu manipulieren, ihre Träume auszuhorchen und wofür? Alleine für diese Torheit sollte ich dir den Kopf abschlagen." Odin fiel wieder demütig zu Boden. Seine Stimme war jedoch so fest und überzeugt wie selten. "Ich gestehe, mein Vorhaben verlief nicht so, wie es hätte verlaufen sollen. Doch, erlaubt mir, das zu sagen, ich tat es aus Vorsorge. Für den Fall, dass mein Plan scheiterte, hatte ich zu den Ihalla ein paar Samen der Sachimpflanze hinzugefügt. Die Macht der Gefühle ist nicht zu unterschätzen, meine Königin. Jede Kette braucht ihr schwächstes Glied. Wenn es nicht existiert, dann muss es eben geschaffen werden. Cornelia Hale empfindet sehr viel für den jungen Rebellen. Aus diesem Grund habe ich ihre Gefühle systematisch umgekehrt. Aus Liebe wurde Hass. Sobald ihre Kräfte geraubt worden waren, fiel die Wirkung ab, denn Sachim wirkt nur auf magischer Ebene. Nun hat sie ihre Kräfte wieder und wird ihn ganz automatisch wieder hassen. Das wird Zweifel hervorrufen, Zweifel und Verwirrung. In genau diesem Zustand werden wir sie töten." "Ich hoffe für dich, dass du Recht behältst. Nun geh und verschaffe mir die Armee, die du mir so groß versprochen hast!" In Heatherfield vergingen viele Tage, an denen nichts geschah. Cornelia und Will nahmen ihr Studium wieder auf, was recht schwierig war. Dauernd hofften und bangten sie, eine Nachricht von Caleb zu bekommen. Ihre Konzentration war also nicht gerade auf dem Höhepunkt, dennoch mussten sie eine Menge lernen, um die Ende Jänner kommenden Prüfungen zu bestehen. Nun war bereits der elfte Jänner und sie hatten noch recht wenig für ihr Wissen getan. Taranee hatte ähnliche Probleme. Ihre Prüfungen fanden bereits diese Woche statt, weswegen sie so schnell als möglich nach London fliegen musste. Auch Irma war aufgrund ihres Arbeitsvertrages dazu gezwungen, sich wieder einmal im Supermarkt blicken zu lassen. So blieb also bloß noch Hay Lin über, die jedoch durch eine spontane Reise ihrer Eltern plötzlich die gesamte Verantwortung für das Silver Dragon hatte. So rannten die Tage dahin, ohne besondere Ereignisse zu bringen. Taranee bestand ihre Prüfungen in organischer Chemie mit voller Punktezahl, Irma durfte ihren Job behalten, das Silver Dragon hielt wacker seinen Umsatz und die beiden Heatherfieldstudentinnen pumpten ihr Gehirn in jeder freien Minute mit Wissen voll. Das Spannendste, das man erwarten durfte, waren ein paar Nichtgenügend auf die Semesterprüfungen. "Kannst du mir bitte noch mal erklären, wieso wir sie nicht im März nachholen?", maulte Will. Genervt warf sie ihr zentnerschweres Buch in die Ecke hinter den Kühlschrank. "Wenn wir sie am Anfang des Sommersemesters parallel zu den ersten Teilen der Ringvorlesungen machen, dann müsste das doch zu schaffen sein!" "Weil ich für meinen Teil endlich diese uninteressante Theorie des wissenschaftlichen Arbeitens hinter mir haben will. Außerdem kannst du deine Prüfungen verschieben, aber ich habe ab Februar Proseminare mit Anwesenheitspflicht, die füllen mich komplett aus." "Und wieso muss ich dann lernen?" "Weil du mit mir leiden musst", sagte Cornelia trocken, die Nase in einen grünen Wälzer gesteckt. "Aber wieso?", murmelte sie leise vor sich hin. "Wenn Modelle aus Hypothesen bestehen, wie können sich dann verschiedene Hypothesen gegenseitig im selben Modell widerlegen? Verflixt und zugenäht, ich dreh gleich durch!" Nun klappte auch sie das Buch zu. "Mir brummt der Schädel! Ich musste sogar meinen Namen vergessen, um mir zu merken, welche entwicklungstheoretischen Ansätze es gibt!" "Sieh es positiv, im Gegensatz zu deinem Namen kannst du damit jemanden beeindrucken", tröstete Will sie. "Und wenn sie eine Dokumentation über mein beeindruckendes Wissen drehen wollen, dann wissen sie nicht mal, wie ich heißt. Tolle Aussichten." Sie sah mit müden Augen auf die Uhr. "Samstagabend, acht Uhr. Wir sollten ausgehen und Spaß haben, stattdessen versauern wir hier mit unseren Büchern. Was ist denn das für ein Studentenleben? Als Hochschüler muss man jeden Morgen einen Kater haben!" Aufmunternd tätschelte Will ihr die Schulter. "Mach dir nichts draus, du bist mit deinem Elend immerhin nicht alleine. Heute ist doch der zweiundzwanzigste, nicht wahr? Im Clapp ist heute Malibu Night. Wir könnten doch Hay Lin fragen, ob sie Lust hat, mit uns dort ein wenig abzuspannen." "Eine grandiose Idee!" Hay Lin hatte zwar Zeit, doch keine Lust. Ihre Lebenskraft war vom Restaurant völlig ausgesaugt worden, sodass sie nicht einmal die Kraft hatte, den Hörer des Telefons selbstständig zu halten. Soweit die anderen beiden es mitbekommen hatten, hatte sie ihn nicht in der Hand, sondern lag darauf. Wie dem auch sein mochte, die nur sekundenlange andauernde Euphorie ebbte sofort ab. Schließlich fanden sich die jungen Frauen vor ihrem Fernseher wieder, bewaffnet mit Tiefkühlpizza, Salzgebäck und Cola. Auf genau diese deprimierende Art klangen alle Tage aus, bis der große Tag da war. Mittwoch, der sechsundzwanzigste Jänner. Er begann mit sanften Sonnenstrahlen, die nicht wärmten, glatten Straßen, die nicht befahren werden konnten, und einem Wecker, der nicht klingelte. Es wurde acht Uhr morgens in Heatherfield. Der Großteil der Stadt war bereits auf dem Weg zur Arbeit, Schule oder um Besorgungen zu erledigen. Wer schlief, hatte entweder nichts zu tun oder unheimlich seltsames Pech, so wie im Fall von Cornelia und Will. Der Witz an der Sache war nämlich, dass beide Weckgeräte funktionierten und dennoch ihren Sinn nicht erfüllten. Wills Handy ging um halb acht los, doch es befand sich zwischen den schmutzigen Socken in ihrem Reiserucksack, den auszuräumen sie sich nicht die Mühe gemacht hatte. Umso mehr hätte sie gehofft, wäre sie wach gewesen, dass Cornelia ihren Radiowecker hörte, aber diese Alternativlösung war ihnen nicht vergönnt gewesen. In der Nacht auf den großen Tag hatte es nämlich einen Stromausfall gegeben. Wie allgemein bekannt, wurden dabei die korrekten Uhrzeit aller Elektrogeräte auf null Uhr gesetzt. Unglücklicherweise war der Stromausfall nicht um Mitternacht passiert, sondern um vier Uhr früh, weswegen das verfluchte Gerät auch noch fast vier weitere Stunden brauchen würde, bis es endlich anfangen würde zu piepsen. So weit kam es dann aber glücklicherweise doch nicht. "Will!" Die Angesprochene drehte sich schnarchend um. "Will!" Sie öffnete mühsam ein Auge, als sie jedoch niemanden erblickte, schlief sie wieder ein. "Will!" Erneut aufzusehen war ihr zu dumm, vermutlich träumte sie noch. Der Wecker hatte noch nicht geklingelt, also hatte sie noch Zeit, um weiterzuschlafen. "Will! Piep! Piep! Piep!" "Herrschaftszeiten, was ist hier los?", fauchte sie, die Decke verärgert aus dem Bett tretend. Mit klopfendem Herzen sah sie sich um, doch da war niemand. "Spinn ich?" Irritiert fuhr sie sich durch die Haare. Plötzlich kam ihr die Stimme vertraut vor – das metallische Echo, das Klirren im Ton, das Rauschen. Mit hochgezogener Augenbraue beugte sie sich zu ihrer Digitalkamera hinunter. "Was machst du denn hier?" "Du hast mich vor einem Monat genau hier fallen lassen!", beschwerte sich die Kamera. "Und wieso genau machst du 'Piep'? Das hört sich nicht mal an wie ein richtiges Piepen. Wenn du schon rumalbern musst, dann tu das wenigstens, wenn ich nicht schlafe! Ich schreibe heute nämlich eine wichtige Arbeit. Also geh da wieder rein und sei ruhig." Sie warf die unliebsame Kamera achtlos in eine Schublade. Mit finsterem Blick wollte sie gerade wieder schlafen gehen, als ihr die seltsame Helligkeit auffiel. "Wie komisch…", murmelte sie überlegend. Dann fiel ihr Blick auf die Funkwanduhr, die eine furchtbare Zeit anzeigte. Was folgte war ein langer, lauter, kraftvoller Panikschrei, der Cornelia im anderen Zimmer aufweckte. Wütend kam Letztere aus ihrem Schlafzimmer gestapft. "Was zur Hölle ist denn los? Ich möchte schlafen!" "Die Uhr!", kreischte Will, auf die unheilvollen Zeiger deutend. In ihrer Hektik warf sie die Uhr weg, die sie so schockiert hatte. Das Gerät zerschellte an der Tischkante des Wohnzimmertisches mit einem schmerzvollen Schrei. Das Klirren des Glases war das Signal für sämtliche Ausnahmezustände, die für die nächste halbe Stunde herrschten. Sie begannen mit einer brutalen Prügelei um den Vorrang im Badezimmer, in dem auch gut Platz für beide gewesen wäre. Die Zeit lief unerbittlich weiter. Während die siegreiche Will also das Waschbecken besetze, versuchte Cornelia in dem Durcheinander ihres Kleiderschrankes irgendetwas zu finden, das halbwegs passabel war, denn ihre Eitelkeit wich auch angesichts der drohenden Katastrophe nicht. Die Wahl war schnell getroffen, doch gerade als sie sich den grünen Strickpullover überstreifen wollte, klingelte es an der Türe. Sie überlegte hin und her – anziehen oder an die Türe gehen? Es könnte ja etwas Wichtiges sein…; dass sie lediglich Unterwäsche anhatte, die wohlgemerkt nicht gerade dem Standard ihrer sonstigen Eleganz entsprach, war ihr in ihrer Panik gar nicht erst bewusst. Unüberlegt stürmte sie also zur Eingangstüre, riss sie auf und stockte. "Caleb?" Ihr Gegenüber ließ unwillkürlich seinen Blick über ihren Körper wandern – wer konnte es ihm verdenken? –, ehe er anstandshalber übertrieben fest die Augen zusammenkniff. Cornelia konnte dem eigentümlichen Verhalten erst gar nichts abgewinnen, ehe sie begriff, wieso sie die Kälte des Flures so traf. Der Schock klärte ihre Gedanken mit einem Schlag. Sie errötete zwar leicht, ließ sich jedoch nichts anmerken. "Komm rein", befahl sie nüchtern, während sie Caleb auch schon am Handgelenk hineinzerrte. "Warte hier." In angemessen zügigem Schritt kehrte sie zu ihrem Kleiderschrank zurück, vor dessen Spiegel ihr das volle Ausmaß der Peinlichkeiten bewusst wurde. Aber nun war nicht die Zeit für Schamhaftigkeiten, denn sie hatte eine Prüfung zu schreiben! Will war indes fertig gewaschen in Shirt und Unterhose aus dem Badezimmer getreten. "Hallo, Caleb. Wie geht's?" Sie ließ ihm jedoch keine Zeit zum Antworten, denn die eiligen Schritte führten sie zu ihrer Kleidung. Wenige Minuten später waren die beiden Bewohnerinnen aus der Wohnung gerannt. "Schließ ab, wenn du gehst!", rief Cornelia dem völlig verdutzten Caleb nach, der ihnen ratlos nachsah, als sie die Räumlichkeiten verließen. "Er hat mich in Unterhose gesehen!", brüskierte sich Will, als sie in dem langsamsten Bus saßen, den Heatherfield jemals gesehen hatte. Sie mussten in das Universitätsviertel und zwar innerhalb einer viertel Stunde, denn um genau elf Uhr begannen sämtliche Prüfungen des Wintersemesters. "Er hat mich in Unterwäsche gesehen!", trumpfte Cornelia neben ihr auf. "Ich werd verrückt, geht das vielleicht noch langsamer?!" Sie hob drohend die Faust in Richtung Busfahrer. "Wenn wir ein Portal kreieren, wären wir schneller!" "Das bringt uns jetzt auch nichts mehr. Bis wir ausgestiegen und unbeobachtet sind, sind wir auch schon auf der Uni! Reg dich ab und sag lieber, was Caleb wollte." "Keine Ahnung, ich dachte du hast ihn gefragt." Sie zuckte die Schultern. "Was meinst du 'keine Ahnung'? Du hast ihn doch rein gelassen." "Und das ist meine Verpflichtung, ihn nach seinem Anliegen zu fragen?" "Normalerweise schon", seufzte Will. Sie schenkte ihrer Sitznachbarin einen tadelnden Blick. "Ich kann mir nur eines denken: Sie haben Phoebe gefunden oder sind irgendwie in Schwierigkeiten." "Dann hätte er es doch gesagt", erklärte Cornelia mit wegwerfender Handbewegung. "Er sieht zwei halbnackte Frauen vor seinen Augen herum hüpfen, wovon eine seine Exfreundin ist, die nebenbei bemerkt auch noch unglaublich gut aussieht. Nun nenn du mir den Mann, der in so einer Situation an die Arbeit denkt!" "Caleb", erwiderte sie schnell. "Für ihn gibt es ja nichts anderes als seine zweckfrei gewordene Rebellion. Er interessiert sich nicht für solche Dinge." "Ja. Klar", meinte Will vor Sarkasmus triefend. "Jedenfalls wird er schon damit rausrücken, wenn wir nach Hause kommen. Wir haben immerhin jetzt eine wichtigere Aufgabe zu erledigen!" In Meridian herrschte zu diesem Zeitpunkt eine ähnlich angespannte Stimmung vor, wenn auch aus anderen Gründen. "Hoheit, eine zweite Nachricht ist eingetroffen!" Ein Bote kniete vor Elyon nieder. Auf seinen dreckigen Handflächen lag ein zusammengerolltes Schriftstück. "Einer der Wächter fand ihn mitten in der ersten Vorhalle. Er lag auf dem Boden, als sei er drapiert worden, königliche Hoheit." "Reicht ihn mir." In Elyons sonst so milder Stimme zeichnete sich eine ungewohnte Härte ab, die sich auch auf ihr ernstes Gesicht auswirkte. Ihre Augen flitzten angestrengt über das Papier. "Die Lage ist noch prekärer als ich annahm. Schickt nach meinem Beraterstab. Sie sollen sich umgehend in diesen Hallen einfinden." Sie las den Brief erneut durch, dann ließ sie sich auf ihrem Thron nieder. Das reglose Sitzen fühlte sich an, als hätte sie auf glühenden Kohlen Platz genommen. Die Verlangten kamen umgehend. Es dauerte keine zehn Minuten, da waren die violett gekleideten Berater vor ihrer Königin versammelt. Elyons Beraterstab bestand aus vier Leuten; drei Männern und einer Frau. Die Männer, zwei braunhaarig, der andere mit Glatze, waren um die fünfzig Jahre alt. Die einzige Frau hatte silbriges Haar, obwohl sie erst in den Zwanzigern war. "Ihr ließet uns rufen, königliche Hoheit?", fragte die Frau. Elyon nickte. "Wir haben Neuigkeiten erfahren, Eris. Leider sind sie, wie angenommen, nicht allzu erfreulich." "Die Spähtrupps sind also erfolgreich zurückgekehrt?" "Ja und nein", erwiderte Elyon mit finsterem Blick. "Sie kamen ohne verwertbare Informationen Heim. Jene Neuigkeiten, die ich zu erzählen habe, kommen von den Gegnern selbst. Seht." Sie hob zwei vergilbte Papiere hoch. "Der erste Brief kam heute in den frühen Morgenstunden. Er ist sehr kurz." Elyon räusperte sich. "An die Königin Meridians gerichtet möchte ich der Gerechtigkeit halber jene Worte an das Reich richten, welche ich zu sagen den ersten Anspruch erhebe. Der Herrscherin selbst muss bewusst sein, wie elend man sich fühlt, seinen zugewiesenen Platz als unrechtmäßig zu empfinden, wenn als Prinzessin geboren, man jahrelang als Bauerntochter leben muss. Aus diesem Grund fordere ich auf diesem Weg mein Recht als älteste Schwester ein, den Thron fortan zu besetzen, der mir ebendiesem Recht zuwider verwehrt worden war. Nur eine offizielle Übergabe an die rechtmäßige Königin vermag das Blutbad zu verhindern, welches andernfalls all jene Kreaturen überkommen wird, die sich der unrechtmäßigen Königin zugehörig fühlen." "Phoebe fordert den Thron ein, das war zu erwarten", erklärte Eris überlegend. "Doch was ist mit dem zweiten Schriftstück?" "Nachdem ich den ersten Brief erhielt – er wurde genau hier vor diesem Thron gefunden – schickte ich sofort nach einem Boten, der die Wächterinnen so schnell als möglich zusammenrufen soll. Er muss bald wieder hier sein. Indes, besser gesagt: Vor wenigen Minuten erreichte mich eine zweite Mittelung, welche die Lage als heikler entlarvt, als ich befürchtet hatte. Bisweilen hatte ich dummerweise auf eine diskrete Lösung gehofft. Phoebe zu töten, während sie auf eine Antwort wartet, war mein erster Gedanke, doch indes kam dies: Inzwischen sollte die unrechtmäßige Königin meine Aufforderung gelesen habe. Meiner Herkunft entsprechend verfüge ich allerdings über einen so scharfen Verstand, dass ich die Antwort ihrer bereits kenne, ehe sie selbst mächtig war, sie in ihrem Kopf zu formulieren. Das erste Schreiben enthielt die Forderung, nun lege ich die Drohung bei, die ersterer mit Sicherheit ein wenig Nachdruck verleiht: Egal, wie sich die unrechtmäßige Königin entscheiden mag, in einem fairen Kampf erobert wird Meridian mit all seinen Seiten ohnehin mein sein. Mit einem rechtmäßig errungenen Sieg muss fortan auch sein Volk anerkennen, wer seine wahre Königin ist. Betrachtet dieses Schreiben als offizielle Kriegserklärung. Fortan wird Meridian Kriegsgebiet sein, ehe es am Ende des Krieges das meinige sein wird. Versteht ihr nun die Lage?" "Sie ist äußerst geschickt, das muss man ihr zugestehen", bemerkte der haarlose Mann. "Rein rechtlich gesehen, hat sie tatsächlich den größeren Anspruch auf den Thron. Doch in magischen Welten gehen die Regeln nicht immer den Weg der Legislative." "Erst fordert sie mich auf, ihr das ihr Zustehende zu übergeben", unterbrach Elyon. "Damit stellt sie sicher, dass sie im Recht ist. Danach erklärt sie Meridian den Krieg, um es auf diesem Weg das ihre werden zu lassen. Damit wäre sie doppelt abgesichert. Im Prinzip gehört Meridian ihr. In diesem Krieg sind wir die Gesetzesbrecher." "Und dennoch", sagte Eris mit Nachdruck. "Wir sind gezwungen, Meridian vor ihrer Herrschaft zu schützen – legal oder nicht, es muss etwas getan werden. Phoebe hat gewiss noch kein schlagkräftiges Heer auf die Beine gestellt. Nun liegt es an uns, alles zu mobilisieren, was kampffähig ist." "Du hast Recht, liebste Eris", meinte Elyon. "Gebt folgende Kunde an das Volk weiter: die Zwillingsschwester Phobos' ist im Begriff, Meridian einzunehmen. Alle Männer zwischen fünfzehn und fünfzig sollen sich in der Kaserne beim Palast melden. Die Generäle sollen sie zu Einheiten formen und diese in Bereitschaft halten. Und sagt Folgendes mit Nachdruck: Ein Krieg um den Thron hat begonnen." Kapitel 18: Choice Language --------------------------- … Even if time plunges away this moment, we will keep going, Aiming at the summer sky, we began dashing … A C H T Z E H N Nennen Sie vier entwicklungstheoretische Modelle, die sich unter anderem eingehend mit dem Stadium der Adoleszenz beschäftigen und skizzieren sie die Kernpunkte sowie die jeweiligen Hauptvertreter der genannten Modelle. Genau so sah Cornelias Fragebogen nach einer halben Stunde aus: leer. Er bestand aus fünf Fragen dieser Art und sie wusste, dass sie die Antworten kannte. Sie wusste es einfach! Und doch…es war, als würden ihre Gedanken nur um eine einzige Sache kreisen: Caleb. Sie ertappte sich natürlich sofort beim ersten Gedanken an ihn und schalt sich dafür streng. Dann aber kam ihr der weitaus beruhigendere Gedanke, nur daran denken zu müssen, was er wohl gewollt haben mochte. Sie konnte es sich denken. Und als sie diese Gedanken verfolgte, musste sie daran denken, wie witzig es doch war, wenn man öfters hintereinander dasselbe Wort dachte. Denken, Gedanke, dachte. Amüsant! Sie lächelte über die Witzeleien, die ihr in ihrem Kopf die Laune hoben. Konzentrier dich! , mahnte Cornelia sich streng. Denk nach, du kennst die Antwort. Freud. Die Eckpunkte seiner Theorie. Was waren die zentralen Themen? Das ist ja furchtbar! Ich hab das doch stundenlang gelernt! Apropos, furchtbar, was ist, wenn etwas Furchtbares passiert ist? Elyon hat Caleb sicherlich nicht einfach so geschickt. Und alleine herkommen kann er nicht, außer er hat eine Möglichkeit gefunden, eigenständig Portale zu kreieren, aber das ist unmöglich. Elyon muss ihm befohlen haben, uns zu benachrichtigen. Er wird vermutlich großen Ärger bekommen, weil er so lange braucht. Ach, was rede ich mir da ein! Erstens ist er kein Kind mehr, das man mit Hausarrest bestrafen kann, und zweitens würde Elyon niemals in ihrem Leben Böses an ihm tun. Ha! Ein Geistesblitz durchzuckte sie. Die Kernpunkte Freuds gruppieren sich allesamt um die Sexualität. Er beschrieb fünf Phasen, in denen jeweils ein bestimmter Körperbereich die zentrale Rolle spielt. Sie führte die Phasen an, ergänzte Altersangaben dazu und legte dann zufrieden mit sich den Kugelschreiber neben den Prüfungsbogen, auf den sie nun glückselig starrte. Wirklich großartig, Cornelia, hast du toll gemacht, dachte sie mit Sarkasmus und Bitterkeit. Dir fällt das Thema Sexualität ein, wenn du an Caleb und Elyon denkst. Doch sie schlug sich die Besorgnis schnell wieder aus dem Kopf angesichts des Flows, der sie nun ereilt hatte. Der Knoten war geplatzt. Endlich konnte sie ihr ganzes angesammeltes Wissen aufschreiben. "Pst", zischte plötzlich jemand hinter ihr. Aufgrund der enormen Verspätung war Cornelia gezwungen gewesen, in der letzten Reihe Platz zu nehmen. Unauffällig schielte sie nach hinten, doch ihre Augen erfassten nur die vertäfelten Wände und die schwere Flügeltüre. Irritiert schrieb sie weiter. "Cornelia!" Das Zischen war diesmal etwas lauter gewesen, sodass sie keinen Zweifel mehr daran haben konnte; jemand stand hinter ihr. Erneut sah sie hinter sich, diesmal suchte sie jedoch eine größere Fläche ab. Erschrocken zuckte sie plötzlich zusammen, als sie Calebs Gestalt in seiner minimalen Größe zusammengekauert auf dem Boden hinter ihr erblickte. "Himmel, Caleb! Was tust du hier?", flüsterte sie. "Ich muss mit dir reden!" Er robbte weiter vor, um besser mit ihr kommunizieren zu können. Angesichts der Konversation drehten sich nun auch andere Studenten um. "Später", verwies sie ihn, doch Caleb dachte gar nicht daran, zu gehen. Er setzte sich im Schneidersitz zwischen sie und eine Kommilitonin. "Caleb. Verschwinde." Cornelias Ton wurde mahnender, aber er ließ sich davon nicht beeindrucken. "Meridian ist in Gefahr." "Meine Note ist auch in Gefahr." Ihr Flüstern wurde lauter, sodass sich nun auch Leute aus den Reihen vor ihr umdrehten. Entschuldigend hob sie die Hände, dann beugte sie sich wieder zu Caleb. "Die Prüfung geht noch eine Stunde, Meridian wird wohl auch noch dann in Gefahr sein, nicht wahr? Hier steht gerade meine Zukunft auf dem Spiel." Sie wandte den Blick stur auf den Fragbogen, während sie mit sich haderte. Der innere Kampf ließ ihre Mimik verkrampfen, was jedoch von jedermann unbemerkt blieb. Es war ein Konflikt, den sie nun schon seit Beginn der Prüfung mit sich ausfechten musste. Einerseits wusste sie, dass Meridian eine höhere Priorität hatte, als ihre lächerliche Prüfung. Und doch – es ging hier ums Prinzip. Während ihrer Gedanken hatte sie die letzte Frage fast automatisch beantwortet. Eine Stunde vor Ende der Prüfung ging sie also nach vorne, gab den Zettel ab und schleifte Caleb verärgert aus dem Saal. "Cornelia, was ist los mit dir?", fragte Caleb nun in normaler Lautstärke. Der Gang der Universität war menschenleer. Seine Stimme hallte an den Wänden wider. "Was mit mir los ist?", fuhr sie ihn an. "Die Frage ist, wieso du einfach hier auftauchst, mitten in den Semesterprüfungen, die entscheiden, ob ich weiterstudieren darf oder nicht! Das hier ist wichtig für mich!" "Es ist doch nur Schule! Ich bitte dich", wehrte Caleb ab. Er war verwirrt. Sie hatte doch früher so oft geschwänzt, um Meridian zu helfen. "Ich verstehe dich wirklich nicht. Wiederhol dieses Zeug doch einfach. Ein ganzes Land ist so gut wie dem Untergang geweiht und du sorgst dich um eine lächerliche Note!" "Jetzt hör mir gut zu, ich sage das nämlich nur einmal." Sie drängte ihn an die Wand, um ihrer Wut Ausdruck zu verleihen, und hob bedrohlich den Zeigefinger. "Egal was auch immer in diesen Hallen passieren mag, es ist nicht lächerlich. Es geht hier darum, ob ich jemals Psychologin werden kann oder nicht. Das ist mein Traum. Ich habe so viel Arbeit und Geld investiert, dass es mich sowohl seelisch als auch finanziell ruinieren würde, wenn sich der Aufwand nicht irgendwann rentiert! Vielleicht verstehst du das nicht, aber das hier ist mein Leben. Es hängt alles von dieser einen Note ab, denn wenn ich hier negativ bin, dann kann ich mein Studium vergessen, verstehst du? Meridian hatte immer Vorrang, ich weiß das, und ich weiß auch, dass die Rettung eines ganzen Landes wichtiger ist, als meine blöde Note auf diese blöde Prüfung, aber hier geht es rein ums Prinzip!" "Welches Prinzip bitteschön? Wenn du unbedingt ein Exempel statuieren willst, welche Prioritäten in deinem Leben vorherrschen, dann tu das gefälligst, wenn die Lage nicht so ernst ist!" "Das Prinzip", fauchte Cornelia scharf, "bezieht sich dabei darauf, dass ich mich ruiniere, wenn ich Meridian allem anderen immer vorziehe. Nehmen wir an, ich hätte die Klausur sausen lassen, um Meridian zu retten. Super, das Königreich ist okay, aber was ist mit mir? Ich wäre am Ende! Ich wäre ruiniert! Mit jedem anderen Job wäre ich unglücklich, das ist sicher. Meine Mutter möchte mir nicht helfen, mein Vater traut sich nicht, meine Schwester kann es nicht und meine Freundinnen würden es zwar, aber das ist es nicht, was ich will! Das einzige, das mich nicht verzweifeln lässt, ist die Tatsache, dass ich mich in ein Studium flüchten kann, das meinem Leben einen Sinn gibt! Ich schöpfe meine ganze Kraft aus diesem Traum, den zu verlieren ich nicht gewillt bin!" Tränen drangen aus ihren Augenwinkeln. Sie rannen die vor Zorn geröteten Wangen hinab, unaufhörlich. "Als du gingst, da hast du nicht nur meine Fröhlichkeit mitgenommen, sondern auch alles, für was zu leben es sich jemals gelohnt hätte." Cornelia erschrak über ihre eigenen Worte. Hastig ließ sie von Caleb ab und wandte ihm den Rücken zu. Er stand schweigend da, äußerlich unberührt. Innerlich herrschte jedoch ein wirres Chaos zwischen Sachlichkeit, Verwirrung, Ratlosigkeit und Leid. Doch nun war das Eis gebrochen; alle angestauten Emotionen hatten mit diesem einen Vorwurf die Erlaubnis erhalten, an die Oberfläche zu dringen. Cornelia ihrerseits versuchte, ebendiese Emotionen zurückzuhalten, doch Caleb war nicht im Ansatz gewillt, die Anschuldigung auf sich beruhen zu lassen. Ruckartig drehte er sie um, damit sie ihn ansehen musste. "Hättest du nur ein Wort gesagt, die ganze Zeit über, hätten wir gewiss eine Lösung gefunden!" "Eine Lösung für was, Caleb?", schrie sie. "Für sämtliche Missstände uns betreffend? Für die Trennung, die uns aufgezwungen wurde? Selbst wenn es dafür eine Lösung gegeben hätte, was hätte es uns gebracht? Du wolltest mich nicht!" "Also machst du mich für alles verantwortlich, was du dir verbaut hast?" "Das tue ich nicht! Aber ich mache dich dafür verantwortlich, eine gewisse Teilschuld daran zu tragen! Hättest du mich nicht auf so unfreundliche Weise zurückgewiesen, wäre womöglich alles nicht so ausgeartet!" "Dann ist es also doch meine Schuld? Ich für meinen Teil wollte es dir leichter machen! Zu wissen, dass unter keinen Umständen Hoffnung bestünde, hätte es dir laut meiner Auffassung leichter machen sollen, die Trennung zu verwinden!" Sie schlug ihm so fest sie konnte gegen die Brust. "Natürlich!", kreischte sie hysterisch. "Es macht es einem Mädchen auch so viel leichter, nicht nur den Schmerz einer Trennung ertragen zu müssen, sondern auch der Unzulänglichkeit bezichtigt zu werden!" Cornelia keuchte inzwischen aus Luftmangel, doch sie dachte nicht im Traum daran, nun zu schweigen. Die Worte brachen in so ungeheurer Lautstärke aus ihr heraus, dass man sie sogar noch in den nahen Auditorien hören konnte. "Was mich wirklich dahingerafft hat, war einzig und allein das Wissen, nicht gut genug gewesen zu sein! Das Gefühl der Unzulänglichkeit meines Charakters, meines Wissensstandes und wahrscheinlich sogar meines Aussehens war das Erdrückendste, das ich jemals verspürt habe!" "Wenn dem so war, hättest du womöglich an deinem Selbstvertrauen arbeiten müssen, anstatt mich über Jahre hinweg für dein Elend verantwortlich zu machen!", fuhr Caleb sie an. "Mein Selbstvertrauen ist hervorragend! Es ist mir egal, für wie gut oder schlecht mich die Leute halten! Was sie denken, interessiert mich nicht!" "Wieso war es denn dann so ein Problem für dich?!" "Weil mir deine Meinung wichtig ist, du Idiot!" Cornelia holte tief Luft. Ihre Kehle war rau, sie brannte und schnürte sich immer enger zusammen. Dennoch schrie sie sofort weiter. "Du bist der einzige Mensch, dessen Worte mir etwas bedeuten!" "Dann solltest du womöglich dein Selbstbild nicht nur von einer einzigen Person abhängig machen, wenngleich gerade diese Person immer darum bemüht war, dein Wohl zu sichern!" "Indem du mich beleidigst?" "Indem ich dich davor schütze, dich vor anderen Männern zu verschließen!" "Hat ja hervorragend geklappt!", stieß sie sarkastisch aus. "Meine Idee war gut!", beharrte er streng. "An deiner Umsetzung hat es gemangelt! Dass du mich als Arschloch ansiehst, um besser darüber hinwegzukommen – das war der Plan!" "Nur leider hat das nicht funktioniert! Hast du wirklich gedacht, es würde sich so einfach verhalten?" "Wer konnte denn ahnen, dass du so kompliziert bist?" "Das hat nichts mit Kompliziertheit zu tun!" "Ach, ja? Was ist dann der Grund?" "Dass ich nie aufgehört habe, dich zu lieben, verdammt noch mal!" Cornelia schnaufte. Eine schlagartige Stille breitete sich aus, die keiner der beiden unterbrechen konnte. Sie war zu erschrocken, um sprechen zu können, er zu geschockt. Obwohl Caleb nämlich niemals an seinen eigenen Gefühlen gezweifelt hatte, so hatte er dennoch ihre als nicht vorhanden erachtet. Das machte den Schock noch größer – zu groß. Cornelia war in der günstigeren Position, etwas zu sagen. "Wir sollten jetzt Will abholen, sie dürfte inzwischen fertig sein. Hörsaal F im zweiten Stock." "Cornelia…" Doch sie hatte ihm bereits den Rücken zugedreht und war die ersten Schritte vorgegangen. Ab diesem Zeitpunkt herrschte reges Durcheinander in den Köpfen der beiden, ausgelöst durch denselben Satz, doch mit verschiedenen Effekten. Cornelias Gedanken brachen so schnell über sie herein, dass ihr der Kopf schmerzte. Alles hämmerte wie tausend Presslufthämmer von innen gegen ihre Schädeldecke. Sie hasste sich so sehr in diesem Moment. Sie hasste sich dafür, all ihr Leid geklagt zu haben und dabei auch noch Caleb dort angeklagt zu haben, wo er gar nichts dafür konnte. Er war derjenige, der keinerlei Schuld trug. Aber wie hätte sie dem Mann verzeihen können, der ihrer beider Seelenfrieden in vollster Anwesenheit seines Bewusstseins so bereitwillig zerstört hatte? Er hatte es geplant! Und sie hatte ihm die Grausamkeiten in ihrer Naivität geglaubt, hatte sie sich zu Herzen genommen und sich an ihnen ein stückweit zerstört. Dabei hätte sie ihn nur als das sehen müssen, was er ihr vorgegeben hatte zu sehen – einen unliebenswürdigen Menschen, der keinerlei Anerkennung oder Achtung verdient hatte. Sie verstand seine Motive vollends. Dass er sie immer noch liebte, stand nun außer Frage. Und doch konnte sie sich nicht dazu durchringen, die Gefühle offenkundig zu akzeptieren oder gar zu erwidern. Es würde zu nichts führen. Das Ende wäre ein anderes, gewiss, aber war es das, was sie wünschte? Die erste Trennung hatte mit Vorwürfen und Gemeinheiten geendet, um es beiden zu erleichtern, Abschied zu nehmen. Die zweite Trennung würde also demzufolge unter Bekenntnissen und Liebesschwüren ihr tragisches Ende finden, die sie zwar nicht an gebrochenem Herzen verzweifeln lassen würden, aber die beiden doch für immer miteinander verbunden halten würden. So oder so, keiner würde jemals einem anderen Menschen so viel Liebe zollen können, wie sie sie füreinander übrig hatten – nicht einmal annähernd. Calebs Gedanken waren weitaus simpler. Sie liebt mich noch. Das war alles, woran er denken konnte. Er versuchte, die Überlegung weiterzuspinnen – wie es nun fortlaufen sollte. Ignorieren – diskutieren – handeln? Doch sobald er ein wenig weiterkam, sprang seine Sachlichkeit wieder zu dem Schock über. Ja, da waren Momente gewesen, die er unmöglich missverstanden haben konnte, das war ihm klar. Aber er hatte für sich beschlossen, dass diese Momente nur durch zufällige Bewegungen zustande gekommen waren, durch seine Gefühle als Momente gewirkt hatten und durch seine Interpretation als ebendiese verstanden worden waren. Dass Cornelia gleichnamige Gefühle hegte, hatte er niemals in Erwägung gezogen. Die Veränderung, die sie seit ihrer ersten Begegnung durchgemacht hatte, war ihm natürlich nicht verborgen geblieben – wie hätte sie auch? Von Furie auf schweigsam in einer Minute, das konnte nicht einmal Cornelias Sprunghaftigkeit. Will bekam davon nicht viel mit. Sie war damit beschäftigt gewesen, so viel Wissen um die Sturm und Drang Periode aus ihrem überladenem Hirn zu ziehen, dass es weh getan hatte. Die Antworten waren recht präzise gekommen, wenn auch langsam. Inzwischen hatte sie mit vor Stolz geschwollener Brust das Geschmiere abgegeben. Sie war erleichtert, diese Tortur endlich hinter sich zu haben, wenngleich die Tage davor die reinste Hölle gewesen waren. "Cornelia! Caleb!", rief sie freudig und winkte aus der drängenden Menge. "Hier bin ich! Wie war's bei dir?" "Kein Kommentar." Will hielt inne. Sie musterte besorgt Cornelias ernsten Gesichtsausdruck, doch vor Caleb wollte sie nicht nachbohren. Irgendetwas war sicherlich wieder zwischen den beiden vorgefallen. Und diesmal sah es ernst aus. "Wieso bist du hier, Caleb? Gibt es wichtige Neuigkeiten aus Meridian?" "In der Tat, die gibt es." Er zog die beiden in eine Nische am Gang, um die Worte vor den Ohren Fremder zu schützen. "Elyon hat zwei Briefe erhalten, die Meridian unmissverständlich den Krieg erklären." "Wie furchtbar!", stieß Will aus. "Wir müssen sofort nach Meridian. Ich trommle die anderen zusammen." "Wo sind sie?" "Frankreich, England, Silver Dragon." "Was?" Caleb starrte sie ungläubig an. "Du wirst es nicht glauben, aber wir haben Verpflichtungen", meinte Will ungeduldig. "Wenn wir die Portale benutzen, dann wird das recht schnell erledigt sein. Kommt." Will behielt recht. Innerhalb einer Stunde stiegen sie alle aus einem blauen Kreis, der sich mitten im Thronsaal von Meridians Herrscherin aufgetan hatte. "Caleb! Ein Glück!", stieß Elyon aus. Die Erleichterung war ihr ins Gesicht geschrieben, wie auch die Sorgen, die sie sich machte. "Ich dachte bereits, dir wäre etwas zugestoßen." "Seid unbesorgt über mein Wohlbefinden, meine Königin, es gab lediglich ein paar Komplikationen." Elyon nickte, danach wandte sie sich den Wächterinnen zu – von denen kaum eine in passender Kleidung erschienen war. Irma trug dank der Zeitverschiebung einen Pyjama und Taranee aus selbigem Grund ein viel zu weites Nachthemd, während Hay Lin Kellnerinnenkleidung anhatte. "Seht her." Mit angespannter Hand gab Elyon Will die Briefe. Die jungen Frauen lasen das Geschriebene mehrmals sorgsam. "Womit sich also die Frage nach ihrem Aufenthaltsort erledigt hätte", murmelte Irma düster. "Aber hier steht nicht, wann sie angreifen wird." "Vermutlich geht sie davon aus, dass wir Fehler machen werden, wenn wir nur lange genug dieser Ausnahmesituation ausgesetzt sind", erklärte Elyon. Sie ließ sich, den Kopf in die kleinen Handflächen gelegt, wieder auf dem Thron nieder. Mit ihrem gesenkten Haupt und den laschen Schultern hatte Elyon wenig Ähnlichkeit mit Meridians einst so strahlenden Herrscherin. "Kopf hoch, Majestät", versuchte Cornelia sie zu trösten. Liebevoll legte sie ihrer Freundin die Arme um die Schultern, um sie aufzuziehen. "Wir machen das schon. Zu viert hatten wir keine Chance, aber nun sind wir wieder fünf. Die können sich warm anziehen." "Ich an deiner Stelle wäre vorsichtig mit solchen Versprechungen", widersprach Elyon deprimiert. "Seit Stunden sitze ich hier, grüble nach und versuche zusammen mit meinen Beratern einen Ausweg zu finden. Doch selbst wenn wir gewinnen; welchen Preis werden wir dafür zahlen müssen? Es herrscht Krieg in diesem Land. Krieg fordert seinen Tribut, bestehend aus Toten und Verletzen. Es werden Familien auseinandergerissen werden, es werden Menschen sterben, es wird Verwüstung und Elend herrschen." "Nicht, wenn wir Phoebe so schnell als möglich unschädlich machen." "Oh, Cornelia, hätte ich nur deine Hoffnung!" Elyons deprimierte Verfassung übertrug sich schnell auf die feinfühligen Mitglieder der Wächterinnen. Alsbald hatten Hay Lin und Cornelia es aufgegeben, ihr widersprechen zu wollen. Stattdessen saßen sie mit hoffnungslosen Augen im Raum verteilt und grübelten. Will und Irma hingegen ließen sich durch die allgemeine Depression nicht in ihrer Entschlossenheit dämpfen; im Gegenteil: sie wurden von ihr angestachelt, die ausgesprochene Misere zu ihrem Vorteil zu verkehren. Gepackt von Ehrgeiz dachten sie Strategien durch, schmiedeten Pläne und diskutierten leise, aber scharf, welcher Weg am schnellsten zum Sieg führen würde. Indes konnte die nervöse Taranee nichts anderes tun, als nachdenklich in der Halle umherzuwandern, die Finger ans Kinn gelegt. Caleb tat es ihr in gebührendem Abstand gleich. "Ich halte das nicht aus!", durchbrach plötzlich Hay Lin die Stille. "Hallo-o, Leute? Also ganz ehrlich, wann haben wir uns jemals unterkriegen lassen? Ich frage euch: Machen wir dieses Weib fertig oder nicht?" Sie warf enthusiastisch die Arme in die Höhe, doch keiner war gewillt, ihre Zuversicht zu teilen. "Kommt schon, wir haben Phobos besiegt und Nerissa die Hölle heiß gemacht, da kann ein weiblicher Phobos nicht viel schlimmer sein. Trübselig herumzusitzen bringt uns doch auch nicht weiter, nicht wahr? Wir sollten lieber versuchen, uns so gut als möglich auf den Angriff vorzubereiten!" "Du hast recht", stimmte Elyon zögerlich zu. Sie hob mit festem Blick ihren Kopf. "Wir dürfen nicht einfach kapitulieren, ohne gekämpft zu haben. Phoebe kann uns nichts anhaben, solange wir an uns glauben." Die kleine Ansprache gab den Wächterinnen und auch allen anderen Eingeweihten ein wenig neuen Mut. Die meisten schienen zwar immer noch angsterfüllter zu sein als überzeugt, doch die allgemeine Niedergeschlagenheit war ein wenig neuer Hoffnung gewichen. "Nachmittags, halb vier in Meridian: Die Krieger schöpfen neuen Mut", kommentierte Hay Lin lachend. "Also, Elyon, wie sieht der Plan aus?" Sie erhob sich von ihrem Sitzplatz und ging zu einer Karte, die seit Stunden unbeachtet auf einem Tisch am Rand des Saals lag. Die Anwesenden folgten ihr. "Wir wissen nicht, aus welcher Richtung sie angreift, aber vermutlich aus dem Westen. Im Süden sind nur Ebenen, im Osten und Norden grenzt ein paar Meilen weiter ein großflächiger See, den sie unmöglich ungesehen überqueren kann. Ich habe bereits alle verfügbaren Soldaten zusammenrufen lassen. Die Einheiten werden morgen früh fertig gebildet und ausgerüstet sein. Bis dahin müssen wir hoffen, dass sie den Überraschungsangriff, den sie zweifelsohne vorhaben, nicht so früh starten." "Sie haben euch doch eine Kriegserklärung geschickt. Warum sollten sie dann einen Hinterhalt planen?", fragte Will verwirrt. Caleb übernahm die Erklärung. "Aus einem ganz simplen Grund: Strategische Kriegsführung. Es wäre unehrenhaft, die Hauptstadt zu erobern, ohne vorher eine Kriegserklärung abgegeben zu haben. Das würde einer Plünderung gleichkommen und diese hat zur Folge, dass Phoebe den politisch rechtmäßigen Thron verliert, was sie nicht riskieren möchte. Zum anderen ist es ein kluger Schachzug gewesen, das ganze Reich in Angst und Schrecken zu versetzen. Die Furcht vor dem Krieg ist schlimmer als der Kampf selber." "Also", resümierte Taranee, "hat sie sich angekündigt, um Elyon durch einen Sieg vom Thron zu stürzen, greift aber dennoch zu einer unbestimmten Zeit an, um sich den Vorteil des Präventivschlages zu sichern?" "Ganz genau." Elyon wandte sich wieder der Karte zu, die sie jedoch nur anstarrte, um nicht in die verängstigten Gesichter der Umstehenden sehen zu müssen. "Ich dachte mir, wir könnten eine Art Aufteilung vornehmen." Nun klang sie gar nicht mehr so wie die selbstsichere Herrscherin eines mächtigen Königreichs, sondern wieder wie die schüchterne Elyon Brown aus Heatherfield. Die Sache nahm sie sichtlich mit. "Die Armee soll sich um die Armee von Phoebe kümmern, zumindest so gut es geht. Sie wird keine ausgebildeten Kämpfer mitbringen. Das ist gut, denn wir selbst haben nur wenige davon. Caleb sagte, dass sie Helfer hat, nicht wahr? Sehr mächtige Gehilfen. Es sind noch drei übrig. Ich werde versuchen, Phoebe in Schach zu halten, während die Wächterinnen die Schergen so kompromisslos als möglich ausschalten. Dann müssen wir gegen den wahren Feind mit vereinten Kräften vorgehen." "Draufhauen und hoffen, dass alles gut geht also?", fasste Irma zweifelnd zusammen. "Wieso nicht. Hat bisher ja auch immer funktioniert." "Irma!" Sie hob abwehrend die Hände, als die strafenden Blicke ihrer Freundinnen sie trafen. "Wie auch immer, es wird große Verluste geben und ich kann nur hoffen, dass es uns möglich ist, den Krieg mit möglichst wenig Opfern unserer Seite beenden zu können." Elyon seufzte erschöpft. "Doch ich wage zu bezweifeln, dass die Sache ein allzu gutes Ende nimmt." "Ihr dürft niemals so denken, meine Königin!", tadelte Eris vorwurfsvoll. "Ihr seid die einzige, die Meridian Hoffnung zu geben vermag. Verliert ihr den Mut, so haben wir keine Chance." "Ja, du hast Recht, liebe Eris. Ich muss stark sein. Doch fürs erste werde ich mich zurückziehen und nachdenken. Womöglich finde ich einen Weg, unsere Strategie zu verbessern, wenn mir in dieser Nacht schon kein Schlaf vergönnt sein wird. Eris, bitte lass Anne holen. Sie soll meinen Freundinnen und natürlich auch Caleb die Schlafzimmer zeigen. Gebt ihnen alles, wonach sie verlangen, sofern wir in der Lage sind, es aufzutreiben. Habt eine erholsame Nacht." Ihre Stimme war mit dem Sprechen immer leiser und ihre Augen immer kleiner geworden. Als Elyon zu Bett gegangen war, läutete Eris wie ihr geheißen nach Anne, die trotz der Not ihr quirliges Wesen behalten hatte. Sie führte die Gäste in einen der vielen Flügel, in dem noch keiner von ihnen jemals zuvor gewesen war. Cornelia glaubte anfangs, sie habe sich einst hierhin verlaufen, als sie eigenmächtig in Phobos' Schloss eingedrungen war, doch mit Sicherheit konnte sie es nicht sagen. Während der ganzen Führung plapperte Anne unentwegt über Nichtigkeiten, wie beispielsweise welche Blumen sich in dieser Vase befanden und wer die Gesichter an den Wänden waren, die milde lächelnd auf sie hinunterblickten. Bald schon wurde den Damen das Gerede lästig, woraufhin Irma sie ziemlich rüde unterbrach, indem sie ein völlig andere Thema anschnitt, während Anne in schnellem Ton die Lebensgeschichte eines Großonkels herunterbetete. "Findet ihr nicht, dass Elyon irgendwie komisch ausgesehen hat?" "Sie war ausgelaugt, das ist doch nur natürlich", erwiderte Will schnell. "Ihr Königreich ist in Gefahr, da wäre jeder leicht neben der Spur." "Nein, Irma hat Recht", meinte Cornelia nachdenklich. "Elyon hat heute außerordentlich ruhig gewirkt, um nicht zu sagen lasch. Ich gebe zu, sie war noch nie die Lauteste, aber immer schon selbstsicher. Dieses Königinnending hat sie darin sicherlich noch bestärkt. Aber gerade eben hat sie irgendwie gewirkt, als hätte sie die afrikanische Schlafkrankheit." "Vielleicht ist sie ja wirklich krank?", erwiderte Will. "Ich habe gehört, selbst First Ladies blieben davon manchmal nicht verschon." "Also wenn ihr mich fragt, dann stimmt etwas nicht mit ihr", beharrte Irma entschieden. Cornelia stimmte ihr zu, doch die anderen behielten sich vor, die Meinung der beiden anzuzweifeln. Caleb war der einzige, der mit sorgenvollem Blick seinen ganz eigenen Gedanken zu diesem Thema nachging – zumindest dachten die Mädchen das. In Wahrheit versuchte er einfach, Cornelia nicht anzustarren, denn der Streit und das Geständnis von heute Mittag saßen ihm noch immer fest verankert im Kopf. "Lasst uns einfach morgen einen genaueren Blick auf sie werfen", schlug Cornelia schließlich vor, nur um nicht allzu sehr in die Verzweiflung abzustürzen. Sie waren inzwischen ohnehin schon in dem Gang angelangt, der sich als ihre einstweilige Ruhestätte herausstellte. Anne wies jeder von ihnen ein eigenes Zimmer vor, denn man habe ja hier in dem prunkvollen Palast genügend Unterbringungsmöglichkeiten. Dass das Vorhaben, Elyons Zustand am folgenden Tag mehr Aufmerksamkeit zu schenken, allerdings niemals seine Umsetzung würde feiern dürfen, ahnte zu diesem Zeitpunkt niemand. Kapitel 19: With Guard Of Nights -------------------------------- … In a world as fast as this You did calm down a bit To see what we had and will never have again … N E U N Z E H N Will dachte ja gar nicht daran, nun bereits das Bett auszusuchen. Sie bediente sich nicht einmal an dem bereitgelegten Nachtgewand – das nicht gerade nach Prêt-à-porter und schon gar nicht nach Haute Couture aussah – sondern schlich sich ein paar Stunden später wieder aus dem Zimmer, um Cornelia einen Besuch abzustatten. Allerdings musste sie schnell erkennen, dass sie nicht die einzige war, der das veränderte Verhalten zwischen Cornelia und Caleb aufgefallen war. Die enorme Beherrschtheit und Distanz konnte ja auch gar nicht unauffällig sein! "Vier Dumme, ein Gedanke", scherzte Hay Lin lachend. Sie war bereits ein Teil des Kreises, der sich auf dem bequemen Doppelbett gebildet hatte und machte nun Platz für die Anführerin. "Wir waren gerade dabei, unserer lieben Cornelia aus der Nase zu ziehen, was der Grund für das eigentümliche Verhalten der beiden Turteltauben sein mag." "Lasst euch nicht stören, ich bin gespannt." "Ihr könnt von mir aus alle so gespannt sein, dass es euch zerreißt, ich verhalte mich ganz normal – und er auch", wandte die Betroffene ein. Sie fuchtelte aufgeregt mit den Händen umher, doch glaubwürdiger wurde die Aussage dadurch nicht gerade. "Ja. Klar", sagte Irma sarkastisch. "Erst heulst du jahrelang wegen ihm, dann streitet ihr euch, dass die Fetzen fliegen, danach tut ihr, als wärt ihr flüchtige Bekannte und jetzt wagt ihr es nicht einmal mehr, euch anzusehen. Da ist was faul und ich habe auch eine Vermutung, was das ist." "Dann sag es uns doch bitte, Irma", fauchte Cornelia mit verschränkten Armen. "Ich habe nämlich keinen blassen Schimmer. Erklär mir bitte mein Verhalten, ich bin ganz Ohr." "Du hast ihm gesagt, dass du ihn liebst!", meinte Irma mit erhobenem Zeigefinger. Und hätte sie die arrogante Nase nicht so hoch getragen, dann hätte sie gesehen, wie bleich die Angesprochene mit einem Schlag wurde. Die anderen jedoch sahen den Wechsel des Blutdrucks sehr gut und überschwemmten sie deshalb mit so vielen verschiedenen Fragen auf einmal, dass ihr gar nichts anderes überblieb, als mit der Wahrheit herauszurücken. "Okay!", rief sie. "Seid doch mal ruhig! Das ist ja grauenhaft! Wenn ihr so wild drauf seid, euch diese Odyssee anzuhören, nein, diese Farce, dann bitte, hier ist sie: Das Kabarettprogramm Cornelia und die Liebe. Caleb und ich haben uns gezankt, wobei es diesmal ziemlich heftig herging. Wir haben uns beide nicht allzu freundliche Sachen an den Kopf geworfen. Jedenfalls sind mir bei dieser Gelegenheit die Nerven durchgegangen. Eines führte zum anderen, schlussendlich habe ich unmissverständlich angedeutet, dass ich ihn noch immer liebe." "Na bitte, ist doch toll", freute sich Hay Lin aufrichtig. Sie verkannte die Problematik der Lage in ihrer romantischen Sichtweise wieder einmal völlig. "Nein, das ist nicht toll", korrigierte Cornelia scharf. "Egal wie die Sache ausgeht, wir werden wieder getrennt werden und ich möchte mir gerne den neuerlichen Trennungsschmerz bei dieser Gelegenheit ersparen." "Und wir wissen alle, dass es genau ein paar Stunden brauchen wird, ehe ihr euch in den Armen liegt", kommentierte Irma trocken. "Gib es zu, du bist total verknallt in ihn. Schlimmer noch als jemals zuvor. Ihr könnt eure Gefühle nicht lange kontrollieren, dazu seid ihr beide zu emotional. Naja", fügte sie hinzu, als sie die zweifelnden Blicke sah, "zumindest wenn es um den jeweils anderen geht." "Ich gebe Irma ja nicht gerne Recht, aber diesmal muss ich ihrer Aussage ein Stück Wahrheit zugestehen", sagte Hay Lin zwinkernd. "Besser wäre es, wenn ihr das schnell klärt, ehe ein großes Missverständnis herauskommt. Ah, meine außerordentlich guten Ohren sagen mir, dass du auch gleich die Möglichkeit haben wirst. Scheinbar ist dein Zimmer das heutige Zentrum allgemeiner Aktivitäten." Sie umarmte Cornelia flüchtig, hauchte ihr einen romantischen Seufzer ins Ohr und drängte die anderen dann schnell aus der Seitentüre hinaus. "Wartet!", rief Cornelia ihnen flehend nach. Mit Caleb zu reden – allein! – war das Letzte, das zu tun sie den Wunsch verspürt hätte. "Kommt zurück, ihr könnt mir das nicht antun! Will!" In dem Moment, als Taranee die eine Türe schloss, klopfte es an der anderen sanft. Cornelia zuckte zusammen, auch wenn sie gewusst hatte, dass sie gleich neuen Besuch bekommen würde. "Oh, Mist!", zischte sie. Ihr Herz klopfte heftiger als jemals zuvor. Aber womöglich war es auch Elyon, die freundschaftlichen Rat brauchte? Das Klopfen war so zaghaft, so sachte, dass es unmöglich Caleb hatte sein können! "Cornelia?" Da ging sie hin, die Hoffnung. So schnell wie Butter in der Mikrowelle, wie ein Blatt in einem reißerischen Fluss, wie eine zarte Pflanze in einem Orkan, wie die Jungfräulichkeit einer irrsinnig attraktiven, frühreifen – nun, jedenfalls schnell. Die Stimme von Caleb war ihr noch niemals so unangenehm wie jetzt gewesen. Natürlich, da gab es Momente, in denen hätte sie ihn töten wollen, wenn er nur einen Piep gemacht hatte, doch Hass war bekanntlich leichter zu ertragen als Scham und Furcht. "Schläfst du?" Da war sie wieder, die Hoffnung! Doch ihr Hirn war nicht schnell genug, die perfekte Vorlage zu nutzen. Stattdessen öffnete sie leichtsinnig die Türe. "Nein, tue ich nicht." "Oh. Gut." Sie standen eine Weile ratlos da, dann trat Cornelia zur Seite. "Willst du reinkommen? Diesmal bin ich sogar noch vollständig angezogen." Der Scherz wurde jedoch nicht aufgegriffen, sondern mit einem nüchternen Nicken lediglich zur Kenntnis genommen. Danach breitete sich wieder eine angespannte Stille aus, die Cornelia nicht aufrechterhalten wollte. Sie schob all ihren Mut zusammen und sagte: "Also sag mir, für welche der beiden Möglichkeiten hast du dich entschieden?" "Was?" Überrascht sah er sie an. "Nachdem ich dir gesagt habe, dass ich dich liebe, hattest du genau zwei Möglichkeiten: a, es einfach hinnehmen oder b, zu reagieren. Da du hier bist schlussfolgere ich, dass du Zweites gewählt hast, wobei mir diese Tatsache Aufschluss darüber gibt, dass ich dir nicht gleichgültig bin. Nun gilt es also festzulegen, in welcher Form ich dir nicht gleichgültig bin. Insofern kannst du also nur zwei verschiedene Absichten haben, die beide das jeweils andere Extrem einschließen. Entweder, du hasst mich und möchtest mir nun sagen, dass du keinerlei Gefühle außer Abscheu mir gegenüber hegst, oder du liebst mich und möchtest klarstellen, dass eine Beziehung zwischen uns sinnlos ist, obgleich unsere Gefühle Gegenteiliges determinieren. Also?" "Weder noch." Das war wie ein Schlag ins Gesicht. Ein Schlag ins Gesicht, gefolgt von einem Tritt in die Nieren. "Oh – okay." Sie fasste sich schnell wieder. Dass er sie weder hasste, noch liebte, implizierte eine gewisse Gleichgültigkeit, die sie jedoch nach seinem Auftauchen nicht erwartet hatte. Aber gut, sie musste damit leben. Vermutlich war es ohnehin die beste der Möglichkeiten. Ihn in Gleichgültigkeit zu wissen erleichterte ihr den Schmerz der Trennung zu verkraften, die unweigerlich kommen würde. "Cornelia, ich weiß nicht, wie ich das sagen soll", begann er. Seine Augen waren fest auf sie gerichtet. "Du weißt, ich bin kein Mann großer Worte, alles andere als das maße ich mir an von mir zu behaupten. Ich kann nicht so gut Dinge erklären wie du, ich kann nicht so gut meine Gefühle formulieren wie du und ich kann gewiss nicht so gut streiten wie du. Deshalb weiß ich nicht, wie genau ich dich das wissen lassen kann, was zu wissen dein gutes Recht ist – mehr noch, deine Pflicht ist, sofern deine Gefühle sich seit dem letzten Gespräch nicht geändert haben." Er machte eine kurze Pause, um sich zu sammeln. Cornelia sah ihn bloß verwirrt an. "Bitte wie?" Caleb schüttelte unwirsch den Kopf. "Ich kann es dir nicht nur nicht sagen, weil ich es rhetorisch nicht kann, sondern weil ich mir selbst nicht sicher bin, inwieweit ich dich darin eingeweiht haben möchte. Dir alles zu erklären, wäre sicherlich zu viel, aber dir nichts zu sagen, das bringe ich nicht übers Herz." "Um Gottes Willen!", rief sie augenrollend. "Küss mich doch einfach!" Die Gefühle brachen über sie herein ebenso wie der Mut, ihre Arme um Caleb zu schlingen und ihn mit all der Leidenschaft zu küssen, die einer so lange unterdrückten Liebe mehr als gerecht wurde. Er war erst völlig überrumpelt, doch er ließ sich schnell von der Richtigkeit der Idee überzeugen. Und selbst wenn die Idee ein Schild mit der Aufschrift 'Halt!' hochgehoben gehabt hätte, er hätte es zerrissen, auf den Boden geworfen und zertrampelt, so wie er nun Cornelia an sich presste. "Wir sollten das nicht tun", murmelte er, als er ihren Hals küsste. "Kannst du aufhören?" "Nein." "Ich nämlich auch nicht." Unwillkürlich zog sie sich noch enger an Caleb heran, sodass nicht einmal mehr ein Stück Luft zwischen sie gepasst hätte. Doch wer brauchte schon Luft? Jahre der Verzweiflung, der Trauer, des Leids, sollten mit diesem einen Kuss ihre Entschädigung erhalten. Sie war neunzehn, er ein erwachsener Mann – sogar Leute ohne Abschluss in Stochastik konnten errechnen, dass den beiden ein Kuss nicht genügen würde. Cornelia war jedenfalls keineswegs gewillt, dem inneren Drang zu widerstehen, so sehr sie sich auch dieses Fehlers bewusst war. Daher hoffte sie auf Calebs mittelalterliche Einstellung, auf seine Ehre und seine Vernunft. Wie hätte sie in dieser Situation auch daran denken können, dass auch er jedweden Sinn und Verstand verloren hatte; hatte er selbst doch so viele Jahre der Verzweiflung hinter sich. Er wiederum hoffte auf Cornelias Besonnenheit. Beide fehlten weit mit diesem Wunsch. Es sollte in der Vorstellung der beiden mit jeder fortschreitenden Sekunde zu Ende sein. Jeder neue Augenblick sollte das verhasste und erhoffte Schlusswort setzen. Doch es passierte nichts dergleichen. Im Gegenteil: Sie kamen dem Bett bedrohlich näher, sie fielen stöhnend darauf. Cornelia rollte sich auf ihn, verharrte kurz und sah ihn an. Diese kurze Pause brachte plötzlich die Wendung. "Wir sollten wirklich nicht", meinte Caleb endlich. Sie war erleichtert. "Du hast etwas Besseres verdient." Und nun war sie verwirrt. Die Verwirrung stand ihr eindeutig ins Gesicht geschrieben. "Ich meine das hier. In einem kleinen Zimmer, frei von jeglicher Romantik, ohne vorangegangene Zärtlichkeiten; ein Essen, ein Tanz, etwas in der Art." "Oh, ich bitte dich!", lachte sie. "Hätte ich jedes Mal vor dem Sex nach Romantik verlangt, dann wäre ich noch –" Sie brach schlagartig ab, als sie Calebs entgeisterte Miene sah. "Soll das heißen, du bist nicht mehr…?" Wie hätte sie sich gewünscht, in Erdboden zu versinken! So viel Glück und dann so viel Dummheit! "Ich – nun, ehrlich gesagt … bist du etwa … ?" Die Röte schoss Cornelia ins Gesicht. Und ihre schlimmsten Befürchtungen bestätigten sich. Er nickte. Und sie fiel für ein paar Sekunden in panische Starre. Natürlich, er liebte ja nur sie, wie sich inzwischen herausgestellt hatte. Also hatte er entweder auf sie gewartet oder er hatte sich geschworen, niemals jemand anderem nahe zu kommen. Beides war schlecht. Sehr schlecht. Abgrundtief schlecht. "Cornelia, geht es dir gut? Du siehst so blass aus." "Nein", hauchte sie, den Tränen nahe. "Nein, nein, nein! Oh, nein!" Ruckartig sprang sie auf und schlug die Hände vor den Mund. "Es tut mir ja so leid! Caleb, ich – du musst verste–" "Schon gut, ich bin dir nicht böse." Er hatte den Grund ihrer Panikattacke richtig erkannt. In Wahrheit verletzte es ihn natürlich schon, doch in welcher Position befand er sich, um ihr Vorwürfe zu machen? "Es war niemals eine Abmachung zwischen uns, enthaltsam zu leben. Ich hatte dir weisgemacht, dich nicht zu lieben, also muss ich mit den Konsequenzen leben. Der Plan war immerhin, dir ein normales Weiterleben zu ermöglichen. Allerdings verstehe ich nicht, wieso–" "Wieso ich mit anderen Männern geschlafen habe, obwohl ich dir versichert habe, dich immer geliebt zu haben?", beendete sie den Satz. Vorsichtig setzte sie sich vor Caleb auf das Bett und nahm seine Hände. Er entzog sie ihr nicht, was ihr Mut gab, weiterzusprechen. "Natürlich kannst du das nicht verstehen, wie auch?" Sie seufzte. "Peter – er war neunzehn, ich war in meiner Eitelkeit gekränkt. Und wir waren bereits ein paar Monate zusammen. Ich suchte die Bestätigung, dass ich doch liebenswürdig war – das war kein Vorwurf an dich, glaub mir. Es ist eine Entschuldigung für mich. Nachdem das mit Peter vorbei war, hatte ich eine leicht rebellische Phase. Das war zwischen sechzehn und siebzehn, als ich mich mit meiner Mutter zerstritt und von Zuhause auszog. Ich will nicht ins Detail gehen, aber es lief alles schief. Meine Familie war nicht länger Teil meines Lebens, meine Freundinnen zerstreuten sich in die Welt, ich hatte keinen Halt und keine Perspektiven. Und dann kamen da die Nächte, in denen der Alkohol floss und die jungen Männer mich umschwärmten. Ich hab mit keinem von ihnen geschlafen. Und glaub mir, nicht einer konnte mir mit der hingebungsvollsten Geste jenes wohlige Gefühl geben, das du mir vermittelst, wenn du nur in meiner Nähe –" "Du brauchst nicht weiterzusprechen", unterbrach er sie. Er stand schweren Herzens auf. Mit gesenktem Blick legte er ihr die Hand auf die Schulter. "Gute Nacht." Arme Cornelia! Sie hatte so viel durchlitten und in dem Moment, in dem sie endlich den Lohn erhalten sollte, musste sie diesen schweren Fehler begehen. Wieso hatte sie es auch so leichtfertig gesagt? Es war ihr klar gewesen, welchen Effekt es haben musste – doch die Unüberlegtheit zog wie so oft auch diesmal siegreich von dannen. Sie ohrfeigte sich in Gedanken, während sie zusammengesunken auf dem Bett saß, die Schultern hängend und sich in den Schlaf schluchzend. Caleb maß sich nicht an, sein Leid zu zeigen. Er war der Stärkere der beiden. Dass seine Ratlosigkeit, seine Hilflosigkeit wie eine Abweisung gewirkt hatte, dessen war er sich nicht einmal ansatzweise bewusst. Für ihn zählte nur, mit sich ins Reine zu kommen. Doch wie sollte er das schaffen? Cornelia in den Armen anderer Männer zu vermuten, hatte ihn schon zu Zeiten der räumlichen Trennung Tag um Tag fertig gemacht. Nun die Gewissheit vor sich zu sehen war mehr, als zu ertragen er die Kraft aufbringen konnte. Dabei war es doch das, was er sich so sehnlich gewünscht hatte! Er hatte gehofft, sie glücklich zu sehen. Und nun, da die Situation so lag, wie sie nun einmal lag, da hätte er für ihrer beider Seligkeit ihrer beider Unglück gehofft. Wieso genau ihn Cornelias Aktivitäten so zusetzen war ihm natürlich klar. Sie war die einzige in seinem Leben – genau denselben Stellenwert wollte er auch in ihrem Leben haben. Das war egoistisch in seiner Position, töricht im Angesicht ihrer Schönheit und dumm, sobald man die Natürlichkeit bedachte, mit der Beziehung nach dem Ende einer anderen eingegangen wurden, egal wie stark man sich der vorangegangenen Liebschaft noch verbunden fühlte. Dass seine Moralvorstellungen in ihrer Welt keinerlei Wert hatten, das wusste er nur allzu gut. Drei Zimmer weiter auf der anderen Seite, genau am anderen Ende des Ganges, fand Cornelia viel leichter Schlaf. Ihre Gedanken waren einfacher: Wieso? Und die Reaktion darauf war ebenso einfach: Sie weinte. Beinahe eine Stunde lang weinte sie unaufhörlich, ohne nachzudenken. Sie wollte auch gar nicht daran denken, was nun geschehen würde. Sie hatte alles verspielt. Die bloßen Gedanken an diese Gedanken taten schon mehr weh, als sie ertragen konnte. Also tat sie das einzige, das ihr übrig blieb. Verzweifeln. Nach einer Stunde, lange bevor Caleb überhaupt daran dachte, einzuschlafen, fand sie unter Erschöpfung den Weg ins Traumland, aus dem sie am nächsten Morgen schreiend erwachte. Schweißgebadet, zitternd und kreischend schlug Cornelia um exakt sieben Uhr acht die Augen auf. Als sie auffuhr, wurde ihr schwarz vor Augen. Sie musste sich rasch wieder hinlegen, um nicht ohnmächtig zu werden. Verwirrt versuchte sie den Traum zu rekonstruieren, als plötzlich beide Türen zu ihrem Zimmer aufgestoßen wurden. Sämtliche Bewohner der umliegenden Räumlichkeiten standen wie aufgescheuchte Hühner im Schlafgewand um ihr Bett herum und bewarfen sie mit einer Menge Fragen. "Was ist los?", "Hast du schlecht geträumt?", "Brauchst du Wasser?", "Cornelia!", "Geht es dir gut?", "Hat dich jemand angegriffen?", "Ich träumte von einem Schwein!", waren nur einige der Sätze, die sie aus der Flut herausziehen konnte. "Alles in Ordnung", antwortete sie schnell. "Ich hatte nur…" Beim Anblick von Caleb brach sie jedoch ab. Er war der einzige, der sie nicht angesprochen hatte. Er stand noch immer im Türrahmen, ohne sich herein zu trauen. Will verstand schnell, was passiert sein musste, wenn auch nur teilweise. Sie reagierte dennoch genau richtig. Mit einer Kopfbewegung schickte sie Caleb fort, der froh war, der Misere entkommen zu sein, die seine Reflexe ihm eingehandelt hatten. "Erzählst du uns, was du geträumt hast, Cornelia?" Die Angesprochene zuckte mit den Schultern. "Kann ich nicht. Ich weiß es nicht mehr. Aber ich denke, es ging um das Übliche. Caleb. Diesmal war alles dunkel, soweit ich weiß. Dunkel und kalt und an mehr kann ich mich nicht erinnern." "Das ist bedenklich", murmelte Will ernst. "Du hast schon lange keine Alpträume mehr gehabt. Ist gestern was passiert, was das erklären konnte?" "Oh, da ist sicherlich was passiert", meinte Irma schelmisch. Sie zwinkerte Cornelia zu, doch diese antwortete nur mit einem mahnenden Blick, der sie schnell abbrechen ließ. "Habt ihr etwa nicht…?" "Nein, wir haben nicht", fauchte Cornelia, Irmas komischen Unterton imitierend. "Wir haben gestritten." "Und da hätten wir auch schon die Lösung", scherzte Will, den Ernst der Situation nun verkennend. Sie wusste ja nicht, dass dieses Streitthema kein Scherzstreit gewesen war. "Diesmal war es anders." Cornelia legte den Kopf in die Hände. "Ich hab unvorsichtigerweise erwähnt, dass ich natürlich auch andere Beziehungen hatte." "Warte, warte!", unterbrach Will. "Soll das heißen, er nimmt es dir übel, dass du andere Bekanntschaften hattest, obwohl er Schluss gemacht hat? Das kann nicht sein Ernst sein!" "Ich weiß nicht, ob er es mir übel nimmt, aber er sah so aus, als könne er nicht damit leben." "Dann müssen wir mal ein paar Takte mit dem feinen Herrn reden, schlage ich vor", rief Irma enthusiastisch. Sie ballte eine Hand zur Faust und streckte diese gen Decke. "Wir können es ihm immerhin nicht durchgehen lassen, dass er von dir erwartet, auf ihn zu warten, wo er doch ganz klar gesagt hat, dass keinerlei Zukunft für euch besteht." "Lass es einfach, Irma. Bitte. Ganz so einfach ist das nicht." Cornelia flehte schon fast, doch sie fand ihre Fassung schnell wieder. "Womöglich ist es so besser. Wer weiß, vermutlich hätte mich unsere zweite Trennung für immer zerstört." Taranee wollte ein paar aufmunternde Worte sagen, doch ehe sie anfangen konnte, wurden sie in ihrem Gespräch unterbrochen. Anne war eingetreten, kreidebleich und abgehetzt. "Königin Elyon! Mit ihr stimmt etwas nicht! Kommt bitte schnell mit!" Dass etwas nicht mit Elyon stimmte, war eine Untertreibung gewesen, das konnte jeder auf den ersten Blick sehen. Als die Wächterinnen in das Zimmer der Majestät eintraten, sahen sie als erstes einen Pulk Menschen, der um Elyons Himmelbett versammelt war. Unter ihnen erkannten sie bloß Eris, die sogleich das Wort übernahm. "Ein Glück, euch endlich hier zu wissen", meine sie mit Panik in der Stimme, obwohl ihre Mimik unberührt aussah. Sie ging auf Will zu und umschloss ihre Hände. "Die Königin lässt sich jeden Morgen um zwei Minuten vor Sieben wecken. Doch heute versuchten die Diener alles Mögliche, ohne sie wecken zu können!" "Soll das heißen, sie…sie wacht nicht auf?", wiederholte Will irritiert. Sie wegen einer verschlafenden Königin rufen zu lassen war ihr neu. Eris erkannte ihre Verwirrung, also trat sie zur Seite, um den Blick auf Elyon freizugeben. Das Bild, das sich den Wächterinnen bot, war ein furchtbares, wenngleich es friedlich wirkte. Elyon lag stocksteif in dem Bett, alle Muskeln angespannt. Die Augen waren geschlossen, der Mund bildete eine gerade Linie. Sie sah aus, als habe man sie kerzengerade hingelegt. Sie trug noch ihre Regentenkleidung und ihre Krone. "Was ist mit ihr geschehen?", hauchte Cornelia. Sie kniete sich neben Elyon, um ihre Hand zu nehmen, doch sie ließ sich keinen Millimeter bewegen. "Ist sie zu Stein erstarrt?" "Wir wissen es nicht genau", meinte Eris besorgt. "Es sieht aus wie eine Art Fluch oder Bann, der sie umgibt. Im Falle ihrer Abwesenheit habe ich die Pflicht, die Regierungsgeschäft weiterzuführen." "Sie will uns schwächen", unterbrach Will sie überlegend. Angestrengt nachdenkend schritt sie mit verschränkten Armen durch das Gemach. "Phoebe hat keine Chance gegen Elyon, egal wie groß ihre Macht auch ist; immerhin hat Elyon nicht nur große Kräfte, sondern auch fünf Wächterinnen und eine schlagkräftige Armee aus zum Teil ausgebildeten Kriegern. Egal wie viele Schattenkreaturen Phoebe auch mobilisieren kann, sie kann gegen uns nicht ankommen. Also schwächt sie unser empfindlichstes Glied." "Das ist ja schön und gut", sagte Cornelia, Elyon immer noch schmerzlich betrachtend, "aber was hilft uns diese Erkenntnis? Ohne Elyon sind wir nicht stark genug. Sie gibt Meridian alle Energie; und ohne die können wir nichts ausrichten." Will grummelte nur vor sich hin, ohne eine befriedigende Antwort geben zu können. Sie hätte auch gar keine Möglichkeit gehabt, denn plötzlich wurde die Türe aufgestoßen. Sie flog mit voller Wucht gegen die Innenwand des Zimmers und verursachte ein lautes Krachen, das alle aufschreckte. Der Übeltäter war ein abgehetzter Caleb, dem Anne gerade auf Eris' Befehl die Nachricht überbracht hatte. Er stand keuchend im Türrahmen, unwillig, das Gehörte für wahr zu halten. Doch die Szene ließ ihm keine andere Wahl, als Annes Worten Glauben zu schenken. Cornelia wandte den Blick sofort ab, als sie ihn erblickte. Wo sie sonst in seiner Gegenwart errötete, wich nun jegliche Farbe aus ihrem Gesicht. Ihre Augen waren fest auf Elyons Hand gerichtet, die sie krampfhaft zu umklammern versuchte. Es wurde sogar noch unangenehmer, als Caleb sich auf der anderen Seite des Bettes niederließ, um ebenfalls die Versteinerte fassungslos anzusehen. Sein Blick weilte weitaus kürzer auf Elyon, denn angesichts Cornelias Anwesenheit hatten seine Präferenzen sich ein wenig anders verteilt. Er suchte Cornelias Blick regelrecht, aber sie wand sich so geschickt aus der stummen Aufforderung, dass ihm die Peinlichkeit über blieb, sich schuldig zu fühlen. "Was gedenkt Ihr nun zu tun, Eris?", fragte er mit einer gewissen Härte in der Stimme. "Wenn ich das wüsste!", stieß sie aus, fasste sich aber sogleich wieder. "Die Königin wieder ins Leben zu holen wird eine schwierige Angelegenheit, für welche unsere verbleibende Zeit kaum ausreichen wird. Nun, da Phoebe unser gesamtes Konstrukt am wichtigsten Punkt schwer verwundet hat, wird ein Angriff nicht lange auf sich warten lassen. Es bleibt uns nichts anderes übrig, als uns weiterhin so gut als möglich vorzubereiten." "Womit wir wieder beim Ausgangsproblem wären", schaltete sich Will ein. "Wie können wir Phoebe besiegen?" Es folgte ein Moment des einträchtigen Schweigens, in dem jeder seine Möglichkeiten durchdachte. Aber niemand schien Erfolg zu haben – niemand, bis auf Cornelia, der schlagartig etwas einfiel. "Ich hab' die Lösung!" Kapitel 20: Sisters Of Earth ---------------------------- … You will probably become the one You would never want to be, the forsaken man of loneliness … Z W A N Z I G "Rück schon raus damit, Cornelia!", drängte Hay Lin. Sie hatte ihre Hände ungeduldig zu Fäusten gebannt, den Kopf nach vorne gereckt und trippelte unruhig auf ihrem Platz herum. Cornelia versuchte ihren Plan mental zu verbalisieren. Er erschien ihr so absurd, dass sie selbst kaum daran glauben konnte. Irgendwie musste sie versuchen, sich selbst sein Gelingen glaubhaft zu machen. Nur so konnten sie gewinnen. Hoffentlich. "Könnt ihr euch erinnern, als wir damals gegen Nerissa den Wettkampf veranstaltet haben, wer am meisten Herzen sammelt?" Der Zynismus ging in ihrer Euphorie beinahe unter. "Darf ich kurz einwerfen", unterbrach Irma, "dass du den Titel Miss Ich-kann-meine-Stimmung-in-Sekundenschnelle-ändern verdienst? Wie schaffst du es, so launisch zu sein?" "Übung, Irma, alles Übung. Und ich wäre die sehr verbunden, wenn du es nicht Laune, sondern spontane emotionale Kreativität nennen würdest. Jedenfalls", besann sie sich mit gesenktem Ton. "Phoebe hat kein Herz. Nur eine überdurchschnittlich große Macht. Angeblich. Wir haben das Herz von Kandrakar, was das Übermaß an Kräften auf der gegnerischen Seite kompensieren dürfte. Um den Sieg zu sichern, sollten wir ein weiteres Herz ins Boot holen." "Wen meinst du?", fragte Taranee ahnungslos wie sie war. Ihre Naivität war grenzenlos, wenn es darum ging, pragmatisch zu denken, was Cornelia in gewisser Hinsicht verstand, hatte sie doch selbst bis zur letzten Sekunde ihrer Überlegungen daran gezweifelt, derart skrupellos mit der Sicherheit ihres eigen Fleisch und Blut umgehen zu können. Doch es war, wie es war und sie hatten keine Wahl, zumal sie dieses blonde Gift damit nicht unmittelbar in Gefahr bringen würde. Während ihre Gedanken immer länger wurden und sich im Strudel ihrer Gehirnwindungen überschlugen, hatte Will das Ergebnis ausgerechnet. "Du spielst doch damit nicht etwa auf Lilian an?!", rief diese entsetzt. "Das kannst du echt nicht bringen! Cornelia, sie ist deine Schwester! Auch wenn ihr eure Zwistigkeiten habt, du kannst sie doch nicht umbringen! Wir dürfen sie da nicht mit hineinziehen!" "So meinte ich das auch nicht. Wenn Lilian uns ihre Kraft freiwillig temporär überlässt, wären wir ziemlich im Vorteil, nicht wahr? Denkt doch mal nach. Das würde uns mit Sicherheit eine gewisse günstige Ausgangssituation sichern. Lasst euch das durch den Kopf gehen", beschwor sie, die Stimme senkend und langsamer werdend. "Wenn wir Lilian auf unserer Seite haben, ist der Krieg so gut wie gewonnen." "Große Töne und womöglich zu gewagt, den Triumph nur an einem einzigen Faktor festzumachen, aber die Idee klingt plausibel." Sie hatten sich mit dem Einfall sofort an Eris gewandt, die während Elyons Indisposition sämtliche organisatorische Aufgaben innehatte. In Elyons Notfallplan war nämlich eindeutig vermerkt, dass die Wächterinnen im Falle einer Ausnahmesituation das Kommando über sämtliche militärischen Belangen erhalten sollten, alle verwaltungstechnischen Fragen jedoch an Eris überstellt werden mussten. Diese war zwar nicht vollkommen überzeugt von dem Plan, den die Damen hatten, doch sie sah keine andere Möglichkeit. "Euch in einer solch misslichen Lage Meridian verlassen zu sehen, weckt nicht gerade Begeisterungsstürme in mir, wie ich zugeben muss", sagte sie, die Finger an die Schläfen gepresst. "Aber angesichts der Wichtigkeit dieses erfolgversprechenden Plans muss ich euch sogar bitten, ihn so schnell als möglich in die Tat umzusetzen. Jedoch habe ich eine weitere Bitte." Sie machte eine kurze Pause, ohne recht zu wissen, ob sie diese Bitte wirklich aussprechen sollte. "Geht nicht alle in eure Welt zurück. Wir brauchen euch hier dringender als jemals zuvor. Meridian ohne euren Schutz zu lassen, würde Phoebe zu Recht dazu veranlassen, den Sieg schon als ihr Eigen anzusehen." "Ich muss in jedem Fall mitgehen", erklärte Will. "Ohne das Herz von Kandrakar können wir nicht zwischen den Welten wechseln. Und Cornelia muss mit, weil es immerhin ihre Schwester ist." "Das könnte ein Problem werden", beharrte Eris nachdenklich. "Ohne das Herz von Kandrakar ist Meridians Abwehr nicht stark genug. Sollte Phoebe wirklich angreifen, wenn ihr auf der Erde seid, dann…" "Schon gut!", unterbrach Cornelia ungeduldig. Sie hatte die Arme ungeduldig vor der Brust verschränkt. "Ich gehe alleine. Elyon kann Portale kreieren, das ist sicher. Sie hat mir, als wir uns das letzte Mal vor fünf Jahren sahen, anvertraut, dass sie ihre Kräfte gespalten und auf Artefakte verteilt hat. Sie sagte, sie könne nicht schlafen, wenn so viel Kraft in ihr herrscht. Das mache sie unruhig. Die Artefakte wollte sie nach ein paar Jahren zerstören, sobald sie sich an ihre Macht gewöhnt hatte. Wenn diese Gegenstände noch existieren, woran ich keinen Zweifel habe, brauchen wir nur herauszufinden, welches die Fähigkeit beherbergt, Portale zu kreieren. Voilà, somit hätten wir die Lösung. Ich husche schnell nach Hause, hol mir Lilians Kräfte und komme sofort wieder her. Das wird keine Stunde dauern." "Alleine lasse ich dich nicht gehen", wandte Will ein. "Ich kann schon auf mich aufpassen. Phoebe treibt ihr Unwesen nur hier, in Heatherfield bin ich also sicher. Wir dürfen keine Zeit verlieren. Ich werde mich sofort auf den Weg machen." Cornelia ging schnellen Schrittes, ohne Einwilligung oder Verbot abzuwarten, in Elyons Gemach. Ihr Anblick war noch immer erschütternd, beklemmend und trostlos. Ihre einst beste Freundin starr aufgebahrt zu sehen, versetzte Cornelia einen Schlag in die Magengrube. Doch nun war nicht die Zeit für Sentimentalitäten. Sie kannte Elyon gut genug, um zu wissen, dass sie lieber einmal zu langsam als zu schnell machte, was sie als Königin in Kriegsphasen nicht unbedingt zum Ideal machte, doch das sei dahingestellt. Die kleine Frau mit der schmalen Krone am Haupt war im Grunde ihres Wesens noch immer ein unsicheres Schulmädchen. Ihre Kräfte mussten enorm sein, so viel stand fest. Deswegen war Cornelia sich auch sicher, dass Elyon niemals in den paar Jahren den Mut aufgebracht haben konnte, sich das volle Ausmaß ihrer Kräfte zu eigen zu machen. Aber sie kannte sie auch gut genug, um zu wissen, dass sie sehr vorsichtig war. Daher war das erste Artefakt, das ihr ins Auge fiel, ein Goldring mit einem eingefassten Opal. "Was bist du wohl?", fragte Cornelia den Ring, ohne natürlich eine Antwort zu erwarten. "Ich tippe auf einen Ring." Sie zuckte zusammen. Die Stimme kannte sie allzu gut. Caleb. Aber wie sollte sie sich nun verhalten? Befangen sein – ihn ignorieren – einen Scherz machen? Sie entschied sich spontan für letzteres: Überspielen der Peinlichkeit mit einem Witz. "Huch, ich dachte nicht, dass du mir wirklich antwortest, Ring. Wie viel Karat hast du denn?" "Lustig, Cornelia. Wirklich lustig", meinte Caleb nur trocken. "Was soll ich deiner Meinung nach sonst tun?", fauchte sie halblaut. "Weinen oder dir vor die Füße fallen? Kannst du haben. Ich kann dir auf Knopfdruck jede Emotion liefern, die du willst." "Oh, wir werden sarkastisch?" "Eher zynisch", korrigierte sie ebenso trocken. "Sonst noch was? Du siehst ja, ich habe zu tun." "Ja, da wäre noch etwas." Er schloss in sich gehend die Augen. Es fiel ihm sichtlich schwer, die kommenden Worte auszusprechen. "Will hat mich von deinen Absichten informiert und mich gebeten, dich zu begleiten." Cornelia klappte die Kinnlade herunter. In seinem Ton hatte eindeutig Widerstreben gelegen, doch sie wusste nicht recht, woher es kam. Unangenehm war es ihm sicherlich, doch aus welchem Grund? "Will also", meinte sie mehr zu sich selbst als an die Öffentlichkeit gerichtet. Ob es nun eine billige Ausrede war oder Wills nach außen gekehrte Verschlagenheit, ließ sich von hier aus nicht feststellen. In beiden Fällen hatte entweder der eine oder die andere die Wahrheit gut verschleiert, sodass Cornelia sich damit zufrieden geben musste, im Ungewissen zu verweilen. Sie würde sich damit abfinden, dass es ihr egal sein musste. Nichts war leichter als Caleb zu ignorieren. "Von mir aus", entschied sie schließlich für sich. "Soll mir recht sein. Aber erst muss ich Elyons Portal-mach-Ding finden." Wie aus Zaubermund gesprochen, begann der Ring plötzlich in allen physikalisch möglichen und unmöglichen Farben zu leuchten. Vor ihm tat sich ein reißerischer blauer Wirbel auf, durchzogen von glitzernden Fäden aus facettenreichen Farben des Lichtspektrums. Wo sich das Licht bündelte, streiften weißleuchtende Blitze durch das Portal. "Ich korrigiere mich. Ich hab es gefunden. Hoffentlich führt es auch wirklich nach Heatherfield." Sie sah Caleb an, der das Portal misstrauisch beäugte. "Nach dir?" "Wie wäre es mit gemeinsam? Wenn das Portal uns vernichtet, muss wenigstens keiner Schuldgefühle haben." "Wie du meinst." Sie war überrascht, wie sehr sie dieses gemeinsam freute. Dass es nach ihrer Aktion überhaupt noch ein gemeinsam geben würde, egal in welcher Form, war ihr bis zu diesem unheilvollen Zeitpunkt unvorstellbar gewesen. Ohne nachzudenken nahm Cornelia Calebs Hand. Ihr war flau im Magen beim Gedanken daran, dass das Portal womöglich eine Fehlkonstruktion war, doch mit Caleb an ihrer Seite fühlte sie sich, als könne sie alles schaffen – ach, wie melodramatisch und kitschig sie sich in ihren Gedanken anhörten! War ja fast schon peinlich. Sie schüttelte klärend ihren hübschen Kopf, der nach dieser riskanten Reise hoffentlich noch ein hübsches Kopf bleiben würde. Es war schon einmal passiert, dass die Portale zwischen den Dimensionen einige Streiche gespielt hatten. Calebs Hand war keine Lebensversicherung, aber es fühlte sich besser an, wenigstens nicht alleine sterben zu müssen. Reizende Gedanken, Cornelia. Caleb hingegen wusste erst gar nicht, wie er sich fühlen sollte. Also entschieden beide ohne große Worte, im Gleichschritt durch das Portal zu gehen. Cornelias Augen waren geschlossen, als sie es durchschritt. Sie wagte auch nicht, auch nur eines zu öffnen, ehe sie nicht festen Boden unter den Füßen spürte. Ihr Vorhaben musste jedoch schnell wieder überdacht werden, denn festen Boden spürte sie auf der anderen Seite des blauen Strudels nicht einmal annähernd. "Wo sind wir?", fragte sie, ohne die Augen aufzumachen. "Keine Ahnung…", meinte Caleb fassungslos. "Aber ist es normal, dass in Heatherfield tonnenschwere grüne Schleimschnecken herumkriechen? Und die meterhohen violetten Bäume sind mir auch noch nie aufgefallen." "Schnecken? Tonnenschwer? Oh, Himmel, wo sind wir gelandet?", rief sie panisch. Sie wollte erst gar nicht sehen, in was für einer Welt sie sich befand. Die Augen fester zusammenkneifend festigte sie ihren Griff um Calebs Hand. "Oh, nein! Da sind tausende von den Viechern, sie kommen auf uns zu! Und der Sumpf, in dem wir stecken, ist Treibsand!" "Wir werden sterben, verdammt! Ich will nicht sterben!", kreischte Cornelia hysterisch. Sie warf sich Caleb um den Hals, presste sich an seine Brust und bat Gott um Vergebung. "Das kann nicht unser Ende sein, nein, niemals, bitte nicht!" Bevor ihr jedoch die Tränen kamen, beschloss sie großen Mutes, die Augen doch noch zu öffnen, um wenigstens das zu sehen, was sie attackieren würde – und was sie sah, war Heatherfields rostbraune Stahlbrücke. "Du!", schrie sie wütend und stieß Caleb um. Sie standen etwa brusthoch in dem breiten Fluss, der sich vor der Stadt seinen Weg durch die Landschaft grub. "Reg dich ab, war doch nur Spaß", lachte Caleb. Doch für Cornelia war das ganze weniger lustig als peinlich. Mit Todesblick bewaffnet zog sie ihm mit ihrem Fuß die Beine weg und tauchte ihn unter Wasser. "Da hast du deinen Spaß! Ich hoffe, für dich ist es so lustig wie für mich!" Sie ließ nach ein paar Sekunden von ihm ab, nur um ihm beleidigt mit verschränkten Armen den Rücken zuzuwenden. "Schnecken", murmelte sie düster. "Ich hätte wissen müssen, dass da was faul ist." Mühsam watete sie durch das Wasser zum Ufer. Wenigstens hatte Caleb einen unverbindlichen Witz gemacht. Das war immerhin die Versicherung, dass er sie nicht abgrundtief hasste. "Und was jetzt?", fragte er, als er aufgeholt hatte. "Da mein Handy durch diese unglimpflich verlaufene Aktion nicht einsatzfähig ist, fahren wir direkt zu Lilian. Es ist Donnerstag und Vormittag. Vermutlich ist sie in der Schule. Wir müssen uns ein Taxi rufen –" Sie stockte. "Mit keinem Telefon. Na, großartig. Sieht aus, als wären wie gezwungen, Richtung Innenstadt zu laufen, bis wir eine Telefonzelle finden oder so was ähnliches. Ich hoffe, so was gibt es noch." Sie hatten Glück – man mochte es kaum für möglich halten. Als sie den Stadtrand Smalltalk machend erreichten, erwischten sie – wenn auch eher rüpelhaft – gerade noch rechtzeitig einen Bus, der halbwegs in die richtige Richtung fuhr. Weniger Glück hatten sie, als der Fahrer ihre Ausweise sehen wollte und Caleb, der im Gegensatz zu Cornelia kein Studentensemesterticket vorweisen konnte, zwei Blocks vor der Sheffield High School lautstark aus dem Bus geworfen wurde. Cornelia hoffte nur, dass er sich den Weg irgendwie erfragen würde. Sie selbst war durch das Geschrei des Buschauffeurs so perplex gewesen, dass sie zu spät auf die Idee gekommen war, ebenfalls auszusteigen. Doch sie brauchte nicht lange, um Lilian eine höhere Priorität zuzuweisen als Caleb. Fürs erste zumindest. Lilian Hale, zwölf Jahre alt und schlecht gelaunt, saß nichts von alledem ahnend im Klassenzimmer des Gymnasiums, dessen dritte Klasse sie seit einem halben Jahr besuchte. Ihre schlechte Laune hatte zwei Gründe, die beide sehr gut waren: Erstens, ihre große Schwester hatte sich seit über einem Monat nicht gemeldet. Das nahm sie ihr übel. Zweitens, nachdem Cornelia, der Grund für die permanente Missstimmung ihrer Mutter, außer Haus war, hatte sich Elizabeth Hale daran gemacht, ebendiese an ihrer zweiten Tochter auszulassen. Das an und für sich war schlimm genug, doch heute Morgen war der alltägliche Streit eskaliert und Elizabeth Landon, eine normalerweise besonnene und liebevolle Frau, hatte das erste Mal in ihrem Leben die Absicht gehegt, Gewalt gegen eine ihrer Töchter auszuüben. "Lilian!" Die Gerufene schrak aus ihrer Lethargie, die sie an ihren Sessel band, während ihre Schulkameraden in der Pause herumtobten. "Cornelia!" Weinend sprang Lilian auf und warf sich ihrer großen Schwester in die Arme. "Was ist denn los mit dir? Du bist ja ganz verstört." Beruhigend tätschelte Cornelia der Weinenden den Kopf. Lilians Tränen waren groß, ihr Schluchzen war herzzerreißend. Sie klammerte sich mit den zarten Händen in den Pullover ihrer großen Schwester, der sie gerade einmal bis zur Brust ging. "Schwesterchen, beruhige dich doch. Wieso weinst du?" In dem Moment kam eine Lehrerin und unterbrach Cornelias besorgte Fragerei. "Gibt es Probleme?" "Sie ist meine kleine Schwester", erklärte Cornelia etwas verwirrt. "Lilian hat mich vorhin angerufen und mich gebeten, sie abzuholen. Sie meinte, es ginge ihr nicht gut. Würden Sie sie für den restlichen Tag vom Unterricht entschuldigen?" "Selbstverständlich. Ich hoffe, es ist nichts Ernstes?" "Bestimmt nichts, was sich nicht beheben lässt." Milde lächelnd schob sie Lilian den Gang entlang, welche ihre Arme noch immer um Cornelia geschlungen hatte. Als sie auf einer Bank im Schulhof saßen, wagte sie einen neuen Versuch, das Weinen zu stoppen: "Lilian, Schatz, hör bitte auf zu weinen. Erzähl mir lieber, was passiert ist. Hat dich jemand geärgert?" "Mum", presste Lilian schluchzend hervor. "Was ist mit Mum? War sie gemein?" Lilian murmelte etwas, das sich anhörte wie Schlüssel. "Was hat sie mit den Schlüsseln gemacht?" "Schüssel!", rief Lilian. Sie hatte endlich aufgehört, zu schluchzen, auch wenn ihr die Tränen weiterhin unaufhörlich die Wangen herab kullerten. "Wir haben gestritten, weil ich mein Müsli nicht essen wollte. Da war Halbfettmilch drinnen – aber die ist eklig! Da ist sie ausgerastet und hat die Schüssel mit den Cornflakes nach mir geworfen!" Sie schniefte, ehe sie weiter sprach. "Dann ist sie weinen zusammengesunken und ich bin weggerannt." "Warte", unterbrach Cornelia sie fassungslos. "Sie hat was? Ist die verrückt geworden? Sie hat eine Schüssel nach dir geworfen? Die aus Keramik, aus denen du immer isst?" Lilian nickte. "Das ist nicht wahr. Jetzt dreht sie völlig ab. Ich denke, es ist an der Zeit, ihr ein paar Takte zu sagen. Hat sie dich getroffen?" "Nein", meinte Lilian. Sie wischte sich die neuen Tränen aus dem Gesicht. "Ich glaube auch nicht, dass sie mich treffen wollte. Sie hat sich entschuldigt und hat ausgesehen, als wäre sie völlig fertig." "Wann war das? Heute Morgen?" "Vor zwei Stunden." Cornelia wusste nicht, was sie sagen sollte. Ihr Verstand wollte nicht arbeiten, er fühlte sich taub an. Ihre Mutter – ihre eigene Mutter, die sie einst so geliebt hatte. War es die Huntington, die sie langsam dahinraffte? Genau danach hörte sich Lilians Erzählung nämlich an. "Du kommst mit mir mit, Lilian", beschloss sie schließlich. "Wir fahren in meine Wohnung, wo du dich erst einmal erholen kannst. Ich werde heute mit Mum sprechen und fragen, was los war. Vielleicht gibt es eine vernünftige Erklärung dafür. Die gibt es sicherlich." Sie saßen noch eine Weile still da, Lilian schluchzend, ehe Caleb abgehetzt durch das Tor gelaufen kam und keuchend etwas von dummen Kreuzungen keuchte. "Hast du ihre Kr–" "Nicht jetzt, Caleb", unterbrach ihn Cornelia schneidend. "Gehen wir jetzt zu mir? Lilian?" Sie nickte schwach, während die Tränen noch immer kullerten. In allgemein gedrückter Stimmung rief Cornelia vom Münztelefon vor der Schule ein Taxi, hob ihr restliches Geld vom gegenüberliegenden Bankomaten ab und verfrachtete sie alle erleichtert in das Auto, als es endlich kam. Die schweigsame Fahr dauerte nicht lange, da zu so früher Stunde kaum Berufsverkehr herrschte. In wenigen Minuten waren sie in der kleinen Wohnung angelangt, in dessen Flur der Anrufbeantworter hektisch blinkte. "Was ist das?", wollte Caleb wissen. Er deutete auf den rot blinkenden Knopf, den Cornelia beinahe übersehen hätte. "Telefonische Nachrichten. Wenn niemand rangeht, zeichnet er das auf, was die Leute sprechen. Nanu, das ist die Nummer des Krankenhauses. Und die meines Vaters." "Darf ich kurz äußern, dass ich es sehr bedenklich finde, dass du die Telefonnummer der örtlichen Klinik auswendig kennst?", meinte Caleb mit hochgezogener Augenbraue. "Haha", machte sie trocken. "Ich musste im Sommer ein Praktikum dort machen und wenn die Nummer auf meinem Display erschienen ist, dann hieß das selten Gutes für mich. Vielleicht habe ich irgendwelche Sachen dort vergessen? Oder ich war so gut, dass sie mich wieder haben wollen?" Gedankenverloren drückte sie die Abruftaste. "Nachricht eins. Sechsundzwanzigster Jänner, ein Uhr fünf. Cornelia, hier spricht dein Vater. Ruf bitte sofort zurück, wenn du das hörst! Ruf aber die Nummer an, unter der ich dir das hinterlassen habe mit der Zusatzziffer acht! Was? Oh, die Schwester sagt gerade, du musst die sieben wählen, nicht die acht. Sieben, hast du verstanden? Ruf zurück, sobald als möglich! Ich hab dich lieb!" Die nächste Nachricht war von einer Frauenstimme hinterlassen worden. "Nachricht zwei. Heute, siebenundzwanzigster Jänner, um zehn Uhr zwei. Dies ist eine Nachricht für Miss Cornelia Hale. Miss Hale, hier spricht Valentina Garcia vom Heatherfield Mercy Hospital. Wir bitten Sie uns so schnell als möglich zurückzurufen." Irritiert fasste Cornelia sich an die Stirn. "Interessant … und besorgniserregend." Mit einer bösen Vorahnung wählte sie die Nummer des Krankenhauses. Das konnte nur Schlimmes bedeuten … vielleicht hatte sie dasselbe wie ihre Mutter. Die Chancen standen hoch, dass sie ebenfalls an Huntington litt. Es ertönten zehn Freizeichen, ehe eine Dame den Hörer abnahm. "Heatherfield Mercy Hospital, Sie sprechen mit der Rezeption, was kann ich für Sie tun?" "Mein Name ist Cornelia Hale. Sie haben mir eine Nachricht hinterlassen –" "Warten Sie einen Moment. Doktor Landon?", rief die Dame, den Hörer abgedeckt haltend. "Miss Hale für Sie!" Nun war Cornelia ganz verwirrt. "Ah, Miss Hale, schön Sie zu hören. Wir möchten gerne einen Bluttest mit Ihnen machen. Ihr Vater ist sehr besorgt, darum wäre es das Beste, wenn auch Sie und Ihre Schwester sich auf Huntington testen lassen würden." "Wie bitte? Wieso so plötzlich?" "Hat Ihr Vater es Ihnen noch nicht gesagt?", fragte Dr. Landon arglos. "Nun, dann ist es wohl besser, ich hole ihn ans Telefon. Harold! Deine Tochter ist dran!" "Cornelia, Schatz? Endlich rufst du an! Ich habe versucht, dich auf deinem Handy zu erreichen, aber du bist nicht rangegangen!" "Entschuldige, Dad, ich hatte es nicht bei mir und war auch nicht zuhause. Was ist los? Geht es dir gut? Ist was mit Mum?" Er seufzte. Harolds Stimme wirkte müde. "Ich denke, das sollten wir persönlich besprechen. Kannst du herkommen?" "Dad, tut mir ehrlich leid, aber ich …" Sie musste all ihre Kraft aufwenden, um diese harten Worte zu sagen. "Ich kann nicht kommen. Derzeit geht es bei mir drunter und drüber. Meine Freunde brauchen dringend meine Hilfe." "Aber deine Mutter –" "Ich würde wirklich sofort, wenn ich könnte, glaub mir!", unterbrach sie ihn. "Ich weiß, zwischen euch ist es nicht so gut gelaufen in letzter Zeit, aber dass sie so grausam zu dir war, hat seine Gründe. Du musst verstehen …" "Dad, ich verstehe es ja", unterbrach sie ihn wieder. "Ich studiere Psychologie, ich kenn mich aus mit Huntington und ich bin ihr auch deswegen nicht böse, aber ich kann wirklich nicht." "Cornelia!", fuhr Harold sie unwirsch durchs Telefon an. Seine Stimme donnerte durch die Telefonleitungen an Cornelias Ohren, die erschrocken zusammenzuckte. Sie trieb ihr Tränen in die Augen. "Sie ist deine Mutter, verdammt! Sie hat ein Recht darauf, von dir auch so behandelt zu werden! Deine Freunde mögen dir eine Art Familie sein, aber wir sind deine richtige Familie! Lizzy braucht dich – und ich brauche dich! Ich schaff das nicht alleine, Cornelia. Bitte." Cornelias Hände begannen unkontrolliert zu zittern, sie selbst begann zu schluchzen und ließ den Hörer fallen, während ihre Knie nachgaben. Der Boden, auf dem sie ihres Schwächeanfalls wegen landete, wäre härter gewesen, hätte Caleb sie nicht halbwegs aufgefangen. Doch es wäre egal gewesen, denn das erste Mal in ihrem Leben spürte sie nichts. Hätte sie ein Zug überfahren, sie hätte es nicht gemerkt. Ihr ganzer Körper war von einer Taubheit befallen. Nur das leise Schluchzen und Zittern sagten ihr, dass sie noch lebte. Aus dem Hörer neben ihr drang Harolds besorgte Stimme. Caleb griff nach ihm und drückte ohne groß zu überlegen den Anruf weg. Seine Sorge galt ausschließlich Cornelia, was ihr Vater für Probleme hatte, interessierte ihn nur wenig. "Cornelia, es wird alles gut, okay?" Caleb war ratlos. Er wollte helfen, doch mehr tun als ihr gut zureden konnte er nicht. "Das ist der Stress", meinte er nach einer Zeit. "Dir wird das alles zu viel. Vielleicht solltest du aussteigen, und dich um deine Mutter kümmern? So kannst du nicht kämpfen." Calebs Stimme wurde immer dumpfer, als stünde er in einem Tunnel, zu dem sie Abstand gewinnen würde. Dann wurde ihr schlecht. Mühsam versuchte Cornelia sich aufzurappeln, sie brachte nicht genügend Kraft auf. Es kam alles zusammen. Ihre Mutter, ihr Vater, Meridian, Caleb, Elyon. Alles um sie herum schien zusammenzubrechen. Und sie selbst auch. Entschlossen schüttelte sie den Kopf. "Nein", sagte sie mit fester werdender Stimme. Sie ließ sich von Caleb aufziehen und atmete tief ein und aus. "Ich bin keine vier mehr. Ich schaff das. Ich kann kämpfen und ich werde kämpfen. Resignieren gilt nicht mehr." Caleb hielt ihre Hand stützend fest. "Ich verstehe nur nicht, wieso alles immer puzzelartig passiert. Wie eine Telenovela. Als würde alles Unglück nur darauf warten, dass wir eine Lösung haben, die es zerstören kann. Das ist doch nicht normal! Wie viel Pech kann ein Mensch bitte haben?" "Du solltest wirklich eine Auszeit nehmen", riet Caleb erneut, diesmal mit Nachdruck. "Bringt nichts", versetzte sie steif. "Huntington Chorea ist eine unheilbare fortschreitende Krankheit mit tödlichem Verlauf. Ich musste mal ein Referat darüber schreiben. Die Krankheitssymptome sind unter anderem fehlende Kontrolle über Mimik und Motorik, Depressionen und Beschwerden beim Sprechen und Schlucken. Der Verlauf zieht sich über fünfzehn bis zwanzig Jahre hin. Und sie wird mit fünfzigprozentiger Wahrscheinlichkeit vererbt." "Soll das heißen, du …" "Nein. Man hat Lilian und mich mit jeweils zehn getestet. Wir sind beide negativ. Darum ist es für Mum auch so schwer. Sie freut sich darüber, dass ihre Kinder wenigstens eine heile Zukunft vergönnt ist, aber sie steht in unserer Familie alleine da. Sie will sich nicht von außen helfen lassen und wir können nichts tun." Lilian hatte von der Szene nicht viel mitbekommen. Sie war schlecht gelaunt sofort in Cornelias Zimmer gegangen, in dem sie über Kopfhörer laut Musik hörte. "Wir holen Lilians Kräfte, dann schicke ich sie zu Dad ins Krankenhaus und danach machen wir uns wieder auf den Weg nach Meridian. Sie brauchen uns." "Bist du sicher, dass du –" "Ja", sagte Cornelia bestimmt. "Es geht mir gut. Ich komme schon damit klar. Größere Sorgen mache ich mir um Lilian." Mit diesen Worten klopfte Cornelia sachte an ihre Zimmertüre und trat ein, nachdem sich nach zwanzig Sekunden niemand gemeldet hatte. "Lilian? Hey, Schwesterchen, ich muss mit dir reden." Sie deutete ihr, die Kopfhörer abzunehmen. "Was ist denn?" "Kannst du dich an die Geschichte erinnern, die ich dir erzählt habe, als du sieben Jahre alt warst?" Lilian überlegte kurz, schüttelte dann aber irritiert den Kopf. "Sie handelte von Prinzessin Lilian –" Doch ihre Schwester unterbrach sie: "Geht es dir nicht gut?" Cornelia verneinte schnell, aber das fahle Gesicht und die herunterhängenden Mundwinkel straften ihre Worte Lüge. "Was ist los? Bist du krank? Hat der Kerl dir was getan?" "Nein!", rief Cornelia schnell. "Caleb hilft mir. Er ist mein Freund. Mir geht es wirklich gut – ah, wir waren bei der Geschichte. Das ist wichtig. Hör mir bitte gut zu, Schwesterherz." Sie machte eine kurze Pause, um sich zu sammeln. "Prinzessin Lilian ist eine mächtige Königin in einem Königreich, das unserer Erde gar nicht unähnlich ist. Sie ist weise und hat unglaubliche Kräfte. Aber diese Kräfte werden anderswo gebraucht, um einem anderen Königreich zu helfen. Es ist in Not. Deswegen muss Königin Lilian einer ihrer Vertrauten ihre Kräfte leihen." "Willst du mich für dumm verkaufen?", fragte Lilian skeptisch. Sie zog beide Augenbrauen hoch. "Wieso sollte die Königin ihre Kräfte hergeben? Sie sollte selbst in den Kampf ziehen! Dann würde das andere Reich in ihrer Schuld stehen!" "Das wäre sehr egoistisch, nicht wahr?" "Vermutlich", stimmte Lilian nachdenklich zu. "Aber sie ist die Königin. Sie darf das." Cornelia zwang sich zu einem Lächeln. "Findest du nicht, dass gerade eine Königin frei von Torheiten und Lastern sein sollte, um den Untertanen ein gutes Vorbild zu sein?" "Bitte!" Die Jüngere machte eine wegwerfende, genervte Geste. "Also, was macht sie denn, um den schwersten Fehler ihres Lebens zu begehen? Was für eine dumme Geschichte …" "Lilian!", mahnte Cornelia streng. Sie fasste sich erschöpft an den Kopf. "Okay, gehen wir das ganze anders an. Nehmen wir an, du würdest große Kräfte besitzen –" "Wie die Königin?" "Haargenau dieselben. Und nehmen wir an, du könntest noch nichts damit anfangen, weil du sie noch nicht beherrschen kannst. Würdest du dann die Güte erweisen, allmächtige Lilian Hale, und mir deine Macht für ein paar Tage borgen? Und bevor du aus Prinzip nein sagst, denk daran, wer dir sonst immer seine Sachen leiht." "Schon gut, schon gut! Also, wenn das wahr wäre, dann würde ich es tun." "Sag es." Genervt und verwirrt von diesem seltsamen Spiel verschränkte Lilian die Arme vor der Brust. "Ich, Lilian Hale, borge dir, Cornelia Hale, meiner großen Schwester, meine Kräfte. Was auch immer sie sind und was auch immer sie tun, wenn du mir schwörst, sie zurückzugeben." "Ehrenwort." "Sind wir hier fertig? Das ist nämlich echt abgedreht …" Cornelia wusste nicht, ob sie fertig waren, denn sie spürte rein gar keine Veränderungen in ihr oder um sie herum. Doch mehr als eine Erlaubnis zu bekommen, versprach sie sich nicht von der gegenwärtigen Situation, dafür war sie selbst mit den Nerven viel zu sehr am Ende. Begutachtend blickte sie auf ihre Hände hinab, deren Handflächen sie nach oben gedreht hielt, als könne sie dadurch Erleuchtung erlangen. Lilian war nicht sonderlich ernst gewesen, hatte es also womöglich gar nicht erst funktioniert? Fragend sah sie zu Caleb, der unwissend die Schultern zuckte. Er hatte noch nie dem 'Ritual' einer derart wertvollen Leihgabe beigewohnt, wie also hätte er wissen können, ob der Plan aufgegangen war? Cornelia wusste selbst nicht, was sie erwartet hatte. Schillernde Lichtkreisel, mysthische Farbenwirbel, epische Musik im Hintergrund, begleitet von einem Engelschor? Ob es vollbracht war oder nicht, mehr konnten sie nicht tun. "Ich ruf dir ein Taxi und schicke dich zu Dad." Ohne große Widerworte wurde das Gesagte in die Tat umgesetzt und wenig später verabschiede Cornelia, die Finger um eine dampfende Tasse Kaffee geschlungen, ihre Schwester mit einem Kuss auf die Stirn und einem 'Pass auf dich auf'. "Willst du jetzt weinen?", fragte Caleb, der sich die ganze Zeit über im Hintergrund aufgehalten hatte. "Nicht zwingend." Sie ließ sich neben ihm auf der Wohnzimmercouch nieder, den Blick gesenkt. "Ich habe in letzter Zeit zu oft geweint. Dass Mum krank ist, weiß ich seit Jahren. Es ist keine Überraschung." "Aber jetzt ist es schlimmer geworden mit ihrem Zustand." "So ähnlich. Sie haben es mir vor acht Jahren gesagt, besser gesagt, ich habe sie eines Nachts belauscht, als ich nicht schlafen konnte. Nachdem sie mich bemerkt hatten, mussten sie mich aufklären. Damals war Mum Anfang dreißig. Die Krankheit bricht zwischen dreißig und vierzig aus. Es hat lange gedauert, bis die Symptome schlimmer wurden und nun hat sie scheinbar einen heftigen Schub bekommen. Unser angespanntes Familienverhältnis hat sicherlich auch nicht gerade dazu beigetragen, ihren Zustand zu verbessern. Ich hätte mehr darauf achten sollen …" "Mach dir keine Vorwürfe. Wir sollten fürs Erste wirklich hierbleiben. In deiner Verfassung nützt du keinem." "Nein", lehnte Cornelia vehement ab. "Sie brauchen uns. Lilian hat mir das Herz der Erde gegeben, damit haben wir eine Chance. Wir brechen sofort wieder auf." Caleb wollte bereits weiteren Einspruch erheben, doch er sah Cornelias entschlossenen Blick. Sie war nicht der Typ, der sich verkroch und seine Wunden leckte. Sie trat dem Schmerz lieber gegenüber und bekämpfte ihn. Nun empfand sie nicht nur Schmerz, sondern auch Schuldgefühle, und diese Kombination konnte nur dadurch gelindert werden, dass sie sich nützlich machte. "Dann öffne das Portal." Cornelia nickte, streckte ihre Hand aus und versuchte sich daran zu erinnern, wie sie beim Herkommen das Tot geöffnet hatte. "Cornelia? Langsam wäre es an der Zeit –" "Ich versuch es ja schon!" Sie starrte furchterfüllt auf den Ring. "Es funktioniert nicht!" Sie sahen sich entsetzt an. "Oh, nein! Wir sitzen hier fest!" Kapitel 21: Trap Snap Shut -------------------------- … I will take in all of your overflowing thoughts, rewind them like I used to do when our love did fade away … E I N U N D Z W A N Z I G "Oh, nein! Wir sitzen hier fest!" "Was meinst du mit 'Wir sitzen hier fest'?" "Dass es nicht mehr funktioniert! Hör auf den Ring von meinem Finger zu ziehen, das bringt Unglück!" "Ach, jetzt bist du plötzlich abergläubisch?" "Halt doch die Klappe!" Cornelia wehrte Calebs Hände ab, nur um ihm am Ende doch den Ring mit einem bösen Funkeln zurückzugeben. "Probier es doch, ich sage dir voraus: Es funktioniert nicht." Caleb schloss sie ignorierend die Augen, doch nichts geschah. "Wie funktioniert denn das überhaupt? Ich kann mir nicht vorstellen, wie Will das dauernd macht." "Gib schon her!" Ungeduldig entriss Cornelia ihm den Ring wieder, doch auch bei ihr tat sich nichts, das ihnen weiterhelfen konnte. In ihr stieg nur noch mehr Panik hoch. "Heute geht wohl alles schief, ich glaub es ja nicht!" Sie war den Tränen nahe – wieder einmal –, aber diesmal gab sie sich nicht der Schwäche hin. In Notsituationen hatte sie schon immer das Talent bewiesen, einen kühlen Kopf zu bewahren. "Wir sind hier also gefangen. Gefangen in der Wirklichkeit. Super." "Meridian ist auch eine Art von Wirklichkeit", wandte Caleb beleidigt ein. "Willst du echt anfangen darüber zu diskutieren, welche Welt mehr wirklich ist? Wir sollten lieber versuchen, diese hier so schnell als möglich zu verlassen. Wir fahren zu Yan Lin. Sie hat womöglich eine Idee." Hektisch packte Cornelia ihre Sachen zusammen und zog Caleb aus der Wohnung, der nachdenkend neben ihr herging. "Wieso nehmen wir nicht eines dieser gelben Autos?" "Weil ich kein Geld mehr habe. Verdammt, was machen wir denn jetzt nur?" "Erst einmal Ruhe bewahren", riet Caleb. "Wenn wir jetzt in Panik ausbrechen, dann ist keinem geholfen." "Ich breche nicht in Panik aus – sehe ich aus, als ob ich in Panik ausbrechen würde?!", kreischte Cornelia. "Tut mir Leid. Das habe ich gebraucht. Es geht mir gut." "Du hast jede Entschuldigung der Welt auf deiner Seite nach diesem Horrortag." "Danke." Sie blieb stehen und ergriff seine Hand. Schnell ließ sie sie wieder los. "Entschuldige. Ich wollte nicht…" "Schon gut." Caleb nahm ihre Hand erneut auf. "Das war ein harter Tag und eine harte Nacht. Ich weiß nicht, ob ich dir damit helfen kann, aber ich bin dir nicht böse. Ich könnte dir nie böse sein. Dass du mit Peter geschlafen hast, ist zum einen nicht von Belangen und zum anderen zum Teil auch meine eigene Schuld. Wäre ich ehrlich zu dir gewesen und hätte nicht den Beschützer gespielt, dann wäre das alles anders verlaufen. Keiner von uns sollte sich durch Nichtigkeiten dieser Art irritieren lassen." "Und wie kommst du darauf, dass mir das nicht helfen sollte?" Cornelia fiel ein so großer Stein vom Herzen, dass sie glaubte, sie würde gleich anfangen zu schweben. "Danke. Dafür und dafür, dass du für mich da bist." Er zog sie zu sich, um sie zu umarmen. Die Umarmung dauerte jedoch nicht allzu lange, denn sofort war ihre problematische Situation wieder in den Vordergrund gerückt. "Wir müssen uns beeilen. Hoffentlich kann uns Mrs. Lin weiterhelfen!" "Und du denkst, dass wir das echt tun sollten?" In Meridian hatte sich während Cornelia und Calebs Misslage ein heftiger Streit entwickelt. Taranee und Hay Lin waren der Meinung, man solle das Orakel in Kandrakar aufsuchen, um Hilfe oder zumindest etwas in der Art zu erbeten. Will und Irma waren jedoch strikt dagegen, da Phoebe ein rein meridianisches Problem war, das sämtliche anderen Welten nichts anging. "Inzwischen ist die Situation so kritisch, dass wir wohl schwerlich alleine damit klarkommen, vor allem, da Elyon nun mehr oder weniger außer Gefecht ist – nämlich eher mehr als weniger!", beharrte Hay Lin streng. Will als Anführerin war damit ganz und gar nicht einverstanden. "Papperlapapp, Problem hipp oder hopp! Fest steht, dass wir das alleine sehr gut hinbekommen können. Was soll uns das Orakel schon groß helfen? Sobald Cornelia wieder hier ist, werden wir dem Weib kräftig in den Hintern treten." "Das glaubst du doch selber nicht, oder?", fauchte Hay Lin. Die sonst so gleichbleibend gut gelaunte Wächterin der Luft war inzwischen beinahe am Ausrasten. Ihr setzte das ganze sehr viel mehr zu, als den anderen, zumal sie auch noch unter persönlichem Stress stand angesichts der Verantwortung, die sie dem Silver Dragon und Eric gegenüber hatte. "Wir brauchen Hilfe! Willst du wirklich eine Niederlage riskieren? Vielleicht kann er uns wirklich helfen!" "Kann er nicht." "Fragen kostet nichts!" "Es kostet Zeit!" "Es nicht zu tun kostet Leben!" Darauf wusste Will kein rationales Argument außer 'Aber-aber!' hervorzubringen, also stimmte sie unwirsch Hay Lins Vorschlag zu, die sich aber nur wenig über den Triumph freuen konnte. "Schön. Ich kreiere ein Portal. Eris, wir sind in fünf Minuten wieder da. Eine Verneinung wird kaum länger dauern." Sie hob das Herz Kandrakars und öffnete ein Portal, durch das sie eilig gingen. Irma erklärte sich bereit, hier zu bleiben, um den Palast nicht gänzlich schutzlos zu lassen und sie nach ihrer Rückkehr über etwaige Veränderungen informieren zu können. Die Helligkeit, die sie nach dem Durchschreiten des Portals erwartete, tat ihnen in den Augen weh. Sie hatten Kandrakar weniger strahlend in Erinnerung gehabt. Das viele Weiß machte sie für wenige Augenblicke blind, ehe sie schemenhaft die Umrisse des strahlenden Schlosses erkannten, in welchem sie das Orakel umringt von seinen Freunden und Helfern bereits erwartet hatte. "Ihr kommt spät", sagte er, ohne die Augen zu öffnen. Er saß mit entspanntem Gesicht im Schneidersitz in der Mitte der riesigen hohen Halle. "Ich hätte euch viel früher erwartet. Und ihr seid nicht vollzählig." Genervt und mit den Nerven fast am Ende konnte Will mit ihrer schlechten Laune nicht lange hinter dem Berg halten. "Sieht so aus. Uns gibt's halt nicht immer im Fünferpack. Die Inflation ist Schuld – weniger Inhalt für mehr Geld. So spielt das Leben", fauchte sie, mahnte sich aber sofort zu Ruhe und Respekt. Das Orakel öffnete nun die Augen und erhob sich leichtfüßig. "Wie ich merke setzt euch dieser enorme Druck nicht so sehr zu, wie ich angenommen hatte. Wohl wahr, es ist eine verfahrene Situation, in der ihr euch befindet. Elyons Aufgaben zusätzlich zu den euren zu übernehmen ist wahrhaftig mehr, als ihr bewältigen könnt. Wenigstens habt ihr eure Nerven noch nicht verloren. So sagt mir, wie kann ich euch behilflich sein?" Taranee übernahm schnell das Reden, ehe Will erneut mit Sarkasmus glänzen konnte. "Wir haben uns gefragt, ob Ihr uns womöglich mit einem Rat zur Seite stehen könnt." "Einen Rat?", wiederholte er langsam. "Ich denke, ich habe etwas Besseres. Wie ihr wisst, kann ich Kandrakar nicht verlassen, also musste ich warten, bis ihr zu mir kommt, um euch mein Wissen mitzuteilen." Gespannt weiteten sich die Augen der Mädchen. "Elyon ist mit einem Fluch belegt, der erst mit dem Tod seines Verursachers aufgehoben wird. Ihr kennt denjenigen, der sie verflucht hat." Wie Schuppen fiel es ihnen nun von den Augen: "Blight!" Das Orakel nickte. "In eurer Welt ist es unter dem Namen Blight bekannt, in Meridian wird er Odin genannt. Odin ist ein Traumwandler, wie ihr richtig erkannt habt. Er ist ein Meister der Verzerrung und Manipulation. Es macht ihm Freude, Menschen leiden zu sehen. Ihr habt auch sehr richtig herausgefunden, dass er Cornelia mit der Pflanze Ihalla dazu gebracht hat, ihre Empfindungen Caleb gegenüber ins Gegenteil zu verkehren. Mit dem Raub ihrer Kräfte hat er aber auch die Wirkung der Ihalla von ihr genommen, da diese immer an magische Kräfte gekoppelt sein muss. Genau das kann euch nun zum Vorteil gereichen." "Inwiefern sollte Cornelias Liebe uns denn weiterhelfen?", fragte Taranee irritiert. Das Orakel fuhr fort: "Odin hat seine ganze Strategie darauf aufgebaut, ein Glied der Kette zu zerstören. Sind eure Reihen nicht länger komplett, seid ihr für keinen mehr ein ernstzunehmender Gegner. Er wollte Cornelia verwirren, sie manipulieren und ihr so viele verschiedene falsche Gefühle indizieren, dass sie am Ende nicht mehr wissen sollte, welche Empfindungen nun ihre eigenen sind." "Das kann ihm doch egal sein", behauptete Will. "Könnte es, in der Tat, aber Odin ist, wie ich bereits sagte, ein Meister der Manipulation. Er wird einen Weg finden, um Cornelias Verwirrtheit auszunützen. Wie genau, das weiß nur er selbst, aber Phoebe wird nicht angreifen, solange die fünf Wächterinnen vereint am Leben sind. Darum müsst ihr schnell handeln." "Aber wie? Wir wissen nicht wo sich Phoebe aufhält!" Er setzte sich wieder hin und verschränkte die Arme konzentriert. "Wo sie sich aufhält, weiß niemand. Doch viel wichtiger ist es, euch nicht zu trennen. Das ist sehr riskant. Ihr müsst rasch wieder zusammenkommen. Wartet –" Er erschuf mit einer Handbewegung einen Wasserspiegel, der senkrecht in der Luft schwebte. "Seht." Sie sahen. Und was sie sahen, war ein unerfreulicher Anblick: Cornelia und Caleb auf einem Feld außerhalb Heatherfields. Ihnen gegenüber standen Blight, Collin und Ophra. "Wir müssen sofort dort hin!" Noch im Reden öffnete Will das Portal, das sie direkt nach Meridian führte, wo sie sich Irma schnappte und sofort ein weiteres Portal zurück nach Heatherfield erschuf. Cornelia und Caleb waren auf dem Weg zum Silver Dragon. Doch sie sollten nie dort ankommen. "Hast du wirklich kein Geld mehr?", fragte Caleb zum zehnten Mal. "Sieh doch in deinen Taschen nach." "Das hab ich vor fünf Minuten schon gemacht. Seitdem wird sich nicht viel geändert haben. Wenn du nur meckern kannst, dann halte bitte zehn Meter Abstand zu mir, denn du machst mich total fertig mit diesem Gezeter. Ich finde es ja auch nicht gut, dass wir zu Fuß gehen müssen, aber so ist es nun mal. Kein Geld, keine Dienstleistung. Und ich bin nicht bereit, einem perversen Taxifahrer als Bezahlung meine Brüste zu zeigen. Außerdem akzeptieren das nicht allzu viele, das habe ich vor ein paar Jahren mal versucht. Das war ein Scherz", fügte sie hinzu, als Caleb sie entgeistert ansah. "Ich bitte dich, traust du mir echt zu, dass ich einem alten, ekelhaften Taxifahrer mei–" Cornelia brach abrupt ab, als ein schwarzer Maserati an ihnen vorbeifuhr, dessen getönte Seitenscheiben zur Gänze heruntergelassen waren. Bei so einem Auto musste man natürlich einen Blick auf seine Insassen werfen und mit jedem hätte sie gerechnet, sogar mit Jake Gyllenhaal oder Tom Cruise, aber nicht mit denen, die tatsächlich im Wagen saßen. "Lilian!" Der Schreckensschrei blieb ihr in der Kehle stecken, aus der nur ein heiseres Kreischen herauskam. Der Maserati war unterdessen bereits etliche Meter weitergefahren. "War das eben Lilian?", wiederholte Caleb. "Ja! Und neben ihr saß Collin! Verdammt! Los, wir müssen hinterher!" Ohne nachzudenken griff sie sich das nächste Fahrrad, das sie zu Gesicht bekam, sprengte das Schloss mit ein paar Wurzeln und schwang sich auf den Sattel des Stadtrades, das ihr viel zu klein war. Caleb brauchte ein wenig länger, ehe er die Absperrung vom Rad seine Wahl herunterbekommen hatte und nahm mit geringer Verspätung ebenfalls die Verfolgung auf. "Da ist was faul", rief Cornelia außer Atem, nachdem er aufgeholt hatte. "Sie fahren viel zu langsam, als dass sie ernsthaft irgendwo hin wollen könnten! Das ist sicherlich eine Falle!" "Selbst wenn, wir müssen Lilian da rausholen", schrie Caleb zurück, der etliche Mühe hatte, sich auf dem Zweirad zu halten. Die mehr oder weniger spektakuläre Verfolgungsjagd fand erst außerhalb der Stadt ein jähes Ende. Es war eines der weiten Felder südlich Heatherfields, auf dem zumeist Zuckerrohr angebaut wurde. Um diese Jahreszeit war es jedoch nur mit Frost bedeckt und ein wenig widerspenstigem Unkraut. Der Wagen hielt mitten auf der Ackerfläche, als würde er sich für seine Verfolger schön ersichtlich drapieren wollen. Diese Auffälligkeit bestätigte den vorherigen Eindruck der beiden. "Sie haben uns hierher gelockt, kein Zweifel", flüsterte Cornelia. Sie ließ das Rad unachtsam fallen und ging festen Schrittes auf den Maserati zu. Es war ein Quattroporte S, ein sehr schöner Wagen, und sie hätte ihn in einer normalen Situation bewundert, doch gerade eben war sie fest entschlossen, niemals wieder einen Maserati auch nur anzusehen. Caleb folgte ihr auf den Fuß, wenn auch nicht mit solch niederträchtigen Gedanken. Ihm war die Sicherheit Cornelias wichtiger als die Lilians. Aber er wusste, dass er sich fürs Erste zurückhalten musste, denn es ging hier um ein Familienmitglied ihrerseits. Die Insassen stiegen aus dem Maserati, um ihr triumphales Grinsen zu präsentieren. Das war nicht verwunderlich, doch sehr wohl verwunderlich war, dass beide Insassen dieses Grinsen trugen – auch Lilian. Und da verstand Cornelia mit einem Schlag. "Sie ist nicht echt!", rief sie erschrocken. Wut stieg in ihr hoch. Sich so leichtfertig getäuscht haben zu lassen, versetzte ihr einen Schlag. Woher sollten sie Lilian auch herbekommen? Wie dumm war sie doch! Sie wussten doch nicht, dass sie die Kraft der Erde nicht mehr besaß und wehrlos war. "Dann sag schon, wer ist es?" Ihre Frage wurde ihr prompt beantwortet. Aus Lilian wurde Blight, auf dessen Visage das hämische Grinsen noch viel bedrohlicher wirkte. Amüsiert sah er Cornelia zu, wie ihr Blick sich von erschrocken zu abfällig verwandelte. "Tut mir wirklich leid, dich enttäuschen zu müssen", sagte er süßlich. Sein böser Gesichtsaudruck passte jedoch überhaupt nicht zu dem lieblichen Ton. "Spar deinen Atem! Was willst du?" "Dreimal darfst du raten – aber egal ob du richtig oder falsch liegst, sterben wirst du heute sowieso." "Kann ich mir nicht vorstellen." Woher Cornelia ihren Mut nahm, war klar. Obgleich sie anfangs Lilians Kräfte nicht einmal ansatzweise gespürt hatte, waren sie nun in ihrem Körper omnipräsent. Jede Faser, jede Ader strotzte vor Energie, die zu benutzen ihr ein unverschämtes Vergnügen bereiten würde. Ohne abzuwarten schnippte sie, was zur Folge hatte, dass sie breite Risse im spröden Feldboden bildeten. Aus ihnen kamen nach einer kleinen Handbewegung grüne Arme von Rankenpflanzen herausgeschossen, die sich mit aller Kraft um Collins und Blights Körper schlossen. Aber ihr siegessicheres 'Hm' wurde bereits im Keim unterbrochen. Blight schloss die Augen und spannte seinen Körper bis zum Zerreißen an – wortwörtlich. Er kauerte sich zusammen, nur um dann mit einem Schrei den ganzen Körper durchzustrecken. An den Fingerspitzen riss die Haut. Der Riss zog sich in Sekundenschnelle über seinen ganzen Körper. Dann gab es eine Explosion und vor ihnen stand, umringt von toten Ranken, ein ekelhaftes Monster. Sie erkannte dieses Vieh, seinen schuppigen Körper, die feuchten schwarzen Augen und den glatten, grauen Schwanz. Es war ein Traumwandler in seiner wahren Gestalt; ein nahezu menschlich aussehender Kopf auf einem übergroßen Salamanderkörper. "Zu hässlich für menschliche Augen, nicht wahr?", scharrte seine tiefe Reibeisenstimme, die sich nun überhaupt nicht mehr nach Dr. Harvey Blight anhörte. "Jahrhunderte lang hat man uns an den Rand der Welt gedrängt, um die Menschen vor Kreaturen wie uns zu schützen, ebenso wie unsere wahre Königin. Wir durften ein trostloses Leben in der Dunkelheit führen. Doch das hat nun endlich ein Ende!" "Ich glaube, mir wird schlecht", würgte Cornelia hervor, ohne seine Worte als angenommen zu kennzeichnen. Sie fühlte sich so überlegen, dass sie sich alles erlauben konnte. "Ehrlich gesagt, die Menschen tun ganz gut daran, Abscheulichkeiten wie dich auszuschließen! Wasch dich mal!" "Cornelia", mahnte Caleb hinter ihr zischend. Er war weniger von ihrer totalen Überlegenheit überzeugt. Aber was wusste er schon? Sie konnte diese nahezu grenzenlose Macht in sich spüren. "Ich habe keine Angst vor dir, wer auch immer du bist!" "In Meridian nennt man mich Odin. Doch du wirst wenig Gelegenheit haben, diese Information zu verarbeiten." "Große Töne für jemanden, der erst eine Falle stellen musste, um sein Opfer anzugreifen." Er ließ ein verärgertes Knurren hören, dann lief er auf allen Vieren in immenser Geschwindigkeit auf sie zu. Unter seinen mit Schwimmhäuten überwucherten Füßen bröckelte der Boden, so viel Kraft legte er in seine Schritte. Cornelia beeindruckte das eher weniger. Sie warf die Arme in die Luft und hob mit einem Ruck einen Erdbrocken hoch, der sich der Risse von vorher wegen von dem Feldboden abgetrennt hatte. Den Brocken schleuderte sie voller Wucht gegen Odin, welcher dadurch von den Füßen gerissen wurde. Er flog zur Seite, rollte über die Erde und kam einige Meter entfernt zum Liegen. Es hatte brutal ausgesehen – jeder normale Mensch hätte sich dabei alle Knochen gebrochen –, aber ihm schien es nichts auszumachen. Der Gefallene stand mühelos auf, um erneu einen Angriff zu starten, dem die überraschte Cornelia nur um ein Haar ausweichen konnte. "Verdammt", zischte sie mit einem Blick auf ihren Arm. Ein langer, blutiger Kratzer zierte ihn, denn Odin hatte sie allen Anscheins nach doch erwischt. Er tat nicht wirklich weh, zumindest nicht so stark, dass sie es unter dem Adrenalin merkte. Caleb hatte im Gegensatz zu ihr größere Probleme. Er und Collin hatten begonnen, einen unfairen Kampf auszutragen, in dem Caleb, der frei von allen magischen Fähigkeiten war, eindeutig im Nachteil war. "Schlimm, nicht wahr?", meinte Odin. "Dem Geliebten zusehen zu müssen, wie er einen Kampf bestreitet, den er ohnehin verlieren wird." Sie erwiderte den Hohn mit einem zornigen Blick aus verengten Augen. Sie kniete sich wortlos auf den Boden und ließ erneut Ranken aus ihnen sprießen. Odin wich ihnen leichtfertig aus. Aus seinem Gesicht sprach das Bewusstsein, ihr überlegen zu sein, und langsam verstand auch Cornelia, dass seine Macht viel größer war, als sie jemals angenommen hatte. Sie musste ihre Strategie überdenken. Mit diesem Ranken- und Felsbrockenwerfen kam sie eindeutig nicht weiter. Aber was sollte sie sonst tun? Sie warf einen kurzen Seitenblick auf Caleb, der sein Schwert gezückt hatte – und da kam ihr die Idee. Magisch war ich Odin auf jeden Fall ebenbürtig. Doch wie sah es körperlich aus? Sie konnte schneller fliegen als jede Schwalbe und war mit ihrem grazilen Körper weitaus wendiger als der großgewachsene, kräftige Odin. "Okay, jetzt geht's los!", beschwor sie sich selbst. Cornelia stieß sich vom Boden ab und war innerhalb eines Augenblinzelns vor Odin, der vollkommen perplex keine Chance hatte, ihren Tritt abzuwehren. Ein einfacher Tritt, fürwahr, hätte wenig bei seinem schuppigen Panzer genützt, doch Cornelia hatte das Herz der Erde und sie war immerhin ein Teil der Erde. Diese Tatsache erlaubte es ihr, um ein Vielfaches kräftiger zuzutreten, als jeder Kampfsportler es jemals gekonnt hätte. Mit diesem einen Schlag hatte sich die Tendenz völlig verändert. Hatte vorher noch Odin die Oberhand gehabt, so war Cornelia dem Sieg nun eindeutig näher. Ihre Schläge waren weitaus laienhafter, als dass sie gut ausgesehen hätten, doch sie zeigten Wirkung. Odin war nicht in der Lage, einen Angriff seinerseits zu starten. Er war viel zu beschäftigt damit, sie abzublocken. Cornelia war aber mit dieser Art von Attacken noch lange nicht fertig. Als ein besonders starker Schlag Odin von den Füßen riss, erblickte sie plötzlich einen Schuppen und der brachte sie auf eine glorreiche Idee, wie sie das hier beenden konnte. Ohne zu wissen, was sich in dem Schuppen befand, sprengte sie mithilfe einiger Pflanzenarme das Vorhängeschloss. Es schossen einige Gerätschaften auf sie zu, die sie dank der Fähigkeit der Telekinese zu sich holte. Es kam aber nur ein Gerät an: ein schwerer Sparten, den sie aus der Luft griff und auf Odin richtete. Nun zählte nur eine einzige Sekunde, in der sie den Mut haben musste, eine Kreatur zu töten. Sie holte aus – Und zögerte. Odin ergriff die Gelegenheit sofort. "Schwäche ist ein Zeichen für mangelndes Selbstvertrauen", höhnt er. "Caleb hat es dir genommen, als er eure Beziehung beendet hat, nicht wahr?" "Und wenn schon", keifte Cornelia zurück, den Sparten noch immer erhoben. "Das ist Vergangenheit." "Genauso wie deine Gefühle." Sie antwortete nicht, doch Odin merkte, wie sein Plan aufzugehen schien. "Die Liebe, die du für ihn empfindest, ist nicht echt. Ich habe sie kreiert!" "Das ist eine Lüge!", schrie Cornelia wütend. "Natürlich würdest du das gerne glauben, aber ich kenne die Wahrheit. Kennst du die Ihalla? Sicherlich kennst du sie und du weißt auch, was sie bewirkt? Die Sporen dieser Pflanze erlaubten es mir, in deine Träume einzudringen. Aber das ist noch nicht alles. Hast du dich nie gefragt, wieso sich deine Gefühle schlagartig verändert haben, als ich deine Kräfte geraubt habe? Von Hass auf Liebe in einer Minute. Das war ich. Vermischt mit Sachimsamen kehrt die Ihalla derartige Gefühle ins Gegenteil um. Es ist eine Art Liebespflanze, wenn du so möchtest. Den Menschen, den du am meisten verabscheust, wird mit den Samen derjenige, den du am meisten liebst. Aber die Wirkung hält bei meiner Dosierung nur wenige Wochen." "Du lügst!" Ihre Worte hätte Cornelia gerne mit innerer Überzeugung ausgesprochen, doch sie konnte es nicht. Es passte alles zusammen. Es bedeutete, dass das, was zwischen ihr und Caleb entstanden war, nur ein Produkt aus magischer Manipulation war. Es versetzte ihr einen so schweren Schlag, dass sie den Sparten fallen ließ. "Glaub ihm kein Wort", schrie plötzlich eine wohlbekannte Stimme hinter Cornelia. Will schloss das eben entstandene Portal und ging mit wütender Miene auf Odin zu. "Es ist genau umgekehrt. Wir haben Eris gefragt und sie sagte, dass Sachimsamen keine negativen Gefühle umkehren können. Im Gegenteil, sie kreieren sie! Deine Gefühle sind echt. Ihalla und Sachim sind magische Pflanzen, deren Wirkung sich nur an ebenso magische Kräfte binden kann. Als er deine Kräfte raubte, nahm er auch die Wirkung von dir. Alles, was du seitdem empfindest, entspringt nur deinem Inneren. Odin war nie daran interessiert, deine Kräfte zu nutzen, Cornelia", beschwor Will sie. "Es gehörte alles zu dem Plan, der heute in deinem Tod gipfeln sollte. Aber du hast deine Chance vertan, Odin! Denn nun sind wir hier!" Cornelia konnte noch immer nicht ganz glauben, was sie da hörte – und zwar weder das eine, noch das andere. Man hatte sie als Spielball missbraucht. Wieso hatte alle Welt es auf ihre Gefühle abgesehen? Was war nun Wirklichkeit, was Magie? Cornelia schloss die Augen und versuchte sich an irgendwas zu erinnern, das hilfreich war. Aber alles was sie spürte, war eine tiefe Verbundenheit zu Caleb – und das konnte sicherlich keine Magie der Welt beschwören. "Also schön", rief sie verärgert. "Du hast mich benutzt, manipuliert, beleidigt und beinahe dazu gebracht, an der Aufrichtigkeit meiner Gefühle zu zweifeln. Jetzt reicht es mir!" Mit aller Kraft streckte sie die Arme nach vorne. Sie wandte so viel Energie auf, dass ein grüner Schimmer ihre Haut umgab. Das war eindeutig das Herz der Erde. Ermutigt durch diese Erkenntnis wagte sie es, das schier Unmögliche zu tun. Die ersten paar Sekunden geschah nichts und Odin lachte bereits höhnisch los, doch das Lachen blieb ihm im Hals stecken, als sich im Umkreis von etwa zehn Meter die Erde um ihn auftat wie ein undurchdringlicher Wall. Irma, Taranee und Hay Lin, die sich inzwischen in den ungerechten Kampf von Caleb und Collin eingemischt hatten, hielten ebenso schlagartig inne, wie der nunmehr gefangene Odin. Cornelia dachte aber nicht daran, ebenfalls aufzuhören. Sie war noch lange nicht fertig. Mit höchster Konzentration zog sie die zwiebelförmige Erdmauer, die sich um Odin aufgetan hatte, enger zusammen. Inzwischen war der Eingeschlossene nicht mehr zu sehen, aber sie spürte seine Schritte auf dem Erdboden – es war überwältigend, wie viele Dinge sie dank dem Herz der Erde zusätzlich wahrnahm. Mit einem ohrenbetäubenden Beben schloss sich die Öffnung der Mauer nun gänzlich und erstarrte für einen Moment. Dann fiel das tonnenschwere Konstrukt in sich zusammen. Es begrub Odin lautstark unter sich. Der erste Sieg gehörte endlich ihnen. Zumindest dachten sie das für einen kurzen Augenblick. "Ich hätte wissen müssen, dass er versagt." Es war eine kalte, gespielt mitleidige Frauenstimme, ein bloßes körperloses Echo, das scheinbar keinen Ursprung hatte, bis plötzlich wie aus dem Nichts eine großgewachsene Frau mit dunklem Haar vor ihnen stand. "Collin!", rief sie. Mit einem Satz tauchte er neben ihr auf und ließ die Wächterinnen und Caleb mitten im Kampf einfach stehen. "Meine Königin", raunte er demütig, als er sich vor ihr hinkniete. "Steh auf, du Nichtsnutz", befahl sie verärgert. "Odin und du, ihr habt beide zu oft versagt." Es folgte ein Schnippen – ein einfaches Schnippen, mehr nicht. Aber es zeigte große Wirkung. Collin rollte sich vor Schmerzen auf dem Boden zusammen und begann zu schreien. Flammen stoben aus seinem Körper. Sie verbrannten ihn innerlich, bis er in Sekundenschnelle zu Staub zerfallen war. Entsetzt starrten die Wächterinnen die Frau an. Es konnte nur Phoebe sein. "Eindrucksvoll, nicht wahr?", sagte sie ungerührt. "Noch eindrucksvoller ist jedoch, dass ich es war, die ihn aus Wind und Feuer erschaffen hat. Seid ihr beeindruck?" "Du bist Phoebe, nicht wahr?", fragte Will überflüssiger Weise. "Sehr richtig, Mädchen. Aber ich bin auch die, die euch ein für allemal zerstören wird!" Ihr höhnisches Lachen legte sich über das kahle Feld, das nun der Schauplatz für den letzten Kampf sein würde. Das Finale hatte begonnen. Kapitel 22: Final ----------------- … You cried just now … Z W E I U N D Z W A N Z I G "Sie hat uns getäuscht!", schrie Irma verärgert. "Nein, ich habe nur meine Meinung geringfügig geändert", stellte Phoebe richtig. Ihr langes Haar, das ähnlich wie Elyons vorne zu zwei Zöpfen geflochten war, wehte im selben Takt im Wind wie auch ihre lange Robe, die in blassem Blau erschien. "Ich dachte mir: Wieso nur Meridian erobern, wenn ich die Erde auch noch haben kann? Der Plan war perfekt. Und wie leicht ihr in die Falle getappt seid, die ich sorgsam ausgelegt habe!" "Davon träumst du", keifte Irma. "Wir haben Blights oder Odins oder wessen List auch immer durchschaut!" "Was kümmert mich Odin? Er war doch nur eine Ablenkung. Egal was er tat, er tat es für sein Vergnügen. Es gehörte nicht zu dem, was ich mir für euch ausgedacht habe. Erst einmal musste ich euch irgendwie davon überzeugen, dass ich nicht am Herz von Kandrakar interessiert war und somit nicht für euch Wächterinnen eine Bedrohung darstellte, sondern für Meridian. Meridian war mir zu diesem Zeitpunkt in Wahrheit nicht wichtig. Das war es nie, um ehrlich zu sein. Was kümmert mich dieses Land, das mich verdrängt und beraubt hat? Um keine Macht der Welt würde ich über dieses niederträchtige Reich herrschen. Aber, dass alle das glaubten, war unerlässlich. Wie hätte ich sonst verbergen können, an was ich wirklich interessiert war?" "Und an was warst du interessiert?", fragte Will mit verengten Augen. Sie fixierte Phoebe, um keine ihrer Bewegungen unbemerkt zu lassen. "Wenn nicht an dem Herz und an dem Königreich, an was dann?" "Natürlich bin ich am Herz von Kandrakar interessiert! Ihr solltet nur nicht glauben, dass ich es bin. Eure erste Vermutung war ganz richtig. Odin sollte es mir beschaffen, darum schickte ich ihn und seine kleinen Freunde auf die Erde, wo sie es für mich holen sollten. Aber das funktionierte, wie ihr wisst, nicht so richtig. Stattdessen haben diese Versager ihre eigenen zwecklosen Spiele mit euch gespielt. Nachdem ihr also davon überzeugt ward, dass das Herz nicht mein Hauptziel ist, was eigentlich von alleine geschah, konnte ich mich an Ruhe daran machen, mir seine Macht zu Eigen zu machen." "Was soll das bedeuten?" Unwillkürlich umschloss Will den Kristall beschützend. Phoebe lachte amüsiert. Es echote laut im Wind wider. "Wann immer ihr die Macht des Herzens benutzt habt, habe ich einen Teil dieser Macht absorbiert. Hättet ihr gewusst, worauf ich abzielte, hättet ihr es gewiss nicht so sorglos benutzt, nicht wahr? Ihr wusstet, dass meine Kräfte an ihrem schwächsten Punkt sind, wenngleich sie auch existieren. Um sie zu regenerieren brauchte ich aber nicht das Herz von Kandrakar, nein. Ich brauchte nur seine Kraft. Und diese Kraft habe ich aus ihm herausgezogen, sobald sie durch eure Unbedachtheit freigesetzt wurde, ebenso wie ich dem Boden seinen Spirit raubte!" Cornelia erschrak. "Also konntest du auch Elyons Macht absorbieren, als ich ihren Ring aktivierte?" "Nein, denn einen solchen Ring gab es niemals!" Noch während Phoebe diese Worte aussprach, spürte Cornelia, wie der Ring an ihrem Finger verschwand. "Elyon wusste, wie gefährlich es war, solche Artefakte zu kreieren und auch ihre Berater rieten ihr damals davon ab. Was du getan hast, war nichts anderes als meine Fähigkeit, Portale zu kreieren. Es war alles Täuschung, vom Anfang bis zum Ende." "Das heißt, Meridian ist in Sicherheit?", fragte Caleb hoffnungsvoll, aber skeptisch. "Nicht ganz", meinte Phoebe geflissentlich lächelnd. "Das Herz von Kandrakar ist mein Hauptziel, aber wenn ich schon einen Krieg vorbereitet habe, wenn auch nur zur Täuschung, warum den Krieg nicht tatsächlich führen? Meridian wird sozusagen ein kleiner Bonus. Ich werde es einnehmen und dann vernichten! Inzwischen dürfte der Kampf in vollem Gange sein." "Nein!", rief Cornelia entsetzt. Sie spürte, wie Calebs Hand die ihre fasste, aber das vermochte sie nicht zu beruhigen. "Wir müssen nach Meridian!" "Aber erst", entschied Will angriffslustig, "machen wir diese Schreckschraube da vorne fertig! Wir sind immerhin sechs und sie ist eine. Das dürfte nicht schwer werden, nicht wahr?" Ohne weitere Worte zu verlieren, stürmte sie auf Phoebe zu, die allerdings wenig beeindruckt schien. Mit einem flüchtigen Schritt zur Seite wich sie aus, ohne mit der Wimper zu zucken. Nun war es an ihr, zurückzuschlagen: Sie formte einen Energieball, den sie wie zufällig auf Will fallen ließ. Als er ihre Haut erreichte, schrie sie laut auf. Der Ball war unglaublich heiß und scharf. "Ihr dachtet im Ernst, es wäre so einfach? Warum glaubt ihr, hat man meinen Bruder und mich voneinander getrennt? Meine Macht ist der seinen um ein Vielfaches überlegen, nun, da ich sie wieder habe!" Mit einem diabolischen Gesichtsausdruck ließ sie eine Vielzahl von weiß leuchtenden Energiebällen vom Himmel fallen. "Ich werde mir auch noch den Rest von der Macht holen, die mir zusteht!" "Dir steht gar nichts zu und schon gar nicht das Herz von Kandrakar!", fuhr Will sie wütend an. Sie schickte Strom durch ihre Hände und lenkte die Blitze auf ihre Gegnerin, aber diese wehrte den Angriff mühelos mit einer Wegwischgeste ab. Es schien, als wäre sie nicht einmal annähernd verwundbar. "Wir sollten es zusammen versuchen!", schlug Cornelia vor. "Aber erst musst du ein Portal nach Meridian öffnen, Will!" "Wieso?" Irma, Taranee und Hay Lin versuchten inzwischen Phoebe in Schach zu halten. "Caleb." Cornelia wandte sich ihm zu und nahm seine Hände. "Du musst ihnen helfen. Versuch Elyon aufzuwecken oder sonst was, sie brauchen dich." "Ich kann dich nicht alleine lassen." "Du musst", beschwor sie ihn mit Nachdruck. Für Liebeserklärungen blieb keine Zeit mehr. "Ich komme nach, sobald wir hier fertig sind. Vertrau mir. Meridian braucht dich mehr als wir." Will hatte indes bereits das Portal unüberlegter Weise geöffnet. Die Auswirkungen bekamen die Kämpfenden sofort zu spüren; Phoebe gewann ein wenig an Macht und die Wächterinnen hatten mehr Mühe, ihre Attacken abzuwehren oder gar eigene zu starten. "Bis später", sagte Caleb schließlich und hechtete durch das Portal. Will schloss es schnell wieder. "Und nun zu dir, du alte Hexe!", rief sie. "Jetzt, wo alle möglichen Kollateralschäden minimiert sind, können wir so richtig anfangen!" "Große Worte für eine kleine Fee!" "Wir. Sind. Keine. Feen!", brüskierten sich alle Wächterinnen zugleich. Wie auf Kommando formierten sie sich vor Phoebe. Zugleich beschworen sie ihre Elemente herauf, ohne einen echten Plan zu haben. Sie hofften einfach, dass sie stark genug sein würden, um mit ihrer magischen Kraft zu siegen. Die Elemente vermischten sich vor ihnen zu einem wuchtigen leuchtender Brocken, den sie auf Phoebe schleuderte. Ein markerschütternder Schrei erschütterte die Umgebung, als das Ungetüm auf die Gegnerin traf. "Sollte es echt schon vorbei sein?", fragte Taranee zweifelnd, nachdem es still geworden war. Phoebe lag zitternd mit verbrannter Haut auf dem Boden. "Ich denke nicht. Schau!" Will deutete auf das Feld. Wo vor Kurzem noch eine Prinzessin gelegen hatte, wand sich nun eine leere Hülle, die sich im Nichts auflöste. "Sie hat uns abgelenkt! Sie hat uns einfach ferngehalten, während in Meridian der Krieg tobt …" "Aber warum hat sie uns dann gesagt, dass sie Meridian auch angreift?", warf Taranee ein. "Das macht keinen Sinn. Wenn sie uns wirklich mit diesem Manöver ablenken wollte, dann hätte sie doch voraussehen müssen, dass wir sicherlich nach unserem Sieg über sie nicht sofort nach Meridian zurückkehren. Aber jetzt werden wir es tun und mitmischen. Was ergibt das für einen Sinn? Ich werd's dir sagen: keinen!" "Denk logisch, Taranee", beharrte Will auf ihrer Theorie, "jetzt glauben wir, es wäre eine weitere Falle. Sie möchte uns nur verwirren. Mit den vielen Ebenen, die sie geschaffen hat, bezweckt sie nur, dass wir nicht mehr wissen, was wir glauben sollen und müssen. Egal was ihr Plan ist, wir müssen nach Meridian." "Will hat recht", pflichtete Cornelia bei, die Arme verschränkt und die Augenbrauen sorgenvoll zusammengezogen. "Öffne das Portal." "Wartet!" "Ach du lieber Himmel", murmelte Will. Sie brauchte sich gar nicht umzudrehen, um die Stimme einer Person zuzuordnen – und es war gerade die Person, die sie als letztes brauchen konnte. "Matt! Wie kommst du hierher, wie hast du uns gefunden und was machst du hier, um Gottes Willen?" Nach Luft ringend hielt er sich die Seite, als er endlich bei den Mädchen ankam. Nachdem er wieder einigermaßen atmen konnte, setzte er zu einer Erklärung an: "Ich wohne dort", er zeigte in Richtung Stadt, "das weißt du doch." "Ja und?", unterbrach Will wirsch. "Geh nach Hause! Ich bitte dich!" "Ich habe Cornelia vorbeifahren gesehen und sie sah panisch aus, also bin ich ihr hinterher, aber ich habe sie verloren. Du bist echt schnell! Dann habe ich euch gesucht und als ich ein paar Lichtblitze sah, bin ich hierher gelaufen. Das konntet nur ihr sein." "Geh. Nach. Hause. Bitte", wiederholte Will eindringlicher. Sie ging auf Matt zu und lehnte ihre Stirn an die seine. Mit geschlossenen Augen flüsterte sie: "Ich flehe dich an, Matt, verschwinde, solange du es noch kannst. Das ist nicht dein Kampf." "Aber es ist dein Kampf." Er zog sie in eine feste Umarmung und vergrub das Gesicht in ihrem kurzen Haar. "Und alles was ein Teil deines Lebens ist, wird auch zu einem Teil meines Lebens. Wir sind ein Team, schon vergessen? Ich könnte mir niemals verzeihen, wenn dir etwas passiert." "Müssen wir das schon wieder durchkauen?" Sie stellte sich auf die Zehenspitzen und küsste ihn flüchtig. Hinter der Szenerie sahen sich die anderen Wächterinnen irritiert an. "Wann ist denn das passiert?", fragte Irma. "Sieh nicht mich an", meinte Cornelia, "ich weiß von nichts!" "Ist doch egal, das ist so romantisch!", schwärmte Hay Lin. Taranee enthielt sich einer Aussage darüber. Sie hielt es eher für angemessen, die Anwesenden zur Eile zu treiben. "Egal für was ihr euch entscheidet, tut es schnell! In Meridian tobt ein Krieg und nur wir sind in der Lage, diesen zu beenden. Will, öffne das Portal." Will tat, wie ihr geheißen. "Wir spiele Schere Stein Papier darum. Auf drei. Eins. Zwei. Drei." Matt lächelte selig. "Papier schlägt Stein." Sie verdrehte die Augen. "Okay, komm mit, aber ich warne dich", sagte sie eindringlich. "Wenn du stirbst, belebe ich dich wieder, um dich erneut umzubringen." "Soll das witzig sein?" Doch statt zu antworten gingen sie nacheinander durch das Tor und als sie auf der anderen Seite waren, erwartete sie ein schreckliches Bild. Feuer, Rauch, Blut und Tote waren nur wenige von vielen Grausamkeiten, die ihre Augen erfassten. Überall ertönte metallisches Klirren, als die Schwertschneiden der Soldaten aufeinander trafen. Auf einem Dornenthron über dem blutigen Geschehen sitzend, besah Phoebe mit sichtlich genüsslicher Genugtuung das Spektakel. Sie hatte das Kinn neckisch auf den Handballen gestützt und die Beine übereinander geschlagen. "Ich mach sie fertig, diese Kuh!", kreischte Irma mit einem mordlustigen Glitzern in den Augen. "Bei Gott, ich schwöre, die ist so was von fällig!" "Bewahr lieber einen kühlen Kopf, bevor du noch draufgehst", mahnte Cornelia streng. Sie war die einzige, die sich ihre Sorge nun nicht mehr anmerken ließ. Alles war wie weggewischt. Es zählte nur eines: der Sieg. Egal um welchen Preis. Egal mit welchen Mitteln. "Cornelia, denkst du, du kannst dich konzentrieren, wenn du Caleb in Gefahr weißt?", fragte Will skeptisch. Sie war sich nicht sicher, ob ihre Freundin zu so viel Gleichgültigkeit beziehungsweise Selbstbeherrschung fähig war. "Wenn nicht, dann gefährdest du uns alle und solltest lieber erst Caleb suchen und dich vergewissern, dass es ihm den Umständen entsprechend gut geht." Cornelia zögerte. "Das dachte ich mir", sagte Will nickend. "Du gehst mit Matt ins Getümmel, während wir uns Phoebe vorköpfen. Wir schaffen es aber nicht ohne dich." Als sie merkte, dass Cornelia aus schlechtem Gewissen nicht gehen konnte, korrigierte sie: "Vergiss den Plan wieder. Wir brauchen Elyon! Such sie und weck sie auf, egal wie!" "Ich kann euch nicht alleine lassen!", wehrte sich Cornelia. Das konnte sie wirklich nicht. Natürlich erkannte sie die Chance, die ihr Will hab. So konnte sie erst Caleb suchen und brauchte sich keine Vorwürfe machen, ihre Freundinnen im Stich gelassen zu haben. Und dennoch… "Jetzt hör mir mal zu, Fräulein!", schrie Will sichtlich verärgert. "Ich befehle dir, Elyon zu suchen, sie zu finden und sie aufzuwecken! Also geh jetzt, sonst werde ich wütend! Und Matt" – sie wandte sich mit mahnendem Blick an ihn – "wehe dir, du stirbst. Hörst du? Wehe dir!" "Keine Sorge." Er gab ihr einen lebevollen Kuss auf die Stirn "Danke", sagte Cornelia schlicht. Matt zwinkerte Will nur noch aufmuntern zu, dann lief er Cornelia nach, die aber schon nach kurzer Zeit abhob, um einen besseren Überblick zu haben. In der kämpfenden Menge war der braune Mantel einfach unverwechselbar. Cornelia brauchte nicht lange, um ihn zu finden. "Caleb!", rief sie, als ein Schwerthieb auf ihn niedersauste, den er wegen eines vorherigen Manövers nicht abblocken konnte. Blitzschnell landete sie vor ihm, riss die Arme zur Seite und ließ sie Wurzeln aus der Erde ragen, die wie ein Schutzschild vor ihn wucherten. In letzter Sekunde fingen sie den Schlag ab, bevor er auf Cornelias Körper traf. Er war so kräftig gewesen, dass die Klinge der Waffe in den Wurzeln stecken blieb. Cornelia erkannte ihre Chance und ließ die Pflanzen mitsamt dem Schwert wieder in der Erde verschwinden. "Alles in Ordnung?" "Es war eine Falle!" "Wissen wir." "Du hast mir das Leben gerettet." "Wieder einmal." Sie half ihm auf und wollte sich schon umdrehen, doch Caleb hielt sie fest. Im Schutz der kämpfenden Meute, in der jeder bereits einen Gegner hatte, konnten sie es sich für einen Augenblick leisten, das Grauen zu vergessen. "Was ist?" "Cornelia … ich kann das echt nicht gut formulieren, aber ich habe das Gefühl, dass es jetzt sein muss." "Nein", wehrte sie mit fahriger Stimme ab. "Das hört sich an, als würdest du zweifeln, danach noch am Leben zu sein." "Das ist es nicht. Ich kann damit einfach nicht länger warten. Weißt du noch, als ich dir sagte, ich könne das nicht sagen, was ich so gern sagen wollte, weil ich mir nicht sicher bin, inwieweit ich möchte, dass du es weißt?" "Bitte, was?", fragte sie verwirrt. "In der Nacht, als wir – egal." Er umfasste ihre Hände und küsste ihren Handrücken. "Hör zu, das, was ich dir sagen wollte, dessen war ich mir sicher. Schon immer! Aber ich wollte es nicht sagen, weil ich Angst hatte, das zuzulassen, was uns beide zerstört! Es wird unweigerlich einen Abschied geben, nachdem diese Sache hier vorbei ist! Dabei wollte ich mir nur nicht eingestehen, dass das, was ich nicht gesagt habe, doch schon längst real ist! Verstehst du?" "Nein!", rief Cornelia. Ihre Stimme ging in der Lautstärke des Krieges beinahe gänzlich unter. "Ich verstehe nicht! Du redest wirres Zeug!" "Ich liebe dich!" Und plötzlich war es ganz ruhig. Es war, als wären sie in ihrer eigenen Welt. Einer Welt, in der es kein Morgen gab, nicht einmal eine nächste Minute. Es gab nur sie und diesen Augenblick, der von einer Zärtlichkeit geprägt war, die Cornelia Tränen in die Augen trieb. "Du blöder Idiot!", schrie sie, als sie sich wieder gefasst hatte. Wütend trommelte sie mit ihren Händen gegen seinen Brustkorb. Caleb zog sie in eine Umarmung, als er merkte, dass sie weinte. "Wieso?" Cornelias Stimme war rau; verzweifelt. "Wieso sagst du das jetzt? Wir hätten es beinahe geschafft, das alles heil zu überstehen! Du wärst deinen Weg gegangen und ich meinen. Alles, das wir durch unsere Abneigung gegeneinander aufgebaut haben, ist dahin!" Er schüttelte den Kopf. "Es war bereits dahin, als wir uns das erste Mal wiedergesehen haben. Cornelia, Liebste." Entschlossen nahm er ihren Kopf in seine Hände, um sie dazu zu zwingen, ihn anzusehen. Cornelias wunderschöne blaue Augen waren vom Weinen gerötet. Ihre Unterlippe zitterte. "Wir finden eine Lösung. Ich verspreche es dir. Wir finden eine Lösung, hörst du?" Wie ein Mantra sagte er sich diese Worte und Cornelia wiederholte sie in Gedanken. Er glaubte daran, sie konnte es nicht. Doch nun war nicht die Zeit, um darüber zu diskutieren. Sie hatten schon zu viele kostbare Minuten verbraucht. "Ich liebe dich auch", hauchte sie und drückte ihm einen flüchtigen Kuss auf den Mund. "Egal was du tust, versuch nicht zu sterben, okay?" "Pass auf dich auf." Sie küssten sich erneut, ehe Cornelia wegflog, um das zu tun, was eigentlich ihr Auftrag war. Eris war eine kluge Frau, doch sie hatte keinerlei Fähigkeiten, die in einem Kampf nützlich waren. Ihre Intelligenz nützte ihr wenig und angesichts ihrer schwächlichen Arme und der waffentechnisch Unerfahrenheit wäre sie bloß ein Hindernis im Krieg. Da sie also derzeit entbehrlich war, hatte sie sich selbst die Aufgabe auferlegt, Elyon zu bewachen und notfalls mit ihrem Leben zu schützen. Wie genau sie sich das vorgestellt hatte, wusste sie nicht. "Königliche Hoheit …", flüsterte sie. Elyon war immer noch nicht aufgewacht. "Was kann ich bloß tun? Euer Reich zerfällt. Phoebe ist zu mächtig. Unsere Truppen haben keine Chance gegen sie, nicht einmal mit Unterstützung der Wächterinnen. Wenn Ihr doch nur wach wärt." Eris seufzte. Sie betete dafür, dass niemand sie hier finden würde. Wenn es zum Kampf kommen würde, hätte sie keine Chance. Zwei Stunden war sie nun schon hier, ohne jemanden außer Elyon zu Gesicht bekommen zu haben. Hoffentlich würde das so bleiben. Aber sie hatte sich zu früh der Hoffnung hingegeben. Plötzlich hörte Eris ein Poltern. Es kam von draußen. Schritte? Eindeutig! Es waren vier schwere Füße, die den Gang entlang rannten. Türen flogen auf, dann ein Scheppern. Sie hatten die Säule mit der teuren Vase umgestoßen. Und dann schlug jemand mit etwas Metallischem gegen die Holztür zum Gemach der Königin. Eris' Augen weiteten sich vor Schreck, als Holzsplitter durch die Luft flogen. Wo vor wenigen Augenblicken noch die Türe gewesen war, standen nun zwei groß gewachsene Ungeheuer mit Morgensternen im Rahmen. "Hier ist sie! Wir haben sie gefunden!", schrie die raue Stimme des einen. Keine Sekunde später stand ein gutes Dutzend Krieger hinter den beiden. Sie trugen alle verschiedene Waffen, doch eines war ihnen allen gemein: Das hämische Grinsen, das die Vorfreude auf Mord symbolisierte. Sie würde kurzen Prozess mit Eris machen. Trotzdem war sie zu allem entschlossen! Mit strengem Blick stand sie auf, griff zu dem Schwert, das ihr einer der Wachen dagelassen hatte, und stellte sich schützend vor Elyon. "Erst müsst ihr an mir vorbei!" Das Größte der Ungetüme lachte amüsiert. "Dürfte kein Problem werden." Er holte mit seinem dreigliedrigen Morgenstern aus und machte einen großen Schritt auf sie zu. Das Geräusch des sausenden Metalls jagte Eris eine Gänsehaut über den ganzen Körper. So schnell würde also das Ende kommen. Das Ungeheuer ließ die Ketten noch ein wenig unheilvoll in der Luft wirbeln, dann zog er sie hoch und schlug zu. Eris kniff die Augen zu. Das war's, dachte sie bei sich, als sie ein letztes Stoßgebet gen Himmel sandte. Es geschah nichts. Statt dem erwarteten Schmerz hörte sie, wie Metall auf Metall traf. Nur langsam wagte sie es, ein Auge zu öffnen. Vor ihr stand eine Mauer an Palastwachen, die den Angriff abgefangen hatten. "Eris, seid Ihr in Ordnung?", rief der eine. Sie nickte. "Habt ihr wirklich gedacht, die Königin bliebe nur von einer Aristokratin bewacht in ihren Gemächern, während sie kampfunfähig ist? Wie einfältig!" "Hmpf, das wirst du bereuen!" Mehr Aufforderung bedurfte es nicht. Der Kampf um das Wohl der Königin begann und er war schon in der ersten Sekunde erbitterter, als alles, was die Wachen jemals getan hatten. Die Gegner waren stark und sie schalteten einen Gardisten nach dem anderen aus, als wären sie alle nur Fliegen. Es dauerte nicht lange, da war nur mehr der Hauptmann übrig. Er hatte keine Chance gegen sieben verbleibende Nachtgestalten – was auch immer sie genau waren. Dass er so schnell versagen würde, hätte er sich nicht erträumen lassen. Und wieder – der größte Gegner holte zum vernichtenden Schlag aus. Nun wusste der Hauptmann, wie sich Eris gefühlt hatte, als sie dem Tod ins Auge blickte. Doch er war weidmannhafter. Er würde die Augen nicht schließen. Er würde kämpfen, bis er nicht mehr konnte! "Ha!", machte das Ungeheuer. "Wie töricht zu glauben, ihr Menschen hättet eine Chance gegen uns! Das war's für dich!" Er riss den Morgenstern in die Höhe, als wolle er ihn sogleich auf den Hauptmann niedersausen lassen. Doch er tat es nicht. Sekundenlang hielt er den Griff über seinem Kopf, ohne etwas zu tun. Hinter ihm schrien plötzlich seine Kameraden. Ihn selbst riss es von den Füßen. Mit einem Knall krachte er zu Boden, so fest, dass sich die Fliesen spalteten. Oder war das etwa…? Der Hauptmann traute seinen Augen kaum. Im Türrahmen stand breitbeinig mit erhobenen Händen eine schöne blonde Frau. Ihre Haare wehten sanft, obgleich kein Wind wehte. Cornelia hatte in letzter Sekunde eine Ranke wachsen lassen, um den Morgenstern zu halten. Mit einer flüchtigen Handbewegung ließ sie nun hunderte grüne Pflanzententakel durch die Fliesen brechen, bis der Boden einbrach und die Feinde einen Stock tiefer flogen. Mit einer ebenso flüchtigen Handbewegung ließ sie Steine und Trümmer auf sie niedersausen. "Die machen keine Probleme mehr", sagte sie nüchtern. "Wie sieht es mit Elyon aus?" Aber sie brauchte keine Antwort abzuwarten. Ihre Freundin lag immer noch starr auf dem Bett. "Verdammt. Sie muss doch schon aufgewacht sein! Ich habe Odin doch erledigt!" "Hast du nicht." Cornelia fuhr herum. Hinter ihr standen an die Flurwand gelehnt Odin und Collin in ihrer vollen Größe. "Das ist nicht möglich! Ich habe gesehen, wie Phoebe dich getötet hat!" "Phoebe hat nicht annähernd die Macht dazu, Collin auch nur zu verletzen!", sagte Odin seelenruhig. "Sie ist nichts weiter als meine Marionette. Die ganze Zeit über dachte sie, dass sie die Fäden in der Hand hat – wie selbstverliebt hat sie auf uns herab gestarrt, wo es doch eigentlich ich war, der sie gelenkt hat! Phoebe ist eine mächtige Ex-Prinzessin, die aber nicht allzu intelligent ist. Im Vergleich zu ihr sind meine Kräfte winzig, wohl wahr, aber genau das machte sie zu der perfekten Kandidatin für eine Manipulation. Natürlich ist sie nicht mehr annähernd so mächtig wie einst. Keine Macht der Welt könnte ihr das Maß an Macht geben, das sie einmal hatte. Nicht einmal das Herz von Kandrakar. Nicht einmal die Herzen aller Welten zusammen! Sie ist nun auf dem Gipfel ihrer Stärke, aber das ist kein Vergleich zu dem, was sie früher war. Und dennoch ist sie stärker als die Wächterinnen zusammen. Das sollte dir einen Vorgeschmack auf Elyons Kraft geben. Elyon ist die einzige, die es schaffen würde, Phoebe zu vernichten. Aber unsere liebste Königin ist verhindert, wie ich sehe. Was für ein Pech." "Ich hab die Nase gestrichen voll!", kreischte Cornelia dazwischen. Sie stampfte mit einem Fuß am Boden und warf die Haare zurück. "Langsam reicht es mir echt. Ich blick nicht mehr durch! Phoebe, Blight, Odin, Collin – das ist doch nicht mehr lustig! Ich verlier' hier die Geduld! Entscheidet euch bitte mal, wer genau jetzt eigentlich unser Hauptfeind ist, denn dieses ganze unbeständige Bäumchen-wechsel-dich-Spiel hat schon beim ersten Mal seinen Witz verloren!" Keuchend rang sie um Fassung. Der Stress der letzten Tage hatte so lange an ihren Nerven gezehrt, bis sie gerissen waren. "Es ist genug." Cornelia schnappte völlig außer Atem nach Luft. Doch der Knoten war geplatzt. Sie spürte eine warme Energie durch ihren Körper strömen, als sie sich beruhigte. Plötzlich fühlte sie sich, als könne sie alles mit Leichtigkeit schaffen – nein, das konnte sie tatsächlich. Sie konnte nicht nur, sie würde. Und hätten Odin und Collin geahnt, was in Cornelia vorging, hätten sie sicherlich nicht den größten Fehler ihres Lebens begangen. Kapitel 23: Final Goes On ------------------------- … You cried just now, Like a sobbing child … D R E I U N D Z W A N Z I G Will war zu allem entschlossen. Und alles war derzeit Phoebe solange hinzuhalten, bis Cornelia mit Elyon kam. Die Wächterinnen hatten schnell verstanden, dass sie alleine keine Chance gegen Phoebe hatten. Sie war stark. Zu stark. Also blieb ihnen nichts weiter übrig, als auszuweichen und Ablenkungsmanöver zu starten. "Denkt ihr etwa, ich wüsste nicht, was ihr vorhabt?", fragte Phoebe höhnisch. "Zeit zu schinden ist keine Lösung; es verzögert nur euer Ableben!" "Ich wäre mir da nicht so sicher!", rief Irma wütend. "Odins Fluch, den er über Elyon gelegt hat, ist mit seinem Tod erloschen! Sie ist jeden Augenblick hier!" "Pah! Selbst wenn Odin tot ist – das ist er seit einer Stunde und ich sehe hier keine Elyon. Ihr etwa? Ich an eurer Stelle würde mich nicht darauf verlassen, von ihr gerettet zu werden." "Uns braucht niemand zu retten, verstanden?" Irma flog auf sie zu, doch Phoebe schleuderte sie mit einem Feuerball weg. "Verdammt! Seit wann kann sie Feuer kontrollieren? Ich dachte ihre Kraft wäre Strom!" "Denkst du, meine Kräfte wären so einfach definiert wie die euren? Eine schlichte Aufteilung in Elemente? Nein, das, was meine Macht ausmacht, ist um ein Vielfaches komplizierter." Sie machte eine betonende Pause, in der sie die Augen schloss und sich ein amüsiertes Grinsen in ihrem Gesicht abzeichnete. "Als Phobos und ich geboren wurden, bekam jeder von uns die gegenteiligen Fähigkeiten des anderen. Phobos' Kraft basiert auf der Energie der Elemente, aber meine findet ihre Wurzeln in der Energie an sich. Es war die perfekte Idee der Natur. Ohne Manifestation in den Elementen ist die Energie in ihrer Reinform nutzlos, aber ohne Energie sind auch die Elemente nutzlos. Eine perfekt äquivalente Symbiose. Keiner kann seine Macht ohne den anderen ausleben. Aber es wurden Fehler in der Umsetzung gemacht. Die Natur hat nicht bedacht, dass Phobos durch die elementare Macht Benachteiligung erfuhr. Bereits am Tag unserer Geburt fand man heraus, dass ich in der Lage war, meine formlose Energie zu manifestieren. Phobos war also schwächer und unerheblich für mich. Das ist der wahre Grund, wieso man mich an den Rand der Welt verbannt hat. Ich bin um ein Vielfaches mächtiger, als es Phobos jemals hätte sein können!" "Und wenn du mächtiger bist als der Papst, das ist mir schnurz!", rief Irma noch immer außer sich. "Wir haben mit Phobos kurzen Prozess gemacht und das werden wir mit dir auch machen! Wir brauchen Elyon nicht! Richtig, Mädels?" "Genau!", sagten die anderen drei im Chor. Irma hatte durch ihre Ansprache den Kampfgeist wieder geweckt. Phoebe hatte Recht; sie konnten nicht darauf vertrauen, dass Elyon erwachen würde, wenn sie es bis jetzt nicht getan hatte. Sie wussten ja nicht, dass Odin noch sehr, sehr lebendig war… "Du solltest dich durch deine Schreierei nicht so verausgaben!", rief Odin sichtlich amüsiert über Cornelias Ausbruch. "Am Ende brichst du noch zusammen, obwohl wir noch gar nicht gekämpft haben." "Alle guten Dinge sind drei, nicht wahr? Ich habe schon zwei Mal gegen dich gekämpft, also wird das hier das große Finale!" "Das werden wir sehen." "Werden wir." Sie funkelten sich herausfordernd an, dann wandte sich Cornelia halb zu Eris und der einzigen überlebenden Wache. "Passt auf Elyon auf. Das hier wird nicht lange dauern." "Du spuckst große Töne, kleine Fee." Cornelia ballte die Hände zu Fäusten. "Ich. Bin. Keine. Fee! Zum allerletzen Mal! Merk dir das endlich!" Äußerlich aufgebracht stemmte sie die Arme in die Luft. Sie hatte eine Strategie. Solange sie wütend tat, konnten Odin und Collin nicht ahnen, wie es wirklich in ihr aussah: ruhig und überzeugt von einem Sieg. Hinter Cornelia tat sich eine Steinmauer auf, die von Wurzeln gestützt wurde. Sie schirmte Elyon und ihre Beschützer ab. "So, nun kann es los gehen. Bereit?" "Schon seit Stunden!" Sie zischte nur abfällig, dann streckte sie einen Arm nach vorne und einen zur Seite. Hinter Odin brachen plötzlich Pflanzenarme durch die Mauer. Sie schlangen sich um ihn und seinen Partner und ketteten sie fest. Cornelia grinste selbstgefällig, doch mit einer einzigen ruckartigen Bewegung befreiten sich ihre Gegner. Sie waren also auch körperlich stark. Aber sie würde nicht verlieren. Auf keinen Fall. Sie waren zu zweit, ja, das war vielleicht ein kleiner Nachteil für Cornelia, aber dafür hatte sie das Herz der Erde, die ihre eigene Kraft, die ja praktischerweise ebenfalls die der Erde war, hundertfach, wenn nicht gar tausendfach verstärkte! Sie hatten keine Chance, nun da Cornelia wusste, wie sie das Herz der Erde einsetzen musste! Collin hatte den kurzen Moment ihrer überlegenen Überlegungen ausgenutzt und einen Energieball geformt, den er mit Schwung in Cornelias Richtung schleuderte. Sie wich mit einem lässigen Schritt nach links aus. "Du musst schon mehr auffahren, wenn du mich besiegen willst!" "Kannst du haben!" Er schlug seine Handflächen gegeneinander. Zwischen ihnen begann etwas zu leuchten, das mit jeder Sekunde größer wurde. Es drückte seine Hände auseinander, bis eine sich drehende leuchtende Scheibe vor seinem Oberkörper bedrohlich summte. Cornelia machte sich bereit auszuweichen, doch als Collin die Scheibe von sich wegschleuderte, war sie verschwunden, ehe sie weiter kam als ein paar Zentimeter. Hektisch sah sie sich um – wo war das Ding bloß? Es konnte sich nicht einfach aufgelöst haben! Während sie danach suchte, bemerkte sie nicht, dass Odin auf sie zulief. Sie sah es erst, als seine Faust gegen ihr Gesicht donnerte, sie von den Füßen riss und gegen die von ihr selbst hochgezogene Steinmauer warf. "Verflucht", zischte sie. Ein Blutrinnsal lief aus ihrem Mundwinkel; sie hatte sich im Sturz stark auf die Lippe gebissen. Der Lichtdiskus war also nur eine Ablenkung gewesen! Darauf hätte sie auch gleich kommen können. Nun, sei's drum. Sie war noch lange nicht fertig. Gleichgültig spuckte sie das Blut aus, das sich in ihrem Mund gesammelt hatte. "Ich gebe zu, einen so harten Kampf habe ich noch nie bestritten. Das macht es aber nur noch unterhaltsamer. Ihr habt einen Punk, nun bin ich am Zug!" Mit Feuer in den Augen raffte sie sich wieder auf. Ohne zu zögern ließ sie dornige Pflanzen aus allen Rissen sprießen. Sie wickelten sich um die Körper der Gegner, drangen mit ihren Stacheln schmerzhaft durch die Haut und zogen sich mit jeder Sekunde enger. Die Ranken waren fester, größer und stärker als jemals zuvor, das spürte Cornelia ganz deutlich. Wenn ihre Macht so groß war, wie sie sich das dachte, dann könnte sie doch auch … ob das wohl funktionieren würde? Sie lächelte siegessicher. "Das war's!" Mit der einen Hand konzentrierte sie sich weiter auf das Pflanzengefängnis, mit der anderen zielte sie nach links. Zuerst geschah gar nichts. Odin wollte bereits loslachen, doch in dem Moment, als er den Mund öffnete, streifte etwas Scharfes von hinten seine Wange. Es hinterließ einen brennenden, blutigen Schnitt. "Was war das?", fragte er verwirrt und sah sich hektisch um. Das Geschoss traf neben Cornelia auf die Steinmauer, wo es klirrend zerschellte. Die Splitter waren grau. Noch ehe er verstand, was vor sich ging, trafen ihn und Collin drei weitere dieser Dinger. Sie zerbarsten ebenso wie dasjenige vor ihnen an der Wand neben Cornelia, die beeindruckt von sich selber zu lachen begann. "Oh, das ist gut!" Sie wurde wieder ernst. "Ich besitze das Herz der Erde und das ist dank meiner elementaren Fähigkeit eine Art Update für meine ursprünglichen Kräfte. Mit dem Herz habe ich die Beschaffenheit der organischen Materialien verändert! Klug, nicht wahr?" "Ich verstehe nicht …" Die beiden waren immer noch gefangen. Es war vorbei. "Anfangs dachte ich, das Herz der Erde würde meine Kräfte nur verstärken, aber dann wurde mir klar: Es erweitert sie! Ich kann nicht nur die Erde kontrollieren, sondern alles, was entfernt damit zu tun hat! Habt ihr bemerkt, dass ich bei meinem ersten Angriff nur mit einem Arm auf euch gezielt habe? Mit dem anderen habe ich meine Telekinesefähigkeiten dazu verwendet, die abgetragenen Steine zusammenzutragen. Ich wollte sie in einem günstigen Augenblick auf euch schleudern. Aber dann kam mir die Idee, sie zu formen. Wieso nur stumpfe Steine nach euch werfen, wenn ich mit dem Herz der Erde genauso gut viel effektivere Dinge machen kann? Also habe ich die Steine zu scharfen Wurfmessern gemacht. Die ersten waren kurz und schlecht gezielt, aber jetzt, hab ich den Dreh raus und mach ich kurzen Prozess mit euch!" Sie hatte genug gesagt. Nun war die Zeit zum Handeln da. Ohne weiter zu überlegen, lenkte Cornelia lange Steinspeere auf Odin und Collin, die verzweifelt versuchten, sich zu befreien. Schreie ertönten. Blut spritzte. Cornelia hatte die Augen geschlossen, um den grausamen Anblick sterbender Wesen zu vermeiden. Nun, da sie sie zögerlich wieder öffnete, sah sie das Ausmaß ihrer erbarmungslosen Attacke. Sie hatte wahrlich gut gezielt. Die fünf Speere steckten verteilt auf die zwei Gegner in ihren nunmehr leblosen Körpern, die schlaff in den Fängen der Dornenpflanzen baumelten. Zwei Speere hatten die beiden Herzen durchbohrt. "Kein Zweifel", stellte sie zufrieden mit sich fest, "sie sind ein für allemal tot." Schnell ließ sie die Steinbarrikade hinter sich verschwinden; indes lösten sich auch die Körper auf und gingen zurück in den Spirit, aus dem sie erschaffen worden waren – vermutlich. Hinter ihr kamen eine zitternde Eris und ein blasser Hauptmann zum Vorschein. Ihr Interesse galt jedoch Elyon, die noch immer steif auf dem breiten Bett lag. "Elyon", flüsterte Cornelia sanft. Sie kniete sich neben ihre Freundin und ergriff ihre starre Hand. "Wenn du jetzt nicht aufwachst, dann weiß ich nicht weiter. Bitte, komm schon. Wir brauchen dich." Und da geschah es. Elyons Augenlid zuckte leicht; ihre Finger schlossen sich zaghaft um Cornelias Hand. "Co-Cornelia …", hauchte sie mit kaum hörbarer Stimme. Ein Stein fiel allen Anwesenden vom Herzen. "Was ist passiert?" Natürlich. Die altbekannte Frage. Cornelia brachte sie schnell auf den neuesten Stand; währenddessen kam Elyon wieder zu vollem Bewusstsein. Als ihre blonde Freundin geendet hatte, stand sie auf. "Das wird sie mir büßen, dieses niederträchtige Weibsbild. Ich werde dem nun ein Ende setzen!" Die Wächterinnen hatten es mit Phoebe schwerer als Cornelia es mit Odin und Collin gehabt hatte. Nun, da sie nicht mehr nur auswichen, sondern Erfolge in Form von Schaden erzielen mussten, merkten sie erst, wie schnell und resistent Phoebe war. Egal was sie auch versuchten, sie wich entweder aus oder ließ den Zauber einfach an sich abprallen. Sie hatten keine Chance und schon gar nicht zu viert! "Cornelia lässt sich ja ewig Zeit, verdammt!", schrie Hay Lin, als sie gerade etwas auswich, das verdächtig nach reiner Energie aussah. "Sie soll sich beeilen! Alleine geht das nicht mehr lange gut!" "Vielleicht ist Elyon noch nicht wach?", mutmaßte Will, als sie Strom durch ihre Handflächen leitete. "Dabei haben wir Odin fertig gemacht! Wenn Elyon bis jetzt nicht wach ist, sieht es schlecht für uns aus!" "Positives Denken! Vielleicht ist Cornelia auch nur etwas länger bei Caleb aufgehalten worden! Hoffentlich vertragen sie sich wieder!" "Hay Lin!", mahnte Will. "Wir sind hier mitten in einem Kampf um Leben und Tod, da ist es mir dezent egal, ob sich unser Blondschopf mit ihrem Prinzen wieder verträgt! Wenn wir sterben, nur weil sie einen Kuss zu viel ausgetauscht haben, dann lasse ich mich wiederbeleben, um ihr den dünnen Hals umzudrehen! Mist!" Beinahe hätte Phoebe sie mit einer Attacke getroffen. "In einer solchen Situation noch zynisch zu sein ist wirklich äußerst unpassend", bemerkte Taranee. "Ist mir egal!" Phoebe lachte erneut boshaft. "Euch zuzuhören trägt wesentlich zu meiner Unterhaltung bei. Ein Wunder, dass ihr nicht schon früher euer Leben lassen musstet. Wie konnten ihr nur so lange als Wächterinnen überleben? Es bleibt mir ein Rätsel. Dann obliegt es eben mir, eurer Schmach ein Ende zu setzen! Sagt Lebewohl zu eurem Herzschlag!" Siegesgewiss hob sie ihre Arme gen Himmel. Zwischen ihnen züngelten vom einen Augenblick auf den anderen tosende lilafarbene Blitze. Sie wurden größer, je näher Phoebe ihre Hände zueinander führte. Doch es blieb nicht bei den Blitzen. Hinzu kamen kurz auflodernde Flammen und seltsame nebelartige Wellen. Als sie die Handflächen aufeinander legte, die Arme immer noch erhoben, vermischten sich die Elemente zu einem einzigen großen, weißen Ball, aus dem Strahlen in die Richtung der Wächterinnen züngelten. "Das war's für euch!" Die Wächterinnen kniffen die Augen zusammen, als der Lichtball auf die zugeflogen kam. Es war pure Energie, die sie gleich erfassten würde. Sie schlossen mit ihrem Leben ab – es war vorbei. Dann ertönte ein Knall. Ein Luftstoß drang ihnen entgegen und fegte sie beinahe weg und als sie die Augen öffneten, lebten sie noch. Vor ihnen schwebte Elyon. Ihr Kleid wehte dramatisch im Wind, als sie den Ball mit einem Schutzschild abgefangen hatte. Sie war nicht einmal ins Schwitzen geraten. "Ja, es ist vorbei. Schwester." Ihre Stimme war eisig kalt. "Du hast deine Chance vertan. Zu dem Zeitpunkt, als ich erwachte, war dein Untergang besiegelt." Phoebe schien das zu wissen, denn ihr Gesicht wurde aschfahl. "N-Nein!", kreischte sie außer sich. "Ich werde nicht verlieren, nicht jetzt, da ich so kurz vor dem Sieg stehe!" "Dein Sieg stand nie zur Debatte! Du hättest Meridian niemals einnehmen können. Selbst als ich mit Odins Fluch belegt war, habe ich mein Königreich mit meiner Energie beschützt. Und nun wirst du dafür bezahlen, was du meinem Land und seinen Bewohnern angetan hast!" "Es ist aus, Phoebe", mischte sich Cornelia ein, die gerade angekommen war. Elyon war um Einiges schneller gewesen als sie. "Dass du dich auch mal wieder her bequemst", rief Will freudig. Sie hatten alle neuen Mut für den finalen Schlag geschöpft. "Tut mir leid, ich musste erst noch ein paar ungebetene Besucher erledigen!" "Wen?" "Erzähle ich euch, sobald wir die hier geschafft haben!" Elyon nickte auf dieses subtile Kommando hin. "Lasst uns das zu Ende bringen, was gar nicht erst hätte beginnen dürfen!" Sie konzentrierten sich. Phoebes Augen weiteten sich vor Entsetzen. Sie wusste, was ihr bevorstand. Aus den geweiteten Augen beobachtete sie starr vor Schreck wie Elyon ihre Energie in einer leuchtenden Kugel manifestierte. Die Wächterinnen fügten eine nach der anderen durch eine Handbewegung ihre Elemente hinzu, bis die Kugel sich zusammenzog und schließlich mit einem gewaltigen Dröhnen explodierte. Kein Schrei, kein Laut, kein Geräusch. Es war in diesem Moment totenstill in ganz Meridian. Die Ruhe, die sich über die Szene gelegt hatte, hielt beinahe eine Minute lang an. Es war ein epischer Moment voll von Erleichterung und Unbegreiflichkeit, von Verwirrung und Unfassbarkeit. Niemand vermochte zu sagen, wie er sich in der Sekunde fühlte, als Phoebes Körper durch Elyon und die Wächterinnen aufgelöst wurde. Das Dröhnen hatte für Irritation bei den tapfer kämpfenden Soldaten geführt, die sich erbittert auf den Beinen hielten. Doch als mit Phoebes Tod die von ihr erschaffenen Kreaturen ebenso auflösten und der klägliche Rest eigenständiger Lebewesen an Stärke verloren, die ihre Herrin ihnen eingeflößt hatte, und zu kümmerlichen Kreaturen schrumpften, begriff einer nach dem anderen langsam was geschehen war. Die Erleichterung brauchte so lange in die Gemüter der Menschen, dass sie erst gar nicht richtig ausgelebt werden konnte. Keiner konnte so recht wahrhaben, dass der Alptraum vorbei sein sollte – endgültig vorbei sein sollte. Die Wächterinnen waren erschöpft. Sie hatten all ihre Energie auf Elyons Angriff verwendet, sodass sie nun ihre Verwandlung nicht länger aufrecht erhalten konnten. Cornelia war die erste, die in sich zusammensackte und das Bewusstsein verlor. Für Elyon war es ein Leichtes, die ausgelaugten Körper ihrer Freundinnen sanft gen Boden schweben zu lassen, wo Matt und Caleb darauf warteten, ihre Liebsten nach diesem Horror in ihre Arme schließen zu können. "Es ist wahrlich vorbei", sagte Caleb, als er Cornelias Körper aus der Luft in seine Arme nahm. "Cornelia, hörst du mich?" "Lass mich schlafen", nuschelte sie in ihre Haare, die über ihr Gesicht gefallen waren. Caleb zeigte jedoch kein Erbarmen. Er stellte sie hin und legte stützend einen Arm um sie. "Ist ja gut." Sie lächelten sich erschöpft an. "Es ist nun wirklich vorüber. Wir haben es geschafft." "Das kannst du laut sagen." Will war ebenso erschöpft, doch um eine Antwort war sie nie verlegen. Matt drückte ihr nur erleichtert einen Kuss auf die Wange. Über ihren Köpfen ertönte Elyons stolze und überglückliche Stimme. "Tapfere Kämpfer, Bewohner Meridians. Ihr habt für unser Land gekämpft, ihr habt es verteidigt und ihr habt es mit Erfolg getan! Phoebe ist nichts mehr als ein dunkler Fleck im Geschichtsbuch Meridians, den wir mit der Genugtuung betrachten können, ihn besiegt zu haben! Ich bin euch dankbar für eure Unterstützung und euren Mut! Meridian hat seinen Frieden wieder!" Die Menschenmenge unter ihr begann unkontrolliert zu jubeln, bis sich aus dem undefinierbaren Rufen ein einzelner Ruf herausbildete: "Hoch lebe unsere Königin Elyon! Hoch lebe unsere Königin Elyon!" Auch die Wächterinnen stimmten in die Jubelrufe ein. Ihnen war so leicht ums Herz wie schon lange nicht mehr. Vereint. Glücklich. Stolz. Zufrieden. Sie konnten gar nicht sagen, wie viel Glück sie empfanden und wie sehr sie sich wünschten, für immer in dieser gelösten Hochstimmung zu sein. In Cornelias Augenwinkeln bildeten sich die Freudentränen, die alle anderen schon längst hemmungslos weinten. Irma und Hay Lin lagen sich heulend in den Armen, Taranee schluchzte an Cornelias und Wills Hand leise vor sich hin und die Anführerin selbst weinte in Matts Schulter. "Wir sollten nicht weinen in einem solchen Augenblick", sagte Caleb. "Vergiss deinen Stolz doch einmal", meinte Cornelia lachend. "Weinen hat noch nie jemandem geschadet. Seit fünf Jahren weine ich jeden Tag und es ist das erste Mal, dass ich vor Freude weine!" "Dann weine so viel es dir beliebt." Er schloss sie in seine Arme und drückte sie gegen seine Brust. Sie war glücklich, doch er musste die ganze Zeit an den nahen Abschied denken. Es dämpfte die Freude über den Sieg gewaltig. "Wir müssen Phoebe eigentlich dankbar sein." "Wieso?" "Sie hat uns wieder zusammengebracht." Cornelia lachte erneut unter den Tränen. "Ja. Ja, das hat sie! Aber noch einmal möchte ich etwas derartiges nicht mehr erleben. Ich werde zu alt dafür." Das Fest, das dem Sieg zu Ehren gegeben wurde, war das größte und schönste, das Meridian jemals erlebt hatte. Die ganze Stadt war zu einem großen Festessen geladen, auf dem sich lachende Gesichter um fröhlich scherzende Menschen tummelten. Wer keinen Platz bekam, aß zuhause mit der Familie und trat der munteren Feier später bei, als getanzt und getrunken wurde. Hay Lin hatte mit Elyons Erlaubnis Eric nach Meridian geholt und Irma hatte beschlossen, Stephen ins kalte Wasser zu stoßen. Er hatte gefasst reagiert, wenngleich man ihm ansah, dass er mit der Situation überfordert zu sein schien. Er wich kaum von ihrer Seite und nur selten sah man ihn ihre Hand loslassen. Ganz glauben würde er es wohl vorerst nicht können, doch er hielt sich wacker zwischen all den seltsamen Gestalten. Cornelia indes war halb auf Calebs Schulter eingeschlafen, der ihr ab und an zärtlich übers Haar fuhr. Niemand konnte es den jungen Frauen verübeln, dass sie die Tanzerei ausließen und lieber die Ruhe suchten. Im Allgemeinen herrschte ein Frohsinn, den man in Meridian die letzten Wochen vermisst hatte. Alles wirkte plötzlich schöner, farbenfroher, lebenswerter und wunderbarer. Eine Knospe wurde als Zeichen des Lebens gesehen und ein Feuer als Symbol für den Kampfgeist der mutigen Soldaten. Natürlich waren einige von ihnen im Kampf gefallen und den Familien der Helden war nicht nach feiern zumute. Doch Opfer mussten gebracht werden und man hatte relativ wenige Verluste erleiden müssen. So war also die Stimmung von einer Freimütigkeit durchzogen, die einfach herrlich war. Alsbald hatten sich um das Lagerfeuer Soldaten versammelt, die den neugierigen Zivilisten haarklein und übertrieben die Heldengeschichten ihrer ehrenvollen Taten schildern. Als es dunkel wurde, waren die Wächterinnen wieder halbwegs bei Kräften. Sie lauschten einige Zeit lang den ausgeschmückten Vorträgen, die ihnen alle paar Minuten ein Schmunzeln abrangen. Dann erhob sich Elyon und ließ eine viertelstündige Lobesrede auf den Kampfgeist, den Mut und die Tapferkeit der Wächterinnen los. Sie rühmte ihren Einsatz, ihre Unerbittlichkeit und ihren starken Willen, nicht aufzugeben. Nur ihnen hätte man es zu verdanken, dass Meridian wieder ein friedliches Land sei, in dem seine Bewohner lachen konnten. Der Lobgesang wurde den Mädchen jedoch zu peinlich, nachdem die Menschen unermüdlich 'Hoch leben die Wächterinnen' riefen und so beschlossen sie, die Aufgabe, die sie noch zu erledigen hatten, nicht länger aufzuschieben. Zusammen erhoben sie sich vom Tisch der ausgelassenen Gesellschaft. "Cornelia, warte." Caleb hielt sie zurück. "Mädels, geht schon mal vor." Sie zog ihn auf und entführte ihn in jenen Teil des Palastes, in dem sie vor Jahren ihre Beziehung gebrochen hatten. "Hier war es. Genau hier vor fünf Jahren." "Cornelia, ich…" "Nein. Schon gut. Lass mich ausreden." Sie wandte sich ihm zu und sah ihm mit einem Ausdruck absoluter Zuversicht in die Augen. "Vor fünf Jahren waren wir jung und dumm. Inzwischen haben wir gemerkt, dass wir ohne einander nichts sind. Ich kann nicht ohne dich leben, das habe ich verstanden. Und ich möchte es auch nicht. Wie steht es mit dir?" "Wir müssen ohne den anderen leben." "Das war nicht meine Frage." Caleb seufzte niedergeschlagen. "Ich möchte nicht ohne dich leben. Nicht jetzt, da ich weiß, wie glücklich ich mit dir bin. Aber wie sollen wir das schaffen? Ihr werdet eure Kräfte verlieren und zwischen Meridian und der Erde nicht länger hin und her springen können. Wie soll es funktionieren?" "Ich habe einen Plan. Aber du musst dir darüber im Klaren sein, dass es, wenn es wirklich so funktioniert, wie ich mir das vorstelle, kein Zurück mehr gibt. Sollte mein Plan aufgehen, dann bestehe ich darauf, dass du bei mir bleibst." "Welcher Plan?" "Das wirst du schon noch sehen. Versichere mir vorerst nur, dass du es nicht bereuen wirst, mit mir zusammenzubleiben." "Das werde ich nicht. Ich werde es nie bereuen." Die Wächterinnen standen samt ihren männlichen Freunden in Kandrakar. Das Orakel erwartete sie bereits. "Ich gratuliere zu diesem großen Sieg, Wächterinnen. Ihr habt Großes geleistet." "Vielen Dank", sagte Will. "Wir fragen uns nun, was mit unseren Kräften passiert. Es gibt keine weitere Bedrohung. Werden sie wieder erlöschen? Müssen wir sie versiegeln?" "Ja. Ja, das müsst ihr. Sie werden aufbewahrt für die nächste Generation." "Das hieß es das letzte Mal auch schon", rief Irma. "Und dann mussten wir wieder ran! Noch einmal zieh ich diese gestreifte Strumpfhose nicht an!" Die anderen lachten über ihren Schwur. "Ich meine das ernst!" "Daran zweifle ich nicht", meinte das Orakel ruhig. Auch ihn schien ihr Ausbruch amüsiert zu haben. "Die nächste Generation an Wächterinnen wird vermutlich bald erwählt werden." "Bis dahin sollte Meridian sich also hüten, wieder in Gefahr zu geraten!" "Irma!", schalten sie ihre Freundinnen. Will setzte fort: "Also sollen wir das Herz von Kandrakar wieder an einem sicheren Ort aufbewahren, sobald wir zurück in Heatherfield sind. Dann sollten wir uns besser von allen verabschieden. Können wir gehen?" "Ja. Ich wünsche euch für eure Zukunft alles erdenklich Glückliche." Sie drehten sich um zum Gehen, nur Cornelia blieb stehen. "Du hast noch etwas zu sagen?" "Ja, das habe ich", meinte sie zögerlich. "Es geht um die Portale." "Was ist damit?" Sie biss sich auf die Lippen. Nun hing alles davon ab, wie sie die Situation schildern würde. Zögerlich begann sie zu erklären. "Die Portale mussten damals geschlossen werden, um Phobos den Zugang zu Elyon zu verwehren. Aber nun, da alle Gefahren gebannt sind, frage ich mich, wieso wir die Portale nicht offen lassen können. Ich verstehe schon, dass es ein Risiko birgt, wenn wir sie immer geöffnet lassen, aber wenn wir das Herz von Kandrakar aktiviert lassen würden und die Portale nur dann öffnen, wenn wir sie brauchen … Meridian ist eine zweite Heimat geworden. Uns verbindet so viel mit diesem Land, dass ich es unfair finden würde, wenn wir für immer Abschied nehmen müssten." Das Orakel folgte ihrem Blick zu dem jungen Mann, der hinter ihr stand und ihre Hand ergriffen hatte. Überlegend schloss er die Augen. "Das wäre möglich. Aber das Herz von Kandrakar wird bald an die neuen Wächterinnen übergehen. Was macht ihr dann? Ihr könnt es nicht behalten." "Oh", sagte sie enttäuscht. Es musste doch eine Lösung geben. Vielleicht … "Und wenn wir ein anderes Artefakt mit dieser Fähigkeit ausstatten? Elyon kann es gewiss. Wenn Ihr es nicht erlaubt, werde ich Elyon einfach so fragen und sie wird es für mich tun! Es ist die einzige Möglichkeit, wie … wie ich glücklich bleiben kann." Eine Welle der Verzweiflung staute sich in ihr an, doch sie unterdrückte sie. Die Sekunden, bis das Orakel antwortete, waren eine Qual. Sie hatte geblufft. Und das auch noch schlecht. Elyon würde derartiges nicht ohne der Zustimmung des Orakels tun. Und dann öffnete er den Mund. "Dir bedeutet dieser Mann sehr viel, nicht wahr?" "Er bedeutet mir alles." Er lächelte brüderlich. "Ich würde dir gerne helfen, aber ich kann es nicht. Portale zu kreieren ist nicht einfach nur eine banale Fähigkeit. Sie ist sehr komplex und schwierig zu kontrollieren. Man kann sie nicht einfach spalten und übertragen. Es ist eine uralte Macht. Nicht einmal Elyon kann das." Cornelias Griff festigte sich um Calebs Hand. "Aber gibt es keine andere –" "Nein." Das Orakel verschränkte streng die Arme. "Eigenmächtig zwischen den Welten zu pendeln, ist eine heikle Angelegenheit. Aber vielleicht könnt ihr eure Freundin Elyon dazu überreden, ab und an ihrer alten Heimat einen Besuch abzustatten." "Natürlich. Sehr gerne sogar." Elyon strahlte über ihr ganzes Gesicht. So einfach war es gewesen, sie dazu zu überreden. "Du machst es also?", fragte Cornelia erleichtert. "Wieso auch nicht? Ich sehe keinen Grund, wieso ich nicht manchmal Urlaub machen dürfte. Und selbst wenn ich viel zu tun habe, ein Portal kreieren ist keine Schwierigkeit für mich." Sie zwinkerte Caleb zu. "Aber reicht es euch, euch bloß einmal die Woche zu sehen?" "Es ist besser als nichts", sagte er mit gesenktem Blick. "Und wer weiß schon, wohin es sich entwickelt?" Cornelia ließ sich bereitwillig enger an seine Seite ziehen und lächelte selig in sich hinein. Sie hatten so viele Schwierigkeiten überstanden, so viele Probleme gemeistert. Sie lebten in zwei verschiedenen Welten und das würde immer so bleiben, aber ihre Liebe hatte Jahre überdauert, ohne einander ein einziges Mal zu sehen. Für den Moment genügte es ihnen. Es musste ihnen genügen und wer wusste schon, was in ein paar Jahren war? Fürs erste hatten sie sich. Und das zählte. Sie hatten so lange eine Liebe gelebt. Eine Liebe, die nicht sein sollte. Zumindest noch nicht damals. Epilog: Happy End ----------------- … Even if the future becomes invisible, I will protect you. I gazed up and yelled into the summer sky. E P I L O G "Müsst ihr wirklich zurück?" Die jungen Frauen standen in einem Kreis am Flughafen vor dem Passagierbereich. Sie waren den Tränen nahe; dabei hatten sie schon in letzter Zeit so viel geweint! "Ja", sagte Taranee. "Das neue Semester hat bereits wieder begonnen." "Und ich muss auf jeden Fall mal wieder in der Arbeit vorbeischauen", fügte Irma hinzu. "Außerdem haben Stephen und ich immerhin ein Haus, das darf nicht zerfallen." "Es war so schön, euch wiederzusehen!", sagte Hay Lin mit zittriger Stimme. Sie waren den Tränen am nächsten. "Das nächste Mal wenn wir uns sehen, dann geschieht es unter freudigen Umständen!" "Worauf du dich verlassen kannst!" Irma zwinkerte ihr zu. "Hay Lin, wein' doch nicht! Bitte, sonst muss ich – muss i-ich auch w-weinen … !" Zu spät. Irma hatte den Anfang gemacht und nun stiegen alle in den Heulkanon ein. "Wieso müssen Abschiede immer so traurig sein?", rief Cornelia. "Schreibt uns oft, okay? Und ruft oft an! Und besucht uns oft! Verdammt, zieht doch einfach wieder nach Heatherfield!" Taranee umarmte sie. "Wir sehen uns bestimmt bald wieder." "Flug 0726 nach London Heathrow bereit zum Boarding." "Das ist meiner. Mädels, ich werde euch vermissen! Aber das ist kein Abschied für immer!" Taranee nahm ihre Koffer und verschwand durch die Sicherheitsabsperrung. Bald danach wurde auch Irmas Flug aufgerufen und keine halbe Stunde später winkten Will, Cornelia und Hay Lin vor den großen Fenstern der Aufenthaltshalle den abhebenden Flugzeugen. Taranee hatte Recht. Das war kein Abschied für immer, daran glaubten sie felsenfest. Daran gab es keinen Zweifel. Sie hatten so viel durchgemacht. Ein paar Meilen Distanz würden ihre Freundschaft nicht zerstören. Niemals. Hand in Hand wandten sie der Glasfront den Rücken zu. So viele Abschiede. Und doch waren sie glücklich. Die Zukunft hatte gerade erst begonnen … Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)