Rewind And Reflect von 4FIVE ([Caleb x Cornelia | canon-sequel | enemies to lovers]) ================================================================================ Kapitel 20: Sisters Of Earth ---------------------------- … You will probably become the one You would never want to be, the forsaken man of loneliness … Z W A N Z I G "Rück schon raus damit, Cornelia!", drängte Hay Lin. Sie hatte ihre Hände ungeduldig zu Fäusten gebannt, den Kopf nach vorne gereckt und trippelte unruhig auf ihrem Platz herum. Cornelia versuchte ihren Plan mental zu verbalisieren. Er erschien ihr so absurd, dass sie selbst kaum daran glauben konnte. Irgendwie musste sie versuchen, sich selbst sein Gelingen glaubhaft zu machen. Nur so konnten sie gewinnen. Hoffentlich. "Könnt ihr euch erinnern, als wir damals gegen Nerissa den Wettkampf veranstaltet haben, wer am meisten Herzen sammelt?" Der Zynismus ging in ihrer Euphorie beinahe unter. "Darf ich kurz einwerfen", unterbrach Irma, "dass du den Titel Miss Ich-kann-meine-Stimmung-in-Sekundenschnelle-ändern verdienst? Wie schaffst du es, so launisch zu sein?" "Übung, Irma, alles Übung. Und ich wäre die sehr verbunden, wenn du es nicht Laune, sondern spontane emotionale Kreativität nennen würdest. Jedenfalls", besann sie sich mit gesenktem Ton. "Phoebe hat kein Herz. Nur eine überdurchschnittlich große Macht. Angeblich. Wir haben das Herz von Kandrakar, was das Übermaß an Kräften auf der gegnerischen Seite kompensieren dürfte. Um den Sieg zu sichern, sollten wir ein weiteres Herz ins Boot holen." "Wen meinst du?", fragte Taranee ahnungslos wie sie war. Ihre Naivität war grenzenlos, wenn es darum ging, pragmatisch zu denken, was Cornelia in gewisser Hinsicht verstand, hatte sie doch selbst bis zur letzten Sekunde ihrer Überlegungen daran gezweifelt, derart skrupellos mit der Sicherheit ihres eigen Fleisch und Blut umgehen zu können. Doch es war, wie es war und sie hatten keine Wahl, zumal sie dieses blonde Gift damit nicht unmittelbar in Gefahr bringen würde. Während ihre Gedanken immer länger wurden und sich im Strudel ihrer Gehirnwindungen überschlugen, hatte Will das Ergebnis ausgerechnet. "Du spielst doch damit nicht etwa auf Lilian an?!", rief diese entsetzt. "Das kannst du echt nicht bringen! Cornelia, sie ist deine Schwester! Auch wenn ihr eure Zwistigkeiten habt, du kannst sie doch nicht umbringen! Wir dürfen sie da nicht mit hineinziehen!" "So meinte ich das auch nicht. Wenn Lilian uns ihre Kraft freiwillig temporär überlässt, wären wir ziemlich im Vorteil, nicht wahr? Denkt doch mal nach. Das würde uns mit Sicherheit eine gewisse günstige Ausgangssituation sichern. Lasst euch das durch den Kopf gehen", beschwor sie, die Stimme senkend und langsamer werdend. "Wenn wir Lilian auf unserer Seite haben, ist der Krieg so gut wie gewonnen." "Große Töne und womöglich zu gewagt, den Triumph nur an einem einzigen Faktor festzumachen, aber die Idee klingt plausibel." Sie hatten sich mit dem Einfall sofort an Eris gewandt, die während Elyons Indisposition sämtliche organisatorische Aufgaben innehatte. In Elyons Notfallplan war nämlich eindeutig vermerkt, dass die Wächterinnen im Falle einer Ausnahmesituation das Kommando über sämtliche militärischen Belangen erhalten sollten, alle verwaltungstechnischen Fragen jedoch an Eris überstellt werden mussten. Diese war zwar nicht vollkommen überzeugt von dem Plan, den die Damen hatten, doch sie sah keine andere Möglichkeit. "Euch in einer solch misslichen Lage Meridian verlassen zu sehen, weckt nicht gerade Begeisterungsstürme in mir, wie ich zugeben muss", sagte sie, die Finger an die Schläfen gepresst. "Aber angesichts der Wichtigkeit dieses erfolgversprechenden Plans muss ich euch sogar bitten, ihn so schnell als möglich in die Tat umzusetzen. Jedoch habe ich eine weitere Bitte." Sie machte eine kurze Pause, ohne recht zu wissen, ob sie diese Bitte wirklich aussprechen sollte. "Geht nicht alle in eure Welt zurück. Wir brauchen euch hier dringender als jemals zuvor. Meridian ohne euren Schutz zu lassen, würde Phoebe zu Recht dazu veranlassen, den Sieg schon als ihr Eigen anzusehen." "Ich muss in jedem Fall mitgehen", erklärte Will. "Ohne das Herz von Kandrakar können wir nicht zwischen den Welten wechseln. Und Cornelia muss mit, weil es immerhin ihre Schwester ist." "Das könnte ein Problem werden", beharrte Eris nachdenklich. "Ohne das Herz von Kandrakar ist Meridians Abwehr nicht stark genug. Sollte Phoebe wirklich angreifen, wenn ihr auf der Erde seid, dann…" "Schon gut!", unterbrach Cornelia ungeduldig. Sie hatte die Arme ungeduldig vor der Brust verschränkt. "Ich gehe alleine. Elyon kann Portale kreieren, das ist sicher. Sie hat mir, als wir uns das letzte Mal vor fünf Jahren sahen, anvertraut, dass sie ihre Kräfte gespalten und auf Artefakte verteilt hat. Sie sagte, sie könne nicht schlafen, wenn so viel Kraft in ihr herrscht. Das mache sie unruhig. Die Artefakte wollte sie nach ein paar Jahren zerstören, sobald sie sich an ihre Macht gewöhnt hatte. Wenn diese Gegenstände noch existieren, woran ich keinen Zweifel habe, brauchen wir nur herauszufinden, welches die Fähigkeit beherbergt, Portale zu kreieren. Voilà, somit hätten wir die Lösung. Ich husche schnell nach Hause, hol mir Lilians Kräfte und komme sofort wieder her. Das wird keine Stunde dauern." "Alleine lasse ich dich nicht gehen", wandte Will ein. "Ich kann schon auf mich aufpassen. Phoebe treibt ihr Unwesen nur hier, in Heatherfield bin ich also sicher. Wir dürfen keine Zeit verlieren. Ich werde mich sofort auf den Weg machen." Cornelia ging schnellen Schrittes, ohne Einwilligung oder Verbot abzuwarten, in Elyons Gemach. Ihr Anblick war noch immer erschütternd, beklemmend und trostlos. Ihre einst beste Freundin starr aufgebahrt zu sehen, versetzte Cornelia einen Schlag in die Magengrube. Doch nun war nicht die Zeit für Sentimentalitäten. Sie kannte Elyon gut genug, um zu wissen, dass sie lieber einmal zu langsam als zu schnell machte, was sie als Königin in Kriegsphasen nicht unbedingt zum Ideal machte, doch das sei dahingestellt. Die kleine Frau mit der schmalen Krone am Haupt war im Grunde ihres Wesens noch immer ein unsicheres Schulmädchen. Ihre Kräfte mussten enorm sein, so viel stand fest. Deswegen war Cornelia sich auch sicher, dass Elyon niemals in den paar Jahren den Mut aufgebracht haben konnte, sich das volle Ausmaß ihrer Kräfte zu eigen zu machen. Aber sie kannte sie auch gut genug, um zu wissen, dass sie sehr vorsichtig war. Daher war das erste Artefakt, das ihr ins Auge fiel, ein Goldring mit einem eingefassten Opal. "Was bist du wohl?", fragte Cornelia den Ring, ohne natürlich eine Antwort zu erwarten. "Ich tippe auf einen Ring." Sie zuckte zusammen. Die Stimme kannte sie allzu gut. Caleb. Aber wie sollte sie sich nun verhalten? Befangen sein – ihn ignorieren – einen Scherz machen? Sie entschied sich spontan für letzteres: Überspielen der Peinlichkeit mit einem Witz. "Huch, ich dachte nicht, dass du mir wirklich antwortest, Ring. Wie viel Karat hast du denn?" "Lustig, Cornelia. Wirklich lustig", meinte Caleb nur trocken. "Was soll ich deiner Meinung nach sonst tun?", fauchte sie halblaut. "Weinen oder dir vor die Füße fallen? Kannst du haben. Ich kann dir auf Knopfdruck jede Emotion liefern, die du willst." "Oh, wir werden sarkastisch?" "Eher zynisch", korrigierte sie ebenso trocken. "Sonst noch was? Du siehst ja, ich habe zu tun." "Ja, da wäre noch etwas." Er schloss in sich gehend die Augen. Es fiel ihm sichtlich schwer, die kommenden Worte auszusprechen. "Will hat mich von deinen Absichten informiert und mich gebeten, dich zu begleiten." Cornelia klappte die Kinnlade herunter. In seinem Ton hatte eindeutig Widerstreben gelegen, doch sie wusste nicht recht, woher es kam. Unangenehm war es ihm sicherlich, doch aus welchem Grund? "Will also", meinte sie mehr zu sich selbst als an die Öffentlichkeit gerichtet. Ob es nun eine billige Ausrede war oder Wills nach außen gekehrte Verschlagenheit, ließ sich von hier aus nicht feststellen. In beiden Fällen hatte entweder der eine oder die andere die Wahrheit gut verschleiert, sodass Cornelia sich damit zufrieden geben musste, im Ungewissen zu verweilen. Sie würde sich damit abfinden, dass es ihr egal sein musste. Nichts war leichter als Caleb zu ignorieren. "Von mir aus", entschied sie schließlich für sich. "Soll mir recht sein. Aber erst muss ich Elyons Portal-mach-Ding finden." Wie aus Zaubermund gesprochen, begann der Ring plötzlich in allen physikalisch möglichen und unmöglichen Farben zu leuchten. Vor ihm tat sich ein reißerischer blauer Wirbel auf, durchzogen von glitzernden Fäden aus facettenreichen Farben des Lichtspektrums. Wo sich das Licht bündelte, streiften weißleuchtende Blitze durch das Portal. "Ich korrigiere mich. Ich hab es gefunden. Hoffentlich führt es auch wirklich nach Heatherfield." Sie sah Caleb an, der das Portal misstrauisch beäugte. "Nach dir?" "Wie wäre es mit gemeinsam? Wenn das Portal uns vernichtet, muss wenigstens keiner Schuldgefühle haben." "Wie du meinst." Sie war überrascht, wie sehr sie dieses gemeinsam freute. Dass es nach ihrer Aktion überhaupt noch ein gemeinsam geben würde, egal in welcher Form, war ihr bis zu diesem unheilvollen Zeitpunkt unvorstellbar gewesen. Ohne nachzudenken nahm Cornelia Calebs Hand. Ihr war flau im Magen beim Gedanken daran, dass das Portal womöglich eine Fehlkonstruktion war, doch mit Caleb an ihrer Seite fühlte sie sich, als könne sie alles schaffen – ach, wie melodramatisch und kitschig sie sich in ihren Gedanken anhörten! War ja fast schon peinlich. Sie schüttelte klärend ihren hübschen Kopf, der nach dieser riskanten Reise hoffentlich noch ein hübsches Kopf bleiben würde. Es war schon einmal passiert, dass die Portale zwischen den Dimensionen einige Streiche gespielt hatten. Calebs Hand war keine Lebensversicherung, aber es fühlte sich besser an, wenigstens nicht alleine sterben zu müssen. Reizende Gedanken, Cornelia. Caleb hingegen wusste erst gar nicht, wie er sich fühlen sollte. Also entschieden beide ohne große Worte, im Gleichschritt durch das Portal zu gehen. Cornelias Augen waren geschlossen, als sie es durchschritt. Sie wagte auch nicht, auch nur eines zu öffnen, ehe sie nicht festen Boden unter den Füßen spürte. Ihr Vorhaben musste jedoch schnell wieder überdacht werden, denn festen Boden spürte sie auf der anderen Seite des blauen Strudels nicht einmal annähernd. "Wo sind wir?", fragte sie, ohne die Augen aufzumachen. "Keine Ahnung…", meinte Caleb fassungslos. "Aber ist es normal, dass in Heatherfield tonnenschwere grüne Schleimschnecken herumkriechen? Und die meterhohen violetten Bäume sind mir auch noch nie aufgefallen." "Schnecken? Tonnenschwer? Oh, Himmel, wo sind wir gelandet?", rief sie panisch. Sie wollte erst gar nicht sehen, in was für einer Welt sie sich befand. Die Augen fester zusammenkneifend festigte sie ihren Griff um Calebs Hand. "Oh, nein! Da sind tausende von den Viechern, sie kommen auf uns zu! Und der Sumpf, in dem wir stecken, ist Treibsand!" "Wir werden sterben, verdammt! Ich will nicht sterben!", kreischte Cornelia hysterisch. Sie warf sich Caleb um den Hals, presste sich an seine Brust und bat Gott um Vergebung. "Das kann nicht unser Ende sein, nein, niemals, bitte nicht!" Bevor ihr jedoch die Tränen kamen, beschloss sie großen Mutes, die Augen doch noch zu öffnen, um wenigstens das zu sehen, was sie attackieren würde – und was sie sah, war Heatherfields rostbraune Stahlbrücke. "Du!", schrie sie wütend und stieß Caleb um. Sie standen etwa brusthoch in dem breiten Fluss, der sich vor der Stadt seinen Weg durch die Landschaft grub. "Reg dich ab, war doch nur Spaß", lachte Caleb. Doch für Cornelia war das ganze weniger lustig als peinlich. Mit Todesblick bewaffnet zog sie ihm mit ihrem Fuß die Beine weg und tauchte ihn unter Wasser. "Da hast du deinen Spaß! Ich hoffe, für dich ist es so lustig wie für mich!" Sie ließ nach ein paar Sekunden von ihm ab, nur um ihm beleidigt mit verschränkten Armen den Rücken zuzuwenden. "Schnecken", murmelte sie düster. "Ich hätte wissen müssen, dass da was faul ist." Mühsam watete sie durch das Wasser zum Ufer. Wenigstens hatte Caleb einen unverbindlichen Witz gemacht. Das war immerhin die Versicherung, dass er sie nicht abgrundtief hasste. "Und was jetzt?", fragte er, als er aufgeholt hatte. "Da mein Handy durch diese unglimpflich verlaufene Aktion nicht einsatzfähig ist, fahren wir direkt zu Lilian. Es ist Donnerstag und Vormittag. Vermutlich ist sie in der Schule. Wir müssen uns ein Taxi rufen –" Sie stockte. "Mit keinem Telefon. Na, großartig. Sieht aus, als wären wie gezwungen, Richtung Innenstadt zu laufen, bis wir eine Telefonzelle finden oder so was ähnliches. Ich hoffe, so was gibt es noch." Sie hatten Glück – man mochte es kaum für möglich halten. Als sie den Stadtrand Smalltalk machend erreichten, erwischten sie – wenn auch eher rüpelhaft – gerade noch rechtzeitig einen Bus, der halbwegs in die richtige Richtung fuhr. Weniger Glück hatten sie, als der Fahrer ihre Ausweise sehen wollte und Caleb, der im Gegensatz zu Cornelia kein Studentensemesterticket vorweisen konnte, zwei Blocks vor der Sheffield High School lautstark aus dem Bus geworfen wurde. Cornelia hoffte nur, dass er sich den Weg irgendwie erfragen würde. Sie selbst war durch das Geschrei des Buschauffeurs so perplex gewesen, dass sie zu spät auf die Idee gekommen war, ebenfalls auszusteigen. Doch sie brauchte nicht lange, um Lilian eine höhere Priorität zuzuweisen als Caleb. Fürs erste zumindest. Lilian Hale, zwölf Jahre alt und schlecht gelaunt, saß nichts von alledem ahnend im Klassenzimmer des Gymnasiums, dessen dritte Klasse sie seit einem halben Jahr besuchte. Ihre schlechte Laune hatte zwei Gründe, die beide sehr gut waren: Erstens, ihre große Schwester hatte sich seit über einem Monat nicht gemeldet. Das nahm sie ihr übel. Zweitens, nachdem Cornelia, der Grund für die permanente Missstimmung ihrer Mutter, außer Haus war, hatte sich Elizabeth Hale daran gemacht, ebendiese an ihrer zweiten Tochter auszulassen. Das an und für sich war schlimm genug, doch heute Morgen war der alltägliche Streit eskaliert und Elizabeth Landon, eine normalerweise besonnene und liebevolle Frau, hatte das erste Mal in ihrem Leben die Absicht gehegt, Gewalt gegen eine ihrer Töchter auszuüben. "Lilian!" Die Gerufene schrak aus ihrer Lethargie, die sie an ihren Sessel band, während ihre Schulkameraden in der Pause herumtobten. "Cornelia!" Weinend sprang Lilian auf und warf sich ihrer großen Schwester in die Arme. "Was ist denn los mit dir? Du bist ja ganz verstört." Beruhigend tätschelte Cornelia der Weinenden den Kopf. Lilians Tränen waren groß, ihr Schluchzen war herzzerreißend. Sie klammerte sich mit den zarten Händen in den Pullover ihrer großen Schwester, der sie gerade einmal bis zur Brust ging. "Schwesterchen, beruhige dich doch. Wieso weinst du?" In dem Moment kam eine Lehrerin und unterbrach Cornelias besorgte Fragerei. "Gibt es Probleme?" "Sie ist meine kleine Schwester", erklärte Cornelia etwas verwirrt. "Lilian hat mich vorhin angerufen und mich gebeten, sie abzuholen. Sie meinte, es ginge ihr nicht gut. Würden Sie sie für den restlichen Tag vom Unterricht entschuldigen?" "Selbstverständlich. Ich hoffe, es ist nichts Ernstes?" "Bestimmt nichts, was sich nicht beheben lässt." Milde lächelnd schob sie Lilian den Gang entlang, welche ihre Arme noch immer um Cornelia geschlungen hatte. Als sie auf einer Bank im Schulhof saßen, wagte sie einen neuen Versuch, das Weinen zu stoppen: "Lilian, Schatz, hör bitte auf zu weinen. Erzähl mir lieber, was passiert ist. Hat dich jemand geärgert?" "Mum", presste Lilian schluchzend hervor. "Was ist mit Mum? War sie gemein?" Lilian murmelte etwas, das sich anhörte wie Schlüssel. "Was hat sie mit den Schlüsseln gemacht?" "Schüssel!", rief Lilian. Sie hatte endlich aufgehört, zu schluchzen, auch wenn ihr die Tränen weiterhin unaufhörlich die Wangen herab kullerten. "Wir haben gestritten, weil ich mein Müsli nicht essen wollte. Da war Halbfettmilch drinnen – aber die ist eklig! Da ist sie ausgerastet und hat die Schüssel mit den Cornflakes nach mir geworfen!" Sie schniefte, ehe sie weiter sprach. "Dann ist sie weinen zusammengesunken und ich bin weggerannt." "Warte", unterbrach Cornelia sie fassungslos. "Sie hat was? Ist die verrückt geworden? Sie hat eine Schüssel nach dir geworfen? Die aus Keramik, aus denen du immer isst?" Lilian nickte. "Das ist nicht wahr. Jetzt dreht sie völlig ab. Ich denke, es ist an der Zeit, ihr ein paar Takte zu sagen. Hat sie dich getroffen?" "Nein", meinte Lilian. Sie wischte sich die neuen Tränen aus dem Gesicht. "Ich glaube auch nicht, dass sie mich treffen wollte. Sie hat sich entschuldigt und hat ausgesehen, als wäre sie völlig fertig." "Wann war das? Heute Morgen?" "Vor zwei Stunden." Cornelia wusste nicht, was sie sagen sollte. Ihr Verstand wollte nicht arbeiten, er fühlte sich taub an. Ihre Mutter – ihre eigene Mutter, die sie einst so geliebt hatte. War es die Huntington, die sie langsam dahinraffte? Genau danach hörte sich Lilians Erzählung nämlich an. "Du kommst mit mir mit, Lilian", beschloss sie schließlich. "Wir fahren in meine Wohnung, wo du dich erst einmal erholen kannst. Ich werde heute mit Mum sprechen und fragen, was los war. Vielleicht gibt es eine vernünftige Erklärung dafür. Die gibt es sicherlich." Sie saßen noch eine Weile still da, Lilian schluchzend, ehe Caleb abgehetzt durch das Tor gelaufen kam und keuchend etwas von dummen Kreuzungen keuchte. "Hast du ihre Kr–" "Nicht jetzt, Caleb", unterbrach ihn Cornelia schneidend. "Gehen wir jetzt zu mir? Lilian?" Sie nickte schwach, während die Tränen noch immer kullerten. In allgemein gedrückter Stimmung rief Cornelia vom Münztelefon vor der Schule ein Taxi, hob ihr restliches Geld vom gegenüberliegenden Bankomaten ab und verfrachtete sie alle erleichtert in das Auto, als es endlich kam. Die schweigsame Fahr dauerte nicht lange, da zu so früher Stunde kaum Berufsverkehr herrschte. In wenigen Minuten waren sie in der kleinen Wohnung angelangt, in dessen Flur der Anrufbeantworter hektisch blinkte. "Was ist das?", wollte Caleb wissen. Er deutete auf den rot blinkenden Knopf, den Cornelia beinahe übersehen hätte. "Telefonische Nachrichten. Wenn niemand rangeht, zeichnet er das auf, was die Leute sprechen. Nanu, das ist die Nummer des Krankenhauses. Und die meines Vaters." "Darf ich kurz äußern, dass ich es sehr bedenklich finde, dass du die Telefonnummer der örtlichen Klinik auswendig kennst?", meinte Caleb mit hochgezogener Augenbraue. "Haha", machte sie trocken. "Ich musste im Sommer ein Praktikum dort machen und wenn die Nummer auf meinem Display erschienen ist, dann hieß das selten Gutes für mich. Vielleicht habe ich irgendwelche Sachen dort vergessen? Oder ich war so gut, dass sie mich wieder haben wollen?" Gedankenverloren drückte sie die Abruftaste. "Nachricht eins. Sechsundzwanzigster Jänner, ein Uhr fünf. Cornelia, hier spricht dein Vater. Ruf bitte sofort zurück, wenn du das hörst! Ruf aber die Nummer an, unter der ich dir das hinterlassen habe mit der Zusatzziffer acht! Was? Oh, die Schwester sagt gerade, du musst die sieben wählen, nicht die acht. Sieben, hast du verstanden? Ruf zurück, sobald als möglich! Ich hab dich lieb!" Die nächste Nachricht war von einer Frauenstimme hinterlassen worden. "Nachricht zwei. Heute, siebenundzwanzigster Jänner, um zehn Uhr zwei. Dies ist eine Nachricht für Miss Cornelia Hale. Miss Hale, hier spricht Valentina Garcia vom Heatherfield Mercy Hospital. Wir bitten Sie uns so schnell als möglich zurückzurufen." Irritiert fasste Cornelia sich an die Stirn. "Interessant … und besorgniserregend." Mit einer bösen Vorahnung wählte sie die Nummer des Krankenhauses. Das konnte nur Schlimmes bedeuten … vielleicht hatte sie dasselbe wie ihre Mutter. Die Chancen standen hoch, dass sie ebenfalls an Huntington litt. Es ertönten zehn Freizeichen, ehe eine Dame den Hörer abnahm. "Heatherfield Mercy Hospital, Sie sprechen mit der Rezeption, was kann ich für Sie tun?" "Mein Name ist Cornelia Hale. Sie haben mir eine Nachricht hinterlassen –" "Warten Sie einen Moment. Doktor Landon?", rief die Dame, den Hörer abgedeckt haltend. "Miss Hale für Sie!" Nun war Cornelia ganz verwirrt. "Ah, Miss Hale, schön Sie zu hören. Wir möchten gerne einen Bluttest mit Ihnen machen. Ihr Vater ist sehr besorgt, darum wäre es das Beste, wenn auch Sie und Ihre Schwester sich auf Huntington testen lassen würden." "Wie bitte? Wieso so plötzlich?" "Hat Ihr Vater es Ihnen noch nicht gesagt?", fragte Dr. Landon arglos. "Nun, dann ist es wohl besser, ich hole ihn ans Telefon. Harold! Deine Tochter ist dran!" "Cornelia, Schatz? Endlich rufst du an! Ich habe versucht, dich auf deinem Handy zu erreichen, aber du bist nicht rangegangen!" "Entschuldige, Dad, ich hatte es nicht bei mir und war auch nicht zuhause. Was ist los? Geht es dir gut? Ist was mit Mum?" Er seufzte. Harolds Stimme wirkte müde. "Ich denke, das sollten wir persönlich besprechen. Kannst du herkommen?" "Dad, tut mir ehrlich leid, aber ich …" Sie musste all ihre Kraft aufwenden, um diese harten Worte zu sagen. "Ich kann nicht kommen. Derzeit geht es bei mir drunter und drüber. Meine Freunde brauchen dringend meine Hilfe." "Aber deine Mutter –" "Ich würde wirklich sofort, wenn ich könnte, glaub mir!", unterbrach sie ihn. "Ich weiß, zwischen euch ist es nicht so gut gelaufen in letzter Zeit, aber dass sie so grausam zu dir war, hat seine Gründe. Du musst verstehen …" "Dad, ich verstehe es ja", unterbrach sie ihn wieder. "Ich studiere Psychologie, ich kenn mich aus mit Huntington und ich bin ihr auch deswegen nicht böse, aber ich kann wirklich nicht." "Cornelia!", fuhr Harold sie unwirsch durchs Telefon an. Seine Stimme donnerte durch die Telefonleitungen an Cornelias Ohren, die erschrocken zusammenzuckte. Sie trieb ihr Tränen in die Augen. "Sie ist deine Mutter, verdammt! Sie hat ein Recht darauf, von dir auch so behandelt zu werden! Deine Freunde mögen dir eine Art Familie sein, aber wir sind deine richtige Familie! Lizzy braucht dich – und ich brauche dich! Ich schaff das nicht alleine, Cornelia. Bitte." Cornelias Hände begannen unkontrolliert zu zittern, sie selbst begann zu schluchzen und ließ den Hörer fallen, während ihre Knie nachgaben. Der Boden, auf dem sie ihres Schwächeanfalls wegen landete, wäre härter gewesen, hätte Caleb sie nicht halbwegs aufgefangen. Doch es wäre egal gewesen, denn das erste Mal in ihrem Leben spürte sie nichts. Hätte sie ein Zug überfahren, sie hätte es nicht gemerkt. Ihr ganzer Körper war von einer Taubheit befallen. Nur das leise Schluchzen und Zittern sagten ihr, dass sie noch lebte. Aus dem Hörer neben ihr drang Harolds besorgte Stimme. Caleb griff nach ihm und drückte ohne groß zu überlegen den Anruf weg. Seine Sorge galt ausschließlich Cornelia, was ihr Vater für Probleme hatte, interessierte ihn nur wenig. "Cornelia, es wird alles gut, okay?" Caleb war ratlos. Er wollte helfen, doch mehr tun als ihr gut zureden konnte er nicht. "Das ist der Stress", meinte er nach einer Zeit. "Dir wird das alles zu viel. Vielleicht solltest du aussteigen, und dich um deine Mutter kümmern? So kannst du nicht kämpfen." Calebs Stimme wurde immer dumpfer, als stünde er in einem Tunnel, zu dem sie Abstand gewinnen würde. Dann wurde ihr schlecht. Mühsam versuchte Cornelia sich aufzurappeln, sie brachte nicht genügend Kraft auf. Es kam alles zusammen. Ihre Mutter, ihr Vater, Meridian, Caleb, Elyon. Alles um sie herum schien zusammenzubrechen. Und sie selbst auch. Entschlossen schüttelte sie den Kopf. "Nein", sagte sie mit fester werdender Stimme. Sie ließ sich von Caleb aufziehen und atmete tief ein und aus. "Ich bin keine vier mehr. Ich schaff das. Ich kann kämpfen und ich werde kämpfen. Resignieren gilt nicht mehr." Caleb hielt ihre Hand stützend fest. "Ich verstehe nur nicht, wieso alles immer puzzelartig passiert. Wie eine Telenovela. Als würde alles Unglück nur darauf warten, dass wir eine Lösung haben, die es zerstören kann. Das ist doch nicht normal! Wie viel Pech kann ein Mensch bitte haben?" "Du solltest wirklich eine Auszeit nehmen", riet Caleb erneut, diesmal mit Nachdruck. "Bringt nichts", versetzte sie steif. "Huntington Chorea ist eine unheilbare fortschreitende Krankheit mit tödlichem Verlauf. Ich musste mal ein Referat darüber schreiben. Die Krankheitssymptome sind unter anderem fehlende Kontrolle über Mimik und Motorik, Depressionen und Beschwerden beim Sprechen und Schlucken. Der Verlauf zieht sich über fünfzehn bis zwanzig Jahre hin. Und sie wird mit fünfzigprozentiger Wahrscheinlichkeit vererbt." "Soll das heißen, du …" "Nein. Man hat Lilian und mich mit jeweils zehn getestet. Wir sind beide negativ. Darum ist es für Mum auch so schwer. Sie freut sich darüber, dass ihre Kinder wenigstens eine heile Zukunft vergönnt ist, aber sie steht in unserer Familie alleine da. Sie will sich nicht von außen helfen lassen und wir können nichts tun." Lilian hatte von der Szene nicht viel mitbekommen. Sie war schlecht gelaunt sofort in Cornelias Zimmer gegangen, in dem sie über Kopfhörer laut Musik hörte. "Wir holen Lilians Kräfte, dann schicke ich sie zu Dad ins Krankenhaus und danach machen wir uns wieder auf den Weg nach Meridian. Sie brauchen uns." "Bist du sicher, dass du –" "Ja", sagte Cornelia bestimmt. "Es geht mir gut. Ich komme schon damit klar. Größere Sorgen mache ich mir um Lilian." Mit diesen Worten klopfte Cornelia sachte an ihre Zimmertüre und trat ein, nachdem sich nach zwanzig Sekunden niemand gemeldet hatte. "Lilian? Hey, Schwesterchen, ich muss mit dir reden." Sie deutete ihr, die Kopfhörer abzunehmen. "Was ist denn?" "Kannst du dich an die Geschichte erinnern, die ich dir erzählt habe, als du sieben Jahre alt warst?" Lilian überlegte kurz, schüttelte dann aber irritiert den Kopf. "Sie handelte von Prinzessin Lilian –" Doch ihre Schwester unterbrach sie: "Geht es dir nicht gut?" Cornelia verneinte schnell, aber das fahle Gesicht und die herunterhängenden Mundwinkel straften ihre Worte Lüge. "Was ist los? Bist du krank? Hat der Kerl dir was getan?" "Nein!", rief Cornelia schnell. "Caleb hilft mir. Er ist mein Freund. Mir geht es wirklich gut – ah, wir waren bei der Geschichte. Das ist wichtig. Hör mir bitte gut zu, Schwesterherz." Sie machte eine kurze Pause, um sich zu sammeln. "Prinzessin Lilian ist eine mächtige Königin in einem Königreich, das unserer Erde gar nicht unähnlich ist. Sie ist weise und hat unglaubliche Kräfte. Aber diese Kräfte werden anderswo gebraucht, um einem anderen Königreich zu helfen. Es ist in Not. Deswegen muss Königin Lilian einer ihrer Vertrauten ihre Kräfte leihen." "Willst du mich für dumm verkaufen?", fragte Lilian skeptisch. Sie zog beide Augenbrauen hoch. "Wieso sollte die Königin ihre Kräfte hergeben? Sie sollte selbst in den Kampf ziehen! Dann würde das andere Reich in ihrer Schuld stehen!" "Das wäre sehr egoistisch, nicht wahr?" "Vermutlich", stimmte Lilian nachdenklich zu. "Aber sie ist die Königin. Sie darf das." Cornelia zwang sich zu einem Lächeln. "Findest du nicht, dass gerade eine Königin frei von Torheiten und Lastern sein sollte, um den Untertanen ein gutes Vorbild zu sein?" "Bitte!" Die Jüngere machte eine wegwerfende, genervte Geste. "Also, was macht sie denn, um den schwersten Fehler ihres Lebens zu begehen? Was für eine dumme Geschichte …" "Lilian!", mahnte Cornelia streng. Sie fasste sich erschöpft an den Kopf. "Okay, gehen wir das ganze anders an. Nehmen wir an, du würdest große Kräfte besitzen –" "Wie die Königin?" "Haargenau dieselben. Und nehmen wir an, du könntest noch nichts damit anfangen, weil du sie noch nicht beherrschen kannst. Würdest du dann die Güte erweisen, allmächtige Lilian Hale, und mir deine Macht für ein paar Tage borgen? Und bevor du aus Prinzip nein sagst, denk daran, wer dir sonst immer seine Sachen leiht." "Schon gut, schon gut! Also, wenn das wahr wäre, dann würde ich es tun." "Sag es." Genervt und verwirrt von diesem seltsamen Spiel verschränkte Lilian die Arme vor der Brust. "Ich, Lilian Hale, borge dir, Cornelia Hale, meiner großen Schwester, meine Kräfte. Was auch immer sie sind und was auch immer sie tun, wenn du mir schwörst, sie zurückzugeben." "Ehrenwort." "Sind wir hier fertig? Das ist nämlich echt abgedreht …" Cornelia wusste nicht, ob sie fertig waren, denn sie spürte rein gar keine Veränderungen in ihr oder um sie herum. Doch mehr als eine Erlaubnis zu bekommen, versprach sie sich nicht von der gegenwärtigen Situation, dafür war sie selbst mit den Nerven viel zu sehr am Ende. Begutachtend blickte sie auf ihre Hände hinab, deren Handflächen sie nach oben gedreht hielt, als könne sie dadurch Erleuchtung erlangen. Lilian war nicht sonderlich ernst gewesen, hatte es also womöglich gar nicht erst funktioniert? Fragend sah sie zu Caleb, der unwissend die Schultern zuckte. Er hatte noch nie dem 'Ritual' einer derart wertvollen Leihgabe beigewohnt, wie also hätte er wissen können, ob der Plan aufgegangen war? Cornelia wusste selbst nicht, was sie erwartet hatte. Schillernde Lichtkreisel, mysthische Farbenwirbel, epische Musik im Hintergrund, begleitet von einem Engelschor? Ob es vollbracht war oder nicht, mehr konnten sie nicht tun. "Ich ruf dir ein Taxi und schicke dich zu Dad." Ohne große Widerworte wurde das Gesagte in die Tat umgesetzt und wenig später verabschiede Cornelia, die Finger um eine dampfende Tasse Kaffee geschlungen, ihre Schwester mit einem Kuss auf die Stirn und einem 'Pass auf dich auf'. "Willst du jetzt weinen?", fragte Caleb, der sich die ganze Zeit über im Hintergrund aufgehalten hatte. "Nicht zwingend." Sie ließ sich neben ihm auf der Wohnzimmercouch nieder, den Blick gesenkt. "Ich habe in letzter Zeit zu oft geweint. Dass Mum krank ist, weiß ich seit Jahren. Es ist keine Überraschung." "Aber jetzt ist es schlimmer geworden mit ihrem Zustand." "So ähnlich. Sie haben es mir vor acht Jahren gesagt, besser gesagt, ich habe sie eines Nachts belauscht, als ich nicht schlafen konnte. Nachdem sie mich bemerkt hatten, mussten sie mich aufklären. Damals war Mum Anfang dreißig. Die Krankheit bricht zwischen dreißig und vierzig aus. Es hat lange gedauert, bis die Symptome schlimmer wurden und nun hat sie scheinbar einen heftigen Schub bekommen. Unser angespanntes Familienverhältnis hat sicherlich auch nicht gerade dazu beigetragen, ihren Zustand zu verbessern. Ich hätte mehr darauf achten sollen …" "Mach dir keine Vorwürfe. Wir sollten fürs Erste wirklich hierbleiben. In deiner Verfassung nützt du keinem." "Nein", lehnte Cornelia vehement ab. "Sie brauchen uns. Lilian hat mir das Herz der Erde gegeben, damit haben wir eine Chance. Wir brechen sofort wieder auf." Caleb wollte bereits weiteren Einspruch erheben, doch er sah Cornelias entschlossenen Blick. Sie war nicht der Typ, der sich verkroch und seine Wunden leckte. Sie trat dem Schmerz lieber gegenüber und bekämpfte ihn. Nun empfand sie nicht nur Schmerz, sondern auch Schuldgefühle, und diese Kombination konnte nur dadurch gelindert werden, dass sie sich nützlich machte. "Dann öffne das Portal." Cornelia nickte, streckte ihre Hand aus und versuchte sich daran zu erinnern, wie sie beim Herkommen das Tot geöffnet hatte. "Cornelia? Langsam wäre es an der Zeit –" "Ich versuch es ja schon!" Sie starrte furchterfüllt auf den Ring. "Es funktioniert nicht!" Sie sahen sich entsetzt an. "Oh, nein! Wir sitzen hier fest!" Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)