Rewind And Reflect von 4FIVE ([Caleb x Cornelia | canon-sequel | enemies to lovers]) ================================================================================ Kapitel 4: Oakley Hill ---------------------- … But actually I was really scared to admit what you had ever meant to me … V I E R In der Nacht auf den achtundzwanzigsten Dezember kam Will nicht nach Hause, was zwar nicht ungewöhnlich war, da die Bibliothek, in der sie angestellt war, nur fünf Gehminuten von ihrem Elternhaus entfernt war und sie deshalb manchmal die Gelegenheit nützte, um ihrer Familie einen Besuch abzustatten, der meist erst nach den Betriebszeiten für öffentliche Verkehrsmittel endete, weshalb sie gezwungen war, in ihrem alten Kinderzimmer zu schlafen, aber gerade heute war es Cornelia unangenehm, Will nicht im Haus zu haben. Sie fühlte sich einfach sicherer, wenn sie nicht alleine in der Wohnung herumgeistern musste und wegen der geisterhaften Stille jedes harmlose Geräusch wie der Weltuntergang klang. Wahrscheinlich war dieses Unbehagen unbewusster Auslöser für den abstrusen Traum, den Cornelia erleben musste. Sie ging die belebten Straßen Surreys entlang, auf ihrem Rücken waren Flügel und sie trug die auffällige Kleidung ihrer Verwandlung. Die Passanten jedoch schienen nichts von ihrer Andersartigkeit zu bemerken. Ganz entspannt, als wäre sie gekleidet wie jeder andere und flügellos, spazierten sie völlig unberührt an ihr vorbei. Cornelia schien als einzige in Richtung Norden zu gehen; der Strom der Menge drängte nach Süden. Und dann war sie vor dem edlen Häuserkomplex, in dem ihre Eltern wohnten. Ohne zu wissen wieso, fuhr sie mit dem Aufzug hinauf und ging durch die Wohnung hindurch auf ihren Balkon. Weder ihre Eltern, noch ihre Schwester sagten etwas zu ihrem merkwürdigen Auftreten, aber es erschien Cornelia völlig normal. Und dann stand sie auf dem Balkon, das Rascheln der Büsche noch in den Ohren, als sie leicht wie eine Feder über die Hecke schwebte und im Garten des Nachbarn schräg unter ihr landete. „Cornelia!“ Emotionslos drehte sie sich um. Vor ihr erhob sich ein hochgewachsener Mann aus seiner Hocke. „Wer bist du?“, fragte sie. Der Mann kam ihr bekannt vor, aber kennen tat sie ihn nicht. „Was soll das heißen? Cornelia, erkennst du mich nicht? Ich bin es, -“ Doch wo er seinen Namen sagen wollte, kam kein Laut über seine sich bewegenden Lippen. „Sieh mich an, Cornelia, sieh mich an!“ Grob packte er sie mit seinen starken Armen an den Schultern und zwang sie, ihn anzusehen. Er war beinahe einen Kopf größer als sie. „Ich kenne dich nicht, auch wenn ich dich ansehe!“, schrie sie wütend und versuchte sich aus dem schmerzenden Griff loszulösen. Er war zu stark. „Lass mich los!“ Die Forderung ging in seinem verzweifelten Rufen unter. „Du kennst mich, ich weiß es, Cornelia!“ Nun löste er seine Hände und nahm statt ihren Schultern ihr Gesicht in die großen Handflächen. Er zwang sie, ihn anzusehen, doch sie wusste immer noch nicht, wer er sein sollte. „Du kannst mich nicht vergessen haben, ich bin mir sicher, es kann nicht sein. Tu mir das nicht an. Ich dachte, du liebst mich! Ich liebe dich, verstehst du? Ich konnte es nicht ertragen, getrennt von dir zu sein!“ „Wie kannst du mich lieben, wenn wir uns nicht kennen?“, fragte Cornelia nüchtern. Sie fühlte nichts, nur die Wärme seiner Haut auf ihren Wangen – doch es war ihr egal. Erschöpft sank der Mann vor ihr zusammen. Seine Finger gruben sich in das Gras, wühlten die Erde auf und ballten sich dann zu Fäusten. Sie rasten zu Boden und hinterließen eine kleine Vertiefung. Tränen rannen sein Gesicht hinab. Sie tropfen unaufhörlich auf das im seichten Wind wippende Gras. „Ich dachte, wir könnten nun glücklich werden. Ich dachte, wir würden uns noch lieben. Aber du hast mich vergessen!“ Cornelia war mit der Situation überfordert. Ratlos blieb sie vor ihm stehen und sah einfach auf ihn herab. „Wie kannst du mir das antun? Hast du mich je geliebt?“ Wütend sah er auf. „Ich…“ Sein Blick durchbohrte ihre Seele. „Ich weiß es nicht…wer bist du? Habe ich dich jemals geliebt? Habe ich dich überhaupt gekannt?“, wisperte sie. Beim Anblick des Leides, das der Mann durchlitt, kamen auch ihr die Tränen. „Ich habe dich geliebt? Wer bist du? Wer bist du?“ „Wer bist du?“, flüsterte Cornelia. Etwas Nasses hatte sie geweckt, gerade noch rechtzeitig, um den letzten Satz aus ihrem eigenen Mund wahrzunehmen, der ihr vorkam, als hätte sie ihn nicht gesprochen. Regnete es? Die nassen Tropfen bahnten sich unaufhörlich ihren Weg über ihre weiche Haut, doch einen Aufschlag hatte sie nicht verspürt. Mit einer gewissen Vorahnung tastete sie ihre Wangen ab und sah ihre Ahnung bestätigt: Sie weinte stumm. „Auch das noch!“, zischte sie verärgert und richtete sich auf. „…hält der Frühling leider noch nicht Einzug, aber es bekommt immerhin annehmbare vier Grad. Bis zum einunddreißigsten hin muss allerdings erneut mit Schneeschauern und Glatteis gerechnet werden und nun zurück zu Gabrielle Banner ins Nachrichtenstudio.“ „Oh“, machte Cornelia überrascht. Allen Anschein nach war sie gestern Abend auf dem Sofa eingeschlafen. Der grün gestreifte Polster, auf dem sie genächtigt hatte, wies große, dunkle Flecken auf. Sie hatte ziemlich viel geweint. „Das darf doch nicht wahr sein!“ Cornelia verdrehte die Augen, zog den Überzug ab und warf ihn in die Waschmaschine. „Cornelia, ich bin wieder da!“, hörte sie Will vom Flur hereinrufen. Wenig später fiel eine Türe ins Schloss und Schlüssel wurden abgelegt. „Ich bin in der Küche! Möchtest du Kaffee und hast du grüne Wäsche zum Waschen?“ „Okay, ja und ich muss nachsehen.“ Keine Minute später trat Will mit einem Berg Wäsche in die Küche. „Aber heute ist doch Donnerstag, wieso wäscht du grün?“ „Der Kissenüberzug ist dreckig geworden“, antwortete Cornelia kurz angebunden. Will musste ja nicht unbedingt wissen, dass sie wieder einmal geweint hatte. „Ach so, und ich dachte schon, ein Einbrecher hätte nur diesen schicken Überzug mitgenommen“, scherzte Will gut gelaunt. „Wie war’s gestern eigentlich?“ „Total dumm“, meinte Cornelia, während sie versuchte, den Wäscheberg in die kleine Trommel der Waschmaschine zu verfrachten. Unter Ächzen und Stöhnen schaffte sie es schließlich, die Klappe zuzumachen. „Blight hat mich Ziele setzen lassen.“ Sie erzählte die halbe Stunde so genau als möglich und fügte dann hinzu: „Wegen diesem Schwachsinn von wegen Vergessen sind meine Alpträume zu Lächerlichkeiten verkommen. Ich hab geträumt, dass er vor mir steht, ich ihn aber nicht erkenne.“ „Das klingt eher weniger gut“, stellte Will fest. „Blödsinn.“ Cornelia begann nun, Kaffee zu kochen. „Es ist nur eine Manifestation der Angst, ihn als Teil meines Lebens zu verlieren. Und dennoch. Der Traum heute war nicht schmerzhaft oder schrecklich, sondern nur traurig. Ich hab nicht aus Schmerz und Trauer geweint, sondern einfach, weil er mir leid getan hat. Die Träume entsprechen nicht mehr der Realität und das ist beunruhigend. Etwas passiert in mir und ich möchte wissen, was das ist.“ Doch Will spulte zurück. „Warte, du hast geweint?“ „Ist doch nichts Besonderes mehr, nicht wahr?“ Schulter zuckend goss sie Milch in die Tassen. „Da wir gerade von Besonderheiten sprechen, was ist das da?“ Will deutete auf das golden eingepackte Rechteck, das neben den übrigen Kaffeepackungen stand. „Ein Verehrer?“ „Ein bisschen klein für einen Verehrer, meinst du nicht?“ Cornelia lachte. „Schon gut, ich weiß was du meinst. Das hat mir Dr. Blight geschenkt. Er meinte, er würde keinen Kaffee mögen, aber das Zeug sei so teuer, dass er es nicht verkommen lassen möchte.“ „Na dann, gieß ein!“ „Tut mir leid, das ist nur für mich. Ach ja, ich dachte mir, es wäre langsam an der Zeit, diesen Collin anzurufen“, wechselte sie schnell das Thema und glücklicherweise ging Will darauf ein. „Keine schlechte Idee. Auch wenn sein Name und sein Aussehen mir nicht gefallen möchten.“ Will nahm die Kaffeetasse dankend an und fuhr fort: „Caleb und Collin, das hört sich schon ziemlich ähnlich an. Außerdem sehen sie sich ziemlich ähnlich. Größe, Statur, Haare, Augen, alles ist irgendwie gleich, aber in Kombination überhaupt nicht mehr. Als hätte man das Original zerlegt und anders zusammengesetzt.“ Nachdenklich nahm sie einen Schluck Kaffee. „Du siehst Gespenster. Collin sieht ihm gar nicht ähnlich. Diese Größe und Statur haben die Hälfte aller Männer Mitte zwanzig und der Haarschnitt ist auch weit verbreitet. Und dass die Namen beide mit C anfangen ist Zufall. Ich werde ihn sofort anrufen, sonst überleg ich es mir noch anders.“ Sie verabredeten sich am Telefon für kommenden Donnerstag zum Essen unter den wachsamen Augen Wills, die keinen Zentimeter von ihrer Seite wich, damit sie auch ja das Treffen fixierte. Cornelia hatte sicherlich recht. Sie sah nur Gespenster. Andererseits war es ein seltsamer Zufall. Cornelia glaubte Caleb gesehen zu haben nach eben jener Nacht, in der sich der immer wieder kehrende, allnächtliche Alptraum eine neue Form angenommen hatte und einen Tag zuvor tauchte auch noch ein Typ auf, der ihm verblüffend ähnlich, aber dann doch überhaupt nicht ähnlich sah. „Siehst du? Kein Grund, mir zu misstrauen!“, sagte Cornelia überlegen, nachdem sie aufgelegt hatte. „Und nun entschuldige mich, ich habe ein Vorstellungsgespräch.“ Cornelia bekam den Job wegen ihres guten Aussehens, denn mit diesem Gesicht und dieser natürlichen Eleganz konnte sie laut Claire Higgins, die ihr sogleich das Du-Wort angeboten hatte, jedem etwas verkaufen, da sie in jedem einzelnen Kunden das Gefühl wecken konnte, diese Boutique könne bei ihnen selbst ein solches Wunder der Schönheit hervorbringen. Verkaufstalent war in diesem Geschäft nur zweitrangig. Aber es war auch egal, aus welchem Grund sie angestellt wurde, sie freute sich aufrichtig darüber. Nach drei elendslangen Jahren schien es endlich bergauf zu gehen. Die Arbeitszeiten ließen genügend Freizeit, um sich in den Ferien mit Will und Hay Lin zu treffen und den Schnee zu genießen. Das einzige, das Cornelia nach wie vor die Laune vermieste, waren die Alpträume, die nun von Tag zu Tag abstrusere Formen annahmen. Egal, wie sie auch abliefen und ausgingen, und das war das wirklich Frustrierende, sie endeten jedes Mal mit Tränen. Doch im Gegensatz zu den Träumen von vor ein paar Tagen, waren ihr diese nach dem Aufwachen egal. Sie verstand sie zwar überhaupt nicht und weder Will, noch Hay Lin oder ein Traumdeutungsbuch konnten helfen, die Unklarheiten zu beseitigen, doch langsam verlor das auch an Wichtigkeit. Es war, als würde ihr Unbewusstsein Cornelia bewusst daran hindern, das Thema Caleb ruhen zu lassen, wie es Blights Therapie eigentlich vorsah. Als Belohnung für diesen Fortschritt, begann sie nun, jeden Abend, an dessen vorangegangenem Tag sie nicht über diese Träume nachgedacht hatte, eine Tasse des Kaffees zu trinken, den Blight ihr geschenkt hatte – zumindest wollte sie das. Er schaffte es, dass sie beinahe süchtig danach wurde. Zumindest, nachdem sie die ersten Schlucke heruntergewürgt hatte. Anfangs hinterließ er eine sehr trockene, beinahe giftige Note, aber nachdem sich der zarte Gaumen daran gewöhnt hatte, konnte Cornelia beinahe nicht damit aufhören. Es war wie der erste Schluck eines hochprozentigen Schnapses – ekelhaft, aber man musste ihn einfach trinken. Aus Höflichkeit erwähnte sie Blight gegenüber nichts von dem seltsamen Geschmack, sonder rühmte den Kaffee in den Himmel. Sie trinke jeden Tag zwei Tassen und könne gar nicht aufhören. Er schien sich außerordentlich darüber zu freuen. Nun gehörten also weinen und Schreie zwar noch immer zum Nachtritual, doch als Blight ihr in der zweiten Sitzung verbot, die nächsten Tage an den besagten Mann zu denken, freute sie sich, dass sie das bereits geschafft hatte. Schwierig blieb es weiterhin nur nachts, denn die Träume schienen intensiver zu werden, je weniger sie tags an Caleb dachte. Wieso das so war, konnte sie nicht sagen und sie verspürte auch nicht den Drang, Blight von diesen Exkursionen zu ihrem Geliebten zu erzählen. So zogen die wenigen Tage bis zum Ende des Jahres ins Land, ohne dass etwas geschah. Cornelia musste an diesem Tag arbeiten, was sie ganz und gar nicht störte. Sie hatte herausgefunden, dass sie eine hervorragende Verkäuferin war und die zwanzig Prozent Personalnachlass in Verbindung mit ohnehin reduzierten Einzelstücken machten die hochwertige Ware äußerst erschwinglich. „Das einzige Ungesunde daran ist das Bangen, ob die Stücke sich nicht doch so gut verkaufen, dass sie erst gar nicht in den Ausverkauf kommen“, erklärte Cornelia Hay Lin und Will, während sie die Kassenlade öffnete und anfing, die Beträge der einzelnen Trennbereiche in eine Liste einzutragen. „Du wirkst, als wärst du hier geboren“, gestand Hay Lin schwärmerisch. „So hab ich mir deine Zukunft immer vorgestellt.“ „Alleine, verbittert, von Alpträumen geplagt und in psychologischer Behandlung? Na vielen Dank.“ Sie sortierte die Geldscheine in ein Kuvert ein. „So hab ich das nicht gemeint und das weißt du!“, korrigierte Hay Lin. Es war kurz still, dann lachten sie laut los. „Aber im Ernst, Cornelia, du wirkst, als würdest du das schon ewig machen.“ „Ich lerne sehr schnell“, lobte sich die Angesprochene selbst, während sie alle Unterlagen in den Safe nach hinten ins Lager trug. „Claire ist äußerst angetan von mir. Außerdem habe ich ja Erfahrung mit Abrechnungen und Kassenschlüssen. Im Restaurant gab es genau einen intelligenten Angestellten und der war ich. Der Rest war dumm wie Brot und hat zudem auch noch mehr verdient als ich!“ „Und weil du so toll bist hat dir deine Chefin gleich mal am vierten Arbeitstag die gesamte Verantwortung für den Laden übertragen?“, fragte Will skeptisch. Sie hatte sich bereits beim Anklopfen an die verschlossene Glastüre des Edelladens gefragt, wieso Cornelia alleine war. „Das hat wohl eher etwas damit zu tun, dass ich die Tochter von Harold Hale bin“, gab sie schließlich zu. „Claire hat mich angeblich schon in den Windeln gekannt und ich nannte sie bis zu meinem sechsten Lebensjahr Tante.“ Cornelia zuckte mit den Schultern. „Jedenfalls war heute nicht viel los und an Silvester werden alle Stunden ab ein Uhr doppelt gelohnt. Darum habe ich ihr angeboten, alleine zu bleiben und dann dicht zu machen.“ „Du bist ein Engel“, meinte Will sarkastisch. „Und nur weil du das Geld willst müssen wir jetzt auf dich warten. Ganz toll gemacht.“ „Du willst, dass ich Miete zahle? Dann lass mich arbeiten“, giftete Cornelia mit amüsierten Unterton zurück. „Außerdem haben wir als Dank der lieben Mrs. Claire Higgins für meine aufopfernde Fürsorge das hier bekommen.“ Sie griff unter die Theke und zog aus dem Mitarbeiterkühlschrank eine Schachtel heraus. „Schokolade!“, kreischten Will und Hay Lin im Chor vor Freude. „Aber das war noch nicht alles.“ Sie lange erneut unter die Theke und hob mit einem eleganten Knicks nun eine Magnumflasche über ihren Kopf. „Die Party ist eröffnet!“ Die drei fielen beim Anblick der großen Sektflasche ins Schwärmen und kamen erst wieder heraus, als Cornelia sie köpfte und in drei Pappbecher verteilte. „Ist prickelndem Gold zwar nicht gerecht, schmeckt daraus aber trotzdem“, kommentierte sie. „Für mich noch nicht“, winkte Hay Lin ab. „Ich muss euch immerhin noch zum Hügel kutschieren. Aber nehmen wir die Flasche doch mit. Ich hab Eric dort abgesetzt, bevor ich hergekommen bin. Heute darf er mal fahren. Sagt mal, wann macht ihr eigentlich euren Führerschein?“ Die beiden stöhnten missmutig. „Sobald wir im Lotto gewinnen und diese horrende Summe aufbringen können, schätze ich“, antwortete Will mit Bitterkeit in der Stimme. „Aber fürs erste sollten wir feiern, was das Zeug hält!“ In einer zweigliedrigen Bolognese tanzte sie mit Hay Lin an ihren Fersen aus der Boutique und wartete, bis Cornelia den Laden abgeschlossen und den Schlüssel sicher verstaut hatte. Dann stiegen sie in Hay Lins im Parkverbot geparkten Wagen, der sie aus der Stadt auf den Oakley Hill bringen sollte, den sich Heatherfield mit der angrenzenden Nachbarstadt teilen musste. Es war ein traditionsträchtiges Spektakel. Einmal im Jahr, in der Nacht vom Ende des alten Jahres auf den ersten Tag des neuen Jahres, kurz: Silvester, versammelte sich alles aus Heatherfield und Birkwood, das Beine hatte, am höchsten Punkt des Oakleyhügels, um ein Feuerwerk zu beobachten, das die Einwohner der beiden Städte als das schönste und imposanteste der ganzen Welt bezeichneten. Das Feuerwerk begann genau um Mitternacht und dauerte bis halb eins. Doch voll war das zweihundert Meter hohe Plateau bereits ab sechs Uhr, wenn feiernde Jugendliche und Familien Einzug hielten, um sich die besten Plätze zu sichern. Aus diesem Grund musste Hay Lin etwas abseits am Fuße des Hügels parken, was vor allem Cornelia und ihren Wildlederstiefeln nicht gefiel. Der Fußmarsch hinauf zur Aussichtsplattform dauerte im Normalfall keine viertel Stunde, doch die jungen Frauen versüßten sich die schwere Wanderung mit Sekt und Schokolade. Als sie oben ankamen waren sie dennoch völlig außer Atem. Vom Sekt hatten sie nur jeweils zwei weitere Gläser trinken können, denn die teuer aussehende Flasche hatte sich in Cornelias Händen verflüchtigt und war lautstark zu Boden gesaust, wo sie in ihre Einzelteile zersprungen war. „Ich finde es übrigens süß von dir, dass du den Poncho trägst, den ich dir geschenkt habe“, keuchte Will. Sie hielt sich den Bauch, bis Hay Lin die mitgebrachte Picknickdecke aufgerollt hatte. Erschöpft ließen sie sich darauf fallen, dann begannen sie zu lachen. Cornelia war die erste, die sich wieder fing. „Nun seht euch an was aus den taffen Wächterinnen geworden ist. Wir schaffen es nicht einmal mehr, einen kleinen Erdhaufen zu bezwingen, ohne halb daran zu krepieren.“ „Da hast du völlig recht“, stimmte Hay Lin zu. „Wahrscheinlich sind unsere Muskeln durch die Fliegerei degeneriert und wir haben es durch die ewige Sitzerei in der Schule verabsäumt, sie wieder aufzubauen. Hach, ich wünsche mir diese süßen Outfits zurück.“ Cornelia bejahte, fügte allerdings hinzu: „Auf die Umstände, unter denen wir sie getragen haben, kann ich aber gut und gerne verzichten.“ „Ich denke, das geht Hand in Hand“, vermutete Will. „Hoffen wir, dass es nie wieder Wächterinnen geben wird.“ Die anderen beiden stimmten zu und wechselten dann schnell den Gesprächsgegenstand, als Eric auf sie zukam. Er begrüßte seine Freundin mit einem liebevollen Kuss und die anderen beiden mit einem herzlichen Handschlag. „Über was sprecht ihr?“, wollte er wissen. Eric war ein sehr feinfühliger Mensch und sein Taktgefühl sagte ihm, dass er eben ein intimes Gespräch gestört hatte. Allerdings reichte sein Zartgefühl nicht dazu aus, um seine Neugierde zu bezwingen. „Alte Zeiten“, meinte Hay Lin schlicht. „Nichts Wichtiges.“ Er beließ es dabei und wandte sich anderen Themen zu. Die nächsten Stunden bis zum Feuerwerk hin vertrieben sie sich damit, Eric und Hay Lin auszuquetschen. Und nachdem das Thema erschöpft war, gingen sie dazu über, Miete, Gas- und Stromrechnungen zu vergleichen, Politiker zu beleidigen und sich darüber auszulassen, wie dramatisch hoch die Arbeitslosenquote inzwischen war. Als dann zufällig zwei Freunde von Eric auftauchten, die ganz zufällig auch noch äußerst charmant und gutaussehend waren, wandelte sich die gediegene Stimmung in angeregte Plauderlaune. Andy und James waren ausgesprochen amüsant, weswegen die ernsten Erwachsenenthemen bald unterhaltsamen Alltagsgeschichten und Witzen wichen. Hay Lin bestand weiterhin darauf, nichts mit dem Auftauchen der weiteren Gäste zu tun zu haben und die weiteren Gäste erklärten, dass es unwichtig sei, solange ein so hervorragender Abend dabei herauskam. Schnell war klar, dass Andy eine besondere Vorliebe für Cornelia hatte und auch James schien sich sehr gerne mit ihr zu unterhalten, denn der Biologiestudent arbeitete gerade an seiner Diplomarbeit zum Thema erlerntes Verhalten, das viele Parallelen zur Entwicklungspsychologie aufwies und somit genau Cornelias Interessensbereich erfasste. Doch ebenso schnell wie Andy und auch James einen Narren an Cornelias gutem Aussehen gefressen hatten, so schnell wandten sie sich der um Längen offeneren und ansprechenderen Art Wills zu, nachdem sie festgestellt hatten, dass erstere ausgesprochen distanziert war, obgleich sie recht viel sprach. Will war für die beiden aber auch keine schlechtere Wahl, denn ihr herzliches, lustiges Wesen übertraf das ihrer Freundin bei Weitem und auch in puncto Aussehen sahen die Männer nur einen Unterschied in der Haarfarbe. Will indes fühlte sich geschmeichelt und hatte so viel Spaß, dass sie erst kurz vor Mitternacht merkte, dass Cornelia sich von den Feiernden abgesondert hatte. „Entschuldigt mich, meine Herren“, sagte sie mit einem angedeuteten Knicks. „Die Damen müssen nur eben schnell ein paar Frauendinge erledigen.“ Sie zog Hay Lin mit sich ein wenig abseits. „Weißt du, wo Cornelia steckt?“ Doch Hay Lin verneinte. „Sie ist vor gut einer halben Stunde in die Richtung gegangen. Sie hat gemeint, sie wollte auf die Toilette. Ich hab mir gedacht, dass sie eine kurze Pause von James und Andy braucht. Die beiden sind recht anstrengend. Aber sie haben ein Auge auf dich geworfen. Vor allem Andy. Aber der verknallt sich schnell mal. Trotzdem ist er ein netter Typ. Ich kann dir seine Telefonnummer geben.“ „Später, okay?“, winkte Will ab. „Erst einmal muss ich mit unserer Verlorenen reden. Sag den anderen, ich komme gleich wieder.“ „Aber beeil dich, das Feuerwerk fängt gleich an!“, rief Hay Lin ihr hinterher, aber Will war bereits in die Richtung gelaufen, in die erstere vorhin gezeigt hatte. Sie wusste selbst nicht, wieso sie ein komisches Gefühl hatte, denn Cornelia würde sicherlich keine Dummheit machen. Caleb hin oder her, sie war keine, die einfach aufgab. Wahrscheinlich hatte sie wirklich nur eine Pause gebraucht, denn nun, da Will die Ruhe des Waldes um sich hatte, wurde ihr erst klar, wie laut und aufgedreht es auf dem Plateau war. Die Stimmen der lärmenden Kinder und feiernden Erwachsenen drangen nur mehr gedämpft durch den dichten Wald. Einzig und allein Wills Schritte auf dem Waldboden waren lauter zu hören. Sie führten ihre Besitzerin zielstrebig immer tiefer in den Wald, bis sie zu einer kleinen, Mondlicht beschienenen Lichtung kam. Sie war leer. „Mist“, fluchte Will. Sie hätte schwören können, dass Cornelia hierhin gelaufen war. Doch dann erblickte sie einen schmalen Pfad, der sich nach links den Hügel hinab schlängelte. Will setzte ihren Weg vorsichtig in der Dunkelheit fort, bis sie in einiger Entfernung auf einer Holzbank helles Haar entdeckte. Es war eindeutig Cornelia, die mit dem Rücken zum Pfad gedreht in den sternenlosen Himmel sah. „Cornelia?“, fragte Will leise, um sie nicht zu erschrecken. Vergebens. Sie zuckte dennoch merklich zusammen und wandte sich dann schnell um. „Oh, du bist es. Möchtest du dich setzen?“ Will ließ sich nicht lange bitten und schwang ihre Beine lässig über die kalte Holzlehne der Bank. „Hast du keine Angst, dass du hinunterfällst?“ Will sah mit steigendem Unwohlsein den steil abfallenden Hügel hinab, dessen Hang zwei Meter vor ihnen begann. „Ah, jetzt verstehe ich auch, wieso du hinaufschaust.“ Sie tat es ihr gleich. „Ich warte darauf, dass das Feuerwerk beginnt“, erklärte Cornelia. „Wir sind etwa zwanzig Meter unter dem Plateau. Hier ist soweit ich weiß die einzige Stelle des Hügels, an der man freie Sicht auf Heatherfield hat, wenn man das abgeholzte Plateau nicht mitzählt. Früher waren dort an die tausend Bäume. Aber hier“, sie machte eine ausladende Geste über die Baumwipfeln, „hier sind die Tannen und Fichten nicht so groß, weil sie sonst zu schwer für die weiche Erde wären. Sie würde abstürzen. Darum kann man hier über die Spitzen schauen.“ „Und wieder was gelernt“, scherzte Will. „Aber im Ernst, wieso bist du weggegangen? Klar, es war laut, aber hier alleine herum zu sitzen stimmt mich persönlich irgendwie traurig.“ „Ich möchte das Feuerwerk lieber in Ruhe genießen.“ Aber Will glaubte ihr nicht. „Du hast wieder an ihn gedacht, nicht wahr? Wegen dem Feuerwerk vor fünf Jahren.“ Sie sah traurig auf ihre Schuhspitzen. „Das ist es nicht“, widersprach Cornelia. Ihr heißer Atem erzeugte Rauch in der klirrend kalten Nachtluft. „Dr. Blights Gespräche zeigen sehr schnell ihre Wirkung. Irgendwie habe ich das Gefühl, dass mir alle Erinnerungen entgleiten. Das möchte ich aber nicht.“ Plötzlich erschraken beide und wandten den Kopf blitzschnell nach hinten. Es war ein Knacksen gewesen, als wäre jemand auf einen morschen Zweig getreten. „Sicherlich nur ein Tier“, versuchte Will vor allem sich selbst zu beruhigen, denn Cornelia hatte im Gegensatz zu ihr keinen ängstlichen Gesichtsausdruck. „Cornelia? Ist alles in Ordnung?“ Doch sie gab keine Antwort, sondern stand leise auf, den Blick immer in den schwarzen Wald gerichtet. Mit beinahe lautlosen Schritten ging sie auf den Waldrand zu. „Cornelia, komm zurück!“, flehte Will. Ihr war ganz und gar nicht wohl. Und dann erinnerte sie sich daran, wen Cornelia angeblich an Heiligabend gesehen haben wollte und wohin er verschwunden war. Ein Rascheln von Blättern, ein Knacksen von Ästen, das alles war sich sehr ähnlich. Aber das konnte nicht sein. Zweifelnd stand auch Will nun auf und klammerte sich an Cornelias Rücken. Ängstlich linste sie über ihre Schulter. „Ich weiß, wen du hier zu finden hoffst, aber das ist Unsinn. Nur weil du Angst hast, ihn zu vergessen, musst du ihn doch nicht überall sehen, oder?“ Wills Stimme war zu einem kaum hörbaren Flüstern verkommen, auf das Cornelia immer noch keine Antwort gab. Dann, ohne Vorwarnung, erleuchtete die Explosion der ersten Rakete den Nachthimmel. Die beiden jungen Frauen zuckten erschrocken zusammen, doch auch im Wald schien jemand erschrocken zu sein. Es erklang ein weitere Knacken, dann ein Rascheln und schneller als Will reagieren konnte, entglitt Cornelia ihrem Griff und stürmte in den Wald hinein. Es waren nur fünf Sekunden, die sie fassungslos stehen blieb, ehe sie Cornelia hinterher lief, doch diese kurze Zeit reichte, um sie aus den Augen zu verlieren. Die Schritte im morschen Unterholz wurden von dem Prasseln der Raketen übertont, sodass Will keine Ahnung hatte, wohin sie laufen sollte. Also rannte sie auf Gutglück los. Währenddessen hörte Cornelia die Schritte vor ihr sehr genau. Da lief jemand, eindeutig. Und dieser jemand wollte nicht erkannt werden. Bildete sie sich das wirklich nur ein, so wie Will gesagt hatte, oder war sie zumindest noch halbwegs Herrin ihres Verstandes? Erst auf dem Balkon, dann jetzt, das konnte kein Zufall sein! Es durfte kein Zufall sein! Keuchend und die stechende Seite ignorierend hechtete sie mit großen Schritten weiter durch den sekundenweise erhellten Wald. Doch die Bäume standen zu dicht, als dass sie mehr als die Silhouette des Flüchtlings erkennen konnte. Deshalb schrie sie, ohne zu überlegen: „Caleb!“, in der Hoffnung, er würde stehen bleiben. Doch sie hatte weit gefehlt, im Gegenteil: Die Schritte des Mannes wurden noch schneller und größer, sodass sie nicht mehr lange Schritt halten würde können. Und dann war jegliche Geschwindigkeit hinfällig. Nur einen kurzen Augenblick, eigentlich viel zu kurz, um als Augenblick zu gelten, war sie durch einen seltsamen Geruch abgelenkt, und dann war es auch schon geschehen. Wie aus dem Nichts geschossen stand eine wuchtige Rotfichte um zwanzig Zentimeter zu weit rechts, während Cornelia sie um zwanzig Millisekunden zu spät sah. Mit voller Wucht erfassten ihre Schulter und ihr gesamter rechter Arm die Rinde des Baumes, sodass sie an manchen Stellen lautstark absplitterte. Aufgrund des Schwungs, den Cornelia noch zusätzlich in ihre Schritte gelegt hatte, drehte sich ihr Körper unwillkürlich zur Seite, ohne dass ihr Lauf langsamer geworden war. Mit einem lauten Knall trafen ihr Brustkorb und die linke Seite ihres Gesichtes gegen den Stamm eines danebenstehenden Baumes. Keine Sekunde später lag sie hustend auf dem Boden. Ihre Brust fühlte sich an, als lasteten hunderte Kilos auf ihr. Das Atmen fiel ihr schwer, der Kopf dröhnte und die gesamte rechte Seite fühlte sich an, als wäre eine Dampfwalze darübergefahren. Wie gestorben lag sie mit dem Bauch auf dem kalten, feuchten Erdboden, die linke Wange im Dreck und die rechte aufgeschürft und blutverschmiert. Ihre Atmung hörte sich an wie ein lebensschwaches Röcheln. Für die ersten paar Sekunden lag sie einfach unbewegt da, ohne verstanden zu haben, was gerade geschehen war. Dann, als sie ihre Fassung wieder gewonnen hatte und der Adrenalinstoß verebbt war, legte sich der richtige Schmerz über das anfänglich matte Gefühl der Geplättetheit. „Cornelia!“ Für einen Moment hatte sie gehofft, der Flüchtige hatte umgedreht angesichts ihres Sturzes. Die Tatsache, dass er ihren Namen gekannt hätte, hätte ihr Sicherheit gegeben, dass es sich um Caleb gehandelt hatte. Doch es war Will, die schrie. Sie hatte den Krach und den anschließenden Fall auf die kahlen Zweige gehört und gedacht, Cornelia hatte den Unbekannten gefasst und zu Fall gebracht. Als sie jedoch sah, wer da wirklich lag – ohne Erfolg gehabt zu haben – setzte ihr Herz aus. „Cornelia, Cornelia, o Gott! Cornelia!“ Aufgelöst warf sie sich neben ihre Freundin, die sie aus geweiteten Augen immer noch röchelnd ansah. Das Röcheln war in dieser Sekunde das schönste Geräusch für Will, denn es signalisierte, dass Cornelia noch am leben war. „Was ist passiert? Kannst du atmen? Warte ich helfe dir.“ Sie zog ihren Oberkörper auf, damit ihr das Atmen leichter fiel. Glücklicherweise waren die leichten fünfzig Kilo eine zu schaffende Aufgabe. „Du siehst ja furchtbar aus…ich dachte schon, du wärst tot! Hat er dich angegriffen? Wer war es? Warum hat er dich niedergeschlagen? War es überhaupt ein Mann? Erzähl doch endlich!“ Cornelia ließ nur ein ungesund klingendes Husten hören, das sich für Will wie das Wort ‚Baum’ anhörte. Sie sah Cornelia verwirrt an. „Ich bin –“ Husten. „– gegen –“ Luftholen. „– einen Baum gelaufen.“ Röcheln. „Gegen den da.“ Sie hob ihre unversehrte Hand und deutete auf einen Baumstamm, dessen Rinde an einer Stelle fehlte. „Und dann gegen den.“ „Was?“ Will starrte sie ungläubig an. „Hat der Baum dich danach noch verprügelt? So siehst du nämlich aus.“ „Nein“, beharrte Cornelia verärgert. Die Atemnot hatte nachgelassen, doch ein beklemmendes Gefühl in der Brust blieb allerdings, aber das kam nicht vom Sturz. „Ich bin so schnell gerannt und es war stockdunkel, sodass ich den Baum dort übersehen hab. Ich bin mit der Schulter angestoßen, ins Taumeln geraten und dann – kabumm! – war da auch schon der nächste Baum!“ „Ich werd verrückt…“ Über ihnen zerbarst eine blaue, riesengroße Rakete, die den gesamten Wald für kurze Zeit erhellte. „Das heißt, du hast gar nichts herausgefunden? Wer es war und was er wollte?“ Sie stockte und rümpfte die Nase. „Sag mal, spinn ich, oder riecht es hier komisch?“ Nun war auch Cornelia aufmerksam geworden. „Ja, du hast Recht. Das ist mir vorhin schon aufgefallen. Irgendwie…wie in einer Autowerkstatt?“ „Nein, eher wie an einer Tankstelle.“ Sie sahen sich nachdenklich an „Wahrscheinlich sind das einfach die Raketen“, schloss Cornelia und wandte sich ihrer Hose zu. „Soll ich Hay Lin bitten, dass sie dich ins Krankenhaus bringt? Das sieht wirklich schlimm aus.“ „Nein.“ Cornelia fing an, die halb verrotteten Blätter und die Erdreste von ihrer Kleidung zu picken. Dabei verzog sie erste schmerzhaft das Gesicht und begann dann entnervt zu stöhnen. „Schau dir das an…die Hose hat mich fünfzig Dollar gekostet! Und der Poncho ist auch hinüber…denkst du, man bekommt die Erdflecken wieder raus?“ „Aus der Jacke bestimmt, aber die Hose kannst du vermutlich wegschmeißen, selbst wenn sie wieder sauber wird.“ Enttäuscht und den Tränen nahe, nun, da der erste stechende Schmerz vorüber war und der zweite, pochende und viel tiefer sitzende hervorkam, fuhr Cornelia mit zittrigen Fingern über die zerrissene Hose, unter deren Fetzen ihre Haut voller Kratzer, Schürfwunden und Blut war. „Ich glaube, du bist der einzige Mensch, der halb stirbt, wenn er gegen einen Baum läuft. Dabei ist dein Element doch die Erde.“ „Feuer!“, rief Cornelia. „Feuer?“, wiederholte Will mit hochgezogener Augenbraue. „Das war eindeutig Taranee. Es ist zwar schon fünf Jahre her, aber ich habe deutlich vor Augen wie du –“ „Himmel noch mal, Feuer!“, unterbrach Cornelia sie kreischend. Ihr Finger zeigte zum Himmel, wo wie in Zeitlupe ein Feuerball zur Erde gesaust kam. Völlig unfähig für jedwede Reaktion sahen die beiden der lodernden Kugel zu, wie sie zielgenau auf die zuflog. Sie wurde größer und größer und nach fünf Sekunden schlug sie zwei Meter neben ihnen ein. Noch immer bis zur Fassungslosigkeit irritiert wanderten ihre groß gewordenen Augen zu dem Ball, der am Ende eines langen Holzstabes flackerte und nun auf einen morschen Baumstamm übergriff. Und dann, schneller als jedes Blinzeln, befanden sich die beiden in einem wild fackelnden Feuerkreis, der sie umzingelt hatte. „Verdammt!“, schrie Will und sprang auf. „Was machen wir jetzt?“ „Keine Ahnung“, wimmerte Cornelia, „aber ich kann nicht mal aufstehen!“ „Jetzt ist keine Zeit zum Jammern, los, hoch!“ Sie versuchte, Cornelia aufzuziehen, doch diese ließ sich nicht bewegen. Starr vor Schreck saß sie da, die Augen weit aufgerissen und den züngelnden Flammen ins hungrige Antlitz blickend. „Wir sind verloren…“, hauchte sie mit wässrigen Augen. „Wir werden sterben, hörst du Will? Wir werden hier verbrennen!“ Nun hatte die Panik sie gepackt und in einen hysterischen Anfall versetzt. „Tu doch was, um Himmels Willen, mach was! Lösch es!“ „Mit was denn, hä?“ Will war etwas gefasster, doch auch sie konnte unter dem drohenden Ende nicht nachdenken. Ihre Lippen zitterten, ihre Knie wurden weich und schlussendlich fiel sie neben der kreischenden Cornelia zu Boden. Im Gegensatz zu ihr konnte sie nicht einmal einen Ton herausbringen. Das war das Ende, der Tod, niemand konnte sie mehr retten. Diese und ähnliche Gedanken waren die letzten, die sie im Angesicht des heißen Feuers dachten, welches immer engere Kreise um sie zog. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)