Rewind And Reflect von 4FIVE ([Caleb x Cornelia | canon-sequel | enemies to lovers]) ================================================================================ Kapitel 3: Aims --------------- … Just because I acted tough, you couldn't see my tears I pretended I had never had … D R E I „Ich schwöre es dir, ich hab ihn gesehen!“ Die Diskussion ging nun seit knapp einer Stunde. Es war der siebenundzwanzigste Dezember. Cornelia hatte Will erst gar nicht von ihrer eigentümlichen Entdeckung erzählen wollen, da sie selbst diese für ausgeschlossen hielt, doch der Vorsatz hatte nur einen Tag gehalten. Nun war es bereits elf, sie saßen immer noch beim Frühstück und Will bestand auf ihre Meinung, die Cornelia allerdings als geistig Verwirrte darstellte, was dieser ganz und gar nicht passte. „Ich weiß, was ich gesehen habe!“, beharrte sie, doch Will schien nicht überzeugt. „Alles, was du gesehen hast, war also ein Schatten und ein khakifarbener Zipfel von irgendwas, ja? Und daraus schließt du, dass es Caleb war?“ Cornelia verzog bei dem Namen das Gesicht, doch sie ignorierte es und sprach weiter. „Wie kannst du dir sicher sein, dass er es war? Es war dunkel, du warst verheult und aufgewühlt, vielleicht hast du einfach nur das gesehen, was du sehen wolltest? Wie konntest du überhaupt sehen, dass es Khaki war? Immerhin war es laut dir stockfinster und zudem, selbst wenn es Khaki war, das ist die Modefarbe des Winters, jeder läuft darin rum!“ Cornelia raufte sich die Haare, zupfte ihr khakifarbenes Shirt zurecht und knallte die Hand auf die Tischplatte. „Mit dir zu reden ist echt frustrierend! Ich weiß nicht, warum ich sicher sagen kann, dass es gerade dieser spezielle Braunton war, aber ich weiß es nun mal!“ „Ebenso wie du weißt, dass es Caleb war, der auf deinem Balkon spazieren gegangen ist“, stellte Will nüchtern und skeptisch fest. „Ich halte das für einen Streich, den dir dein Gehirn gespielt hat. Du bist doch die Psychologin, also analysier dich und ich sag dir, ob es stimmen kann oder nicht.“ „Okay, wie du willst.“ Cornelia schloss kurz die Augen, dann sagte sie mit fester Stimme: „Ich habe ihn gesehen.“ „Jetzt reicht’s!“ Mit scharrendem Sessel schoss Will in die Höhe und sah ihre Mitbewohnerin von oben herab an. Dann besann sie sich und setzte sich wieder. Mitfühlend nahm sie Cornelias Hand. „Ich weiß ja, dass es schwer für dich war und noch immer ist. Und auf eine verquere, falsche Art und Weise glaube ich dir, weil du in solchen Sachen immer Recht behältst, aber, und das sage ich als besorgte Freundin, es wäre besser, wenn du ihn nicht gesehen hättest. Verstehst du, was ich meine?“ „Das heißt, du denkst, dass er wirklich in unserer Welt ist, aber ich mir einreden sollte, dass er es nicht ist?“, resümierte Cornelia zweifelnd. „Um deiner seelischen Balance Willen.“ Will ließ ihre Hand wieder los und stand nun endgültig auf. „Ich muss jetzt los, Billy hat sich krank gemeldet und darum muss ich einspringen. Ich bin um sieben wieder da.“ Als sie bereits ihre Jacke anhatte, kam sie noch einmal in die kleine Küche zurück. Cornelia machte einen schrecklich erschlagenen Eindruck, also formulierte sie ihre Aussage sehr vorsichtig. „Wenn du weiterhin darauf bestehst, ihn tatsächlich gesehen zu haben, solltest du vielleicht Dr. Blight aufsuchen und, nun ja, es dir von ihm ausreden lassen. Der kann dir womöglich einreden, dass es nur ein Abbild deiner tiefsten Wünsche ist, oder so was in der Art.“ Und an Cornelias Reaktion sah Will erst, wie ernst es um sie stand. Im Gegensatz zu ihrer sonst so rüden Art, wenn es darum ging, Hilfe anzunehmen, nickte sie nur schwach und gestand ihr wispernd Recht zu. „Kopf hoch, das wird schon. Denke ich. Bis später.“ „Denkst du wirklich, dass es funktioniert?“ Die männliche Stimme war äußerst rauchig. „Es ist der einzige Plan, den wir haben“, stellte die zweite, tiefere Stimme fest. „Und doch, er ist perfekt. Durchgeplant und bis aufs letzte Detail durchdacht. Wir haben den Anstoß gegeben, nun muss die Sache von alleine laufen. Hab Vertrauen.“ Der Besitzer der tieferen Stimme lachte hämisch und entblößte eine Reihe gelber Zähne, die allesamt schief in seinem Mund saßen. „Aber was ist, wenn er Wind davon bekommt, dass die Tore wieder offen sind?“, gab die rauchige Stimme zu bedenken. „Selbst wenn er es herausbekommt, er würde niemals in ihre Nähe kommen. Er liebt sie noch zu sehr, als dass er sie und sich selbst in ein solches Unglück stürzen wollen würde.“ „Ich hoffe für dich, dass du Recht behältst.“ „Sorge dich nicht.“ Die tiefe Stimme bekam einen süßen Beigeschmack. „Es wird so laufen, wie wir es geplant haben.“ Doch die andere Stimme klang nicht allzu überzeugt. Auch wenn er den Fähigkeiten seines Partners traute, er hatte nicht denselben Optimismus, der bei einem solch gefährlichen Unternehmen vonnöten gewesen wäre, um unbesorgt das Spiel zu genießen. „Ich hoffe es für uns beide.“ Die eingravierten Buchstaben und Ziffern auf der Goldtafel vor dem imposanten Gebäude im viktorianischen Stil sagten Cornelia, dass sie hier richtig war. Ihre Hände schlossen sich krampfhaft um die Visitenkarte von Dr. Blight, vor dessen Praxis sie nun stand. Sie überlegte kurz, ob sie einfach gehen sollte, doch nun hatten sie bereits zu viele Leute hier stehen gesehen. Wenn sie nun umdrehen sollte, wäre das äußerst peinlich. Allerdings befanden sich in dem achtstöckigen Stadthaus, das sich überhaupt nicht von den anderen abhob, auch noch ein Frauenarzt (dann würde man doch denken, sie sei schwanger!), ein Fußarzt (dann würde man denken, sie habe Warzen!) und ein Hals-Nasen-Ohrenarzt (gegen den sie nichts einzuwenden hatte). „Sei kein Feigling!“, sagte sie sich selbst und nun wurde sie von den Wartenden an der Bushaltestelle erst recht angestarrt. Sie könnte doch auch so tun, als hätte sie sich einfach im Haus geirrt, denn die sahen in diesem Stadtviertel, dem Stadtkern, wirklich alle extrem ähnlich aus. „Komm schon, geh einfach rein.“ Obwohl sie nur geflüstert hatte, schien es, als hätten die Leute an der Haltestelle trotzdem alles gehört. Nun gab es also kein Zurück mehr. Es würde ja auch nicht so schlimm werden. Sie wusste ganz genau, wie es ablaufen würde. Erst begrüßte man sich, beantwortete allgemeine Fragen zum Wohlbefinden und aktuellen Ereignissen, dann ging es an die spezifischen Fragen und im Handumdrehen war sie wieder in Freiheit mit einer völlig unbedenklichen Diagnose. Und glücklicherweise glaubte sie sich selbst diese Gedanken, denn hätte sie auch nur eine Sekunde daran gezweifelt, sie wäre sofort davongerannt und hätte nicht mehr als eine Staubwolke zurückgelassen. Doch Cornelia war von sich selbst so überzeugt, dass sie keine andere Möglichkeit zuließ, als an ihre seelische Gesundheit zu glauben. „Name, Alter, Anliegen und Versicherung, bitte“, verlangte die rothaarige Sprechstundenhilfe in gleichgültigem Ton. Sie sah dabei nicht einmal von ihrem Computer auf. Ihre manikürten Finger flitzten über die Tastatur, während Cornelia leicht befangen antwortete. „Cornelia Hale, neunzehn, HAKK“, stotterte sie. Das Anliegen ließ sie dabei absichtlich aus. „Tut mir Leid, Miss Hale, aber wir sind eine Wahlpraxis.“ „Ich weiß“, sagte Cornelia unsicher. „Ich bin eine von Dr. Blights Studentinnen und er hat mir angeboten-“ Doch sie wurde unterbrochen. „Studentin also, ja? Ich sehe nach, ob er eine Notiz hinterlassen hat.“ Sie kramte widerwillig in einem Stapel abgelegter Akten und zog schließlich ein kleines Post-It heraus. „Tatsache. Cornelia Hale, nächstmöglicher Termin nach Eintreffen“, las sie vor und tippte rasch auf ihrer Tastatur herum. „Sie haben Glück, Miss Hale, Dr. Blights Terminkalender hat Sie bereits eingerechnet und für heute vorgesehen. Setzen Sie sich dort drüben hin und warten Sie.“ Sie wies auf eine Reihe bequem aussehender Couchsessel und schubste Cornelia mit strengem Blick in die richtige Richtung. Völlig perplex über eine so schnelle Handhabung, erinnerte sie sich erst als sie auf dem gepolsterten Sitzmöbel saß wieder daran, dass sie eigentlich heute gar keine Sitzung belegen wollte. Peinlich berührt und ein wenig verschämt stand sie wieder auf und schlich zum Empfangspult. „Entschuldigen Sie die Störung, aber eigentlich wollte ich heute nur ein wenig Informationen sammeln und dann entscheiden, ob ich-“ Doch erneut wurde ihr über den Mund gefahren. „Informationen können Sie auch sammeln, wenn Sie mit Dr. Blight persönlich reden. Am Ende des Termins können Sie sich außerdem so viele Broschüren mitnehmen, wie Sie möchten. Das ist doch etwas, oder?“ Die Sprechstundenhilfe sah sie mitleidig an und Cornelia konnte es ihr nicht verdenken. Es war sicherlich nicht einfach, tagtäglich mit emotional Geschädigten oder geistig Verwirrten umzugehen und dabei ruhig zu bleiben. Sie hatte sich offensichtlich abgeschottet. Ohne ihr Ziel erreicht zu haben, trottete Cornelia also wieder zurück zum Wartebereich, wo sie sich so weit als möglich von den restlichen Wartenden wegsetzte. Während der nächsten Stunde, in der sie zwei Mal beinahe gehen wollte und vier Mal dasselbe Lifestyleheft las, beobachtete sie hin und wieder mit wachsendem Interesse und immer länger die übrigen Anwesenden. Der Mann in der linken hinteren Ecke blickte kein einziges Mal von seiner Zeitschrift auf, der andere schrieb immer wieder unleserliche Worte auf einen schmuddeligen Block und wiederholte scheinbar ebenjene Worte immer wieder in einem Abstand von genau zweiundzwanzig Sekunden. Doch am faszinierendsten war das kleine Mädchen von geschätzten fünf Jahren, das eine große Zahl verschiedenfärbiger Bauklötze fortwährend in bestimmten Systemen ordnete. Ihre Eltern waren weit und breit nicht zu sehen, doch das schien sie nicht zu stören. Ebenso schien ihr auch nicht langweilig zu werden, im Gegenteil: sie legte einen bewundernswerten Gleichmut an den Tag, welcher selbst bei Erwachsenen selten zu sehen war. „Miss Hale“, wurde sie plötzlich gerufen und erschrocken wandte sie ihren Kopf in die Richtung einer mit Leder gepolsterten Flügeltüre, die aufgegangen war. Im dunklen Holzrahmen stand mit blitzendweißen Zähnen lächelnd Harvey Blight, der eindeutig erfreut war, sie zu sehen. Noch nie war ihr aufgefallen, wie groß und trainiert er unter seinem kurzärmeligen Hemd war. Sein dunkelbraunes Haar war heute nicht so locker verwuschelt wie in den Vorlesungen, sondern ordentlich gekämmt und gebändigt. Auch seine braunen Augen strahlten hinter der Brille viel mehr als sonst. „Kommen Sie doch rein.“ Er ließ sie vorgehen und die ersten Impressionen des Raumes auf sie wirken. Er war groß, hoch und äußerst geschmackvoll eingerichtet. Das Zimmer entsprach keinem typischen Behandlungszimmer im aristokratischem, schwerem Stil, sondern eher einem geschmackvoll eingerichtetem, teurem Wohnzimmer. Der Boden war aus hellem Holz, die Wände mit Burgunderlilien verziert und die Möbel entsprachen jener Vorstellung, die man hatte, wenn man an gediegene Herrenhäuser dachte. In der Ecke weilte ein schweres Bücherregel hinter einem schräg gestellten Schreibtisch aus poliertem Mahagoniholz mit Goldornamenten. Als Blickfänger dienten farbenfrohe Pflanzen und Bilder, die an allen möglichen Plätzen schüchtern hinter dem wissensträchtigem Material hervorlugten, um eine freundliche Atmosphäre zu schaffen – kurzum, man war regelrecht dazu gezwungen, sich wohlzufühlen. „Beeindruckt?“, fragte Dr. Blight freundlich lächelnd. Er bot Cornelia einen Platz auf der cremefarbenen Ledercouch an. „Von den Möbeln, nein“, meinte Cornelia trocken und setzte sich. „Von der Art der Einrichtung, ja.“ „Aah, ich dachte mir schon, dass Sie so reagieren würden“, gab Blight zu. „Dürfte ich Sie bitten, Ihr Urteil zum Besten zu geben?“ Cornelia überlegte kurz, ließ den Blick erneut schweifen und begann dann, ihre Meinung zu äußern. „Das Mobiliar ist so gewählt, dass es einem Großteil der Menschen gefällt. Sie sind nicht zu ausgefallen und auch nicht zu altmodisch, aber auch nicht hypermodern, eher klassisch elegant. Außerdem vermitteln sie den Eindruck, dass sie teuer waren, was zweifelsohne seine Richtigkeit hat. Die vielen geordneten Bücher und die Artefakte, die überall herumstehen, wie beispielsweise der Globus und die kleinen Statuen, hingegen erinnern daran, dass man sich sehr wohl auf einer Stätte des Wissens befindet und sie attributieren dem Besitzer, also Ihnen, die Eigenschaft, äußerst intelligent zu sein. Unintelligente Menschen haben ja nicht so viele Bücher und Globusse, nicht wahr?“ Der letzte Satz klang in gespieltem Zweifel aus. „Im Gegensatz dazu finden sich auch ganz alltägliche Elemente wieder, wie Blumen und Gemälde in hellen, aber nicht auffälligen Farben, die eine gewisse Lockerheit der Atmosphäre ausstrahlen.“ Blight applaudierte ihr anerkennend. „Man sieht, dass Sie sich mit dem Kapitel Wahrnehmung äußerst intensiv auseinandergesetzt haben. Aber wahrscheinlich sind Sie einfach außergewöhnlich talentiert. Kein Berufspsychologe hätte es besser ausdrücken können.“ „Schmeicheln Sie mit doch nicht so“, winkte Cornelia ab und sah errötend zu Boden. „Das war auch nicht allzu schwer.“ „Wie Sie meinen, Miss Hale.“ Er ließ das Thema fallen. „Normalerweise beginne ich meine erste Sitzung immer mit einer kleinen Vorstellung. Ich würde gerne anfangen, denn Sie kennen mich nur als Gastdozent, aber nicht als Mensch. Heute beschränken wir uns darauf, ein wenig über uns zu erfahren und nur unsere Gedanken ein wenig auszutauschen.“ Dabei fiel Cornelia etwas ein. „Entschuldigen Sie die Unterbrechung, aber Ihre Sekretärin hat gesagt, dass Sie heute einen Termin für mich freigehalten haben. Waren Sie sich so sicher, dass ich Sie so schnell aufsuchen würde?“ „Ich muss gestehen, ganz und gar nicht“, gestand er ein wenig peinlich berührt. Sein bubenhaftes, verlegendes Lächeln machte es Cornelia schwer, sich gegen die aufkommende Sympathie ihm gegenüber zu wehren. „Ehrlich gesagt war ich mir bis zuletzt nicht sicher, ob Carla nicht einen Fehler gemacht hat, als sie Ihren Namen an mich weitergeleitet hat. Ich habe nicht direkt Termine freigehalten, ich habe meine anderen einfach verschoben. Normalerweise hätte ich nun Mittagspause und danach würde die kleine Annie drankommen, doch unser Gespräch hat Vorrang.“ „Ich wollte sie nicht von ihrem Essen abhalten“, entschuldigte sich Cornelia energisch. „Machen Sie sich keine Gedanken, ich habe Chinesisch bestellt, Sie sind herzlich eingeladen, falls Sie noch nicht gespeist haben.“ Wie auf Knopfdruck knurrte Cornelias Magen. „Imposant, die Macht der Situation, nicht wahr? Damit dürfte die Antwort klar sein.“ „Aber Ihre anderen Patienten“, widersprach Cornelia. Sie hatte sogar kurz gehofft, ungelegen zu kommen. „Ich möchte nicht, dass sie warten müssen. Sie scheinen schwerwiegendere Probleme zu haben als ich.“ „Schwerwiegender wahrscheinlich, jedoch leider unheilbar. Eine halbe Stunde Rückverschiebung verschlechtert ihren Zustand nicht, ebenso wie eine Vorverlegung ihres Termins ihn nicht bessern würde. Ihre Probleme dagegen, Miss Hale, sind dringlicher als neurologische Störungen. Sie sind emotionaler Natur und Emotionen sind äußerst ambivalent, wie Sie wissen. Wenn wir gerade davon reden, beeindrucken Sie mich.“ Er legte seine Fingerspitzen aufeinander und nahm nun ebenfalls Platz, allerdings auf der gegenüberliegenden Couch. „Können Sie mir sagen, an welchen Dispositionen die Menschen in meinem Wartezimmer leiden?“ „Ich weiß nicht, ob wir darüber reden sollten“, sagte Cornelia zögerlich, besann sich jedoch dann eines Besseren. Lieber über andere reden, als das Thema auf sie selbst zu lenken. „Das kleine Mädchen zeigt starke autistische Züge. Der Mann, der stetig auf einen Notizblock kritzelt, hat wohl eine Phobie vor etwas und versucht, diese zu überwinden, indem er sich ein Mantra aufsagt und es visualisiert, indem er es unter anderem aufschreibt. Zweifelsohne das Resultat einer Therapie, die vermutlich auf Ihre Rechnung geht. Und mit dem Verhalten des Mannes, der gelesen hat, kann ich nichts anfangen.“ „Das hätte mich auch gewundert. Aber immerhin, zwei von dreien korrekt diagnostiziert. Sie haben eine ausgesprochene Begabung und damit schmeichle ich Ihnen nicht im Geringsten“, fügte er hinzu, als er Cornelias aufkommenden Protest bemerkte. „Ich bestätige bloß das, was sie selbst von sich schon wissen. Übrigens, der Mann mit der Zeitschrift war bloß gelangweilt. Er wartete auf seine Frau, meine Patientin vor ihnen. Und nun genug mit dem Diagnosespiel, lassen Sie uns zu Ihnen übergehen. Besser gesagt, erst einmal zu mir, wenn ich so frei sein darf und aus purem Egoismus meine Vorstellung der Ihrigen vorziehe.“ „Kein Problem“, erlaubte Cornelia, obgleich sie wusste, dass es eine rein formale Frage gewesen war, die jegliche Antwort entbehrte. „Mein Name ist Harvey James Blight, ich bin Anfang dreißig und konnte mir den Traum einer Privatpraxis durch eine temporär glücklich ausgefallene Erbschaft finanzieren. Mein Lieblingsessen schwankt ständig zwischen Kotelette und Kartoffeln, doch ich bin auch ein großer Fan der ausländischen Küche, wie beispielsweise Chinesisch oder Thailändisch. In meiner Freizeit gehe ich Tennisspielen und manchmal, wenn ich äußerst waghalsig unterwegs bin, wage ich es, meinen Westernreitstil ein wenig zu verbessern. Möchten Sie sonst etwas über mich wissen?“ Cornelia suchte schnell nach einer Frage, um ihre eigene Vorstellung hinauszuzögern. „Haben Sie Familie?“ Er schüttelte den Kopf. „Ich war verheiratet, doch es funktionierte nicht und wir ließen uns vor vier Jahren wieder scheiden. Ich habe auch keine Kinder und Geschwister, folglich ebenso wenige Nichten oder Neffen. Meine Familie ist meine Hündin Jessica.“ Und nun fiel Cornelia keine Frage mehr ein. Jetzt würde es also losgehen. „Dann fangen Sie einmal an, alles zu erzählen, was Sie für den Moment wichtig an Ihrer Person finden.“ Überlegend legte sie die Finger ans Kinn und sah zur Decke. Automatisch überschlugen sich ihre Beine. Sie musste ziemlich verkrampft aussehen und so war es auch, denn Blight forderte sie prompt auf, locker zu sein. Sie brauche keine Angst zu haben, sie solle einfach ein wenig erzählen. „Ich heiße Cornelia Hale“, sagte sie unsicher, ob sie damit beginnen sollte, immerhin kannte er ihren Namen ja. „Ich bin neunzehn Jahre alt und studiere Psychologie an der Heatherfield University.“ „Gut, das ist ein Anfang“, lobte Blight zufrieden. „Wohnen Sie noch zuhause? Wo sind Sie aufgewachsen?“ „Ich lebe mit meiner besten Freundin in einer Wohngemeinschaft zusammen. Mein Elternhaus liegt in Surrey. Ich bin vor zwei Jahren ausgezogen.“ „Surrey also“, wiederholte Blight. Er notierte sich etwas auf einem Notizblock. „Also sind Ihre Eltern sehr wohlhabend? War das Verhältnis zu Ihnen liebevoll oder eher unterkühlt, wie man es bei vielen reichen Familien vorfindet?“ „Es war eigentlich immer sehr liebevoll, obwohl meine Mutter recht streng ist. Meine Schwester Lilian und ich haben oft Krach gemacht und uns gestritten. Es war also wie in jeder normalen Familie.“ Cornelia waren die Fragen peinlich. „Und jetzt ist das Verhältnis distanziert?“ Es klang eher nach einer Feststellung. „Nein.“ Er musste ja nicht sofort alles wissen, doch Blight durchschaute die Lüge sofort. „Es wäre besser, Sie würden ehrlich zu mir sein. Warum sind Sie ausgezogen, wenn die Beziehung zu Ihren Eltern harmonisch war?“ Aber Cornelia dachte nicht daran, nun bereits aufzugeben. „Ich wollte schnell auf eigenen Füßen stehen.“ „Sind Sie sicher?“ Blights durchdringender Blick hämmerte stark gegen Cornelias Barrikade, doch sie hielt stand. „Ja, bin ich.“ „Also gut. Wo haben Sie Ihre Mitbewohnerin kennen gelernt?“ „Wir gingen auf dieselbe High School.“ Irgendwie kam ihr das Ganze wie ein Verhör vor, doch sie wagte nicht, die Methoden Dr. Blights jetzt schon infrage zu stellen. Vermutlich war sie einfach abnormal verschlossen. „Wir waren früher zu fünft, ein unzertrennliches Mädchenteam, aber übrig geblieben sind nur Will und ich.“ „Will also, gut“, notierte er. „Und was ist mit den anderen geschehen?“ „Das ist eine lange Geschichte.“ „Erzählen Sie sie“, forderte Blight mit einer ausladenden Handbewegung und einem auffordernden Kopfneigen in ihre Richtung. „Von mir aus, aber es ist nicht allzu spannend“, versuchte sie sich herauszureden. Es funktionierte nicht; Blight blieb standhaft. „Will, Irma, Taranee, Hay Lin und ich, wir fünf gingen alle in dieselbe Klasse am Sheffield Institute. Unsere Freundschaft war das einzige, auf das wir uns komplett verlassen konnten. Wir bestanden Abenteuer, durchlebten die ersten Liebesprobleme zusammen und ließen jede der anderen an unserem Leben teilhaben. Diese Freundschaft war etwas Besonderes. Vor allem die…Abenteuer und Kämpfe, im metaphorischen Sinn natürlich, haben uns zusammengeschweißt. Solche Dinge verbinden.“ „Welche Dinge konkret?“, bohrte er. Er hatte bemerkt, wie schnell Cornelia das Thema wechseln wollte und interpretierte die Situation falsch. Es war nicht so, dass sie nicht über ihre Freundinnen reden wollte, so wie er vermutete, aber wie sollte sie einem Professor denn schon klar machen, dass sie Wächterinnen des Netzes waren und gegen Schlangenmenschen und böse Prinzen gekämpft hatten? „Abenteuer eben“, präzisierte sie langsam. Sie musste sich schnell etwas einfallen lassen. „Wir haben Schule geschwänzt, haben geholfen, die Herzbuben zu erobern und zu behalten, solche Sachen. Wir sind zusammen aufgewachsen. Die Pubertät ist ja gewissermaßen die wichtigste Zeit für die geistige Entwicklung eines Menschen und wir haben diese Periode gemeinsam erlebt. Das meine ich damit. Verstehen Sie?“ „Sie haben sich gegenseitig in Meinung, Ansichten und Charakter geprägt?“ „Das wollte ich damit sagen“, schloss sie. „Jedenfalls ist Taranee vor einem Jahr nach England gegangen, um ein Auslandsstudium zu absolvieren. Irma wollte nur für ein Jahr als Au Pair Mädchen nach Frankreich, aber sie ist nicht wiedergekommen. Es hat ihr so gut gefallen, dass sie dort geblieben ist, ihren Freund nachgeholt und sich dort mit ihm ein neues Leben aufgebaut hat. Hay Lin ist zwar hier in Heatherfield geblieben, weil sie ihre Eltern nicht mit dem Restaurant alleine lassen wollte, aber sie und ihr Beinaheverlobter wohnen zusammen und planen eine gemeinsame Zukunft.“ Blight rückte seine Brille zurecht. „Was frustriert Sie daran so?“ „Will und ich sind die einzigen, die auf der Stelle treten. Wir sind von Zuhause ausgezogen, haben einen Job und sind soweit ganz glücklich mit unserem Leben, aber wir kommen nicht weiter. Die anderen haben Pläne, Vorstellungen von der Zukunft und haben sich weiterbewegt.“ „Nur Will und Sie scheinen stehen geblieben zu sein?“ Deprimiert seufzend nickte Cornelia. „Es ist nur allzu verständlich, dass Sie Frustrationen erleiden, wenn Sie sich mit ihren ehemaligen Freundinnen vergleichen. Darum gebe ich Ihnen einen Rat, Miss Hale, leben Sie Ihr Leben nach eigenen Maßstäben und setzten Sie es nicht in Vergleich zu anderen. Würden Sie gerne in England oder Frankreich leben?“ Sie verneinte. „Nun, da haben wir die Antwort. Ihre Zukunft ist also eine andere als diese in der Ferne, die Ihre Freundinnen leben. Auch Hay Lin ist hiergeblieben und die bezeichnen Sie nicht als festgefahren. Könnte es daran liegen, dass sie einen Partner hat?“ Cornelia wandte den Blick ab. Blight hatte in einer halben Stunde das grundlegende Problem ihres Ärgernisses erkannt. War sie so leicht zu durchschauen? War es so offensichtlich, dass sie sich nach einer Beziehung sehnte? Sie beschloss, es einfach auszusprechen. „Jetzt wo sie es sagen, klingt es ziemlich logisch. Wahrscheinlich wünsche ich mir einfach, geliebt zu werden.“ „Von einer ganz bestimmten Person.“ Es war wieder eine Feststellung und keine Frage. „Nein!“, stritt Cornelia schnell ab, doch sie glaubte sich selbst nicht. „Ich meine…ach, ich habe keine Ahnung.“ „Dann ist es nun an der Zeit, unsere Ziele für Ihre Zeit bei mir festzulegen.“ Sie war dankbar, dass Blight nicht weiter darauf einging. „Ich habe einen ganz guten Überblick über Ihre Gefühlswelt und dabei habe ich zwei fundamentale Probleme festgestellt. Zum einen das zerrüttete Verhältnis zu Ihrem Elternhaus, das Ihnen unbewusst Glauben gemacht hat, Sie seien alleine auf der Welt. Zum anderen – und diese Thematik ist die schwerwiegendere – Ihre Sehnsucht nach einer bestimmten Person, die allerdings in ungreifbarer Nähe ist. Sie werden mir heute nicht sagen, um wen es sich handelt und was damals vorgefallen ist, als Ihr Herz in tausend Einzelteile zersprang, das weiß ich, aber wichtiger ist ohnehin, über diese reale Sehnsucht aufgrund Ihres irrealen Wunsches nach dieser Person hinwegzukommen. Im Klartext gesprochen-“ „Meine Gefühle sind also real, jedoch die Hoffnung, auf denen sie gründen, ist irreal.“ Er lachte. „Ich vergesse zeitweilig, dass Sie meine klügste Studentin sind. Sehr gut, sehr gut. Dann sagen Sie mir bitte zuerst, was Ihr langfristiges Ziel ist.“ Sie überlegte kurz. Den Geliebten vergessen? Es erschien ihr unmöglich und gar nicht wünschenswert. Auch wenn die Erinnerungen an ihn schmerzhaft waren, sie halfen ihr durch den Tag. Was würde sie tun, wenn er kein zentraler Teil ihres Lebens mehr war? Wollte sie überhaupt, dass er aus ihren Gedanken verschwand? Jede Sekunde, die sie an ihn dachte, war eine glückliche und gab ihr Kraft. Das Schlimme kam erst, sobald sie sich daran erinnerte, dass es nie mehr so sein würde. War es also in ihrem Interesse, ihn ganz aus ihrer mentalen Welt zu verbannen? „Miss Hale? Kommen Sie wieder zu mir auf die Erde.“ Cornelia schreckte aus ihren Gedanken und zuckte zusammen. „Entschuldige Sie.“ „An was haben Sie gedacht?“, wollte er wissen. Es hatte ohnehin keinen Sinn, ihn anzulügen, immerhin wollte sie ja, dass es besser wurde, also zwang sie sich, die Wahrheit zu sagen. „Ich dachte daran, dass ich ihn eigentlich gar nicht vergessen möchte.“ „Verständlich“, meinte Blight schnell. „Derartiges ist nicht ungewöhnlich. Ihre Gefühle haben sich so festgefahren, dass es einem erneuten Bruch gleichkommt, wenn Sie beschließen, besagten Mann zu vergessen. Ich mache Ihnen einen Vorschlag, Miss Hale. Unser langfristiges Ziel ist es, den Schatten der Vergangenheit hinter uns zu lassen. Das kurzfristige Ziel soll es aber erst einmal sein, ihn nicht völlig zu vergessen, sondern eine angebrachte Dankbarkeit für die schöne Zeit mit ihm zu fühlen, jedoch keinen übernatürlich großen Schmerz, sobald Sie an ihn denken. Was halten Sie davon?“ Sie resümierte: „Nicht vergessen, sondern nur nicht mehr lieben?“ „So in etwa. Sind Sie damit einverstanden?“ „Ich denke ja.“ „Was denken Sie, wie viel Zeit werden Sie brauchen? Welches Zeitlimit setzen wir uns?“ Cornelia schloss nachdenklich die Augen und durchforstete ihre Gedanken nach einer Richtzahl, doch sie fand keine. Wie lange brauchten normale Menschen wohl dafür? Hatten normale Menschen überhaupt solche Probleme, wenn eine normale Beziehung brach? Sie wollte nicht zu lange brauchen, um sich nicht lächerlich zu machen, doch zu kurz wäre auch schädlich, denn in einer Woche wäre es sicherlich nicht getan. „Sie tun es schon wieder, Miss Hale“, tadelte Blight. „Wir sind hier in einem Raum, in dem absolutes Gedankenverbot herrscht, solange ich es nicht erlaube. Wenn Sie etwas denken, sprechen Sie es aus, sonst kann ich Ihnen nicht helfen.“ „Einen Monat“, sagte sie schließlich. Das mit dem Gedankenverbot konnte er jedoch so was von vergessen. „Sie sind äußerst optimistisch.“ Blight schrieb es dennoch auf. „Machen wir sechs Wochen daraus mit drei Sitzungen pro Woche zu je einer halben Stunde nach Terminvereinbarung. Und wir setzen uns noch ein Zwischenziel, um Erfolge leichter kenntlich zu machen. Ich merke, dass Sie den Namen der Person nicht aussprechen. Nächste Woche möchte ich eine Geschichte aus ihrer beider Beziehung hören, in der Sie ihn mindestens achtmal beim Namen nennen und danach nicht weinen. Denken Sie, Sie schaffen das?“ „Ja. Da wäre allerdings noch etwas, Dr. Blight…“ Schüchtern sah sie zu Boden und fixierte ihre Schuhspitzen. „Ich bin Studentin, habe einen schlecht bezahlten Job und einen kräftigen Haufen Miete zu zahlen. Ich denke nicht, dass ich mir drei Sitzungen pro Woche leisten kann.“ „Machen Sie sich über die Finanzierung keine Gedanken, ich werde mir etwas überlegen. Da fällt mir ein, ich hatte schon vor über einer halben Stunde Chinesisch bestellt! Ich hatte gehofft, Sie würden mir beim Essen Gesellschaft leisten, aber unsere halbe Stunde ist leider bereits um. Haben Sie noch etwas vor?“ Sie winkte ab. „Ja, habe ich, tut mir Leid.“ „Da kann man nichts machen. Beim nächsten Mal dann. Und bevor ich es vergesse, ich habe dieses Kaffeepulver vor ein paar Tagen von einem Patienten bekommen, aber ich bin eher der englische Typ, wenn Sie verstehen, was ich meine. Kaffee schmeckt mir am besten, wenn man das Kaff durch ein T ersetzt. Möchten Sie mir den abnehmen?“ „Oh, vielen Dank, Dr. Blight, aber das kann ich nicht annehmen.“ „Natürlich können Sie!“, beharrte er. „Bei mir würde er nur herumstehen und verschimmeln. Er ist sehr stark und vor allem äußerst teuer. Besser, Sie teilen ihn nicht mit anderen. Dieser Genuss soll nur Ihnen gehören.“ Er drückte ihr das Päckchen in die Hand, erhob sich, reichte ihr die Hand zum Abschied und brachte sie durch eine zweite Türe hinter seinem Schreibtisch hinaus. „Damit man von den anderen Patienten nicht gesehen wird, wenn man rausgeht“, erklärte er zwinkernd. „Einen schönen Tag noch.“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)