Rewind And Reflect von 4FIVE ([Caleb x Cornelia | canon-sequel | enemies to lovers]) ================================================================================ Kapitel 1: The Chance --------------------- … I cant see who I should protect anymore and when I failed I don't wanted to become afraid… E I N S „Die fundamentalste Arbeit Galtons war die Anwendung der Evolutionstheorie auf die Entwicklung menschlicher Fähigkeiten. Da er Anhänger der Eugenik-Bewegung war, sie sogar ins Leben gerufen hatte, unterstand er außerdem der bereits vorher weit verbreiteten Überlegung, dass sich die intellektuell Überlegenen auf Kosten der intellektuell Unterlegenen vermehren müssen, um so eine Verbesserung der menschlichen Rasse zu erzielen. Wer stimmt ihm zu?“ Der Vorlesungssaal der Heatherfield University war karg gefüllt. Vereinzelt lagen verwaiste Zuckerstanden herum; Überbleibsel vorangegenagener Feierlichkeiten, zu denen einige Kommilitonen sich berufen gefühlt haben zu schienen. Nun herrschte nachdenkliches Schweigen über die schwierige Frage, die der Gastdozent ihnen eben gestellt hatte. Eifriges Blätterrascheln erfüllte den Hörsaal. Er ließ ihnen Zeit, um die vergangene Einheit zu rekapitulieren und vielleicht von selbst darauf zu kommen, welche Kritiken man Galton zukommen hatte lassen. „Aber ist diese Arbeit aufgrund der natürlichen Selektion bei der Zeugung nicht ohnehin getan?“ „Ein interessanter Gedanke, fahren Sie fort.“ Der Dozent rückte seine Brille zurecht und sah Cornelia erwartungsvoll an. Der Vorlesungssaal der Heatherfield University, einer staatlichen Universität im Herzen der Stadt, war um diese Zeit karg bestückt. Die meisten Studenten waren bereits in die Winterferien gefahren oder weilten seit einer Stunde auf dem Weihnachtsmarkt, der heute seinen Höhepunkt in Form einer Showeinlage feierte. „Nun, es ist doch so, dass jeder geborene Mensch sich gegen tausende konkurrierende Gameten durchgesetzt hat. Insofern sind wir alle Sieger eines erbitterten Wettrennens. Die natürliche Selektion erlaubt es nur den Schnellsten und Stärksten zu Überleben. Daher ist die menschliche Rasse in Prinzip schon auf dem höchsten Niveau, solange man vom jetzigen Standpunkt der Evolution ausgeht.“ „Sehr gut, Miss…“ Er machte den Anschein, als würde er überlegen, wie wohl der Name seiner Studentin war, doch statt sich der Blöße der Unwissenheit hinzugeben, überging er die Peinlichkeit gekonnt und wandte sich seinen anderen Studenten zu. „Die Prüfung dieses Moduls umfasst den Stoff der heutigen Vorlesung nicht, dennoch rate ich Ihnen, sich das Kapitel der Intelligenztheorien zu Gemüte zu führen. Dem Allgemeinwissen zuliebe. Ich wünsche Ihnen angenehme Ferien, übertreiben Sie das Feiern nicht und nützen Sie die Zeit, sich auf das nächste Modul vorzubereiten, durch welches Sie meine reizende Kollegin führen wird. Die Vorlesung ist beendet.“ Schwer ausatmend ließ sich der junge Dozent auf dem Stuhl hinter dem voll geräumten Pult nieder, doch sein Seufzer ging im Lärm der scharrenden Stuhlbeine und schnatternden Studenten unter. Sein Blick fiel auf den einzigen Menschen in diesem Raum, der angesichts der Ferien kein fröhliches Gesicht machte. Nun fiel ihm auch wieder ein wie Sie hieß – Cornelia Hale. Sie brauchte stets am längsten, um all ihre Sachen zusammenzupacken, da sie es mit einer melancholischen, beinahe schwerfälligen Art tat; als würden hunderte Kilos auf ihr lasten und jede Bewegung erschweren. „Miss Hale?“, rief er über die treppenförmig angeordneten Sitzreihen hinweg, als die übrigen Studenten den Hörsaal verlassen hatten. „Ja, Professor Blight?“ Cornelia sah ihn überrascht an. Dass er ihren Namen kannte, irritierte sie und dass er sie ansprach, rief ein Gefühl des Unwohlseins in ihr hervor. „Es freut mich, endlich einmal Ihre Stimme gehört zu haben, wenn auch nur der Umstand eines allgemeinen Fernbleibens daran Schuld trägt.“ „Ich verstehe nicht ganz, Professor…“ Der Dozent lächelte freundlich. „Sie studieren seit zwei Semestern Psychologie an dieser Universität und besuchen alle Vorlesungen. Ich habe Sie schon oft bei den freiwilligen Modulen gesehen. Trotzdem ist es das erste Mal, dass ich Sie sprechen höre“, erklärte er nachsichtig. „Normalerweise versuche ich, meine Studentinnen weitestgehend in den Unterricht einzubeziehen. In meinem Kurs gibt es die meisten Diskussionen, aber ausgerechnet Sie, die Engagierteste und zweifelsohne Iinteressierteste, melden sich niemals zu Wort. Heute war das erste Mal und ich frage mich, ob es daran liegt, dass die heutige Vorlesung nur zwanzig Leute statt einhundert besucht haben.“ „Das ist es nicht.“ Cornelia wandte den Blick ab. Unwillkürlich verstärkte sich ihr Griff um die Umhängetasche, die sich plötzlich anfühlte, als wöge sie eine halbe Tonne. „Ich spreche nun einmal nicht allzu gerne.“ „Eben das wundert mich.“ Skeptisch, aber doch besorgt sah der Dozent seine Studentin an. Sie war eine schöne Frau. Neunzehn Jahre jung, langes blondes Haar, hellblaue Augen und eine äußerst grazile Art, mit welcher sie ihre schlanke Figur bewegte und unbewusst schön in Szene setzte. Er kannte solche Typen von Frauen. „Sie sind außergewöhnlich gut aussehend, Miss Hale, und das sage ich nicht als Kompliment, sondern als Tatsache. Das einzige, das ihre natürliche Schönheit trübt, ist der stetig traurige Blick, den sie tragen. Sie wirken, als wäre ihr Verstand zwar hier, aber ihr Herz sehr weit weg.“ „Ich wüsste nicht, was Sie das angeht“, entgegnete Cornelia schnippisch. „Hören Sie, Ihr Unterricht ist äußerst lehrreich und interessant, aber auf einer anderen Basis als jener, welche der Lernstoff bildet, möchte ich kein Gespräch mit Ihnen führen. Ich trage ganz bestimmt keinen traurigen Blick, im Gegenteil, ich bin sehr glücklich. Es mag sein, dass ich heute etwas müder und träger wirke, aber auch nur, weil meine Mitbewohnerin gestern einen Höllenlärm gemacht hat und ich deswegen nicht schlafen konnte. Uns selbst wenn ich traurig wäre, ginge es Sie nichts an, okay?“ Milde lächelnd und vollkommen unbeeindruckt legte Blight ihr seine Hand auf die Schulter. „Natürlich geht es mich nichts an, aber in Ihrem Interesse sollten Sie früher oder später das Problem in Angriff nehmen, um wieder ein unbeschwertes Leben führen zu können. Besser früher als später.“ Er fischte aus der Innentasche seines Blazers eine Visitenkarte heraus. „Ich mache die Universitätsarbeit nur nebenberuflich. Wenn Sie jemals den Drang verspüren, zu reden, egal über was, dann besuchen Sie mich in meiner Praxis. Werktags von neun bis fünf, samstags bis eins. Schöne Ferien.“ Damit ließ er die verdutzte Cornelia zurück. „Was erlaubt der sich eigentlich? Als ob ich psychologische Hilfe brauchen würde, so ein Blödsinn“, zischte Cornelia verärgert, als sie missmutig die laute Hauptstraße entlangging, welche sie zur Straßenbahn führte. Es war doch unglaublich! Nicht nur, dass ihr Dozent, zu dem sie eine rein berufliche Beziehung hatte, sie behandelte wie eine Geistesgestörte, nein!, sie sollte auch noch zu ihm kommen und über ihre Probleme reden…es war zum Verrücktwerden! Doch dann schweifte ihre Gedanken in eine andere Richtung: War ihr Gefühlszustand so offensichtlich, dass sie aus einer Menge von Studenten heraus stach und dass sie unter hundert Menschen Mitleid erregte? Dabei hatte sie gedacht, es hinter sich gelassen zu haben… Mit diesen und ähnlich trübseligen Gedanken schleppte sie sich in die kleine Dreizimmerwohnung, deren sechzig Quadratmeter sie sich mit Will teilte. Es war wirklich zum Heulen! Wütend über Professor Blight schleuderte Cornelia die weiße Eingangstüre zu ihrer Mietwohnung in der Laverelley Lane zu, sodass sie mit einem ohrenbetäubenden Knall ins Schloss fiel und dabei fast aus den Angeln sprang. Im Schutz der halbwegs dicken Mauern um sie herum stieß sie einen schrillen Schrei aus und verfehlte nur knapp den Spiegel im Flur, als sie lautstark fluchend gegen die Wand schlug. „Dieser eingebildete Kerl!“ „Himmel Cornelia, was ist los?“, fragte Will, die aufgeschreckt durch den Lärm mit tropfnassen Haaren und nur mit einem Handtuch bekleidet aus dem Badezimmer gehastet kam. „Oh Gott, du blutest ja!“ Der erste Zorn war verraucht, da spürte Cornelia auch schon den stechenden Schmerz, der sich in ihrer Hand ausbreitete. „Na toll, jetzt müssen wir Farbe für die Wand kaufen, um die roten Streifen zu überdecken.“ „Was ist denn passiert?“, fragte Will erneut. „Und vor allem: was kann die Wand dafür?“ „Ich brauchte ein Substitut, um meine angestauten Aggressionen auszulassen und meine Gedanken auf das Reale zu konzentrieren.“ „Ein Substitut? Ihr Psychos seid doch verrückt…“ Sie verdrehte die Augen. „Also, sprich, während ich mich anziehe.“ Cornelia atmete tief durch und ging in die Küche, um sich Eis auf die von innen heraus pochende Hand zu legen. „Ich glaube, sie ist gebrochen!“, rief sie Richtung Badezimmer. „Du übertreibst“, kam es durch die geschlossene Türe zurück. „Wieso hast du die Wand geschlagen? Hast du echt geglaubt, eine Chance gegen sie zu haben?“ „Blödsinn!“, sagte Cornelia noch immer verärgert. „Ich habe heute mit meinem Dozenten gesprochen. Besser gesagt hat er mir gesagt, dass ich seelisch gestört bin.“ Die Badezimmertüre ging auf und Will trat fertig bekleidet hinaus. „Interessant. Aber hat er das im Ernst gemeint, oder interpretierst du das nur falsch?“ Sie setzten sich auf die Wohnzimmercouch. „Ich meine, ohne dich beleidigen zu wollen, du weißt doch, dass du des Öfteren etwas überbewertest oder missverstehst.“ „Ach, papperlapapp, dieses Mal bin ich mir sicher“, winkte Cornelia beleidigt ab. „Er hat mir seine Karte gegeben und gemeint, ich sollte über meine Probleme reden. Ich sei sehr traurig und würde mit meinen Problemen nicht klar kommen und sie würden mich zerstören. Dann hat er was von einem traurigen Blick gefaselt und gemeint, ich solle doch mal in seiner Praxis vorbeischauen.“ Sie reichte Will die Visitenkarte. „Privatpraxis Dr. Harvey Blight“, las sie vor und sah Cornelia besorgt an. „Womöglich ist es gar keine schlechte Idee. Du kommst fast nie raus und seit…nun ja, du hattest seit Peter keinen festen Freund mehr. Die kurzen Bekanntschaften zählen nicht.“ „Darf ich dich erinnern, dass wir fast nie rauskommen und wir seit langem keinen Freund mehr hatten?“, korrigierte Cornelia energisch. Ihre Hand schmerzte nun bei jeder kleinen Bewegung. „Ich bin nicht die einzige, die einer verlorenen Liebe nachtrauert, okay? Es braucht eben seine Zeit.“ Betroffen blickte Will zu Boden und biss sich auf die Lippe. „Fünf Jahre halte ich dennoch für eine etwas lange Zeit, du nicht auch?“ „Ganz und gar nicht. Es hat sich eben noch nichts Neues ergeben, so einfach ist das. Außerdem trauere ich ihm nicht nach.“ Um das Gespräch zu beenden stand Cornelia auf. „Ich fahre jetzt ins Krankenhaus, bevor meine Hand die Größe einer Melone annimmt.“ Sie hielt Will den Arm entgegen. „Schau, sie wird schon blau.“ Will lächelte schwach. „Ich komme mit. Aber ich hoffe für dich, dass nichts gebrochen ist, sonst verpassen wir die Parade heute!“ „Ich sagte doch, dass deine Knochen heil geblieben sind!“ „Ja, aber hast du gesehen, wie blöd der Arzt auf die weiße Farbe geschaut hat? Ich wette, der hat sich über mich lustig gemacht, als ich wieder raus musste.“ „Ich bitte dich, du siehst schon wieder Gespenster!“ Will stupste sie mit dem Ellenbogen in die Seite. „Der hat einfach noch nie eine so hübsche Frau wie dich gesehen.“ „Jaja, schleim du nur!“, tat Cornelia das Kompliment ab. „Ihr habt doch alle einen Knall. Professor Blight hat heute auch schon gesagt, dass ich außergewöhnlich gut aussehe.“ „Bei dir klingt das, als wäre es eine Beleidigung gewesen.“ Cornelia wandte den Blick ab. Ihn ihren Augen stiegen Tränen auf; nichts Ungewöhnliches seit Jahren, dennoch musste Will ihre Schwäche nicht unbedingt lebhaft mitbekommen. „Es ist nur…wenn ich so unwiderstehlich bin, wieso ist er dann nicht bei mir-“ Sie brach schnell ab und unterdrückte die aufkommenden Tränen. „Vergiss es, das ist lächerlich! „Cornelia“, flüsterte Will und umarmte ihre Freundin. „Ich weiß doch wie du dich fühlst. Aber denkst du nicht, dass das aufhören muss? Er kommt nicht wieder.“ „Ich weiß“, sagte Cornelia trocken. „Natürlich kommt er nicht wieder, aber ich kann nichts dagegen machen.“ In ihrer Stimme klang Hohn mit. „Ich frage mich nur, wieso es noch immer so schwer ist. Besser gesagt, schon wieder. Um das Ganze zu resümieren: sechs Monate, bis ich mit Peter glücklich war. Ein Jahr mit ihm, in dem ich Caleb trotzdem noch liebte. Ich weine seit fünf Jahren wegen ihm, das ist nicht normal!“ „So ist das eben“, meinte Will schlicht. „Wir können es nicht ändern. Möglicherweise solltest du Dr. Blight doch aufsuchen?“ „Nein!“, entschied Cornelia. „Der bekommt sicherlich keinen Einblick in meine Seele. Am Schluss lässt er mich nicht zu Ende studieren, weil er mich als unzurechnungsfähig einstuft.“ Schweigend und jede in ihren eigenen Gedanken schwelgend gingen sie durch die immer dunkler werdenden Straßen zum Weihnachtsmarkt, der sich hell erleuchtet von der anbrechenden Schwärze abhob. Keine wollte das Thema weiter vertiefen, aber ein anderes zu beginnen erschien ihnen als taktlos. Sie hatten oft über Caleb geredet, über die Lächerlichkeit ihrer noch immer bestehenden Liebe und über Möglichkeiten, die Litanei zu beenden – erfolglos. Während Will längst über Matt hinweg war und seit ihm zwei andere feste Beziehungen gehabt hatte, litt Cornelia viel mehr und länger. Schlussendlich konnte Will nicht anders, als das Subjekt der Unterhaltung wieder aufzugreifen. „Ich glaube, zu diesem Dr. Blight zu gehen wäre gar keine schlechte Idee, ehrlich gesagt. Vielleicht kann er wenigstens helfen, dass die Alpträume aufhören?“ Die letzten Worte waren immer leiser gekommen, beinahe kleinlaut und als sie ausgesprochen waren, hatte sie Angst, etwas Falsches gesagt zu haben. Cornelias Alpträume waren Tabuthema Nummer eins in ihrer Wohnung. „Sie sind weniger geworden“, log Cornelia, doch die Lüge flog schnell auf. „Ich höre dich jede Nacht schreien.“ Will sah sie ernst an, richtete den ihre Augen jedoch schnell wieder gerade aus, da Cornelia nicht den Eindruck machte, als wolle sie den Blick erwidern. „Das einzige, das sich geändert hat, ist der Wortlaut, den du schreist. Früher war es ‚Nein, Caleb, nicht, nein!’ und nun ist es ‚Bitte nicht, nein! Nein, ich liebe dich doch!’. Wird aber leider nicht besser dadurch.“ „Vielleicht hab ich auch einfach einen anderen Mann kennen gelernt, den ich liebe?“ Doch noch im Sprechen merkte Cornelia, dass sie sich die Aussage selbst nicht glaubte. „Ich mach dir einen Vorschlag. Heute während der Weihnachtsparade sucht sich jede von uns einen Mann aus, mit dem wir flirten und uns verabreden. Nun ist es halb fünf. Wenn wir bis zum Anfang der Parade keinen gefunden haben, sucht die jeweils andere einen aus. Was hältst du davon?“ Will zögerte einen Moment, doch der Plan, so uneffektiv er auch sein mochte, war wenigstens ein Versuch und ein Zeugnis des guten Willens. „Einverstanden. Und wenn wir am Ende des Abends kein Date an Land gezogen haben, muss die Verliererin zu Dr. Blight.“ „Abgemacht.“ Cornelia schlug ein. „Aber sag, was hast du eigentlich mit Professor Blight?“ „Ich bin an seinem Unternehmen beteiligt und je mehr Patienten er hat, desto mehr Provision bekomme ich.“ „Ja. Na klar…“ Cornelia verdrehte die Augen. „Ach ja, um das klar zu stellen: Ich bin über Caleb hinweg. Er hat aber hohe Maßstäbe gesetzt für meine zukünftigen Freunde und die sind eben nicht so leicht zu erreichen, okay? Ich weiß, dass es ziemlich kindisch wäre, an einer Liebe festzuhalten, die fünf Jahre zurückliegt. Mit vierzehn die wahre Liebe zu finden wäre doch irgendwie unrealistisch. Das zu glauben wäre ziemlich blöd und naiv. Es ist schon so lange her und damals war ich noch ein Kind, das nicht einmal wusste, was Liebe ist. Mit vierzehn kann man verliebt sein, ja, aber eine richtige, tief empfundene Liebe zu verspüren, die einen nicht mehr loslässt, das ist doch unlogisch!“ „So vieles an unserem Leben ist unlogisch, oder?“, entgegnete Will. „Du hast immerhin von Caleb geträumt, wahrscheinlich habt ihr eine übernatürliche Verbindung, die eben nicht so leicht zu lösen ist.“ Cornelia seufzte. „Ich bin doch ein elender Verlierer. Traurig, aber wahr.“ Von da an ging das Gespräch wieder bergauf. Sie scherzten, lachten und amüsierten sich. Es war wie ein Schalter, der hin und wieder umgelegt wurde. Die Trauer, die Einsamkeit und das Gefühl der Leere waren anfangs unerträglich gewesen. Blight hatte es gar nicht so schlecht getroffen. Der Verstand war hier, doch das Herz und die Gedanken stets an einem anderen Ort, weit weg von hier. Ebenso weit weg wie die beiden geliebten Menschen waren. Doch mit der Zeit war es besser geworden. Die Phasen der Hilflosigkeit waren weniger geworden, die Dauer der Depressionen hatte sukzessive abgenommen, solange bis nur mehr wenige Minuten des Tages den Tränen gehören und die Leere einem wehmütigen, aber erträglichen Schwelgen gewichen waren. Inzwischen war die Nacht zwar mit schmerzhaften Alpträumen im einen Zimmer und Einschlafproblemen im anderen Zimmer verbunden, doch der Tag war großteils befreit von negativen Gedanken. Vor allem die Zeit zu zweit, wenn sie nicht auf der Universität oder bei der Arbeit waren, genossen sie. Manchmal schafften es die beiden sogar, über die Verflossenen zu sprechen, ohne in Heulkrämpfe zu verfallen. „Schau!“, rief Will über den recht hohen Lautstärkepegel der Festivität hinweg, „da sind noch Plätze frei!“ „Ich würde lieber erst die Stände auskundschaften. Ich brauche noch ein Weihnachtsgeschenk für meine Schwester. Außerdem hab ich Lust auf Lebkuchen.“ „Du verzichtest auf Punsch? Ich bin empört!“ „Falsch, ich verzichte nicht, ich nehme mir einen im Wegwerfbecher mit!“, erklärte Cornelia freudig und bestellte zwei Beerenpunsch. „Und darum liebe ich die Weihnachtszeit.“ Glücklich nahm sie einen großen Schluck von dem rauchenden Getränk. „Sie hätten ihn stärker machen können, wenn du mich fragst“, beschwerte sich Will. „Ah, sieh nur!“ Unauffällig deutete sie auf einen Stand mit Christbaumkugeln. Doch ihr Finger deutete nicht auf die Verkaufsartikel, sondern auf eine Gruppe junger Männer, die davor standen. „Der in der Mitte ist nicht schlecht, oder?“ Skeptisch betrachtete Cornelia die Männer, rümpfte aber schlussendlich nur die Nase. „Noch drei von denen und dann vielleicht“, meinte sie und deutete auf ihren Punsch. „Darf ich dich daran erinnern, dass es deine Idee war?“ „Ja schon, aber muss man denn gleich das erste nehmen, was einen über denn Weg läuft?“ Will zuckte nur mit den Schultern. In dieser Weise ging es den ganzen Einkaufsbummel weiter. Als Will bereits nach einer halben Stunde eine Verabredung und zwei weitere Telefonnummern hatte, machte Cornelia noch immer die Auswahl mies, obgleich sie bereits drei weitere alkoholische Getränke getrunken hatte, deren Alkoholgehalt tendenziell mit der Dauer ihres Aufenthalts stieg. „So wird das nichts“, stellte Will fest, nachdem sie durch die verworrenen Gassen des Marktes geschlendert waren und sich schlussendlich an einem der Tische niederließen. „Du musst aufhören, sie alle zu vergleichen. Niemand kommt an ihn heran.“ Cornelia verschränkte nur die Arme und schwieg zu dem stummen Vorwurf. Was wusste Will schon? Sie war…anders. Anders als Cornelia. Sie war schon immer ein heiteres Gemüt gewesen, schnell deprimiert, aber auch schnell wieder auf den Beinen, wenn sie es wollte. Optimistische Geister waren dazu prädestiniert, nach vorne zu sehen, wo die realistischen Pessimisten sich weigerten, etwas Positives in der Zukunft zu sehen, die trüb und grau erschien. War Cornelia eine Pessimistin? Natürlich nicht. Sie tendierte bloß dazu, niedergeschlagener zu sein, als andere Menschen. Länger. Intensiver. Was machte sie sich vor? Sie war eine Pessimistin. „Es war doch deine Idee! Wenn du nicht den nächsten ansprichst, such ich einen für dich aus.“ Das gab Cornelia zu denken. Mit verzogenem Mund stützte sie ihr Kinn auf die Handfläche und ließ den Blick über die Menge schweifen. Es war schwierig, einen halbwegs gut aussehenden Mann zu entdecken, der zudem auch ohne Freundin oder gar Ehefrau unterwegs war. Sie wollte es bereits aufgeben und riskieren, Will die Entscheidung zu überlassen, doch dann fiel ihr jemand ins Auge, der sie stutzig werden ließ. Der junge Mann stand mit dem Rücken zu ihnen, sein Haar war braun, seine Statur groß und muskulös. „Cornelia? Hey, was ist los?“ Will folgte ihrem Blick und musste schlucken. „Nein, tu dir das nicht an. Er ist es nicht.“ „Das weiß ich“, zischte Cornelia, die sich vom ersten Schock erholt hatte. „Er sieht gut aus. Ich denke, das ist meine Wahl.“ Will wollte ihre Freundin aufhalten, doch da war diese bereits aufgestanden. Sie beobachtete sie, wie sie entschlossen und doch zögerlich auf das Trio zuging, zu dem der Mann gehörte. Und selbst wenn Will nicht gezögert hätte, Cornelia hätte sowieso ihren Kopf durchgesetzt. Sobald es um Caleb ging, konnte man genauso gut zu ihr reden, wie zu einer Wand – und selbst eine Wand verstand vermutlich mehr. Andererseits war es vielleicht gar nicht schlecht, wenn sie jemanden fand, der Caleb äußerlich ein wenig ähnlich war, denn dann würde sie vermutlich leichter mit der neuen Liebe zurechtkommen. Zu mehr Gedanken kam Will aber auch gar nicht, denn Cornelia war im Handumdrehen wieder da. „Das ging ja schnell. Hast du überhaupt mehr als ‚Hallo’ gesagt?“ „Natürlich“, antwortete Cornelia triumphal. „Ich hab seine Nummer und werde ihn in nächster Zeit anrufen, um ein Treffen auszumachen.“ So sicher über den Wahrheitsgehalt dieser Aussage waren sich aber beide nicht, doch niemand wollte es aussprechen. Zumindest war es ein kleiner Erfolg für die beiden. Die Parade war ein mindestens genauso großer Erfolg, vor allem für die Kassen der Standbesitzer. Will und Cornelia tranken noch einige Tassen Punsch, lachten und vergnügten sich. Als Hay Lin mit Eric im Schlepptau vorbeikam, waren die beiden bereits zu guter Stimmung, als dass sie noch nüchtern hätten sein können. Doch die Hochstimmung forderte ihren harten Preis, der frühmorgens vom Konto der jungen Damen abgebucht wurde. „Au.“ Das war das erste und für zwei Stunden nach dem Erwachen einzige Wort, das über Wills Lippen kam. Ihr war schlecht, sie fühlte sich wie erschlagen und ihr Kopf schmerzte. Cornelia, die Trinkfestere der beiden, erging es zwar alkoholtechnisch ein wenig besser, dafür hatte sie unter dem Alkoholeinfluss den schrecklichsten Alptraum seit langem gehabt. Er hatte die Intensität der anfänglichen Träume gehabt, doch durch die Wahrnehmungsverzerrung eine ganz andere Wirkung erzielt. Wo sonst Tränen nach dem Aufwachen standen, rannen nun Schweißtropfen über Cornelias Gesicht. „Guten Morgen“, nuschelte Will. Ihre zitternden Finger schlangen sich um die wärmende Kaffeetasse. Sie hatte ein Marmeladebrot vor sich liegen, hatte es jedoch nicht angerührt. „Nicht gut.“ Cornelia nahm sich das Frühstück und biss nachdenklich hinein. „Dir scheint es im Gegensatz zu mir sehr gut zu gehen“, beschwerte sich Will. „Iss das nicht vor meinen Augen, sonst übergebe ich mich.“ Cornelia überging die Bemerkung. „Er ist schlimmer geworden.“ „Ich hab dich schreien gehört. Vielleicht hat es etwas mit dem Kerl von gestern zu tun? Er könnte verdrängte Gefühle oder so in dir wach gerufen haben.“ „Eine Verdrängung kann nicht einfach durch so ein banales Ereignis ins Bewusstsein geholt werden. Es erfordert eine lange Therapie, ehe man Verdrängte Inhalte wiederholt. Außerdem habe ich das ganze nicht verdrängt, sonst würde ich besser drauf sein.“ Will raufte sich unter Grummeln die Haare. „Ihr Psychologiestudenten seid doch echt zum Kotzen. Konntest du nicht auf die Modeschule gehen?“ „Danke für dein Mitgefühl, Wilhelimina.“ Sie verschränkte die Arme. „Aber nun im Ernst, ich denke, dass es der Alkohol war. Trotzdem. Der Traum heute Nacht war anders. Ich habe nicht davon geträumt, wie er mich verlässt.“ „Was?“ Überrascht richtete sich Will wieder auf. „Denkst du, es hat etwas zu bedeuten?“ „Keine Ahnung. Er kam in meinem Traum fast nicht vor. Zumindest nicht in der normalen Form. Er war verzerrt, irgendwie unwirklich, wie eine Vision oder eine Erscheinung. Es war wirklich gruselig.“ „Hm.“ Mehr fiel Will nicht dazu ein. Sie versuchte angestrengt, eine Erklärung zu finden, doch ihr Hirn funktionierte heute wesentlich langsamer als sonst. „Du solltest dir keine Gedanken darüber machen, solange der Traum nicht häufiger vorkommt. Was machen wir heute?“ Cornelia war froh über den Themenwechsel. „Wir könnten Hay Lin fragen, ob sie Zeit für einen Kaffee hat oder fürs Kino.“ Doch Hay Lin hatte bereits etwas vor und so richtig motivieren, zu zweit das wohlig warme Heim zu verlassen, konnten sie sich nicht. So verstrich der Tag mit einem Kater und laufendem Fernseher. „Kannst du mir den Arm brechen?“, fragte Cornelia monoton, ohne den Blick vom Fernseher zu nehmen, als gerade die zweite Folge der langweiligsten Sit-Com angelaufen war, die es im TV gab. „Wieso?“, fragte Will ebenso monoton und ebenfalls ohne die Augen zu bewegen. „Ich brauche für morgen eine Ausrede. Lilan hält mir sicher wieder vor, dass sie mit ihren zwölf Jahren schon einen Freund hat.“ Sie begann ihre Schwester nachzuäffen. „Das ist ja mal wieder typisch, du bist so ein schlechtes Vorbild! Wie soll ich jemals normal werden, wenn du es nicht schaffst, einen Freund zu haben? Ich ertrage das nicht mehr!“ „Ich kann dir den Arm leider nicht brechen, so gern ich auch würde“, winkte Will ab. „Ich muss morgen Früh zu Mum, Dean und William. Ich hab den Kleinen schon so lange nicht mehr gesehen. Er ist gerade in die Schule gekommen.“ Sie lächelte liebevoll bei dem Gedanken an ihren kleinen Bruder. „Du schaffst das schon, keine Sorge. Im Handumdrehen wirst du wieder mit mir zuhause herumsitzen und dich darüber beschweren, dass dir langweilig ist.“ Cornelia verzog nur das Gesicht. „Bevor ich es vergesse, du musst noch den süßen Typen anrufen. Wie heißt er eigentlich?“ „Collin, wenn ich mich richtig erinnere. Collin irgendwie, hab mir seinen Nachnamen nicht gemerkt. Ah, doch, Perrett. Ich geh jetzt jedenfalls wieder schlafen.“ „Ja, du hast recht, es ist sechs Uhr Samstagabends, da sollten zwei attraktive Mädchen wie wir zeitig schlafen gehen.“ Doch auch Will fing an zu gähnen. „Vom Nichtstun wird man ja so schnell müde…“ „Gute Nacht“, wünschte Cornelia lachend. „Falls wir uns morgen nicht mehr sehen, viel Spaß bei deiner Familie.“ „Danke, dir auch.“ „Ja, den werde ich bestimmt haben…“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)