Die Chroniken von Khad-Arza - Das Blut der sterbenden Welten von Linchan (Erstes Buch) ================================================================================ Kapitel 30: Der Schatten der Ghia --------------------------------- Über Vialla herrschte ein Schneesturm. Als Karana erwachte, blendete ihn das Weiß an den Fenstern, vor denen die Schneewehen umher fegten. Er fühlte sich schwindelig und wandte stöhnend den Blick vom blendenden Licht ab, während er zitternd eine Hand hob und sich über die verschwitzte Stirn strich. Er lag in einem Bett... hatte er geträumt? Ein unruhiges Gefühl erfüllte ihn, eine Rastlosigkeit, die ihn schon seit Monden verfolgte; nein, seit Jahren. Das Ende der Welt... „Aha, und er lebt doch noch.“, hörte er dann Ianas Stimme irgendwo neben sich, „Und ich dachte schon, er pennt jetzt bis Neujahr durch. Fauler Sack, selbst dein Vater mit seiner Gehirnerschütterung war schneller wieder auf den Beinen.“ „Iana...?“, stöhnte Karana und blinzelte benommen; er hörte noch mehr Stimmen, aber das erste, das er dann sah, als er seine Sicht zurück hatte, war sein Hund, der plötzlich bellend auf ihn sprang und ihm über das Gesicht leckte. Der junge Mann musste prompt lachen. „Huch?! Bruder Hund! So ein Glück, du bist auch noch wohlauf, alter Freund...“ „Wir haben ihn auch in den Katakomben versteckt mit den Zivilisten, wir konnten ihn ja nicht mit in die Schlacht nehmen... und du Tölpel hast uns einen ziemlichen Schrecken eingejagt, als du so lange weg warst!“ Das war Simus Stimme, und als Karana sich aufsetzte, erkannte er einen ganzen Haufen Leute um sich herum. Auf der Bettkante saß Iana, die ihr Kurzschwert polierte, als gäbe es nichts Spannenderes zu tun. Weiter hinten standen Simu, Eneela und Asta Zinca, außerdem seine Mutter, Leyya, die sehr erleichtert wirkte. „Ich habe schon geglaubt, du wärst für immer verloren!“, schluchzte die Heilerin auch gleich, und Karana seufzte gerührt von ihrer Zuneigung. Sie war eine so liebevolle Mutter... ihm kam, dass er ihr das viel zu selten zeigte. „Wir sind... alle so froh, dass du wieder hier bist, Karana. Dein Vater hat vor Freude geweint...“ „Das wird er dir sicher danken, dass du das noch herum erzählst.“, sagte Simu feixend und die Frau errötete verlegen, „Na ja, wir wissen ja, dass Vati eine ganz schöne Heulsuse sein kann.“ „Hey, Respekt vor dem König, junger Mann!“, sagte Leyya Lyra darauf trotzig und die anderen lachten. Karana hustete. König? Jetzt fiel ihm wieder ein, was gewesen war... er erinnerte sich an Ela-Ri, an das, was sie mit ihm gemacht hatten... zumindest glaubte er sich zu erinnern. Es fiel ihm schwer... was war geschehen? Er wusste nur, dass er im feindlichen Lager gewesen war... und dass man ihm Macht angeboten hatte. Und er... was hatte er gemacht? Er erinnerte sich an die Stimme in seinem Kopf und den grausamen Schmerz, der darin explodiert war... Mit einem unruhigen Keuchen schob er Aar von sich weg und sah verstört zu Iana, die ihn keines Blickes würdigte. „Warst du... die ganze Zeit bei mir?“ „Du bist ohnmächtig geworden, als der Seher tot war, deine Wunden waren vergiftet. Deine Mutter hat das netterweise bereinigt, danach hast du zwei Tage lang geschlafen. Du hast alles verpasst, der Krieg ist vorüber. Ela-Ri ist gefallen, der König auch.“ Er blinzelte und sah sie konfus an, als sie endlich von ihrer Waffe aufsah und ihm ins Gesicht blickte. Sie war so schön... obwohl sie so kühl und distanziert da saß, war sie so schön, und gegen seinen Willen errötete er leicht bei ihrem Anblick. Sie war bei ihm geblieben... nein, sie war zurückgekommen. Er erinnerte sich daran, dass sie ihn verabscheut hatte... vielleicht tat sie es auch immer noch, aber sie war trotzdem noch hier. Der Gedanke erfüllte ihn mit Freude, und ohne weiter nachzudenken umarmte er sie und zog sie fest an sich heran, sodass ihr die Waffe vom Schoß glitt und sie erschrocken zischte. „Himmel, Karana! Ja, ich bin da! Ich kann dich Vollhorst ja keinen Moment alleine lassen, weil du dauernd meine Hilfe brauchst!“ „Kehr mir nie wieder den Rücken!“, keuchte er in ihre Schulter, in der er das Gesicht vergrub, ehe er den Kopf drehte und sie innig auf den Hals küsste. Es war ihm egal, dass die anderen da alle zusahen, er war nie glücklicher gewesen, Iana zu haben, als in diesem Moment. „Ich habe... irgendwelche Dummheiten gemacht, an die ich mich kaum erinnere, als wir bei den Ela-Ri-Kriegern waren... ich... habe keine Ahnung, was die mit meinem Geist gemacht haben! Aber es ist vorüber und... und ich will... nie wieder, dass wir uns streiten, Iana. Ich hab dich... doch so gern...“ Er war kein Mann großer Worte, es fiel ihm schwer, seine Gefühle auszudrücken... aber er wusste in dem Moment, in dem sie peinlich berührt seine Umarmung erwiderte, dass sie wusste, dass er sie liebte. „Ähm, wir lassen euch dann mal alleine...“, lachte Simu, „Wenn ihr fertig seid, kommt einfach runter in die Halle, hier sind jetzt so viele Leute, wir haben sicher viel zu bereden. - Komm, Mutti, hör auf, sie anzustarren. Vati ist sicher bald mit seinem Politikergelaber fertig und hat dann wieder Zeit für dich.“ Puran Lyra hatte gerade definitiv gar keine Zeit. Er war damit beschäftigt, sein Gegenüber fassungslos anzustarren, das sich etwas verlegen am Kopf kratzte. Als er endlich seine Sprache wiederfand, kam nicht mehr als ein empörtes Piepsen aus seiner Kehle. „Du... du Armleuchter bist König von Tejal und vergisst zwanzig Jahre lang, mir das zu erzählen?! Überhaupt irgendein Sterbenswörtchen von dir zu geben?! Das ist nicht dein Ernst, Madanan! Das letzte Mal, dass ich von dir gehört habe, war ich sechzehn, verdammt! Ich... ich... fühle mich ignoriert und hintergangen, jawohl!“ Der König von Tejal kratzte sich blöd lachend am Hinterkopf. „Ja... also... das kommt wirklich etwas blöd, ich weiß... aber es war keine Absicht! Ich meine, ich wäre mir immer komisch vorgekommen, zu dir zu gehen und dir zu erzählen 'Hey, Puran, ich bin jetzt übrigens König, toll, oder?', das wäre auch nicht besser angekommen!“ „Ich frage mich eher, wie es dazu gekommen ist!“, entrüstete der Herr der Geister sich perplex, „Wie... kommst du denn dazu, von Dokahsan nach Tejal zu gelangen und dann ausgerechnet die Prinzessin zu heiraten? Das muss dir erst mal einer nachmachen, du Hornochse...“ „Das, ähm, ist eine lange Geschichte, das zu erzählen kostet jetzt wirklich zu viel Zeit... ach, auch, wenn du mich so böse anschaust, ich bin ziemlich erfreut darüber, dass wir uns so mal wiedersehen...“ Er nickte kichernd zur Seite, „Ich habe auch dafür gesorgt, dass Meorans Tochter heil wieder zurückkommt. Sie sieht ihrer Mutter ganz schön ähnlich – warst du es nicht sogar, der so verknallt war in Ruja Chimalis?“ Puran Lyra errötete ertappt und hustete gekünstelt. „Ach... jugendliche Schwärmerei.“ „Das hat mir meine Cousine erzählt, weil du es offenbar bei ihr im Bett erwähnt hast...“ Der Herr der Geister hustete noch einmal. „J-jetzt reicht es aber, Madanan, du wirst mich vor dem versammelten Senat und allen Königen und Kollegen hier als notgeilen Stecher darstellen, d-das ist doch gefühlte Jahrhunderte her!“ Der König von Tejal musste lachen und sein ehemaliger Schulkamerad konnte dann auch nicht länger auf den Ernst der Lage pochen, als er auch leise gluckste. Jetzt, wo Ela-Ris Schatten abgewendet war, schien die Welt so gut zu sein... jetzt ging es in ein neues Zeitalter, ein Zeitalter ohne Ela-Ri. Puran Lyra fragte sich, was mit dem jetzt vermutlich recht zerstörten, leergefegten Land im Osten passieren sollte; sobald die Natur die gröbsten Verwüstungen behoben hatte, wäre es sicher ein fruchtbares Land. Es kamen viele Aufgaben auf sie alle zu... verblüfft stellte er fest, dass er sich innerhalb der paar Wochen schon so sehr an die Verantwortung des Königs gewöhnt hatte, dass es ihm jetzt kaum noch schwer fiel, sich Gedanken über die Zukunft zu machen. Er würde mit den obersten Ratsmännern, Ministern und Senatoren sprechen müssen, was jetzt weiter mit der Regierung geschah; er wollte nicht König bleiben, wenn alle dagegen waren, aber wenn die Männer von ihm verlangen würden, weiter zu machen, würde er sich auch nicht sträuben. Es war eben, wie schon seine Großmutter gesagt hatte, er war dazu geboren worden, Großes zu tun. Er konnte nicht davor wegrennen... er war eben von Natur aus dazu bestimmt, ein Führer zu sein, auch, wenn er sich dabei manchmal unwohl fühlte. Aber sie hatten gemeinsam Ela-Ri geschlagen... obwohl sie viele Verluste auf allen Seiten erlitten hatten, waren sie siegreich gewesen und der Mann spürte nicht mehr das Misstrauen seiner Untergebenen, die ihn zu Beginn immer mit skeptischen Blicken bedacht hatten. Dabei war der Sieg über Ela-Ri in geringster Weise sein Verdienst... den Ausschlag hatten letztendlich die Barbaren aus Fann und die Truppen von Tejal gegeben, die am Ende gekommen waren und alle Schatten wie eine Flutwelle fort gespült hatten. Und den König von Ela-Ri hatte er auch nicht alleine beseitigt... er sah sich kurz suchend nach dem kleinen Mann um, der ihm und seiner Tochter, wie diese selbst erzählt hatte, das Leben gerettet und den König getötet hatte, aber er war nicht überrascht, Zoras Derran hier nicht vorzufinden. Vermutlich war er bei seinen Eltern, die schließlich auch hier im Schloss herum lungerten... irgendwann würde er schon noch dazu kommen, sich in aller Demut bei dem Jüngeren zu bedanken. Er erinnerte sich flüchtig an die Hellebarde, die er getragen hatte – Saidahs ominöses Familienerbstück. Er beschloss, die Dame auch mal zu fragen, wie es kam, dass Ram Derrans Sohn diese Waffe trug. Aber dafür war später Zeit. Zoras fiel es schwer, seine Eltern anzusehen; sie sahen aus wie immer, aber er hatte sich verändert. Und nicht, weil er jetzt rasierte Beine hatte, was zum Glück bisher keinem aufgefallen zu sein schien... es war etwas in seinem Inneren, das sich verändert hatte. Und er wusste, dass er seinen Eltern Lebewohl sagen musste... vielleicht für immer. „Ich kann nicht bleiben. Die Leute aus Fann verlangen von mir, dass ich sie führe als Häuptling. Sie jetzt im Stich zu lassen, nachdem sie mir tausende Meilen gefolgt sind und für mich gekämpft haben, würde sie beleidigen, und ich möchte sie nicht als Feinde haben... das wäre schlimm. Ich... werde also mit ihnen zurück nach Fann gehen, fürchte ich. Mir... passt das auch nicht so in den Kram, aber... es wird wohl das Beste sein.“ Er spürte die ungläubigen Blicke seines Vaters und dass seine Mutter erzitterte, und unwillkürlich drückte er Soras Hand in seiner etwas fester. Sie war so nett gewesen, ihn zu begleiten; da sie jetzt laut den Männern aus Fann zu ihm gehörte, war er froh, dass sie bei ihm war. „Du... gehst nach Fann?“, keuchte Pakuna dann und Zoras seufzte, ehe er ihr mitleidig in das hübsche Gesicht sah. „Du wirst... nicht mehr zurückkommen, oder?“ „Vermutlich nicht... es sei denn, ich werde irgendwie abgesetzt und nicht mehr gebraucht. Aber... hey, alles ist besser als Holia. Diese Leute respektieren mich, das... tut mir gut. Und Sora hier, ähm... nun ja, wir gehören irgendwie zusammen.“ Er sah auf das junge Mädchen, das höflich den Kopf neigte und dann wie zuvor fasziniert umher starrte. „Ich bin so lange nicht in Vialla gewesen!“, rief sie freudig, „Hier habe ich gelebt! - na ja, nicht im Palast, aber in dieser Stadt, mit meinen Eltern, und manchmal, wenn der König Feste gegeben hat, waren wir auch hier! Es... es ist, als hätte ich eine Zeitreise gemacht, es ist genau wie damals, als ich zuletzt hier war! Ich bin so froh, Vialla noch einmal gesehen zu haben...“ Sie plapperte und plapperte und Zoras musste verlegen grinsen, als sein Vater schon skeptisch die Brauen hob. Ja, sie redete gerne... und er hörte sie gerne reden. Sein Blick galt Pakuna, die traurig den Kopf senkte und ein bitteres Lächeln zeigte. „Ich werde dich... sehr vermissen, mein Sohn.“, wisperte sie. „Wir... wir dürfen euch sicher mal besuchen?“ „Ich latsche nicht nach Fann...“, brummte Ram Derran schon, und Pakuna schnaubte, während Zoras kurz lachen musste. „Keine Angst, müsst ihr nicht; aber falls ihr wollt, könnt ihr sicher. Bleibt ihr jetzt in Vialla?“ „Vielleicht... jedenfalls werden wir nicht nach Holia gehen!“, erklärte Pakuna steif, und sein Vater stöhnte. „Oh nein, weg von Vialla, ich lebe nicht da, wo Puran Lyra wohnt! Jetzt ist er nicht nur Senator, sondern auch noch König, dieser großkotzige Mistkerl, vielleicht sollten wir doch nach Fann...“ „Ach, du paranoider Vollidiot!“, meckerte sein Sohn, „Karana ist ein Idiot, sein Vater ist, glaube ich, ganz in Ordnung. Was auch immer du für ein Problem mit ihm hast... das ist nicht meine Sache. Nun, also...“ Er räusperte sich, ehe er Soras Hand losließ, „Diese Leute warten draußen. Ich will noch kurz zu Chenoa und sie verhauen, diese Schlampe, danach gehen wir. Also... lebt wohl, Mutter, Vater. Vielleicht sehen wir uns ja... doch noch mal.“ Er neigte den Kopf vor den beiden Menschen, die ihm das Leben geschenkt hatten, dann sah er zu seiner Fastfrau. „Warte hier; was ich mit Chenoa zu besprechen habe, will ich lieber alleine tun, es würde dich langweilen.“ „Darf ich so lange herum laufen und mich umsehen?!“, freute sie sich wie ein kleines Kind, „Ich bin so glücklich, hier zu sein!“ „Natürlich... ähm... aber stoß dich nicht!“, empörte er sich, ehe er gehen wollte und noch einmal von Pakuna aufgehalten wurde. Die Frau zog ihn sanft in ihre Arme und schluchzte, als sie das Gesicht in seinen Haaren vergrub. „Ich hab... dich so lieb.“, wisperte sie, und er erstarrte bei der ungeahnten Nähe, die er als Kind so geliebt hatte; sie hatte ihn lange nicht mehr so fest umarmt, und sie beide wussten, dass es auch nicht gut gewesen wäre nach dem, was gewesen war; aber jetzt war es gut, und er erwiderte zärtlich die mütterliche Umarmung, bis sie von selbst locker ließ und etwas zurück trat. „Ich bin... so stolz auf dich.“, wisperte sie dann, und Zoras senkte bitter den Kopf; es wurde Zeit, dass er ging, bevor er noch gefühlsduselig wurde. Er war ein Mann... und Männer heulten schließlich nicht. Chenoa zu finden war keine einfache Sache; erst recht nicht in diesem riesigen Palast, in dem hunderte von Leuten herum wuselten; als er die Zuyyanerin schließlich entdeckte, war sie nicht allein. Er hielt kurz vor der Tür zum Hinterhof inne, wo er sie zusammen mit dem rothaarigen Yarek stehen sah. Beide rauchten und machten dabei ziemlich ernste Gesichter, sie schien ihm gerade irgendetwas zu erzählen. Zoras beschloss, zu warten, bis der andere Kerl ging, doch gerade, als er gehorsam etwas zurücktreten wollte, um nicht aus versehen andere zu belauschen, entdeckte der rothaarige Typ ihn schon. Er zog ein letztes Mal an seiner Kippe, warf sie dann auf den Boden und ging nach einer flüchtigen Verabschiedung in Chenoas Richtung durch die Tür hinein in den Palast. „Du wolltest sicher eher von ihr als von mir was.“, sagte er zu Zoras, als er an ihm vorbei kam, und Zoras fiel der merkwürdig konfuse Gesichtsausdruck auf, den der Kerl an den Tag legte. „Ähm, ich habe etwas Zeit, du musst nicht weglaufen...“ „Nein, ich bin hier fertig. Ich suche die Seherin.“ Damit ging er von dannen und Zoras sah ihm verwirrt über sein Verhalten nach. Irgendetwas hatte ihn nervös gemacht; war das Chenoa gewesen? Er räusperte sich gekünstelt, während er noch immer Yarek nach sah – dann drehte er sich um und stieß genau gegen die Frau, zu der er gerade hatte hinaus gehen wollen. „Aua! Verdammt, Chenoa!“ „Dreh dich doch nicht einfach um.“, riet sie ihm in aller Ruhe, „Ich habe schon darauf gewartet, dass du kommst. Vermutlich willst du dich auch beklagen?“ Er schnaufte, rieb sich die Nase und fragte sich, ob Yarek sich auch beklagt hatte. Chenoa hatte ihm die Bürde aufgehalst, die Sieben zu beschützen... vermutlich war das nicht sein Traumberuf gewesen. Er sah in das so schöne, distanzierte Gesicht der Beraterin des Kaisers und errötete gegen seinen Willen; wo er ihr jetzt so nahe war, konnte er nur an die Vereinigung denken, die sie gehabt hatten... es machte ihn verlegen, weil er ziemlich sicher war, dass sie ihm die lüsternen Gedanken ansehen konnte. Chenoa lächelte ihr aufgesetztes Lächeln. „Du hast deine Sache gut gemacht, Zoras. Du kannst deine Hellebarde schon fast richtig benutzen. Den letzten Schliff wirst du von einem Fachmann beigebracht bekommen müssen. Ich bin Zuyyanerin, ich kann dir nicht eine Magie beibringen, die ich nicht beherrsche.“ Der junge Mann schnaufte und senkte das Gesicht, weil seine Wangen glühten. „Du Verräterin hast mit keinem Wort gesagt, dass das Zeichen die blöde Tätowierung ist! Ich habe geglaubt, die wollen mich ficken, verdammt!“ „Lerne, auf deine Instinkte zu hören.“ „Meine Instinkte haben gesagt Achtung, Männer begrabschen dich und ziehen dich aus, Alarm...“ Er raufte sich empört die Haare, „Ganz davon abgesehen, was ich für... für lächerliche Sachen machen musste, damit die mir gefolgt sind! Du hättest mich warnen können, ich meine, die wollten, dass ich mich rasiere, ja?! Und zwar überall! Ich komme mir vor wie ein haarloser Affe!“ Chenoa grinste zu seinem Entsetzen. „Oh, na, da vergaß ich wohl, dran zu denken, wir auf Zuyya tun das auch, zumindest viele. Ich habe nicht daran gedacht, dass dir das seltsam erscheinen könnte.“ Er starrte sie an. „Moment, was?! Du... auch?!“ „Blaue Schambehaarung ist ziemlich unerotisch.“ Er errötete perplex – jetzt, wo sie es sagte, als sie sich vereint hatten, war ihm gar nicht aufgefallen, dass sie da unten ziemlich nackt gewesen war... verdammt, er sollte aufhören, immer daran zu denken! Aber die Erinnerung weckte in ihm immer noch diese ungezogene kleine Flamme und das Verlangen, es noch mal zu tun. Sie lenkte ihn etwas von seinen Gedanken ab, indem sie sein Kinn hochzog und fortfuhr. „Sei tapfer. Wir werden uns vermutlich noch öfter sehen, als dir lieb ist.“ Er wusste nicht, was er davon halten sollte. Aber es war ihm auch egal, als sie sich zu ihm beugte und ihn kurz aber intensiv küsste. Ehe er sich ihren Lippen richtig hingeben konnte, hatte sie auch schon wieder von ihm abgelassen und er seufzte resigniert, weil sie aufhörte. „Was... hast du zu Yarek gesagt? Er wirkte... verändert, eben gerade.“ Chenoa sah ihn ernst an, dann drehte sie den Kopf zur Seite, als wollte sie ihm ausweichen. „Ich habe gesagt... das Ende der Welt kommt noch immer. Das... ist alles.“ Sora war euphorisch. Sie war so lange nicht in Vialla gewesen, in Fann hatte sie geglaubt, sie hätte alles vergessen von der Stadt, in der sie geboren und die ersten sieben Jahre ihres Lebens verbracht hatte. Aber jetzt war sie wieder hier und alle Erinnerungen durchströmten ihren Kopf so selbstverständlich, dass es sie unheimlich glücklich machte. Es war, als wäre sie wieder ein kleines Mädchen und würde ihren Eltern voraus durch den Palast stürmen, um sich dann hinter irgendeiner Säule zu verstecken und auf sie zu warten, dann hervor zu springen und die Eltern gehörig zu erschrecken. Das hatte sie manchmal gemacht, wenn sie auf den Festen des Königs gewesen waren... heute wusste sie, dass ihr Vater als Geisterjäger und ihre Mutter als Telepathin nie wirklich erschrocken gewesen waren, sie hatten aber sehr überzeugend so getan. Und dann hatte ihr Vater sie durch die Korridore gejagt, dabei gelacht und sie schließlich eingefangen, in seine Arme genommen und hoch gehoben, um seine kleine Tochter dann an sich zu drücken und ihr zu versichern, wie lieb er sie hatte. Sie hielt an, als die Gedanken ihre Euphorie in Wehmut verwandelten. Wie lange war das alles her? Ihre Eltern waren so lange schon tot... sie fragte sich, ob sie wirklich wissen wollte, wer sie getötet hatte. Sie war kein rachsüchtiger Mensch... sie wollte lieber nicht mehr daran denken. Wüsste sie den Namen des Mörders, würde sie nur von ihm träumen und weinend aufwachen, ihn verfluchen und darüber klagen, dass er ihr ihre Eltern genommen hatte... es war besser, wenn sie es nicht wusste. Staunend sah sie an die hohe Decke der Halle, durch die sie gerade gerannt war. Verzierungen und kunstvolle Bemalungen waren zu erkennen, die schon so alt waren, dass sie allmählich ihre Farben verloren. Das Schloss war alt geworden... sie war es auch. Sie war jetzt eine erwachsene Frau und kein kleines, wildes Mädchen mehr. Sie war ein akzeptiertes Mitglied ihres Stammes und würde bald die Frau des Königs sein. Das war so aufregend! Sie fasste neuen Mut, um weiter zu rennen und dabei fröhlich zu lachen. Heute war kein Tag der Trauer oder der Vergangenheit. Heute sollte sie sich freuen, weil Frieden gekommen war, weil alles gut war. Weit kam sie nicht mit ihrem Rennen, weil sie plötzlich, in ihren Gedanken versunken, gegen jemanden stieß, und mit einem erschrockenen „Au!“ von beiden Beteiligten stolperte Sora japsend zu Boden. Oh nein, und ihre Mutter hatte sie immer getadelt, sie sollte nicht beim Gehen träumen... „E-entschuldigt!“, rief das blonde Mädchen hastig und rieb sich die Stirn, „I-ich wollte nicht-... eh...“ Sie stockte, als sie hoch sah und vor sich eine verblüffte, blonde Frau erkannte, die von einem Mädchen etwa in ihrem Alter und zwei kleineren Jungen flankiert war. Irgendwie kam ihr die Frau bekannt vor... sie weitete verblüfft die blauen Augen, als ihr der schwarze Umhang und der Anstecker mit dem Pentagramm auffielen; die Zeichen der Geisterjäger. „Nein!“, rief sie erstaunt aus, „Saja Shai?! Seid Ihr das?!“ Die Blonde wirkte genauso irritiert wie sie selbst, denn sie blinzelte ein paar Mal, während die drei Kinder einander blöd ansahen. Es dauerte etwas, bis die Geisterjägerin wusste, wen sie vor sich hatte. „Sora Kita... Senols Tochter!“, machte sie atemlos, „Ich fasse es nicht – du bist... du bist zurückgekommen? Liebe Güte, du bist ja erwachsen!“ „Wer ist die, Mutti?“, fragte der kleinste Junge blöd, der sich an der kleinen Nase kratzte und sich dann die schwarzen Haarsträhnen aus dem Gesicht wischte. Saja hatte keine Zeit, ihrem Kind zu antworten, stattdessen umarmte sie Sora, die sich erhoben hatte, und lachte dabei. „D-dass ich das erlebe!“, freute sie sich, „Was für ein Wunder... ich habe geglaubt, wir würden dich nie wiedersehen... wo bist du all die Jahre gewesen? Puran und Meoran, diese Verschwörer, haben nie verraten, wohin sie dich gebracht haben, nachdem deine Eltern-... ach, was soll es, du bist hier! Sowas Schönes! Ich weiß gar nicht, was ich sagen soll, wie geht es dir?“ „Mutti, wer ist das Mädchen?“, nölte der kleine Junge und zerrte an Sajas Umhang, und seine große Schwester zog ihn tadelnd zurück. „Lass das, Tejo. Sei artig!“ Doch Saja strahlte bereits, als sie die ebenfalls verblüfft und erfreut lachende Sora losließ und sich an die drei Kinder wandte. „Meine Tochter Mila kennst du vielleicht noch von damals, Sora? Die beiden Jungs sind meine Söhne, der Ältere heißt Eiko und der Kleine Tejo.“ Sora lachte blöd. „Richtig, Mila, an sie erinnere ich mich! Und ihr anderen, guten Tag!“ Sie verneigte sich artig und der kleinere Junge guckte nur dumm, während der Ältere plötzlich heftig errötete und es vorzog, sich nervös hinter seiner Schwester zu verstecken. Sora fragte sich, was er hatte, aber sie beschloss, ihn nicht zu bedrängen. „Ich bin jedenfalls Sora... ähm... mein Vater war wie eure Eltern im Rat der Geisterjäger.“ „Es hieß, du wärst verschwunden, als deine Eltern gestorben sind...“, sagte Mila mit einem bescheidenen Lächeln, „Dann bist du zurückgekommen, um auch in den Rat zu gehen, oder wie?“ Sora war verblüfft – Moment, daran hatte sie gar nicht gedacht. Sie war die Tochter eines Geisterjägers... die meisten Kinder der Geisterjäger, die ebenfalls Schwarzmagier waren, kamen irgendwann zu ihren Eltern in den Rat. Jetzt, wo es ausgesprochen war, war die Idee gar nicht so schlecht, fand das blonde Mädchen verdutzt... dafür müsste sie allerdings noch viel üben, bevor sie in ihres Vaters Fußstapfen treten und Eismagierin werden konnte, wie es in ihrer Familie seit jeher üblich war... „Das wird jetzt wohl nicht mehr gehen.“, ertönte da eine bekannte Stimme hinter ihr und sie fuhr herum, als sie Zoras sah, der auf sie zu kam, die Hellebarde geschultert und bereits mit der Autorität eines Ehemannes, der für seine Frau sprach. „Sie... gehört jetzt zum Stamm in Ostfann, die werden sauer, wenn wir nicht zu ihnen zurückkehren. Ich bedaure das also zutiefst, ihr an dieser Stelle die vorherbestimmte Karriere versauen zu müssen, aber wir müssen jetzt gehen.“ „Oh?“, machte Saja Shai verblüfft, „Wie, gehen, ihr geht zurück nach Fann? Beide?“ „Ich fürchte, es geht nicht anders.“, sagte der Schwarzhaarige dazu, als er die Gruppe erreichte, „Aber wer weiß, was die Zeit bringt. - Komm, Sora, wir sollten diese Leute nicht länger warten lassen. Gehabt Euch wohl, Herrin.“ Mit einer Verneigung vor Saja Shai nahm er Sora an der Hand, und sie lächelte ebenfalls, als sie den Kopf entschuldigend neigte und ihm dann gehorsam folgte. „Vielleicht sehen wir uns mal wieder!“, rief sie lachend über die Schulter, „Grüßt bitte alle anderen von mir... ich werde meinen Eltern auch in Fann eine gute Tochter sein, versprochen!“ Sie sah, wie Saja Shai leicht lächelte und nickte, während das Mädchen und der kleine Junge artig winkten und der Ältere noch immer mit knallrotem Gesicht hinter dem Rücken seiner Schwester hervor lugte und sich sonst nicht rührte. „Willst du denn lieber hier bleiben?“, fragte Zoras seine Braut, als sie Hand in Hand durch die Korridore in Richtung des Tores gingen. In diesem, den sie gerade passierten, war kaum ein Mensch außer ihnen. Sora seufzte leise. „Ich hätte nichts dagegen. Das hier ist meine Heimat. Aber der Stamm ist... meine Familie, ich würde sie nie im Stich lassen. Es... ist schon richtig so. Wir können das auch gar nicht ändern.“ Sie lachte leise, als er stehen blieb und einen Moment schwieg. „Außerdem kann ich dich doch nicht alleine gehen lassen! Du brauchst mich als Dolmetscherin! Du hast deine Familie für den Stamm hier gelassen... dann werde ich meine Heimat auch hier lassen. Wir beide... müssen doch eine Einheit bilden.“ Er sah sie zweifelnd an, wie sie ihn liebevoll anlächelte mit so einer Güte, dass ihm mulmig wurde. Sora war ein guter Mensch... er schätzte sie sehr und wusste gar nicht so genau, warum eigentlich. Sie sah Neisa so verdammt ähnlich, als wäre sie ihre heimliche Zwillingsschwester. Nein, schalt er sich grantig, Daran liegt es nicht, dass ich sie gern habe. Neisa... er sollte aufhören, an Karanas Schwester zu denken, er tat es viel zu oft, obwohl er versuchte, sich dagegen zu wehren. Als er sie auf dem Schlachtfeld geküsst hatte, war irgendetwas davon in ihm hängen geblieben, ein Gefühl, das ihm abartig vorkam, und dennoch so tief in seinem Inneren vertraut. Er hatte an die Worte des Geistervogels gedacht. Es war ein Teil seines Geistes, der viel älter war als er selbst, der sich nach dem blonden Mädchen sehnte... er sollte damit aufhören. Deswegen musste er hier weg... um Neisa nicht wieder zu begegnen. Wenn er ihr wieder gegenüber stünde, wüsste er nicht, was sein Mund für Dinge sagen würde, die irgendwo in der Tiefe seines schattigen Geistes vergraben waren, ohne dass er einen Einfluss darauf hatte. Neisa hatte Tayson, und er hatte beteuert, sich in Zukunft zu bemühen. Das war alles, was zählte... mehr wollte er nicht. Nein, mehr sollte er nicht wollen. „Zoras?“, unterbrach die Stimme seiner Begleiterin seine düsteren Gedanken, und er fuhr hoch und sah sie einen Moment an. „Was... was ist? Alles in Ordnung?“ Er keuchte. Verdammt... er hätte Neisa nie küssen dürfen. Er wusste nicht, was in ihn gefahren war, als er Sora plötzlich am Arm packte, sie rückwärts gegen die Wand schob und sie auf die Lippen küsste. Vielleicht hatte er geglaubt, die Gedanken an Neisa für immer vernichten zu können, wenn er eine andere küsste... vielleicht könnte er das auch, er wusste es nicht. Er wusste nur, dass es sich gut anfühlte und dass das Mädchen erst verblüfft war, dann vorsichtig die Arme hob und sie um seinen Nacken schlang, um seinen Kuss liebevoll zu erwidern. Ja... es war gut. Sora würde bald seine Frau sein. Sie war eine gute Frau und der Gedanke machte ihn glücklich, mit ihr an seiner Seite leben zu können. Er wollte ihr niemals wehtun... er war nicht wie Karana. Er würde nicht Soras Mann sein und dabei an Neisa denken, wie Karana sich über Iana hermachte und dabei Saidah stöhnte. Als er den innigen Kuss beendete, keuchte er ungehalten, als er in Soras errötetes Gesicht sah und die Gedanken an Neisa tatsächlich weg waren. Vor ihm stand Sora... und sie war bildhübsch, klug und sanftmütig. Und er wollte sie... er drängte sein Verlangen erfolgreich zurück, denn jetzt wäre es unangebracht. Stattdessen fuhr er dem Mädchen zärtlich durch die offenen Haare und küsste ihre Wange. „Wenn wir wieder in Fann sind...“, flüsterte er, „Wirst du meine Frau. Meine Königin... und dann will ich... dass du in der Nacht bei mir liegst. Es... es wird gut sein.“ Sie errötete heftiger, schien aber nicht abgeneigt zu sein, denn sie senkte mit einer Bescheidenheit, die nichts anderes als Höflichkeit war, das Gesicht und grinste dabei verschmitzt. „Ja...“, flüsterte sie, „Es wird gut sein. Ich freue mich darauf.“ Die Seherin hockte mit einem wissenden Grinsen auf dem Bett in ihrem Zimmer, als Yarek eintrat. Er störte sich nicht daran, dass sie komplett nackt war, und auch nicht daran, dass sie ihn anstrahlte, als hätte sie auf ihn gewartet, als er die Tür hinter sich schloss. In diesem Augenblick erregte ihn ihr reizender Anblick nicht; er hatte jetzt anderes im Kopf, und ihr wissendes Grinsen machte ihn rasend. „Du hast das gewusst, oder?“, fragte er sie kalt, als er seinen Mantel auszog und auf den Boden des Zimmers warf, darauf sein Hemd glatt streichend. „Du hast gewusst... dass Chenoa das sagen würde. Du hast gewusst, dass wir Ela-Ri besiegen und trotzdem alle verrecken werden... du elende Schlampe. Habe ich nicht recht?“ Er starrte sie grimmig an und ihre violetten Augen weiteten sich nur für einen Moment, ehe sie sich räkelte und er nur kurz auf ihre prallen, nackten Brüste starrte, die sie ihm so billig präsentierte. „Und hör auf, dich so nuttig aufzuführen, Seherin, ich habe gerade so gar keinen Bedarf, dich zu nehmen. Wir werden sterben und du hattest nicht den Anstand, es vorher zu sagen?“ „Hast du die Ghia gesehen, Yarek?“, fragte sie zurück und linste zum Fenster des Zimmers, „Sieh sie dir an. Ein Tod bringendes... unheilschwangeres Monstrum ist sie, oder? Der grüne Mond... der uns alle vernichten kann. Ich spüre ihre Macht... und ihre Bosheit. Spürst du sie auch?“ „Ich spüre deinen Wahnsinn, du verdammte Frau!“, fuhr er sie an, während er am Bett vorbei zum Fenster stampfte, um hinaus zu sehen in den Schneesturm. „Ich hätte Lust, dich zu häuten und zu verbrennen für dein ewiges Grinsen, Ryanne!“, fluchte er, „Warum hast du nichts gesagt?!“ „Die Geister sind launisch.“, behauptete sie, „Ich wusste es nicht, das ist gelogen. Ich habe gesagt, das Ende der Welt kommt... ich habe gesagt, es kommt mit Feuer und Schatten. Alles, was ich prophezeit habe, ist wahr geworden. Der König von Ela-Ri hat Puran Lyras Schicksal besiegelt; er ist jetzt der König von Kisara. Hast du Angst zu sterben, Yarek? Ich habe nicht gesagt, dass es unser Ende ist... nur das der Welt.“ Der Rothaarige zischte und fuhr zu ihr herum. „Nein, ich habe keine Angst, nur wozu haben wir diese ganze Scheiße hier gemacht, wenn wir jetzt draufgehen?! Wozu soll ich die Sieben beschützen, wenn jetzt das passiert?! Und weder du noch Chenoa noch sonst einer von diesen Besserwissern, diesen Leuten, die alles wissen, lässt sich dazu herab, mir zu sagen, was zum Geier die Aufgabe der Sieben ist! Es scheint ja nicht das Schicksal von Tharr zu sein!“ „Nein, es ist das Schicksal von Khad-Arza.“, sagte Ryanne und ihr bohrender Blick jagte ihm einen Schauer über den Rücken. Sie war mächtig... und gefährlich. Er musste seine lockere Zunge in ihrer Gegenwart hüten, beschloss er weise. „Khad-Arza wird es in ein paar Tagen nicht mehr geben!“, schnaubte er und bemühte sich um Fassung. Die Frau aalte sich vom Bett und kämmte sich grinsend mit den Fingern die blonden Haare. „Ja... das Bündnis... wird zerbrechen. Aber die Seele von Khad-Arza... die Seele der Drei Welten wird weiterleben, Yarek. Das ist es... was die Sieben beschützen sollen. Das ist es, was getan werden muss.“ Er antwortete ihr nicht; er hatte diese rätselhaften Worte so satt. Warum geriet er immer nur an Frauen, die so sprachen? Erst Chenoa, dann Ryanne... er musste wirklich masochistisch veranlagt sein, sich immer wieder auf Seherinnen einzulassen. Thira Jamali, die Erbin von Okothahp, hatte sich immer Blindheit gewünscht. Sie hatte sich gewünscht, nicht sehen zu können, was geschah, nicht die Macht zu besitzen, mit der Reikyu umgehen zu können. Die Reikyu war eine gefährliche Macht... wenn man zu tief hinein sah, verlor man den Verstand, wenn man zu viel hinein sah, seine Seele... oder vielleicht war es egal, ob man zu tief oder zu viel hinein sah, und man verlor beides sowieso. Wenn sie nicht sehen könnte, hätte sie nicht mit ansehen müssen, wie ihre Eltern getötet worden waren, als sie klein gewesen war. Aber sie hatte alles gesehen... die Gedanken an die Zukunft schürten in ihr einen Hass, den sie zehn Jahre lang ruhig gestellt hatte, den sie in ihrem Herzen verschlossen gehalten hatte, um ihn aufzuheben für die Zeit, die kommen würde... jetzt war sie gekommen. Und es war nicht gut, wenn sie vergaß, ihren Hass zu kontrollieren... sie wollte nicht zurück nach Zuyya, um keinen Preis. Sie wollte nicht zurück in das verdammte Imperium, nicht zurück unter die Herrschaft eines wahnsinnigen Mannes, der Schuld am Tod ihrer Eltern war. Zuyya war kein schöner Ort... jetzt noch weniger als jemals zuvor. Sie kauerte in der dunklen Ecke eines Salons im Palast, ohne noch zu wissen, wie sie hergekommen war und warum sie hier saß. In ihren Händen glühte die Reikyu, die Seelenkugel, die ihr die Zukunft zeigte... und sie verabscheute sie so sehr, dass sie das Verlangen verspürte, die Reikyu zu vernichten. Obwohl sie wusste, dass es nicht möglich war, eine Reikyu zu vernichten, zumindest nicht mit roher Gewalt. Und um Magie zu beherrschen, die so etwas vollbrächte, war sie noch zu jung... zu unerfahren, weil ihr niemals jemand hatte beibringen können, wie es ging. Sie war nicht überrascht, als Chenoa zu ihr kam. Die Beraterin des Kaisers, die gar nicht wirklich seine Beraterin war. Die Frau erschien aus dem Nichts vor ihr in den Schatten des Raumes, allein ihre gelben Augen hoben sich aus dem Dunkel ab, als sie auf das junge Mädchen herab blickte. „Du sorgst dich... zurecht, Thira. Es werden keine guten Zeiten.“ „Es wird eine Katastrophe.“, sagte sie, „Wirst du nach Ghia gehen?“ „Nein. Ghia... ist so gut wie tot. Ich habe getan, was ich tun musste. - Beherrsche deinen Zorn, Tochter von Akando Jamali. Sei... wie dein Vater es dich gelehrt hat. Er war ein weiser und guter Mann... du weißt, dass er auch für mich wie ein Vater war, obwohl er kaum älter war als ich.“ Thira schwieg einen Moment. „Ich will nicht zurück... ich weiß nicht, ob ich mich... so gut zusammenreißen kann. Und für die anderen wird es auch schlecht. Simu... sie werden Simu töten, wenn sie erfahren, wer er ist.“ Chenoa sagte darauf nichts. Erst nach einer Weile seufzte sie. „Ich passe darauf auf, Thira. Der Kaiser sollte weder von dir noch von Simu erfahren.“ „Was ist mit den Tharranern? Willst du ihnen die schlechte Botschaft heute noch bringen?“ „Morgen früh reicht. Ich gebe ihnen eine letzte Nacht in dem Glauben, die Welt sei gerettet... sollen sie sich noch einmal erholen. Morgen früh... werde ich es ihnen sagen. Das wird schwer genug.“ „Was ist mit dem Imperator? Er wird nicht begeistert sein. Wie willst du dafür sorgen, dass er nicht vor Wut alles niederbrennt?“ „Das lass mal meine Sorge sein; um den Imperator kümmere ich mich, sobald ich alles gesagt habe, also morgen.“ Mit diesen Worten wandte die Beraterin sich von Thira ab und war im Begriff, zu verschwinden. „Schlaf, Thira... solange du noch kannst. Auf Zuyya wird es schwer werden... das Wetter ist scheiße da.“ Das waren wahre Worte... die Zukunft war nicht rosig, sondern mehr blutrot. Es dämmerte, als der Schneesturm plötzlich aufhörte und eine weiße Landschaft zurückließ. Der Himmel klarte wieder auf, als es Nacht wurde, und Karana wusste, dass es eiskalt werden würde, wenn die Wolken weg waren. Der Schnee hatte das Schlachtfeld unter sich begraben, sodass niemand mehr erahnen konnte, dass dort vor wenigen Tagen noch die Erde voller Blut und Leichen gewesen war. Durch die Fetzen der verschwindenden Wolken erkannte man die gigantische Ghia am Himmel wie ein Unheil bringendes Auge des Vater Himmel, der auf die Welt herab blickte. Zuyya war fast ganz verschwunden; es war kurz vor Neumond. Bald würde der Hungermond anbrechen und mit ihm ein neues Jahr, das erste Jahr mit einer vierstelligen Zahl seit Beginn der Zeitrechnung. „Die Esoteriker und Abergläubischen sagen, wenn das Jahr tausend kommt, geht die Welt unter.“, behauptete Karana zu Iana, die neben ihm und dem schwarzen Hund durch den Korridor ging, um seinen Vater zu suchen. Jetzt, wo alle wieder auf den Beinen waren, fand Karana, es wäre Zeit, seinem Vater seine Gefährtin ordnungsgemäß vorzustellen. Er war fast aus allen Wolken gefallen, als er erfahren hatte, dass er wirklich König und es nicht bloß ein Witz gewesen war, als man ihn Sohn des Königs genannt hatte. Obwohl es nahe lag, dass der alte König in Ermangelung eines Erben seines Blutes den erwählte, den er von allen immer am meisten geschätzt und verehrt hatte, überraschte Karana diese Tatsache ziemlich. War er jetzt Thronerbe von Kisara? Das war so abstrus, dass er nicht einmal euphorisch lachen konnte, weil es ihm Macht gab. Er verdrängte die verblüffenden Gedanken, um sich Iana zu widmen. „Und vielleicht haben sie recht, ich weiß nicht, wie ich es erklären soll... aber obwohl Ela-Ri besiegt ist... spüre ich noch Schatten in mir.“ Iana sah ihn kurz an und schwieg dann. „Ich... spüre es auch.“, gab sie dann zu und er hielt verblüfft inne. „Was?“ „Die Schatten. Ich weiß nicht, woran... es liegt, ich... bin doch nur Halblianerin. Aber ich habe... in meinen Träumen das Gefühl, beobachtet zu werden... und es verschafft mir auch Unruhe.“ Karana runzelte nachdenklich die Stirn. Nun, Lianer waren auch Magier. Vielleicht spürten sie auch die Nähe zu den Geistern... oder vielleicht zu den Geistern der Lians, der Bestien, die sie beschwören konnten. Als er lange schwieg, sah sie ihn an und fuhr fort. „Denkst du, die Welt geht am Neumond unter, Karana?“ Er hätte vor wenigen Monden noch mit einem klaren Quatsch! Geantwortet. Jetzt war er sich nicht mehr sicher... die Nervosität, die ihn erfüllte, war eigenartig. Und sein Vater wusste es augenscheinlich auch nicht besser, als sie ihn schließlich fanden; obwohl sein Sohn ihn nicht darauf ansprach, spürte er auch ohne Worte dieselbe Unruhe, die auch ihn selbst um den Schlaf brachte, wenn er seinem Vater in die grünen Augen sah. Er wirkte müde und älter als er war, und mit einem erschöpften Seufzen fuhr er sich durch die zerzausten Haare, als Karana zusammen mit der Frau und dem Hund zu ihm kam. „Du bist wieder auf.“, war seine erste Bemerkung in Richtung seines Sohnes, „Ich bin froh zu sehen, dass es dir gut geht, Karana. Ich...“ Er machte eine verlegene Pause und räusperte sich, „Ich hatte einen Moment lang ziemliche Angst um dich... ich weiß, das gehört sich nicht für einen Mann, sowas zuzugeben, aber du bist nun mal mein einziger leiblicher Sohn... dann haben die Geister mich also doch nicht verraten, als ich sie gebeten habe, dich zu schützen.“ Er zeigte ein mattes Lächeln und sah dann zu Iana, der er kurz zunickte und für einen Moment irritiert wirkte. Karana fragte sich, ob es daran lag, dass sie wie Saidah aussah... Saidah. Er hatte sie nicht gesehen, seit er wieder hier war... im Moment war er froh darum. „Ich habe von deinem neuen, äh... Beruf gehört, Vati...“, sagte Karana dann mit einem blöden Lachen, „Ähm, was sagt man da? Glückwunsch? Ich meine, du wurdest quasi befördert...“ „Befördert?“, seufzte sein Vater, „Nun ja, das liegt im Auge des Betrachters, mich wirft es eher zurück, weil es viel zu tun gibt. Die Minister und der Senat haben einstimmig beschlossen, mir das Amt zu lassen. Das heißt, wir werden wohl hier im Palast bleiben müssen... ich muss mich an diesen ganzen Krempel erst mal gewöhnen – Himmel, wir haben hunderte von Dienern, das bin ich nicht gewohnt... die haben mich böse angeguckt, weil ich mir meinen Kaffee selber machen wollte... ich beleidige sicher andauernd aus Versehen irgendwen, weil ich das alles nicht gewohnt bin...“ „Aber.“, fiel Karana da prompt ein, „War dein Großvater nicht auch ein König? Von Lyrien? Das hat uns die alte Namah in Dokahsan erzählt, bei der wir Unterkunft gefunden haben...“ Er sah, wie sein Vater sich plötzlich anspannte und ihn durchdringend anstarrte. Er starrte zurück und versuchte, diese Veränderung in seinen Augen zu deuten... er konnte es nicht. Es war eine Mischung aus Panik und Zorn, die er vorfand... was hatte das alles zu bedeuten? „Wenn du mich jemals aufs Äußerste beleidigen willst, vergleichst du mich mit diesem Scharlatan.“, zischte Puran Lyra dann und zog die Brauen ärgerlich zusammen, „Dein Urgroßvater war ein Monster und kein König, er war nicht besser als dieser Ela-Ri-Hornochse. Zum Glück ist er schon lange tot und seine Leiche wurde verstopft und in den Fluss geworfen, damit sein Geist niemals... niemals wieder in diese Welt zurückkehren kann! Sprich... nicht mehr von ihm, Karana. Kelar... war eine Bestie, deren Tod eine Erleichterung für die Welt war.“ Karana runzelte die Stirn. Die Alte war anderer Meinung gewesen... er fragte sich, warum sein Vater so derartig verstimmt war, wann immer es um diesen längst toten Mann ging... er musste seinen Großvater wahrlich gehasst haben. „Den Geist, der niemals hätte wiedergeboren werden dürfen...“ Er erschrak sich über die Stimme in seinem inneren; an die Worte des Sehers von Ela-Ri. Ja, das hatte er gesagt... was hatte das zu heißen? Die Gedanken waren ihm unangenehm und er wechselte daher eilig das Thema, die Geisterstimmen verdrängend. „Ich habe gedacht, jetzt, wo das Chaos vorüber ist, komme ich dazu, dir mein Mädchen vorzustellen. Ich meine, eigentlich hast du sie ja nur von weitem gesehen... das ist jedenfalls Iana Lynn. Manchmal nennt sie sich auch Akada, das ist irgendein Kosename, den ihr Vater ihr gegeben hat...“ „Himmelskind.“, sagte Iana leise, und beide Männer sahen sie an. „Es... es bedeutet Himmelskind, es ist ein Wort aus einer alten Sprache der Bergmenschen von Kadoh. Mein Vater ist in so einem Bergstamm aufgewachsen und beherrschte diese Sprache deshalb... meine Mutter war Lianerin. Es ist mir eine Ehre, Herr.“ Puran Lyra musterte sie perplex und Karana lachte. „Himmelskind, das ist eine hübsche Bedeutung.“ „Aus Kadoh.“, seufzte sein Vater da mit einem leichten Lächeln, „Ach, wie nostalgisch, das erfreut mich sehr. Ich bin auch vor vielen Jahren einige Jahre in Kadoh gewesen, wir haben uns im Krieg dort bei einem solchen Bergstamm versteckt. Karanas Name kommt auch aus Kadoh.“ Karana blinzelte. „Was? Meiner?!“ „Oh ja. Du trägst den Namen eines sehr jungen Mannes aus diesem Stamm, dessen Mut deine Mutter ihr Leben verdankt. Sie hat beschlossen, dich nach diesem Jungen zu benennen, so haben wir diesen tapferen Knirps, der ein kleines Mädchen furchtlos vor den Zuyyanern beschützte, immer in Ehren gehalten. - Ich dachte, das hätten wir dir mal erzählt...“ „Musst du vergessen haben!“, empörte Karana sich verdutzt; das hatte er wirklich nicht gewusst. Aber jetzt erschloss sich ihm, warum der Seher zu ihm gesagt hatte, er hätte den Geist eines mutigen Kindes; es musste dieser Junge sein, den sein Vater gerade genannt hatte, dessen Seele er dank seines Namens in sich trug. Er dankte dem Geist von Karana aus Kadoh dafür, dass er seine Mutter beschützt hatte und dass er die Ehre hatte, seinen Namen tragen zu dürfen. Sein Vater räusperte sich und unterbrach seine Gedanken. „Du hast gesagt, sie sei dein Mädchen. Ohne dich vor ihr bloßstellen zu wollen, soll ich das ernst nehmen oder ist das nächste Woche sowieso vergessen?“ Iana hustete und Karana schnaubte. „V-Vater!“, rief er, „Nein, natürlich nicht! Es ist mir ernst damit, ich... ich habe das Gefühl, die Geister haben dafür gesorgt, dass wir uns begegnen. Sie... binden uns aneinander.“ Um das zu unterstreichen nahm er Ianas Hand in seine und grinste ihn an. Iana blieb still und rührte sich nicht, während sein Vater sie abermals nachdenklich musterte. „Ja...“, murmelte er dann etwas neben sich und kratzte sich etwas unschlüssig am inzwischen rasierten Kinn, „Die Geister machen... eigenartige Sachen. Du siehst aus wie jemand, den ich kannte.“ Karana spürte, wie Iana sich anspannte. „Ja, das höre ich von vielen, Herr... ich bin Saidah nie begegnet. Dieser Frau, der ich angeblich ähnlich sehe.“ Karana rutschte in diesem Moment das Herz in die Hose, als sie das aussprach, und er erbleichte merklich, als sein Vater darüber verblüfft die Brauen hob. „Ach.“, sagte er, „Saidah! - Tatsache, ein klein wenig. Aber eigentlich habe ich mehr an jemanden anderes gedacht... ah, entschuldigt, das tut ja nichts zur Sache. Ich sage ja, die Geister machen seltsame Dinge.“ Und das war der Moment, in dem Karana zum ersten Mal sicher war, dass es nichts mit Saidah zu tun haben konnte, dass er sich zu Iana hingezogen fühlte... er wusste nur nicht, was es sonst war... Der Morgen graute wie ein tückischer Nebel über dem mit Schnee und Eis bedeckten Land. Es war still geworden... unheimlich still. Kein Vogel machte ein Geräusch, kein Wind fuhr durch die kahlen Äste der Bäume. Es waren ungute Zeichen... selbst für eine eiskalte, vergangene Winternacht war es zu still. Es war, als hätte die ganze Welt die Luft angehalten... zum letzten Mal, bevor sie zum Sprung über die große Schlucht ansetzen würde... und Puran wusste, sie würde scheitern. Er brummte und griff ein Kissen neben sich, um es sich auf das Gesicht zu drücken und die Unruhe zu verdrängen, die er sich nicht erklären konnte. Die Geister waren nervös... sie hatten die ganze Nacht geflüstert und ihm Bilder des Todes gezeigt... dabei war Ela-Ri doch bezwungen? Und trotzdem war so viel Schatten in seinen Träumen... „Und das Ende der Welt...“, keuchte er in sein Kissen, und er spürte, wie seine Frau ihn empört biss. Zischend fuhr er zusammen bei dem kurzen Schmerz, der ihn fast verrückt gemacht hätte. Er hörte sie schnauben. „Das ist reichlich wenig erregend, wenn du dabei immerzu von deinen Träumen redest, Liebster!“ beschwerte sie sich, „Wie soll ich dich denn von deinen Sorgen ablenken, wenn du selbst dabei immer nur vom Ende der Welt redest? Entspann dich endlich...“ Er murrte und atmete heftig ein und aus, während er spürte, wie sie ihn küsste und wie ihre so geschickte Zunge den vorangegangenen Schmerz entschädigte. „Entschuldige, Leyya... ich kann einfach nicht-...“ „Also, für mich sieht das anders aus. Außerdem warst du es doch, der eben noch so scharf darauf war, als wir aufgewacht sind!“ „Ist ja nicht so, dass ich nicht gerne würde... ich höre auf, versprochen, ich sage nichts mehr von den Träumen. Hör nicht auf, Liebes...“ Er hörte sie verschmitzt kichern und ärgerte sich darüber, dass es ihm so schwer fiel, die unruhigen Gedanken zur Seite zu schieben und sich stattdessen seiner zierlichen Gemahlin hinzugeben. Er war wirklich ein pietätloser Ehemann, er sollte sich schämen. Wie lange war es her, dass er seine arme Frau zuletzt richtig glücklich gemacht hatte? Geschweige denn sich selbst... aber seiner Frau war er es wirklich schuldig. Die verdammten Geister mussten warten, basta. So schloss er mit einem Stöhnen wieder die Augen und gab sich ihrer Zunge hin, und ihren Fingern, die ihn stimulierten, und er verlangte so sehr danach, sie auszufüllen, dass es schon schmerzte – dann grollte der Himmel über ihnen und vor seinen geschlossenen Augen zerbrach die gigantische Ghia in tausende Scherben, ehe sie die ganze Welt in Flammen setzte. Puran fuhr hoch und japste entsetzt. „A-aber sie sprechen von Tod und Schatten, Leyya, ich muss aufstehen!“ „Puran!“, nölte seine Frau und ließ von ihm ab, „Leg dich sofort wieder hin, ich lasse dich hier nicht weg, bevor du dich endlich mal erleichtert hast. Himmel, wenn du jetzt aufstehst, passt du sowieso nicht in deine Hose. Und jetzt hör auf, andauernd dazwischen zu jammern, bevor wieder irgendjemand reinkommt und uns stört, wie immer, wenn wir es in diesem Palast getan haben.“ Er hustete, folgte aber brav ihrem Befehl und legte sich wieder hin, obwohl er noch immer keuchte und seine hübsche kleine Frau flink wie ein Rehkitz über ihn kam und sich über seinen schmerzenden Unterleib kniete. „Das ist das Gute daran, König zu sein.“, behauptete er dann, „Ich habe vor die Türen Wachen gestellt und ihnen Petersilie für die Ohren gegeben, hier kommt niemand rein, bevor wir fertig sind. Und dank der Petersilie hören sie nicht mal, wenn ich so mache.“ Damit hob er mit einer flinken Bewegung seine Hand und fuhr ihr zwischen die Beine, worauf sie mit einem lauten Stöhnen den Kopf zurückwarf, wie er es erwartet hatte. Und in ihre Beschäftigung vertieft hörten sie das Rumpeln vor der Tür nicht und auch nicht die harschen Worte, die gesprochen wurden, und das Pochen an der Tür ignorierten sie gekonnt, als Leyya sich zitternd über ihren Mann beugte und sie sich leidenschaftlich küssten; jetzt, wo er die blöden Albträume endlich mal zur Seite geschoben hatte und die Flamme seiner Lenden ihn ganz und gar einnahm, war kein Platz in seinem Kopf für etwas anderes. Und deswegen waren er und Leyya umso erschrockener und verblüffter, als mit einem mal ungefragt die Tür aufflog und sie eine vertraute Stimme hörten: „Himmel noch mal, Herr, vergebt mir, aber Ihr müsst augenblicklich kommen, es ist wichtig. - Ähm, ja, kommen, ich meinte erscheinen.“ Puran Lyra erbleichte und seine Frau quiekte entsetzt, obwohl Sagal, der in der Tür stand, sich irgendein Tuch vor die Augen gebunden hatte und daher zu größter Wahrscheinlichkeit nichts von ihnen sah, wie sie nackt aufeinander im Bett lagen. „Entschuldigt, Herr Sagal, aber das hier ist auch wichtig!“, schnappte er empört, „Was habt Ihr hier verloren, wolltet Ihr nicht Eure T-... Enkelin Niarih suchen gehen?!“ Fast verplappert... verdammt, er war eben mit den Gedanken wo anders... „Das wollte ich, ja, aber dann kam die zuyyanische Beraterin. Die taucht immer auf, wenn es alle stört, das ist wohl wahr, aber es ist wirklich wichtig. Es geht um das Leben der ganzen Welt... so, wie es aussieht, wird Tharr in wenigen Tagen nicht mehr existieren.“ Diese Nachricht war schwerwiegend genug, um jede Erregung sofort zu vergessen. Und sie war sogar entsetzend genug, dass weder er noch seine Frau sich ihre nicht vorhandene Befriedigung anmerken lassen konnten, als sie wenig später mit so ziemlich jedem, der hier im Moment etwas zu sagen hatte, im Thronsaal standen. Die Geisterjäger waren alle anwesend, alle versammelten Könige, die am heutigen Tag hatten aufbrechen wollen, die Minister, die Senatoren, sogar die auserwählten Sieben samt ihren Anhängern und Karanas Hund waren gekommen; und Zoras Derran, der seine Barbaren an sich zurück nach Ostfann hatte bringen wollen, sah irgendwie noch mehr als alle anderen aus, als wäre er gerade von einem schwer beladenen Wagen überfahren worden bei dem, was die zuyyanische Beraterin ihnen jetzt offenbarte, als wäre es eine Nachricht über etwas Gutes. „Wiederholt das bitte.“, verlangte der König von Kisara und bemühte sich nach Kräften um Fassung, während seine Frau neben ihm zusammenzubrechen drohte und sich panisch an seinen Umhang krallte. „Was habt Ihr gerade gesagt, Herrin?“ „Die Ghia.“, wiederholte Chenoa Jchrrah mit dieser ätzenden Monotonie, die nur Zuyyaner inne hatten, „Sie und Tharr werden in genau drei Tagen aufeinander prallen und dabei explodieren. Ich möchte mich nicht damit aufhalten zu erklären, wie so etwas sein kann; Tharr ist, genau wie Zuyya, wie wir wissen, ein Mond des Planeten Ghia. Wenn ich jetzt von magnetischen Störungen und Anziehungskräften anfange, stehen wir morgen noch hier. Jedenfalls ist niemandem entgangen, wie riesig die Ghia geworden ist; das liegt daran, dass sie näher kommt. Astrologen auf Zuyya haben vermutet, dass dieser Umstand Schuld ist an all den Klimakatastrophen, die wohl auch auf Ghia gewesen sein müssen. Ihr habt drei Tage; heute, morgen und übermorgen, um von hier weg nach Zuyya zu fliehen. Zuyya... wird die einzige Welt sein, die dieses Desaster überlebt. Vorerst... Zuyya ist eine schlechte Welt, seid gewarnt. Aber besser eine schlechte als gar keine.“ Sie erntete fassungsloses Schweigen. „Wenn es weiter nichts ist.“, schnaubte dann König Madanan von Tejal und verschränkte die Arme, „Das ist ja wunderbar, wie sollen wir in drei Tagen zurück in unsere Länder und unsere Völker retten?“ „Gar nicht.“, sagte Chenoa unverblümt, „Tharr hat drei Flughäfen, von denen die Raumfähren fahren. Einen in Vialla, einen in Yuron und einen in Dan-morough. Ich werde nach Yuron und Dan-morough gehen und dort Bescheid geben. Alle, die von den drei Städten zu weit weg sind, haben vielleicht noch das Glück, sich mit Hilfe von Telepathen teleportieren zu können. Wenn nicht, dann nicht.“ „Wie lange wusstest du das, Chenoa?“, durchschnitt Zoras' Stimme die Stille, „Du hast das... schon lange gewusst und uns kein Wort gesagt, habe ich recht?! Warum, verdammt, haben wir Ela-Ri bekämpft, wenn jetzt so etwas passiert?!“ Er erntete zustimmendes Gemurmel und die blauhaarige Frau seufzte. „Nun, seien wir ehrlich. Ela-Ri wollte sicher niemand von euch mitnehmen nach Zuyya. Seid froh, dass ihr es los seid.“ Das waren harte Worte und Puran Lyra konnte nicht fassen, was er da zu hören bekam. Er suchte verzweifelt nach den richtigen Worten. „Was auch immer Euch geritten hat, es soweit kommen zu lassen, Ruhe bewahren. Tharr und Ghia werden also in drei Tagen explodieren. Darum kommen wir nicht herum, da hilft kein Jammern, dann müssen wir uns eilen. Was sagt denn der zuyyanische Imperator zu der Idee, alle Flüchtlinge von Tharr und Ghia in seinem Reich aufzunehmen? Wie wir alle ahnen werden, wird der gute Mann nicht erpicht darauf sein, lauter Fremde beherbergen zu müssen, die er unverhohlen nicht leiden kann. Wir alle wissen, dass Euer Kaiser weder Tharr noch Ghia schätzt.“ „Das ist wahr.“, sagte die Frau, „Darum kümmere ich mich selbst. Der Kaiser wird nicht begeistert sein, aber er wird es zulassen, wenn ich dafür sorge.“ Sie sah in die Runde der fassungslosen Männer und ihr Blick blieb an Yarek Liaron hängen, der erbost wirkte. „Du übernimmst die Sieben... Yarek. Oder sechs, Zoras wird wohl an anderen Orten gebraucht. Sieh mich nicht so an, ich war nicht verpflichtet, euch überhaupt zu warnen. Ich hätte schweigen und euch alle in den Tod stürzen lassen können...“ „Was Ihr etwa mit der Mehrheit dieser Bevölkerung auch tut.“, sagte König Madanan düster, „All jene, die nicht zufällig in den großen Städten sind oder einen Telepathen zur Hand haben, sind des Todes... und mit diesem Wissen kamt Ihr zu uns und spracht diese Worte.“ „Ihr habt gesagt, Ihr geht nach Yuron und Dan-morough.“, fiel Simu plötzlich ein, „Was ist mit Ghia? Geht Ihr dort auch hin? Sind die Menschen dort gewarnt?“ Alle Blicke richteten sich wieder auf die Beraterin, die den Kopf einen kurzen Moment senkte und kein Wort sprach. „Ich werde tun, was in meiner Macht steht.“, sagte sie dann, und Puran Lyra wusste nicht genau, was es war, das ihm versicherte, dass sie nicht vorhatte, die Ghianer zu warnen. Das bedeutete, dass die gesamte Bevölkerung des grünen Mondes ausnahmslos verrecken würde. Millionen von Menschen würden in drei Tagen einfach so den Tod finden... eine Explosion ging vermutlich schnell. Es würde so schnell gehen, dass die Menschen tot wären, bevor sie es merkten. Aber der Gedanke daran, dass so viele sterben würden, während sie hier überlebten, ließ ihn schaudern. Er hatte immer gewusst, dass Zuyyaner herzlose Pragmatiker waren. Vermutlich warnte diese hinterlistige Frau sie hier nur, weil sie für sie noch eine Verwendung hatte; für die Sieben insbesondere. Der Gedanke machte ihn wütend und er war kurz davor, der Frau ins Gesicht zu brüllen, dass sie es nicht wagen würde, seine drei Kinder oder irgendeinen anderen dieser sieben jungen Menschen für ihre seltsamen Prophezeiungen zu missbrauchen. Nur über seine Leiche würde sie es wagen, diesen Menschen etwas anzutun... er schluckte seinen Zorn tapfer wieder herunter und ballte verkrampft die Fäuste. Dann sah er in die Runde der Anwesenden, zu den Ministern und Senatoren, den Königen, zu seinen Kollegen, den Geisterjägern; er sah in Saidahs aschfahles Gesicht, er sah Neron und Saja Shai, die ihre drei leichenblassen Kinder festhielten und vor Fassungslosigkeit erstarrt waren. Er sah Tare Kohdar, neben dem seine Cousine Alona stand, und zum Schloss Emo, den Verräter. Emo grinste nicht... das war selten. Der schwarzhaarige Mann fixierte Chenoa mit einem eigenartigen Blick und schien sehr emsig über etwas nachzudenken, was den König von Kisara gerade so gar nicht interessierte. Schließlich ergriff er das Wort mit einem Räuspern und alle wandten sich ihm zu, einschließlich der Beraterin von Zuyya mit den gelben, dämonischen Augen voller Arglist. Er hatte Chenoa Jchrrah instinktiv immer für eine Verbündete gehalten, für eine gute Person... jetzt war er sich gerade nicht mehr so sicher, was er von ihr halten sollte. Aber hatte er eine Wahl? „Ihr habt gehört, was die Frau gesagt hat. Wir haben drei Tage. Wir werden die Kunde verbreiten und so viele Menschen mitnehmen, wie wir können. Ich fürchte... das Ende der Welt, von dem wir so lange träumen, ist jetzt... endlich gekommen.“ Auf die Nachricht der Beraterin des Imperators hin brach Panik aus in Vialla; vermutlich auch überall auf der Welt, wohin die Botschaft vordrang. Von außerhalb strömten panische Menschen aus nahen Dörfern nach Vialla, mit nichts bei sich außer ihren lumpigen Kleidern, um ja noch einen Platz in einem Raumschiff zu bekommen. Und Puran Lyra verfluchte sein Amt jetzt gleich wieder, weil er verantwortlich für das Wohl eines Volkes war, das mindestens zur Hälfte krepieren würde in wenigen Tagen. Er ließ sämtliche Telepathen, die anwesend waren, allen voran natürlich Dasan Sagal und sein Netzwerk, die Information so weit und so schnell wie möglich verteilen und per Teleport gleich möglichst viele Menschen in Sicherheit bringen, in eine der drei großen Städte mit den Flughäfen. Seine Cousine war alles andere als begeistert. „Wie stellst du dir das vor, großer König?“, meckerte sie dabei, „Wir haben auch nur begrenzte Kräfte, wir können nicht drei Tage lang Menschen nach Vialla teleportieren! Und das ohne Bezahlung, wirklich.“ „Ach, verdammt, maul mich nicht an, ich schenke dir Tare!“, jammerte ihr Cousin und sein Kollege errötete hustend und starrte ihn an, „Gib's zu, Cousine, du hast doch sowieso was mit ihm, oder nicht?!“ Alona schürzte peinlich berührt die Lippen. „Was fällt dir ein?“, grummelte sie mit einem rötlichen Schimmer auf den Wangen, „Wir trinken nur gerne ein Weinchen zusammen!“ „Hintergehe mich nicht, meine Liebe, ich sehe genau, wie ihr Turteltauben euch anseht. – Verdammt, für sowas haben wir jetzt keine Zeit, beweg deinen Arsch, Cousine, oder ich trete dir rein!“ „Was für ein Kavalier du doch bist, Puran...“ Simu hockte auf der untersten Stufe der Treppe, die hinauf zu den Korridoren führte, und beobachtete unruhig das Chaos, das im Palast ausgebrochen war. In den Schlachten waren so viele Menschen gestorben... und trotzdem gab es immer noch so viele, die gerettet werden mussten. Das war nicht möglich... die meisten würden gezwungenermaßen zurückbleiben, egal, wie viele Telepathen sein Vater jetzt durch die Welt hetzte, egal, wie viele Kontakte Sagal hatte. Es gab nicht genügend Raumfähren für alle... und davon abgesehen war Zuyya eine kleinere Welt als Tharr oder Ghia. Niemals würden alle Menschen von Tharr auf Zuyya Platz finden... es würde schlimm werden. Simu gefiel der Gedanke nicht, nach Zuyya zu gehen. Er fürchtete die Zuyyaner seit seiner frühesten Kindheit, ihre Gegenwart beunruhigte ihn und verursachte tief in seinem Inneren eine uralte Panik, die er sich nur damit erklären konnte, dass seine Eltern von Zuyyanern gejagt und offenbar ermordet worden waren. Er wusste nicht mal, warum... er war dann zu den Lyras gekommen und niemals hatten die Zuyyaner ihn dort gefunden, obwohl der Krieg gegen Zuyya noch lange angedauert hatte, nachdem er schon in Lorana gewesen war. Was würde wohl passieren, wenn er nach Zuyya kam? Es gab sicher schwerwiegendere Probleme als einen jungen Mann, dessen Eltern aus irgendwelchen Gründen einmal verfolgt worden waren, war seine einzige Hoffnung. Der Kaiser, der als skrupelloser, grausamer Tyrann galt, würde anderes im Kopf haben als ihn zu jagen, falls er das überhaupt wollte. Vielleicht ging es ja auch gar nicht um ihn, sondern nur um seine Eltern, die schon tot waren... das hatte Thira jedenfalls gesagt. „Es werden so viele sterben... oder?“ Der Blonde drehte den Kopf nach oben, aus seinen Gedanken gerissen. Bei ihm hockten Eneela und Asta; die beiden jungen Frauen hingen irgendwie an ihm, vermutlich, weil er es gewesen war, der sie gefunden hatte. Simu duldete ihre Gegenwart stumm, dabei war ihm Eneela aber generell lieber als Asta, denn die Lianerin sprach nicht und ließ ihn in Ruhe nachdenken. Er konnte Asta aber auch nicht verübeln, dass sie reden wollte... sie war furchtsam, wie alle im Moment. Ihre zerzausten, rosafarbenen Haare waren ungekämmt und ließen ihre Erscheinung noch armseliger wirken als sie war. Simu sah auf ihre nackten Füße. „Auf Zuyya wirst du Schuhe brauchen.“, sagte er zu ihr, „Ich habe gehört, dort ist immer Winter, es ist eiskalt.“ Asta sah errötend auf ihre verbeulten, hässlichen Füße und zog sie schüchtern zusammen. Sie war wirklich ein bedauernswertes Geschöpf... Simu verwünschte Loron und Arlon einmal innerlich dafür, dass sie die arme Asta ihr Leben lang so geschändet hatten, dass so ein Häufchen Elend ohne Selbstvertrauen aus ihr geworden war. „Ich meine, die... die ganze Ghia wird sterben.“, wisperte die Rosahaarige darauf weiter und kauerte sich zitternd auf der Treppe zusammen, „Mir... tun die Leute leid.“ Simu schenkte ihr einen dumpfen Blick. Ja, ihm auch... und er konnte ihnen dennoch nicht helfen. Er war verblüfft, als Eneela, die neben Asta kauerte, sich plötzlich bewegte und mit glasigen Augen apathisch nach vorn starrte. Als sie sprach, konnte er kaum fassen, was er zu hören bekam. „Dann sterben sie. Mir macht es nichts aus. Dann stirbt... Scharan mit ihnen, das Ungeheuer... und alle Bastarde, die die Sklaventreiberei unterstützt haben. Mir ist es recht.“ Simu hustete und war entsetzt über ihre Bosheit – dann besann er sich und unterdrückte das Verlangen, sie für so etwas Garstiges zu tadeln. Er konnte sie ja verstehen... Scharan, der Sklavenkönig, hatte ihr viel Unrecht angetan. Sie kannte keine anderen Menschen auf Ghia außer ihm und allen, die in seinem Haushalt gedient hatten. Ihre Mutter war tot... es gab niemanden mehr auf Ghia, der Eneela etwas bedeuten könnte. Sie dachte vermutlich nicht so garstig, wie ihre Worte geklungen hatten... nicht alle Ghianer waren Sklaventreiber. Auch sie hatten Frauen und kleine Kinder, die niemals groß werden würden... weil Chenoa dafür gesorgt hatte. Diese Frau war gnadenlos... Simu war verwirrt darüber, dass sie offenbar kein schlechtes Gewissen bekam, obwohl sie wissentlich Millionen, wenn nicht Milliarden von Menschen in den Tod stürzen ließ. Es war wie Auslese... die, die Chenoa Jchrrah für würdig hielt, am Leben zu bleiben, würden es schaffen. Und alle anderen würden sterben, um den Besseren eine Chance zu geben, zu leben... das war grausam. Simu war sich nicht sicher, ob er leben könnte mit dem Wissen, dass dafür, dass er weiterleben konnte, Millionen Menschen gestorben waren. Je weniger Menschen nach Zuyya gelangten, desto besser würde das Leben dort werden, desto geringer die Hungersnöte und der Platzmangel. Es machte schon Sinn, was Chenoa tat... aber es war grauenhaft. Der Blonde war verwirrt darüber, dass er allen Ernstes ihre Denkweise nachvollziehen konnte... wie konnte man so pragmatisch sein? Stöhnend raufte er sich die Haare, ehe er den beiden Frauen einen kurzen Blick schenkte. „Das ist wohl wahr.“, murmelte er dann auf Eneelas Aussage, „Scharan wird sterben. Denken wir positiv, Leute. Das ist doch mal eine gute Nachricht.“ Jedes einzelne Raumschiff wurde bis zur äußersten Grenze vollgestopft. Egal ob es große Raumfähren waren oder kleinere Privatflieger von zuyyanischen Gesandten, die auf Tharr gearbeitet hatten, alles, was fähig war, nach Zuyya zu gelangen, wurde ausgeschöpft, jede noch so kleine Möglichkeit; das war alles, was sie tun konnten. Nacheinander starteten die Schiffe Tag für Tag, um so viele Menschen wie möglich nach Zuyya zu bringen; die ersten Fähren schafften es mit viel Überredungskunst und Raffinesse, sogar noch einmal umzukehren und noch eine Ladung mitzunehmen. Karana wusste nicht, was er fühlen sollte, als er, Iana in seinen Arme und den Hund an seinen Beinen, dicht gedrängt mit hunderten von anderen Menschen in einer der Fähren stand und die Enge ihm Atemnot verschaffte. Irgendwo in seiner Nähe waren Neisa, Tayson, Simu, Eneela, Asta, Yarek und Ryanne; Thira hatte er auch schon gesehen. Er fragte sich, wo Zoras geblieben war; schließlich gehörte er auch zu den Sieben. All solche verwirrenden Gedanken durchströmten seinen Kopf wie ein wilder Fluss, während um ihn herum die Menschen in Panik weinten und jammerten, Kinder im Gedrängel ihre Eltern aus den Augen verloren und hysterisch zu schreien begannen. Es fühlte sich so unecht an... Tharr zu verlassen. Ja, sie machten sicher nur einen Ausflug nach Zuyya und würden morgen zurückkehren, genau. Karana machte sich schmerzhaft bewusst, dass es nicht so war... dass er eben, als er eingestiegen war, zum allerletzten Mal die Welt gesehen hatte, die seine Heimat war. Er würde sie nie wiedersehen... in kurzer Zeit würde sie zerschellen und verschwinden. Das war also das Ende der Welt... er hatte nicht geglaubt, dass es so aussehen würde. Die Gedanken an diese Endgültigkeit und Ewigkeit machten ihn nervös und er schnappte in einem plötzlichen Panikanfall nach Luft, als er das Gefühl hatte, an den Emotionen und in dem Gedrängel zu ersticken. Er spürte, wie Iana sich sanft gegen ihn drückte und seinen Hals küsste, wie um ihn zu beruhigen; es half nicht. Er hörte die Stimmen der Leute um ihn herum und nahm sie trotzdem nicht richtig wahr; sie waren nur da. „Wo sind die anderen, Sagal?“, hörte er irgendwo seinen Vater durch das Gedrängel rufen, „Auf den anderen Schiffen?“ „Ja, ja, ich habe Shais und Tare Kohdar in der Fähre hinter uns gesehen. Saidah ist schon fort mit der anderen Fähre, Herr.“ „Und wo ist Emo?!“, empörte sich der König von Kisara, „Nicht, dass ich um ihn trauern würde, aber der Kerl kann sich doch nicht in Luft auflösen! Der war gestern schon nirgends mehr zu finden, ist der etwa weggelaufen, um sich jammernd seinem Schicksal zu stellen?“ „Für so patriotisch halte ich ihn eigentlich nicht, Herr.“, sagte Dasan Sagal dazu, „Ich tue mein Bestes, um das herauszufinden, aber im Moment kann ich mich leider nicht bewegen, Herr.“ „Wo wir gerade dabei sind, was ist mit Zoras Derran?“, hörte Karana Yarek sich einmischen, „Ich habe in dem Chaos nicht länger nach ihm suchen können, aber Chenoa bringt mich um, wenn der Kampfzwerg hier bleibt.“ „Ich vermute, dass er mit den Barbaren aus Fann zusammen ist.“, sagte Sagal, „Na, die in einer Raumfähre, das wird ja ein Spaß.“ Karana drehte ungläubig den Kopf zu dem alten Telepathen, der sich offenbar zu so etwas wie dem Berater seines Vaters gemausert hatte, jedenfalls waren die beiden Männer seit Ela-Ris Fall quasi unzertrennlich. Verblüffenderweise sah er, dass der alte Sagal seine Tochter Chitra wie einen Mehlsack über der Schulter trug; was war mit der denn, war die ohnmächtig geworden in dem Trubel? Er dachte an Niarih... wo war sie eigentlich? Der Gedanke schmerzte ihn, dass sie tot sein könnte oder, falls sie es nicht schon war, jetzt sterben würde. Sie war ein so liebevolles, sanftes Mädchen gewesen. Der Gedanke ließ ihn verwirrt keuchen und er spürte, wie Sagal ihn ansah und sein Entsetzen bemerkte. „Niarih ist das Problem, ja.“, sagte er zu Karana, als wäre das nichts Besonderes für ihn, „Deswegen habe ich Chitra ja Schlaftee gegeben, sie wäre nicht freiwillig weggegangen, solange wir ihre Tochter nicht gefunden haben. Oh, sie wird mich hassen, wenn sie aufwacht, aber ich kann es mir nicht leisten, sie auch noch zu verlieren. Ich verliere genug Leute hier.“ Karana schnappte verzweifelt nach Luft. Das sagte der so, als wäre nichts dabei... aber der Jüngere wusste genau, dass Sagal nicht so herzlos war, wie er zu sein vorgab. Er war alt, er hatte bereits seine Frau und vermutlich sehr viele andere Verwandte überlebt, auch einige seiner eigenen Kinder. Irgendwann, wenn man so viel erlebt hatte, machte es einfach keinen Unterschied mehr... irgendwann musste man anfangen, sich selbst davor zu schützen, an jedem Tod eines geliebten Menschen zu zerbrechen. Denn wenn man einmal zu oft daran zerbrach, konnte man vielleicht nicht wieder heilen... er hatte plötzlich Mitleid mit dem Mann und noch mehr mit Niarih, der kleinen, süßen Niarih, die er nie wiedersehen würde. Genau wie Lorana, das Dorf, in dem er immer mit ihr zusammen gewesen war, genau wie alles, was er kannte. Die Gedanken schmerzten ihn und er klammerte sich unruhig an Iana und kämpfte plötzlich gegen die Tränen, die in ihm hochkamen; er war eigentlich kein Mann, der viel weinte, und es war ihm unangenehm, dass er plötzlich das Verlangen verspürte, wie ein kleines Kind zu flennen. Ein Ruck ging durch das Schiff, als es startete und zunächst rollte, um dann mit einer ungeheuren Geschwindigkeit empor in den Himmel zu jagen. Karana war niemals mit so einer Fähre geflogen... und das erste und letzte Mal, dass er es tat, war begleitet von einer tiefen Trauer über den Verlust von so vielem, von einem stechenden Schmerz, der ihn gar nicht mehr loslassen wollte. Er wollte nie wieder mit so einem blöden Schiff fahren, nahm er sich verbiestert vor, als er die Augen schloss und das Gefühl der Geisterwinde durch seinen Körper strömen ließ, die in seinem Kopf zu wispern anfingen und von Tod sprachen. Gibt es auf Zuyya überhaupt Mutter Erde und Vater Himmel? Gibt es auf Zuyya überhaupt Geister? Oder stirbt das alles... zusammen mit der Welt, die wir zurücklassen? Sprecht doch mit mir... Windgeister. Die Geister antworteten ihm mit sanften Stimmen, was ungewohnt war. „Es wird immer einen Himmel und eine Erde geben, solange auch nur ein Mensch daran glaubt, dass es sie gibt, Karana. Und solange ihr daran glaubt, gibt es auch Hoffnung... selbst auf Zuyya, der Welt des ewigen Winters.“ Diese Worte waren erheiternd... Karana kontrollierte seine Atmung wieder, als er daran dachte. Ja, sie würden leben. Und unter einem neuen Himmel, auf einer neuen Erde, würden die Geister sie alle zu dem machen, zu dem sie bestimmt worden waren. Sie waren die Sieben... das musste doch zu irgendetwas gut sein. „Die Seele von Khad-Arza wird leben... auch, wenn das Bündnis zerbrochen ist.“, murmelte der Schamane und drückte dabei Iana an sich, die ihn jetzt verblüfft ansah. „Das ist es, wofür... die Himmelsgeister gesorgt haben, als sie uns geschaffen haben.“ Seine Geliebte antwortete nicht darauf und drückte sich nur etwas unsicher gegen seine Brust, während das Schiff vibrierte im Fahren. Karana schloss die Augen erneut und gab sich den Geisterstimmen hin, die ihm die Hoffnung zu geben versprachen, die sie alle noch brauchen würden... und plötzlich hatte er keine Angst mehr. _____________________________ Whoooot. Noch Epilog^^ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)