Dorfkind vs. Stadtkind [Skull X Reader] von abgemeldet ================================================================================ Kapitel 1: Dorfkind vs. Stadtkind --------------------------------- Es ist Nacht. Das ist an sich nichts Ungewöhnliches. Eher im Gegenteil. Was allerdings ungewöhnlich ist, ist dieses merkwürdige Geräusch vor deinem Fenster. Du wohnst im ersten Stock und alles, was du durch die Scheibe sehen kannst, ist leichter Nebel. Nebel und die Silhouetten der Äste der alten Eiche, die im sanften Wind vor und zurück wiegen, vor und zurück... Vor und zurück... Draußen ist ein Rascheln zu hören. Hier drinnen und dort draußen ist es finster. Eine Art Klappern. Dann wieder ein Rascheln. Du liegst stocksteif in deinem Bett und ziehst die Decke so hoch, dass sie deine Füße nicht mehr bedeckt. Verdammt. Eigentlich ist dein Benehmen lächerlich, das weißt du. Was wird dort draußen schon sein? Ein Tier vielleicht oder einfach nur der Wind. Oder es ist eh nur Einbildung. Das Klappern. Und das Rascheln. Einbildung. Es ist Einbildung, verdammt! Schuld ist nur dieser Horrorfilm, den du dir eben ja noch uuunbedingt ansehen musstest. Das hast du jetzt davon. Nun kannst du nicht schlafen, hast paranoide Wahnvorstellungen und wirst morgen früh in der Schule wahrscheinlich völlig fertig sein. Deine Füße frieren. Du bewegst sie probeweise. Es ist so dunkel, dass sie nicht einmal einen Schatten werfen. Wieder das Klappern an deiner Scheibe. Versucht etwa jemand, reinzukommen? Aber das kann nicht sein. Wenn jemand im Baum säße, würdest du ihn sehen, oder? Oder? Du schüttelst den Kopf und ziehst die Beine an, sodass sich deine Füße wieder unter der warmen Bettdecke befinden. Schwachsinn. Einbildung. Wahrscheinlich befindest du dich eh schon in Halbschlaf, ohne es zu bemerken. Da ist nichts, sagst du dir ein letztes Mal und zwingst dich, die Augen zu schließen. Doch es klappert. Und es raschelt. Bis du einschläfst. Du hast es ja gewusst. Als du in der Schule ankommst, muss es vor etwa fünf Minuten geklingelt haben. Du fegst um die Ecke, greifst nach dem Geländer, rennst die Treppe hoch, läufst wieder um die Ecke – und prallst prompt mit jemandem zusammen. Nein, heute ist absolut nicht dein Tag. „Pass doch auf, verdammt!“, fluchst du, noch ehe du siehst, mit wem du da zusammengestoßen bist. Und wenn es der bestaussehendste Typ der ganzen Schu- oh, nein. Es ist eh nur Skull. „Pass doch selber auf!“, faucht er dich wütend an und rappelt sich hektisch auf, ohne Anstalten zu machen, dir zu helfen. „Du bist immerhin in mich reingerannt!“ Verärgert stehst du auf und schulterst deine Tasche, dann funkelst du ihn aufgebracht an. „Was stehst du auch so blöd da rum, Idiot?“ „Nenn mich nicht Idiot!“ „Dann verhalte dich nicht wie einer!“ „Da- ähm...“ Ihr seid ohne es zu merken immer lauter geworden, aber jetzt stockt er. Ihm fällt keine Antwort ein und ein höhnisches Grinsen macht sich auf deinem Gesicht breit. Neue Schüler am Morgen fertig zu machen; das hebt doch gleich die Laune. Deine Schadenfreude hält allerdings nur kurz an, denn schon nach wenigen Sekunden steht euer Lehrer auf dem Gang, der rote Augen, schwarze Haare und Narben im Gesicht hat. (Aber das hat nichts zu sagen.) Er wirkt gar nicht glücklich. „Was tut ihr hier?!“ Du bist drauf und dran, ihm eine sarkastische Antwort wie „Kühe melken, was denn sonst?“ entgegenzuschleudern, lässt es aber dann doch sein. Der Mann scheint eh keine Antwort zu erwarten. „Kommt sofort rein“, zischt er euch an und ihr folgt – wenn auch nicht ohne einander Grimassen zu schneiden. „Blödes Dorfkind“, zischt Skull dir noch zu, ehe du dich auf deinen Platz fallen lässt und er weiter zu seinem geht, während der Lehrer die Tür hinter euch schließt. In dem Moment hättest du Skull fast deine Tasche an den Kopf geworfen. Aber da ist dein Essen drin. Das riskierst du lieber nicht. Von dem ersten Moment an, da du Skull gehört hast – was jetzt etwa eine Woche her sein dürfte – hast du ihn verabscheut. Er ist ein Angeber, und ein ziemlich dämlicher dazu. Deine Mitschüler sind geteilter Meinung, was ihn betrifft, doch halten sie sich größtenteils zurück. Du jedoch nicht. Es mag daran liegen, dass du im Gegensatz zu den anderen das Leben in diesem Dorf mit gerade mal fünftausend Einwohnern nicht 'zum Kotzen' findest. Viel eher würde es dir so gehen, wenn du mitten in einer Großstadt leben müsstest. Skull hat dann einfach Pech gehabt, dass ausgerechnet du sein gemurmeltes „Scheiß-Kaff...“ am ersten Tag in der großen Pause mitbekommen und ihn daraufhin ziemlich heftig angemacht hast. Du hast ihm gesagt, dass er sich gefälligst verpissen solle, wenn er es hier so scheiße finde. (Du bist anscheinend gerade in einer Phase, in der du zu Vulgärsprache neigst.) Daraufhin sagte er, er würde das liebend gern tun, könne aber nicht. Er sei mit seinen Eltern hierhergezogen und sie fänden es hier toll. Als du damit gekontert hast, dass wenigstens seine Eltern Geschmack hätten, ist das Ganze in eine lautstarke Diskussion ausgeartet, in der er eindeutig den Kürzeren gezogen hat. Aus deiner Sicht. Dabei hast du eigentlich gedacht, du würdest ihn mögen können. Er scheint eine EXTREME Vorliebe für die Farbe Lila zu haben. Seine Kleidung, seine Haare, ja sogar seine Augen sind lila. Du nimmst an, dass es Kontaktlinsen sind, bist aber nicht sicher. Nun bist du zwar nicht unbedingt ein Fan dieser Farbe, aber es hat einfach etwas, wenn jemand so aus der Menge heraussticht. Deshalb hast du gedacht, er wäre bestimmt ein umgänglicher, offener Kerl. Deshalb hast du gedacht, du könntest ihn mögen. Und dann hat er zu reden angefangen. Allein diese Stimme hat schon den ganzen Eindruck vermasselt. Er redet schnell und seine Stimme ist hoch. Eines von beiden wäre erträglich, aber beides ging dir schon nach wenigen Sekunden auf die Nerven. Zudem hat er, als er der Klasse vorgestellt wurde, gleich erst einmal seine ganze Lebensgeschichte erzählt. Wo er vorher gewohnt hat, wie seine alte Schule war, wie sehr ihn (angeblich) an seiner alten Schule alle bewundert haben, was er gerne isst, wie viel Quadratmeter sein neues Zimmer hat und dass er Stuntman werden will. Für den ganzen Vortrag hat er höchstens zwei Minuten gebraucht und er hat sich von niemandem unterbrechen lassen. Er ist in der Großstadt aufgewachsen und hält sich deshalb für etwas Besseres. Das ist alles. Darum ist er ein Idiot und darum helfen ihm auch seine lila Haare nicht dabei, bei dir Sympathiepunkte zu sammeln. Als die Stunde vorbei ist, ruft der Lehrer euch beide zu sich ans Pult. Du ahnst schon, was jetzt kommt. „Nachsitzen“, sagt der schwarzhaarige Mann kühl, kaum dass ihr bei ihm angekommen seid. Du verdrehst nur die Augen. Es überrascht dich kein bisschen, dass du nach dem Unterricht noch eine Stunde hierbleiben sollst. Dieser Lehrer ist der einzige, der so streng ist, für morgendliche Verspätungen Nachsitzen zu erteilen - und natürlich hast du ihn an vier Tagen in der Woche in der ersten Stunde. Manchmal ist das Leben einfach so. Für dich mit deiner chronischen Unpünktlichkeit ist das Nachsitzen bei ihm also nichts Neues. Skull jedoch scheint entsetzt. „N-Nachsitzen? Warum?“ Du bist fast beeindruckt, wie überaus dramatisch er das Fragewort herausbringen kann. „Weil ihr zwei euch heute Morgen um genau drei Minuten verspätet habt“, erklärt der Lehrer fast schon gehässig. „Und jetzt geht, ich will den Klassenraum abschließen.“ „Aber-“ „Nichts 'aber'. Oder es werden zwei Stunden.“ Skull sieht säuerlich drein und mal wieder macht sich deine Schadenfreude bemerkbar. Du solltest wirklich damit aufhören. Mit einem unterdrückten Grinsen verlässt du den Klassenraum, gefolgt von einem murrenden Skull. Erst, als ihr die Treppen hinunter geht und er auf gleicher Höhe mit dir ist, bemerkt er deinen Gesichtsausdruck. „Du findest das wohl witzig, was?“, fragt er verärgert. „Allerdings“, erwiderst du ehrlich. Das scheint ihn nur noch wütender zu machen, aber das ist dir gerade recht. Schließlich hast du eigentlich auch keine Lust auf Nachsitzen. Und schon gar nicht mit dem. „Dabei ist das nur deine Schuld“, faucht Skull dich an und wäre fast gegen die Glastür gelaufen, die auf den Hof führt. „Wieso meine?!“ „Weil du mir im Weg rumstandest!“ Du siehst ihn ungläubig an, reißt dich dann zusammen und schnaubst. Ihr geht ziellos über den Hof und streitet euch. Einer von euch könnte einfach weggehen, aber ihr tut es nicht. „Wo wolltest du denn bitte überhaupt hin? Du bist ja vom Klassenzimmer weggegangen!“ Er wird rot. Und in diesem Moment fällt es dir verdammt schwer, deine wütende Miene beizubehalten. „I-Ich... Ach, lass mich!“ Er verschränkt die Arme und schaut beleidigt zur Seite. „Bei uns in der Stadt sind wir zivilisierter und haben nicht so komplizierte Gänge und Ecken und... so.“ Du lachst laut auf und er wirft dir einen vollkommen wirkungslosen Todesblick zu. Er hat sich also verlaufen. War ja eigentlich klar. „Weißt du, wir hier im Dorf sind vielleicht einfach nur intelligenter, sodass wir bei solchen hochkomplizierten Systemen durchblicken können.“ Er starrt zum Sandkasten anstatt zu dir und einen Augenblick hast du tatsächlich Angst, dass er hineingreifen und dir Sand ins Gesicht werfen könnte – aber er tut es nicht. Stattdessen zischt er dir, wie er es inzwischen immer tut, ein boshaftes „Blödes Dorfkind“ zu und marschiert davon. Hätte cool gewirkt, wenn er nicht nach zwei Metern gestrauchelt hätte. Er stolpert anscheinend über die Scherben eines Whisky-Glases am Boden, von denen niemand weiß, wie sie dahingekommen sind, kann sich aber gerade noch auf den Beinen halten. Bevor er weitergeht, wirft er dir einen Blick über die Schulter zu. Als ihm klar wird, dass du alles gesehen hast, zeigt er dir den Mittelfinger und geht rasch davon. Den Rest des Schultages über ignoriert ihr einander vollkommen. Das macht ihr meistens so. Keiner sagt etwas, wartet aber stillschweigend darauf, dass der andere einen Grund für einen neuen Streit liefert. Und der muss ja natürlich spätestens beim Nachsitzen kommen. Die großen Regentropfen an den fest verschlossenen Fensterscheiben sind das Einzige, das neben dem Ticken der Uhr zu hören ist. Ihr hattet heute ohnehin schon bis zur achten Stunde Unterricht. Und jetzt noch Nachsitzen. Du würdest es gerne auf Skull schieben, weißt aber, dass du auch so zu spät gekommen wärst. Blöder Horrorfilm. Blödes Stadtkind. Was musste er auch im Weg rumstehen? Aber nein – es ist ja nicht seine Schuld. Es fällt dir schwer, deine negativen Gedanken nicht alle auf den lilahaarigen Jungen zu lenken, der jetzt neben dir sitzt und stumm und mit verständnislosem Blick sein Mathebuch anstarrt. Du würdest ihm gerne sagen, dass so schwierige Aufgaben, wie ihr sie aufbekommen habt, der Standard bei den Dorfkindern sei – obwohl du sie ehrlich gesagt auch nicht verstehst, aber das würdest du ihm ja nicht sagen -, aber wer während des Nachsitzens redet, kann gleich noch eine Stunde dableiben. Nicht mal die Hälfte der Zeit ist um und keiner von euch hat auch nur angefangen, die Aufgaben zu bearbeiten. Du siehst wieder zum Fenster. Draußen ist es so dunkel als wäre es schon Abend. Du musst wieder an das merkwürdige Klappern und Rascheln vor deinem Fenster denken. Draußen blitzt es. Du zuckst zusammen und wendest dich ab. Erst jetzt fällt dir auf, dass Skull dich beobachtet hat. Du öffnest den Mund, um gereizt „Was ist?“ zu fragen, fängst dich aber im letzten Moment wieder. Stattdessen wirfst du ihm einen mahnend-fragenden Blick zu, den er nur mit einem Schulterzucken und einem für dich undefinierbaren Gesichtsausdruck beantwortet, ehe er wieder das Mathebuch beäugt. Jetzt ist es an dir, ihn zu beobachten. Er scheint es schnell zu bemerken, ignoriert dich aber gekonnt – etwa eine halbe Minute lang. „Lass das!“, sagt er empört zu dir, als hättest du ihn begrabscht oder dergleichen. Du siehst ihn entgeistert an. Du hättest erwartet, dass er diese Worte flüstert, aber nicht, dass er sie klar und deutlich – und vor allem laut – ausspricht. Der Lehrer mit den roten Augen vorne am Pult, der Tests korrigiert hat, hebt den Blick und im selben Moment verpasst du Skull einen Klaps auf den Hinterkopf. Schlechtes Timing ist auch ein Timing. „Das sieht ganz nach noch einer Stunde Nachsitzen aus“, sagt Xa-, äh, der Lehrer. Skull, der dich anscheinend gerade in die Hand beißen wollte, erstarrt mitten in der Bewegung. „Och nööö!“, beschwerst du dich und verpasst Skull einen weiteren Klaps, um deinem Ärger Luft zu machen. „AU! Lass das sein, Dorfkind!“ „Das ist alles deine Schuld, Stadtkind!“ „Du-“ „RUHE JETZT!“ Die Stimme des Lehrers hallt in dem Klassenraum und auf dem leeren Gang wider und merkwürdiger Weise klingt das Echo nicht wie seine Worte sondern vielmehr wie ein entferntes „Mheeey, mheey, mhey, hey...“ „Seid jetzt still“, faucht er euch an und schießt Laserstrahlen mit seinen Augen ab, die Löcher in die Wand hinter euch brennen. „Und morgen nach dem Unterricht findet ihr euch für eine weitere Stunde hier ein. Wir machen das so lange, bis ihr Bälger lernt, euch zu benehmen.“ Dir liegen eine Menge Beleidigungen auf der Zunge, aber du hast keine Lust, am Ende für den Rest deiner Schulzeit nachmittags hier sitzen zu müssen. Und zutrauen würdest du so eine Strafe dem Pädagogen schon. Also kehrt ihr am Ende wieder zur Ausgangssituation zurück; du starrst aus dem Fenster und Skull in das Buch. Jeder in seinen eigenen Gedanken. Am späten Abend regnet es noch immer. Nach deinem Nachhauseweg bist du so durchnässt gewesen als hättest du dich samt Klamotten zehn Minuten lang unter eine Dusche gestellt. Eine kalte Dusche. Jetzt liegst du inzwischen in deinem warmen Bett, kuschelst dich in die Decke und summst leise dein Lieblingslied vor dich hin. Draußen scheint es wegen des Regens noch dunkler als gestern zu sein. Aber immerhin- … Da ist es wieder. Das Klappern. Oder? Du bist nicht sicher. Du willst das Geräusch dem Wind und dem Regen zuordnen. Aber Regen klingt anders. Regen klappert nicht. Es ist, als würde jemand mit den Fingernägeln an deiner Fensterscheibe klopfen. Aber das ist nicht möglich, außer, dieser Jemand wäre um die drei Meter groß. Unwahrscheinlich. Klapper. Du weißt nicht, warum du nicht aufstehst. Du bist müde. Außerhalb des Bettes wäre es kalt. Da ist bestimmt gar nichts. Und so weiter und sofort. In Wirklichkeit hast du immer noch Angst davor, was da sein könnte. Klapper. Und darum... Klapper. ...darum stehst du nicht auf und siehst nicht nach. Du siehst nicht die Gestalt, die dort unten im Regen steht und zu deinem Fenster hinaufstarrt. Die dort steht und wartet. Und wartet. Und wartet. Und kleine Steinchen gegen dein Fenster wirft und ab und zu das Gesicht verzieht und nach unten blickt, weil sie Regen in die Augen bekommt. Der nächste Tag beginnt wolkenlos und sonnig. Beinahe schon so wolkenlos und sonnig, als wolle er den vorherigen Tag verspotten. Als du guter Dinge das Haus verlässt, fallen dir erstmals die vielen kleinen Steinchen auf dem Boden unterhalb deines Fensters auf. Da du ein superintelligentes Dorfkind bist, ist dir natürlich sofort klar, was das bedeutet. Jemand muss sie letzte und vorletzte Nacht gegen deine Fensterscheibe geworfen haben. Daher das Klappern und Rascheln. Als dir die Bedeutung deiner Schlussfolgerung bewusst wird, verblasst dein Lächeln. Stalker, denkst du. Ich habe einen Stalker. Du siehst dich um, kannst aber niemand Auffälliges entdecken. Aber eigentlich hast du auch nicht erwartet, dass derjenige einfach so in eurem Garten rumsteht. Zwar hättest du gerne noch Indizien gesammelt – wie ein Profi, haha – allerdings willst du dich bemühen, wenigstens heute rechtzeitig zur Schule zu kommen. Zum Glück hast du einen fliegenden Besen, mit dessen Hilfe du rechtzeitig ankommst und den Vormittag überstehst, ohne dich mit Skull oder deinem Nicht-Lieblingslehrer anzulegen. Im Endeffekt siehst du Skull kaum. Er scheint sich mit Absicht von dir fernzuhalten. Erst später, als der reguläre Unterricht vorbei ist und er vom Schulhof wiederkommt, wo er vor irgendjemandem mit irgendetwas (du tust so, als würde es dich nicht interessieren) angegeben hat, redet ihr wieder miteinander. Und dies ist eines der wenigen Male, bei denen du ihn lächeln siehst. „Was ist?“, fragst du, als er den Raum betritt. Wärst du nicht wegen der Steinchen-Geschichte so sehr in Gedanken vertieft, hättest du ihn wohl zur Begrüßung beleidigt. Skulls Lächeln gerät ein wenig schief, als er antwortet. „Ich weiß nicht warum, aber heute scheinen die Leute verdammt gut drauf zu sein. Fast jeder, der mir entgegenkam, hat mich angelächelt.“ Du hebst die Augenbrauen, siehst ihn von oben bis unten an und sagst todernst: „Das liegt daran, dass dein Hosenstall offen ist.“ Stille. Ganz, ganz langsam blickt Skull an sich hinab. Er starrt auf seine Hose. Du grinst. Und dann schreit er wie ein Mädchen auf, was dich zum Lachen bringt. „AH, VERDAMMT! VERFICKTE SCHEISSE!“ Hastig dreht er sich von dir weg, um den Reißverschluss zuzuziehen, sieht sich nun aber dem verärgerten Lehrer OF DOOM gegenüber. „Äh...“ „Setz dich“, zischt der Mann. „Und zwar sofort.“ Unter dem Blick des Rotäugigen scheint Skull zu schrumpfen. Also zieht er den Reißverschluss im Gehen zu und du hast immerhin so viel Anstand, zur Tafel statt zu ihm zu gucken, bis er sich hingesetzt hat. Dann ist wieder Schweigen angesagt. Es ist genau wie gestern, nur mit besserem Wetter. Du starrst aus dem Fenster, Skull auf das Buch. Nur drehen sich deine Gedanken diesmal um etwas anderes. Du kennst so ziemlich jeden hier in der Gegend und du kannst dir einfach nicht vorstellen, wer zur Hölle dir Steine gegen das Fenster werfen würde. Du hast immer gedacht, das tun nur verliebte amerikanische Teenies. In Filmen, wohlgemerkt. Das Schaben von Stuhlbeinen auf dem Klassenzimmerboden reißt dich aus deinen Gedanken. Du blickst auf. „Bin gleich zurück“, sagt der Lehrer ohne eine weitere Erklärung. „Benehmt euch gefälligst.“ Du nickst stumm, während Skull gar nicht reagiert – gut möglich, dass er mit offenen Augen eingeschlafen ist – und der Mann verschwindet in einer Rauchwolke. Denn er ist ein Ninja. Ein Mafia-Ninja. Wieder erfüllt Stille den Raum. Das Ticken der Uhr scheint noch lauter als vorher. Skull starrt weiterhin auf das Mathebuch. Er blinzelt nicht einmal. Eine Weile siehst du ihn argwöhnisch an, dann wedelst du zögernd mit der Hand vor seinem Gesicht herum. Keine Reaktion, nicht mal ein Wimpernzucken. „Ähm...“, machst du vorsichtig. Er könnte tot sein. Herzstillstand. Einfach so. Oder er ist ein Roboter und jemand hat ihn ausgeschaltet. Ja, das wird’s sein. Das muss natürlich überprüft werden. Du stupst leicht gegen seine Schulter – und er kippt von Stuhl. „Ach du meine Güte!“, rufst du überrascht aus, als er mit einem Krachen auf dem Boden landet. Das ist so nicht gedacht gewesen. Aber wenigstens bewegt er sich wieder. Als er auf dem Boden aufkommt, zuckt er heftig zusammen und lässt einen gequälten Laut vernehmen, der halb Stöhnen, halb Schreien zu sein scheint. „Was zur...?“ Er richtet sich auf und reibt sich den Ellenbogen, auf den er gefallen ist. Dann sieht er dich an. „Was hast du gemacht?!“ „Ich?!“ Du hebst abwehrend die Hände. „Gar nichts! Ich dachte, du wärst tot!“ „Wieso-“ Er unterbricht sich selbst, flucht leise und hält sich den Kopf. Jetzt stehst du auf. „Warum schläfst du auch mit offenen Augen, du Freak?!“ Er sieht sich entgeistert an. Offenbar ist ihm das selbst neu. „Entschuldige bitte! In... In der Stadt schlafen alle so! Ha!“ Du verdrehst die Augen. „Das glaubst du doch selbst nicht!“ „Und ob ich das tue!“ Ihr hört ein Donnergrollen. Dein erster Reflex ist, zum Fenster zu sehen, doch dort draußen ist das Wetter noch immer wolkenlos und sonnig. Kein Gewitter. Und dann grollt es wieder und du begreifst, dass es das Knurren eines sehr wütenden Lehrers auf dem Weg zu seinen Opfern ist. „... Wir sollten abhauen“, murmelst du und zum ersten Mal seid du und Skull einer Meinung. „Einverstanden.“ Ihr packt eure Taschen und rennt so schnell ihr könnt aus dem Klassenzimmer durch den Gang, die Treppe runter, durch die Tür raus und über den Hof. Als ihr das Schulgrundstück verlasst, fängst du an zu lachen. „Was... ist...?“, fragt Skull außer Atem und dreht sich im Laufen zu dir um. „Nichts“, keuchst du. „Es ist nur so... blöd.“ Darauf antwortet er nicht. Es ist blöd, das ist richtig. Aber das macht nichts, denn es macht Spaß. Mit der Zeit werdet ihr langsamer und vor deinem Haus bleibt ihr schließlich stehen, keuchend und mit den Händen auf den Knien abgestützt. Du siehst dich um. Natürlich ist er euch nicht gefolgt. Euer Lehrer ist ein fauler Mann. Allerdings würdet ihr wahrscheinlich beide mindestens einen halben Meter kreischend in die Luft springen, wenn er plötzlich aus dem Gebüsch käme. „Wenn wir wieder in die Schule gehen, kriegen wir Riesenärger“, sagt Skull vorwurfsvoll, als er wieder einigermaßen normal atmen kann. „Hättest ja da bleiben können“, erwiderst du hustend. „Tch. Dämliches Dorfkind.“ Du trittst ihm gegen das Schienbein. „Halt die Klappe, Stadtkind.“ „Auuu!“ Du siehst ohne jegliches Mitleid zu, wie er auf einem Bein herumhüpft und sich fluchend beschwert. Als er schließlich wieder gehen kann, verkündet er beherzt: „Ich gehe jetzt!“ „Aha“, erwiderst du trocken und siehst zu, wie er davonhumpelt. Dir ist es nicht aufgefallen, aber er hat sich hier vor deinem Haus nicht umgesehen. Und er hat sich auch trotz seines schlechten Orientierungssinns automatisch in die richtige Richtung zu sich nach Hause gewandt. Weil er schon mal hier war. Einige Stunde später. Es ist dunkel. Es ist die dritte Nacht. Du hörst es wieder. Das mysteriöse Klappern von kleinen, grinsenden Steinchen an deinem Fenster. In deiner Vorstellung grinsen sie tatsächlich. Blöde Horrorfilme. Blöde Steinchen. Und blöde steinchenwerfende Menschen vor deinem Fenster. Ein Blick auf deinen Radio-Wecker sagt dir, dass es elf Uhr abends ist. Und die Steinchen klappern an deinem Fenster. Diesmal hast du keine Angst mehr. Du hast dir selbst ein paar größere Steine mit in dein Zimmer genommen, als Skull gegangen war, und wenn dort unten jemand steht, den du lieber nicht sehen würdest, wirst du mit ihnen nach ihm werfen. Wahrscheinlich. Klapper. Vorsichtig näherst du dich dem Fenster, indem du an die Wand gedrückt langsam seitlich gehst. Klapper. Als du nah genug dran bist, lugst du um die Ecke und durch das Fenster nach unten. Deine Kinnlade klappt runter. „Skull?“ Verwirrt öffnest du das Fenster. Blöder Weise hat Skull das zu spät mitbekommen und eines der Steinchen fliegt haarscharf an dir vorbei und landet in deinem Bett. „Pass doch auf, Schwachkopf!“, zischt du und lehnst dich aus dem Fenster. Die Steine zum Runterwerfen hast du immer noch in der Hand. Sicher ist sicher. Skulls Augen werden schmal, als er dich in der Dunkelheit zu erkennen versucht. „'Tschuldige!“ Das klang sogar ehrlich. Du bist überrascht. „Warum wirfst du Steine gegen mein Fenster?“, fragst du mit bemüht leiser Stimme, um deine Eltern nicht auf den Plan zu rufen, die garantiert erst einmal die Polizei rufen würden. Ganz ehrlich – das würdest du auch tun, wenn mitten in der Nacht jemand mit Skulls Aussehen in deinem Garten stünde. „Ähm.“ Skull starrt dich entsetzt an, als hätte erst jetzt erkannt, in welcher Situation er sich befindet. So abwegig scheint das nicht mal. Dass er nicht normal ist, steht ja eh schon fest. „Ich werde nicht singen!“, ruft er schließlich zu dir rauf. Du siehst dich argwöhnisch um. „Ich danke dir dafür, aber könntest du bitte leiser sprechen?“ Er nickt. Und dann hebt er etwas vom Boden auf, was du bisher nicht hast erkennen können. Ein Blumenstrauß. Er hält ihn dir entgegen, aber natürlich kannst du ihn nicht annehmen. „Für dich“, erklärt er jetzt leiser. „... Danke? Leg sie dahin, ich hole sie morgen früh.“ So langsam hast du das Gefühl, dass dich gar nichts mehr überraschen kann. Skull ist verrückt geworden. Das muss es sein. Als er sie ungewöhnlich folgsam auf den Boden legt, fragst du: „Warst du die letzten beiden Abende auch schon hier?“ Jetzt scheint er tatsächlich verlegen zu werden. Was zur Hölle!?, denkst du dir. Ist er nur hergekommen, um sich zum Trottel zu machen? „Ja. War ich.“ Er holt tief Luft. „Und zwar“ - und jetzt wird sein Ton auch noch dramatisch - „um dich“ - du hebst die Augenbrauen - „zu fragen...“ Kurze Stille. Er holt noch mal Luft. „...obdumitmirgehenwillst.“ Den letzten Teil spricht er so schnell aus, dass er kaum zu verstehen ist. Aber du hast verstanden. Und aus irgendeinem Grund musst du dir ein Lachen verkneifen. „Ähm... Skull?“ „Ja?“ Er sieht atemlos zu dir hinauf. „Warum hast du mich nicht einfach in der Schule gefragt?“ „Na weil... weil einer aus unserer Klasse gesagt hat, so macht man das hier im Dorf.“ Okay, jetzt musst du wirklich lachen. „N-Nicht im Ernst, oder?“, prustest du und hältst dich am Fensterrahmen fest, um nicht vor Lachen vornüber zu kippen. „Und du hast ihm geglaubt?“ Skull verzieht das Gesicht, als ihm klar wird, dass er verarscht wurde. Und dein Lachen macht das Ganze nicht besser. „Du... Du kannst auch einfach Nein sagen anstatt mich auszulachen!“, ruft er wütend und bei den Nachbarn gehen schon die Lichter an. Er schnaubt, kickt den Blumenstrauß weg und will schon gehen, da rufst du ihm hinterher: „Warte. Ich wollte gar nicht Nein sagen.“ Er hält inne und hebt langsam den Kopf. „Ist das wieder so ein Dorfkinder-Scherz?“ Du schüttelst den Kopf, jetzt nur noch lächelnd. „Nein. Ich mein's ernst.“ Sein Gesichtsausdruck wirkt immer noch verärgert, aber es liegt eine Gewisse Milde darin, als er das wiederholt, was er schon so oft gesagt hat. „Blödes Dorfkind.“ Afterthoughts: „Tze, Stadtkind.“ „... Was ist das für ein Geräusch?“ „Polizeisirenen?“ „Im Ernst?“ „Die Nachbarn werden sie gerufen haben...!“ „Fuck!“ „Lauf, Stadtkind, lauf!“ „Du kannst mich maaal!“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)