Tschaikowsky mit Krawatte und Stil von abgemeldet (Fortsetzung von "Vom Schnee berührt") ================================================================================ Kapitel 3: „Ich habe dich nicht um Hilfe gebeten.“ -------------------------------------------------- “Mach dir nicht die Mühe besser zu sein als deine Zeitgenossen oder deine Vorfahren. Versuch nur besser zu sein als du selbst.” - William Faulkner - amerikanischer Schriftsteller / 1897-1962 „Wenn das Kind in New Jersey als unterhaltsberechtigt anerkannt ist, gemäß der zwischenstaatlichen Vereinbarung für die Unterbringung von Kindern von Verwandten im gleichen Bundesstaat empfehle ich das…“ „Sie wissen, dass dauert vier Monate“, meinte ich zu Nick. Ich saß bei ihm in dessen Büro und erzählte ihm davon, was ich bisher im Fall André erreicht hatte, doch es schien mir einfach nicht genug zu sein. Ebenso erzählte ich Nick, was ich noch vor hatte, wie meine nächsten Schritte an diesem Punkt aussahen. Jedoch hatte er mehr Erfahrung in diesem System und nun brauchte ich einfach einen Rat von ihm. Ich brauchte eine schnelle Entscheidung, doch das Gesetz machte es mir da nicht wirklich einfach. „Der Junge wird zerrieben in diesem System.“ Ich musste das Nicolas Baker eigentlich nicht erklären. Er kannte das System. Vermutlich sogar noch besser als irgendjemand anderes. Nein, nicht vermutlich, er kannte es besser. Das hier war sein Werk. Er war das Gesicht der Jugendgerichtshilfe von New York und ich würde meine Hand für diesen Mann ins Feuer legen, wenn es darum ging, dass er alles für die Kids hier tat. Er half ihnen und war für sie da. Nick seufzte. „Aber so lautet nun mal die Vorschrift.“ Ich nickte, denn das wusste ich natürlich und eigentlich würde ich nie versuchen, irgendwelche Regeln, Vorschriften und Gesetze zu umgehen. Doch in Andrés Fall war das etwas anderes. Der Junge braucht jetzt Hilfe und nicht erst in ein paar Tagen, Wochen oder Monaten. Er hatte diese Zeit nicht, bevor er ganz auf die schlechte Seite des Lebens abdriftete. „Lassen Sie mich versuchen, sie zu umgehen“, bat ich ihn und hoffte, dass er mich jetzt nicht gleich feuern würde. Er sah mich ernst an und ich wusste nicht, ob er mich nicht gleich vor die Türe setzte, weil ich ihm um so etwas bat. Aber statt genau das zu tun, holte er noch mal tief Luft und seufzte schließlich. Das war ein indirektes Ja für mich, aber mehr brauchte ich auch nicht. Ich brauchte nur seine Zustimmung so weiter machen zu dürfen, wie ich es für richtig hielt. „Danke sehr.“ Ich nickte, stand auf und wollte sein Büro verlassen, draußen warteten noch genug kleine Klienten, die die Hilfe brauchten. „Und Edward“, fing er an, als ich die Hand schon auf der Klinke hatte. „Ich glaube, Sie passen hier sehr gut rein.“ Ich sah ihn an und nickte nur, denn ich wusste nicht, was ich darauf erwidern sollte. Meine Kollegen kannte ich kaum, ein paar hatten sich schon vorgestellt, aber es kamen immer wieder neue Gesichter und ich wusste nicht, wer hier vom Jugendamt war und wer hier wirklich in dieser Einrichtung arbeitete. Ich hatte mir einen Plan zu Recht gelegt für André. Ich hatte nun jemand, der den Jungen zu sich nehmen würde. Doch damit war es noch nicht getan. Da mir das Gesetz es nicht gerade leichter ab dieser Stelle machte, brauchte ich die Zustimmung von Andrés Mutter. Sie sollte mir ihr Einverständnis geben, das André zu ihrem Bruder konnte. Also besuchte ich sie im Frauengefängnis von New York auf. Es war gar nicht so leicht, so schnell ein Gespräch mit ihr zu bekommen, denn normalerweise musste so etwas Wochen vorher angekündigt werden. Wieder war mir das Gesetz im Weg. Doch ich kannte da jemanden und wieder ein Mal war klar, dass man ohne Vitamin B nicht weit ihm Leben kam. Ich saß der Mutter von André und Marcus gegenüber und hatte ihr eben gesagt, dass ich versuchte André bei seinem Onkel, ihrem Bruder unter zu bringen, doch davon schien sie nicht begeistert zu sein. Es machte sie eher wütend, als glücklich, dass jemand sich ihrem Sohn annehmen würde. Oder ging es ihr um ihren Bruder? Wegen dem, was in der Vergangenheit passiert war? „Ich will nicht, dass er zu meinem Bruder kommt“, sagte sie mir und stand energisch von ihrem Stuhl auf. „Sie haben nicht darüber zu bestimmen. Nicht so lange Sie hier drin sind“, stellte ich mit ruhiger Stimme klar. Ich wollte sie nicht verärgern, sondern sie auf meine Seite bekommen, denn ich brauchte ihre Unterschrift. Ohne diese würde, André Monate im Jugendheim warten müssen, bis alles nach dem Gesetzen des Staates lief. Und das dauerte mir eindeutig zu lange. Das war zu lange für André. Solange würde er nicht stillhalten. Sie lächelte und stützte sich auf dem Tisch ab, beugte sich zu mir herüber. „Ich kenne meine Rechte. Sie können den Jungen nicht in einen anderen Staat schicken ohne meine Einwilligung.“ Ich nickte, da hatte sie schon Recht, aber das wollte ich ihr nicht sagen. „Bei den Familienverhältnissen? Ein Blick ins Vorstrafenregister genügt und jeder Richter würde mir Recht geben.“ Sie verschränkte die Arme vor der Brust und sah mich abschätzend und fordernd zu gleich an. Natürlich war das hier kein Small Talk und vermutlich würde ich ihr mit dem was ich von ihr verlangte, weh tun. Aber jetzt konnte sie wirklich etwas für ihren Sohn tun. „Was glauben Sie, wie lange es dauert einer Mutter die ihre Kinder drei Jahre lang unbeaufsichtigt lässt, das Sorgerecht zu entziehen?“ Sie biss sich auf die Unterlippe und sah zur Wand hinter mir. Anscheinend versuchte sich auf einen Punkt an der Wand zu konzentrieren, damit sie ihre Fassung nicht verlor. Es war ihr anzusehen, dass Sie sich schuldig fühlte und auch wenn ich ihr nicht zu Nahe treten wollte, war sie eine schlechte Mutter. Und das wusste sie auch. „Wieso sind Sie hier? Wenn Sie mich nicht brauchen?“ Ich stand nun auch von meinem Stuhl auf, stützte mich am Tisch ab und war nun auf gleicher Augenhöhe mit ihr. „Es würde mich vier Monate kosten die Bewilligung zu erwirken, dass ihr Sohn den Staat New York verlassen kann.“ Sie sagte nichts mehr und blickte auf die Unterlagen vor mir, welche auf dem Tisch lagen. Es brauchte nur eine Unterschrift von ihr. Mehr musste sie für ihren Sohn nicht tun, damit er eine bessere Chance hatte. „Von dem Moment an, dürften Sie nicht mehr mit ihm in Kontakt treten.“ Sie wirkte nun vollkommen ruhig und es schien ihr nahe zu gehen, was ich ihr da sagte. Für eine Mutter, die ihre Kinder liebte – auch wenn sie sich nicht um sie kümmern konnte – war es nun mal das Schlimmste, sein Kind nicht mehr sehen zu dürfen. Ich nahm es ihr weg, dass wusste ich. Ich konnte ihren Schmerz verstehen. Aber ich konnte ihr Leid nicht mildern. Ich konnte ihr diese schwere Last nicht abnehmen. Langsam ließ sie sich wieder auf den Stuhl nieder. „Wenn Sie freiwillig zustimmen, ihr Sorgerecht abzutreten und hier unterschreiben, kann ich ihn schon Morgen auf den Weg schicken.“ Sie sah mich traurig an, ihre Unterlippe bebte etwas. „Sie wollen… Sie wollen, dass ich auf mein Baby verzichte?“ Ich konnte nur ahnen, wie schwer es für sie sein musste, so eine Entscheidung zu treffen. Es war nun mal keine einfache Entscheidung. Aber es würde das Beste für André sein. Er würde noch mal von vorne anfangen können, zur Schule gehen, Freunde finden, vielleicht ins Footballteam kommen. Er würde vielleicht mit einem Cheerleader zusammen sein können, wie ein ganz normaler Teenager eben. Vielleicht würde er sogar ein College besuchen. Das alles würde er nicht können, wenn er hier blieb. „Wenigstens wissen Sie dann, wo ihr Sohn ist.“ Ich sah wie sie nachdachte, verzweifelt nach einer Lösung suchte, mich sich rang, das Richtige zu entscheiden. Das Richtige für André. Mir war bewusst, dass sie nur noch Marcus und André hatte. Ihre beiden anderen Kinder waren gestorben, bevor sie 18 Jahre alt wurden. Der hatte war in einen Bandenkrieg geraten, den anderen hatte man nach einer Überdosis nicht mehr retten können. Marcus war wie sie im Gefängnis, auch wen er bald wieder aus der Jugendhaft entlassen wurde und nun saß ich hier und nahm ihr ihren jüngsten Sohn weg. Ich schob ihr das Formular hin, ebenso den Kugelschreiber. Sie zögerte, griff dann aber dann doch nach den Kugelschreiber. Ich sah, wie ihre Finger zitterten, auf ein Mal wirkte die Frau so zerbrechlich, dass ich sie nur noch trösten wollte. Egal was diese Frau alles angestellt hatte, diese Entscheidung war auch für sie bestimmt die Schwierigste überhaupt. Sie würde in diesem Moment nicht nur ihren Sohn weggeben, sie würde auch zugeben, dass er es wo anders besser hatte. Sie würde zugeben, dass sie eine schlechte Mutter war. Der Griff um den Kugelschreiber wurde etwas fester, so wie wohl auch ihre Entscheidung, das Richtige für André zu tun. Sie unterschrieb. In diesem Moment hielt ich sie für eine gute Mutter. Eine Mutter, die nur das Beste für ihr Kind wollte. Eine Mutter, die nicht noch ein Kind beerdigen oder im Knast besuchen wollte. Es war schon Abend als ich vor der Juilliard stand und auf Bella wartete. Wir wollte heute mal wieder etwas unternehmen, mal wieder Zeit mit einander verbringen, denn das kam in letzer Zeit wirklich zu kurz. Sie war mit ihrem Training und Unterricht beschäftigt, ich mit meiner Arbeit im Gericht und nun hatte ich mir auch noch einen Nebenjob bei der Jugendgerichtshilfe einheimst. Doch ich vermisste Bella, ihr Lachen und ihre wundervolle Augen. Ich vermisste unsere Gespräche und unsere Berührungen. Ich vermisste es neben ihr aufzuwachen und sie an mich zu ziehen. Ich vermisste es, mein Gesicht in ihren Haaren zu vergraben und diesen unglaublich süßen Duft von Erdbeeren einzuatmen. Mein Handy vibrierte und ich zog es schnell aus meiner Hosentasche. Ich lächelte, als ich sah, dass meine Mutter mich anrief. Ich hatte direkt ein schlechtes Gewissen, das ich mich in den letzten Tagen nicht öfters bei ihr und Dad gemeldet hatte. Sie arbeitete wieder Vollzeit, weil sie zu Hause nicht mehr aushielt. Sie vermisste das Lachen und die Stimmen ihrer Kinder, sie vermisste es sogar, dass Alice und ich uns oft gestritten hatten. Wir vermissten offensichtlich alle etwas im Leben und versuchten damit umzugehen. „Hey Mom“, nahm ich den Anruf entgegen und starrte wieder zur Tür der Juilliard, hoffte das Bella gleich rauskommen würde und ich sie einfach nur wieder in meine Arme schließen konnte und mein Gesicht in ihren Haaren vergraben konnte. „Hallo mein Sohn. Wie geht’s dir? Warum hast du dich schon lange nicht mehr bei deiner einzigen Mutter gemeldet?“ Ich lächelte, entschuldigend, obwohl ich wusste, dass sie das nicht sehen konnte. „Es tut mir Leid. Momentan hat sich eine Menge verändert und ich versuche das alles unter einem Hut zu kriegen. Ich sehe Bella kaum noch, geschweige denn Alice und Jasper und wenn ich daran denke, dass ich dich anrufen könnte, ist es schon zu spät.“ „Alice hat mir erzählt, dass du nun bei der Jugendrechtshilfe arbeitest.“ „Ja, ich versuche es zumindest. Doch es nicht einfach. Es strengt mich ehrlich gesagt sehr an und ich weiß nicht, ob ich noch mehr Zeit in Arbeit stecken will und dadurch noch weniger Zeit für Bella habe.“ „Aber es macht dir doch Spaß? Ich kenne dich besser, Edward. Du sagst zwar, dass du darüber nachdenkst, diesen Job nicht anzunehmen, aber wir beide wissen es doch besser, nicht? Das ist das was du immer tun wolltest. Du wolltest Kindern helfen und vielleicht kannst du es momentan so eher, als bei deiner Arbeit am Gericht.“ Ich hörte, wie sie im Hintergrund den Backofen öffnete. „Erzähl mir davon, Schatz.“ „Noch gibt es nicht viel darüber zu erzählen. Ich habe erst meinen ersten Fall. Er heißt André und ist elf Jahre alt. Er hat bei seinem Bruder gelebt und ihn angehimmelt, doch dieser ist nun ins Jugendgefängnis gewandert. Nun hat André keinen mehr, zu dem er aufsehen kann und eigentlich will er nur zu seinem Bruder.“ „Das erinnert mich daran, wie Alice dir und Emmett immer hinterher gelaufen ist. Du warst 3 Jahre alt und Alice gerade 2 geworden. Doch du hast dich eher an Emmett orientiert, als Zeit mit deiner kleinen Schwester zu verbringen. Du hast sie oft genug zurück gewiesen und sie angeschrien, dass sie dich in Ruhe lassen soll, doch Alice hat dich angehimmelt, weil du ihr Bruder warst. Das hat sich all die Jahre nicht geändert.“ „Ich weiß nicht, ob mir das weiterhilft, Mom“, meinte ich und fuhr mir durchs Haar. „Ja, vielleicht hast du Recht. Vergib deiner Mutter, die in Erinnerungen an ihre einzigen Kinder schwelgt.“ „Mom, wir sind nicht tot. Wir sind nur auf der anderen Seite des Landes.“ „Ich weiß, Edward und du solltest das auch nicht vergessen. Wir sind immer für dich, Alice und Bella da. Vergiss das nicht und ruf deine Mutter gefälligst regelmäßig an.“ „Mach ich. Ich gelobe Besserung. Umarme Dad von mir.“ „Ja, mein Schatz. Ich wünsch dir noch einen schönen Abend.“ „Dir auch. Bis dann.“ Ich legte auf und steckte das Handy wieder in die Hosentasche. Ich dachte über Andrés Mutter nach. Vielleicht wollte sie zu erst nicht, dass ihr Sohn zu ihrem Bruder kommt, weil sie sich von ihm verraten fühlte. Vielleicht war sie sauer auf ihn, weil er einfach aufgegeben hatte, sie zu retten? Die Türen gingen auf und Bella trat heraus, gefolgt von ein paar anderen Tänzerinnen. Sie lachten und neckten sich anscheinend ein wenig. Es war schön, Bella so glücklich und unbeschwert zu sehen. „Hey“, meinte ich, als sie auf mich zu kamen. Die jungen Frauen blieben stehen und musterten mich. Ein paar der Gesichter kannte ich schon. Eine von ihnen, die Blonde, hieß Isobel und kam aus Connecticut. Ling, kam aus Chicago und hatte chinesische Wurzeln. Bella sagte, sie hätte besonderes Talent und bewunderte sie wohl etwas. Rena war eine Rothaarige aus New York selber und hatte eine große Klappe, wie man es eben von Großstadtkindern nicht anders kannte. Die zwei anderen kannte ich noch nicht. „Hey“, sagte Bella und tippelte leicht auf mich zu und ich schloss sie in meine Arme, vergrub mein Gesicht in ihrem Haar und sog den vertrauten Geruch ein. Ich hatte ihn wirklich vermisst. Was würde sein, wenn ich mich nicht mehr an jede einzelne Nuance dieses Geruchs erinnern könnte? „Hallo meine Damen“, sagte ich schließlich zu den anderen. „Alles klar bei dir?“ Bella nickte und lächelte mich glücklich an. „Bella, du bist echt zu beneiden. Du hast eine Hammerwohnung in Manhatten, bist talentiert, die Lehrer haben ein Auge auf dich geworfen und du hast auch noch einen heißen Freund, der so toll ist, dass er dich abholt.“, sagte Isobel. Bella neben mir errötete und ich musste lächeln. „Man tut was man kann“, meinte ich und hielt Bella weiterhin in meinen Armen fest, denn so schnell würde ich sie heute nicht mehr weggeben. Ab jetzt würde sie ganz mir gehören und niemand würde uns stören können. „Ah, da seid ihr ja noch“, sagte jemand, der zu uns eilte. Ich erkannte den Mann, als Patrick, der sich zu mir gesetzt hatte, als ich Bella zugesehen hatte. Er sah mich kurz an und nickte mir nur zu. „Ich wollte euch sagen, dass das Training morgenfrüh eine Stunde später anfängt. Ich möchte gerne mal etwas länger schlafen. Hoffe, das geht in Ordnung?“ „Natürlich. Da ist eine tolle Idee, Mr. Darcy“, sagte Ling glücklich. „Gut, wir sehen uns ja dann morgenfrüh“, meinte er und nickte den Mädchen zu, die nun weiter in Richtung U-Bahn-Station gingen. Nun sah er mich an. „Es ist schön Sie wieder zu sehen, Edward.“ Ich war etwas verwirrt, dass er den Mädchen sagen konnte, wann das Training morgen anfing. War er nicht selber Schüler hier? „Ja, ganz meinerseits.“ „Ihr kennt euch?“, fragte Bella und sah mich fragend an. „Nicht direkt“, meinte ich und zuckte mit den Schultern. „Ich habe dir letztens zu gesehen und er hatte sich zu mir gesetzt, so kamen wir ins Gespräch.“ „Ja, genau, so war das. Das war übrigens eine Klasse Leistung heute, Bella“, sagte Patrick und lächelte Bella stolz an. „Wir sehen uns ja dann morgen.“ Er ging wieder zurück ins Gebäude und ich sah ihm fragend hinterher. Es dauerte einen Moment, bis ich mich daran erinnerte, wie Ling ihn genannt hatte. Mr. Darcy. Patrick, war Mr. Darcy? Bellas Lehrer? Überrascht sah ich sie an und sie mich ebenso. „Das war dein Lehrer?“ Sie lächelte. „Ja, wusstest du dass denn nicht?“ Ich schüttelte den Kopf. „Nein, nicht wirklich. Er hat sich mir nur mit Vornamen vorgestellt. Ich hoffe er ist nett.“ Ich dachte gerade darüber nach, was ich dem Mann an diesem Tag alles gesagt hatte, über Bella und über mich. Aber mir fiel nichts Schlimmes ein, was ich hätte ausgeplaudert haben können. „Ja, das ist er.“ Sie lächelte und griff nach meiner Hand. „Also, mein heißer Freund, was machen wir nun?“ Ich grinste und zog sie erst mal zu einem Kuss zu mir. „Ich liebe es, wenn du mich dein heißer Freund nennst.“ Der nächste Tag war angebrochen und meine Frist, die ich vom Richter bekommen hatte, war nun abgelaufen. Ich hatte alle Unterlagen und Formulare, von denen ich hoffte, sie würden langen. André Greenwood saß neben mir, eine Reihe hinter mir saß Mr. Greenwood, Andrés Onkel und dessen Ehefrau. „Mr. Cullen mir liegt nicht die offizielle zwischenstaatliche Vereinbarung über die Unterbringung von Kindern vor“, meinte der Richter und sah mich über seiner Brille hinweg an. „Wir haben die Unterlagen für die Vormundschaft“, sagte ich und brachte das Formular zum Richter. Ich reichte es ihm und ging dann wieder zu meinen Platz, während er es las. „Mr. Greenwood“, sprach der Richter Johnson Greenwood an. Dieser stand auf. „Sind Sie bereit diesen Jungen bei sich aufzunehmen?“ „Ja, das bin ich. Wir sind verwandt, euer Ehren, er ist mein Neffe.“ Der Richter nickte. „So fern von Seiten des Jugendamtes kein Einspruch erfolgt…“ Er sah zum Tisch des Jugendamtes herüber. „Kein Einspruch, euer Ehren.“ Ich hörte André neben mir seufzen und wusste, dass ihm das Ergebnis nicht gefiel. Aber irgendwann würde er schon erkennen, dass es die beste Entscheidung für ihn war. Die beste Entscheidung die ich für ihn hätte treffen können. „Nun dann“, meinte der Richter. „Dann kommt der Junge zu seinem Onkel.“ Er schlug den Hammer und mir fiel eine unglaubliche Last von den Schultern. Mein erster Fall und ich hatte eine gute Entscheidung für den Jungen getroffen. „Vielen Dank“, meinte Johnson zu mir und reichte mir die Hand. „Kein Problem“, sagte ich zu ihm. Ich war erleichtert, dass das mit André heute so gut gelaufen war. Auch wenn ich das Gesetz umgangen hatte, so hatte ich es doch geschafft, da André zu seinem Onkel konnte. Natürlich war André nicht begeistert deswegen gewesen und hat auch keine Luftsprünge gemacht, als man ihm gesagt hatte, wo sein Onkel und dessen Familie denn lebten, aber es war für mich okay. Ich hatte die richtige Entscheidung für ihn getroffen, auch wenn er es noch nicht wusste. Ich war mal wieder in der Jugendrechtshilfe und wollte mir eine neue Akte nehmen, als Mr. Greenwood herein kam und aufgebracht meinen Namen rief: „Mr. Cullen. Er ist weg.“ „Was?“, fragte ich entsetzt und wusste sofort, dass er von seinem Neffen sprach. Da hatte ich mich eindeutig zu früh gefreut. „Er fragte, ob er noch seinen Bruder besuchen kann, als wir losfuhren. Als ich anhielt, stieg er aus und rannte einfach weg er rannte einfach weg. Ich rannte ihm hinterher, doch er war weg.“ Ich konnte fluchen. Der kleine Junge machte einem aber auch wirklich das Leben schwer. Warum konnte André nicht einsehen, dass es am besten für ihn war, zu seinen Onkel zu gehen? Warum musste er sein eigenes Ding durchziehen? Ich nickte, legte die Akte wieder auf den Stapel zurück und holte meinen Mantel. Der Fall André war für mich noch nicht abgeschlossen, wie es schien. Es war ein langer Tag, auch wenn es nicht lange gedauert hatte, bis ich wusste wo André war. Die Nachbarn hatten mich angerufen und mir gesagt, dass aus der Wohnung von Marcus Greenwood laute Musik drang. Doch ich hatte vorher noch ein paar Anrufe getätigt, unter anderem hatte ich seinen Onkel noch mal angerufen. Er und seine Frau würden heute noch in der Stadt bleiben, aber morgen früh würden sie fahren. Mit André auf der Rückbank oder nicht. Ich klopfte sturm an der Tür, hinter die Wohnung von Marcus und André Greenwood lag. Ich war durch die Straßen gefahren und hatte nach dem Jungen gesucht. Hatte sogar beim Jugendamt und auch im Gefängnis seines Bruders angerufen. Doch André war nicht zu finden. Dann dachte ich an die Worte des Jungen, dass was er mir die ganze Zeit gesagt hatte. Er wollte bei seinem Bruder bleiben. Er wollte nicht weg. Er wollte nicht weg aus New York. Es interessierte den Jungen einfach nicht, dass woanders ein besseres Leben auf ihn wartete. „André“, rief ich den Namen des Jungen und klopfte weiter. „Mach die Tür auf. Ich will nur mit dir reden.“ Gerade als ich noch mal klopfen wollte, hörte ich wie das Vorhängeschloss an die Tür gehängt wurde, dann ging die Türe auf und André sah mich erwartungsvoll an. Er hatte die Kette nicht vorgezogen, offensichtlich vertraute er mir soweit, dass er glaubte, dass ich ihn nicht einfach packen würde und ins Auto seines Onkels stecken würde. „Dein Onkel bleibt noch über Nacht.“ Ich wollte ihm so vieles sagen, aber inzwischen wusste ich, dass er all das einfach nicht hören wollte. Er war eben ein Kind, ein trotziges Kind. Und doch mehr als das. „Aber wenn du dich Morgen früh nicht zeigst, fährt er einfach wieder heim. So sieht’s aus.“ André seufzte und ich hoffte, dass er es dieses Mal nicht tat, weil ich ihn so sehr langweilte. Doch ich war mir da nicht so sicher. „Hör mal, so eine Chance kommt nie wieder.“ „Ich will aber nicht zu ihm“, sagte der Junge und sah mich mit seinen großen, dunklen Augen an. Ich fragte mich, wie viel Leid diese Augen schon gesehen hatte. Wie viel der erschreckenden Wahrheit, die das Leben nun mal hatte, hatte er schon sehen müssen? Ich nickte und seufzte. „Ich kann dich nicht zwingen.“ „Verrätst du denen vom Jugendamt wo ich bin?“ „Ich habe keine andere Wahl“, antwortete ich ehrlich. Er seufzte wieder. „Dann sag Ihnen, Sie können mich holen.“ Er knallte die Tür zu und beendete damit unser Gespräch. Offensichtlich hatte er keine Lust auf meine Hilfe und auf die zweite Chance, die man ihm gab. Eigentlich war ich gerade echt nicht in der Verfassung mich um den Salat zu kümmern, doch Bella hatte mich damit beauftragt und so drehte ich ihn mit dem Salatbesteck in der Schüssel um und dachte nur an André. Ich hatte dem Jugendamt Bescheid gegeben, doch sie konnten mir nicht sagen, ob sie sich gleich um ihn kümmern würden. Es war ja nicht so, dass er kein Dach über den Kopf hatte, hatte man mir am Telefon erklärt. Also konnte ich nur warten. Warten und Salat machen. „Schau nicht so mürrisch“, sagte Bella zu mir und küsste mich auf die Wange. „Entschuldige. Ich bin…“ „Ich weiß, mit den Gedanken ganz woanders“, beendete sie meinen Satz und nahm mir den Salat ab. Offensichtlich war sie mir deswegen aber nicht böse und dafür war ich ihr sehr dankbar. Ich hätte es nicht brauchen können, wenn sie mir jetzt deswegen auch noch ein schlechtes Gewissen eingeredet hätte. Doch so war Bella nun mal einfach nicht. „Hast du noch was wegen dem Jungen gehört?“ „Nein, leider nicht“, sagte ich und folgte ihr ins Esszimmer. Als es auch schon an der Tür klingelte. „Ich geh schon.“ Ich drückte auf den Knopf und ließ Alice und Jasper mit dem Aufzug hoch fahren. Kaum ging die Türen des Aufzugs aus, warf sich meine Schwester mir auch schon an den Hals. „Hallo, Bruderherz.“ Ich konnte mich gerade noch auf den Beinen halten und konnte nur noch lachen. „Hey.“ Über ihren Kopf hinweg nickte ich auch Jasper zu, der das Dessert mit sich trug. Es war eine gute Idee von den beiden, dass Jasper es trug und nicht meine stürmische Schwester. „Hey“, sagte Bella und wir drehten uns zu ihr um. Alice ließ mich los und hüpfte sofort zu Bella, um diese an sich zu drücken. „Endlich kriege ich dich auch mal wieder zu Gesicht. Weißt du, ich hätte der ganzen Sache mit der Juilliard nicht zugestimmt, wenn ich gewusst hätte, dass du dann so wenig Zeit für deine beste Freundin hast.“ „Ich habe gar nicht gewusst, dass du da Mitspracherecht hattest“, meinte ich zu Alice und nahm Jasper den Nachttisch ab. „Klar hatte ich das“, meinte Alice, streckte mir die Zunge raus und ging dann mit Bella ins Esszimmer. „Ehrlich Jasper, du verdienst meine Anerkennung, dass du es mit meiner Schwester aushältst.“ „Das habe ich gehört“, schrie Alice aus dem Esszimmer. „Dann ist ja gut“, meinte ich und Jasper grinste mich an. Wir gingen beide in die Küche. Ich stellte die Schüssel in den Kühlschrank und nahm mir dann ein Bier raus. „Willst du auch eins?“ „Klar“, meinte er und ich reichte ihm das, welches ich in den Händen hielt und nahm noch ein Neues heraus. „Wie läuft es bei dir?“ „Nicht so gut. Der Junge, dem ich helfen will, will sich nicht von mir helfen lassen.“ Ich holte aus einer Schublade den Flaschenöffner, öffnete meine Flasche und reichte den Öffner dann Jasper. „Und bei dir?“ „Es läuft. Aber natürlich ist nichts so interessant, wie das Leben mit deiner Schwester. Sie hat sich gestern entschieden, dass unsere Wohnung nicht kindersicher ist. Also will sie nun neue Möbel kaufen und irgendwie alle Schränke und Türen mit Kindersicherung zusperren.“ „Aber ihr ist schon klar, dass ihr noch kein Kind habt?“, fragte ich und lächelte. „Wir haben uns ja nicht mal für eine Agentur entschieden. Hast du dir die Sachen mal angesehen?“ Ich nickte und nippte an meinem Bier. „Habe ich. Ich bin für zwei der Agenturen, die ihr mir da gegeben habt. Nicht, dass die anderen einen schlechten Ruf haben oder so. Aber ich habe bei den zwei einfach ein besseres Gefühl.“ Jasper nickte „Ich zeige es euch einfach nachher“, schlug ich vor. „Edward, Jasper? Kommt ihr Essen?“, rief Alice und ich klopfte Jasper auf den Rücken, als wir die Küche verließen und zu unseren Frauen ins Esszimmer ginge. Es war der nächste Tag und ich hatte die Nacht nicht gut geschlafen. Ich hatte das Handy direkt neben mein Kopfkissen gelegt gehabt und auf den Anruf vom Jugendamt gewartet. Doch er war nicht gekommen. Um vier Uhr früh, war ich dann aufgestanden und hatte mir die Akten vom Gericht noch mal vorgenommen, da ich ja doch nicht mehr schlafen konnte. Vermutlich hatte ich die Nacht gerade mal insgesamt 2 Stunden geschlafen und auch die fünf Tassen Kaffee sorgten nicht wirklich dafür, dass ich mich besser fühlte. „Guten Morgen, Edward“, sagte Nick zu mir, als ich gerade die Jugendrechtshilfe betrat. Er hatte sich gerade Kaffee eingeschenkt und kam mit seiner Tasse zu mir. Er sah ernst aus. „Das Jugendamt hat so eben angerufen. Als man André Greenwood abholen wollte, trug er eine Waffe und 6 Ampullen Crack bei sich.“ Ich atmete frustriert Luft aus und konnte es einfach nicht glauben. Hatte ich denn nicht alles versucht? Hatte ich denn nicht versucht, dem Jungen eine zweite Chance zu beschaffen? Warum machte er es mir so schwer? Sogar seine Mutter hatte mir geholfen. Sein Bruder ebenso. Warum wollte der Junge unbedingt in den Knast? Aber eigentlich hätte ich es erwarten müssen. André wollte nicht zu seinem Onkel. „Er sitzt in ihrem Büro.“ „Danke.“ Ich brauchte noch einen Moment bevor ich in mein Büro gehen und mich André stellen konnte. Ich war wütend und sauer. Auf den Jungen und darauf, dass er sich nicht helfen lassen wollte. Ebenso war ich auch wütend auf mich, weil ich offensichtlich nicht fähig war, das richtige für ihn zu tun. Ich setzte mich auf den Stuhl neben ihn, sagte nichts, sondern starrte wie er die Wand uns gegenüber an. Ich sah, dass seine Hände in Handschellen waren und er wirkte zerbrechlich und gleichzeitig verdammt stark. Wer konnte einem Elfjähringen Handschellen anlegen? „Bist du noch mein Anwalt?“, fragte er. Ich seufzte und beugte mich etwas nach vorne, sah ihn dann an. „Nein. Für Strafrecht bin ich bei der Jugendrechtshilfe nicht zuständig.“ Er nickte und stand von seinem Stuhl auf. „Komm ich jetzt in den Knast?“ „Du kommst in die Jugendstrafanstalt.“ Doch das war es ja wo er hin wollte, doch ich sagte es ihm nicht. „Das Gesetz wird dich nicht schonen, André. Jetzt nicht mehr, wo du es verletzt hast.“ „Damit komme ich schon klar“, sagte er, war aufgestanden und sah mich von der anderen Seite des Raumes an. Er lehnte an der Wand, lässig und cool wie immer. „Mach dir keine Sorgen um mich. Wenn ich nur bei meinem Bruder bin, komme ich mit allem klar.“ Ich nickte nur und wusste nicht mehr, was ich ihm sagen sollte. Wie konnte ein Elfjähriger so etwas tun? Freiwillig ins Gefängnis gehen, nur um bei seinen Bruder zu sein? Ein Polizist kam herein und winke den Jungen zu sich. „Komm wir gehen.“ André stieß sich von der Wand ab, drehte sich dann aber noch mal zu mir um. „Tut mir Leid, Mann. Ich habe dich nicht um Hilfe gebeten.“ Ich sah, wie André mit dem Polizisten aus meinem Büro verschwand und fragte mich, wenn ich diesem Jungen nicht helfen konnte, konnte ich dann überhaupt irgendeinem Kind helfen? Es gab jemanden, der sich um ihn kümmern wollte. Sogar seine Mutter hatte auf ihr Recht als Mutter verzichtet, damit er eine Chance hatte. Auch sein Bruder war dafür, dass André was Besseres verdient hatte. Es gab so viele Kinder da draußen, bei dem das nicht der Fall war. Da gab es keinen Onkel, der ihn lieben und retten würde. Wie sollte ich also anderen Kindern helfen können, wenn ich es nicht mal bei André Greenwood geschafft hatte? Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)