Sommerregen von Yurippe (~Wenn der Regen alle Masken davonwäscht~ [CS]) ================================================================================ Kapitel 1: Sommerregen ---------------------- „Und genau deshalb hasse ich den Sommer!“ Wütend und verletzt warf Haruka die Tür ihres Zimmers hinter sich zu und ließ sich aufs Bett fallen. Beim Essen mit ihrer Familie war ihr der Kragen geplatzt. Eigentlich hatte alles ganz friedlich angefangen, doch als sie sich gerade etwas Nachtisch nehmen wollte, konnte ihr kleiner Bruder sich den dummen Kommentar nicht verkneifen, ob sie das denn wirklich essen wollte. In letzter Zeit sei sie ganz schön fett geworden, fand er, und bald kam ja schließlich die Badesaison mit knappen Bikinis und dergleichen. Außerdem, fügte er hinzu, hatte sich schon länger kein junger Mann mehr für Haruka interessiert. Nicht mal dieser grünhaarige Angeber, der ihr früher ab und zu mal seine Aufmerksamkeit und eine Rose geschenkt hatte. Bei der Erwähnung ihres früheren Rivalen war es Haruka eindeutig zu bunt geworden. Sie hatte ihr Besteck unsanft auf den Tisch klirren lassen und war aufgesprungen, um sich oben in ihrem Zimmer vor den spöttischen Bemerkungen zu verstecken. Nicht einmal ihre Mutter kam ihr nach, stellte Haruka nach einer Weile fest, als sie schon einige Tränen der Frustration vergossen hatte. Aber selbst wenn, sie würde ihr doch bloß wieder sagen, dass man einen kleinen Bruder eben nicht ernst nehmen konnte und sie sich das alles nicht zu Herzen nehmen sollte. Nachdem sie eine Weile auf dem Bett gelegen und Trübsal geblasen hatte, beschloss Haruka, eine Weile rauszugehen und etwas Sport zu treiben. Nicht, dass sie Masato Recht geben würde, aber vielleicht konnte sie sich so abreagieren. Also zog sie sich ihre Trainingshosen und ein sportliches Oberteil an und rief dann ihr Bisaflor so aus dem Pokéball, dass es unten vor ihrem Fenster herauskam. „Bisaflor, heb mich mal runter!“, rief sie ihm zu. Haruka hatte nämlich absolut keine Lust, durchs Haus zu gehen und dort womöglich wieder ihrem gehässigen kleinen Bruder zu begegnen. Ihr Pokémon tat, wie ihm geheißen wurde, und hob seine Trainerin mit seinen Ranken behutsam hinunter auf die Erde. Nach einem dankbaren Tätscheln rief Haruka es zurück. „Tja, dann, auf geht’s“, murmelte sie zu sich selbst, bevor sie anfing zu laufen. Zu Harukas Missmut ging ihr schon nach wenigen hundert Metern die Puste aus, sodass sie sich japsend am Wegrand niederlassen musste. „Da hat ja meine Oma mehr Kondition“, hörte sie hinter sich eine sarkastische Stimme. Das Mädchen fuhr herum. Hinter ihr stand, wie konnte es anders sein, Shuu, der sich lässig eine grüne Haarsträhne aus dem Gesicht schnippte. Auf seinem Jogginganzug war kein einziger Schweißfleck zu entdecken, und auch sein Gesicht wirkte frisch. „Sag mal, gehst du in dem Aufzug spazieren?“, fragte Haruka missmutig. Shuu grinste leicht verächtlich. „Natürlich nicht. Aber wer im Training ist, den haut so ein bisschen Joggen nicht gleich um.“ Haruka zog eine Grimasse. „Dann bin ich eben nicht im Training. Das kommt schon noch. Aber sag mal, was machst du überhaupt hier in Blütenburg? Spionierst mir wohl nach?“ „Natürlich nicht.“ Wieder ein spöttisches Grinsen. „Aber Blütenburg hat ein angenehmes Klima im Sommer, und ich wollte mit meinen Pokémon mal etwas ausspannen. Und nun entschuldige mich, meine Muskeln werden sonst steif.“ Ohne ein weiteres Wort rannte er einfach weiter. „Hey, warte!“, rief Haruka ihm nach, doch er hob nur eine Hand. Haruka versuchte, ihn zu verfolgen, musste jedoch einsehen, dass das keinen Sinn hatte. „Mist“, fluchte sie in sich hinein. Das Mädchen fragte sich, was er in ihrer Stadt machte. Ob es wirklich bloß Urlaub war? Aber wieso war er dann nicht nach Faustauhaven gefahren oder auf eine andere nette kleine Ferieninsel? Wieso ausgerechnet in ihre Stadt, wo er doch damit rechnen müsste, dass sie sich begegnen würden? Da weder ihr kläglich gescheiterter Sportversuch noch die Grübelei über Shuu sie weiterbrachten, beschloss Haruka, dass sie genauso gut einen kleinen Ausflug zum Strand machen konnte. Am Wasser ließ sie ihr Schillok aus dem Pokéball, das sich sofort ins einladende Nass stürzte und wild umhertollte. Haruka bedauerte, keinen Badeanzug mitgenommen zu haben, sodass sie sich nun damit begnügen musste, ihr Papinella und Eneco herumliegende Stöcke apportieren zu lassen. Als sie sich nach einigen Stunden wieder nach Hause kam, wurde sie schon an der Tür empfangen. „Wo warst du denn? Wir haben uns Sorgen gemacht!“, begann die Standpauke ihrer Mutter. „Ich war trainieren“, gab Haruka nur zurück. Zwar hatte sie nicht wirklich ihre Pokémon trainiert, aber das musste ja niemand wissen. „Außerdem, ich bin jahrelang allein gereist, aber wenn ich jetzt mal für ein paar Stunden verschwinde, geht gleich die Welt unter?“ Mit diesen Worten stieg sie die Treppe hinauf zu ihrem Zimmer, in welchem sie sich wie zuvor auch aufs Bett fallen ließ. Die Begegnung mit Shuu wollte ihr einfach nicht aus dem Kopf gehen. War er tatsächlich nur wegen des Klimas nach Blütenburg gekommen, wie er ihr hatte weismachen wollen? Und seit wann ging er joggen? Wenn überhaupt, konnte sie sich bei ihm eher vorstellen, wie er im Fitnesscenter an den Geräten hing. In Harukas Vorstellung tauchte ein Bild von Shuu auf, der langsam sein vom Training verschwitztes Shirt auszog und seinen muskelbepackten Oberkörper freilegte. ‚Jetzt reiß dich aber mal zusammen!’, schalt sie sich innerlich und schüttelte heftig den Kopf, um das Kopfkino loszuwerden. Nichtsdestotrotz wurde sie in dieser Nacht von einigen verstörenden Träumen heimgesucht, die einen sehr leicht bekleideten Shuu beinhalteten. Am nächsten Morgen beschloss sie, tatsächlich ihren Bikini unter ihre Trainingskleidung zu ziehen, um sich nach ihrer Joggingrunde sofort ins kühle Nass stürzen zu können. Zwar kam sie auch diesmal rasch aus der Puste, doch statt aufzugeben, legte sie einfach eine kleine Gehpause ein und rannte weiter, sobald sie sich ihre Atmung beruhigt hatte. Dann begab sie sich an den Strand, legte ihre verschwitze Kleidung ab, die sie von Schillok mit Blubbstrahl waschen ließ und zum Trocknen in die Sonne hängte, und sprang in die Fluten, das Schildkrötenpokémon hinterher. So verbrachte sie mehrere Tage, doch Shuu traf sie nicht. Erst nach einer Woche sollten sich die beiden wieder über den Weg laufen. Haruka drehte gerade wieder ihre Runde durch den Blütenburgwald, als sie hörte, wie sich von hinten Schritte näherten und schnell auf sie zukamen. Normalerweise joggte sie mit Musik, doch sie hatte vergessen, den Akku ihres Walkman aufzuladen, und so musste sie sich an diesem Tag mit Denken ablenken. Wenigstens waren ihr aber so die herannahenden Schritte aufgefallen, und sie erschrak nicht, als sie plötzlich von hinten angesprochen wurde. „Eins muss man dir lassen, hartnäckig bist du ja.“ Natürlich war das Shuu, der sich auch diesmal seine spöttischen Bemerkungen nicht verkneifen konnte. „Du aber auch, schließlich verfolgst du mich schon wieder“, gab Haruka zurück. „Ich verfolge dich nicht, ich treibe Sport. Und wie nennst du das, was du da tust?“ „Ich bin auf der Suche nach Außerirdischen, und ich glaube, ich habe soeben einen gefunden.“ Haruka deutete auf Shuus grüne Haarpracht. „Sehr witzig“, kommentierte dieser und schnippte sich wie aufs Stichwort eine Haarsträhne aus der Stirn. „Wie auch immer, ich muss weiter. Man sieht sich.“ Da hatte sie die ganze Woche gehofft, ihn wieder zu treffen, und kaum war es tatsächlich so weit, und schon war er wieder verschwunden. Aber was hatte sie auch erwartet? Doch sie sollte Glück haben, und in der darauffolgenden Woche liefen sie sich fast täglich über den Weg und lieferten sich jedes Mal einen kurzen Schlagabtausch. Als sie ihn jedoch erneut fragte, was er denn eigentlich in Blütenburg täte, schwieg er bloß und überreichte ihr eine Rose. „Immer noch langsam, wie ich sehe.“ Shuu holte auf und glich dann sein Tempo dem ihren an, sodass sie auf einer Höhe nebeneinander her joggten. „Immer noch eingebildet, wie ich sehe“, konterte Haruka. Shuu warf ihr einen Seitenblick zu. „Seit wann bist du denn so schlagfertig? Oder hast du das auch trainiert?“ „Ich hoffe, du hast deine Pokémon trainiert, denn ich fordere dich zum Kampf heraus!“ Der grünhaarige junge Mann grinste. „Da bin ich ja mal gespannt.“ Sie suchten sich einen breiten Streifen des nahe gelegenen Strandes und riefen jeweils ihr Pokémon aus dem Ball. Shuus elegantes Roserade und Harukas imposantes Bisaflor erschienen auf der Bildfläche und gingen sofort in Wettbewerbspose. „Ladies first“, meinte Shuu und schnippte sich wieder einmal seine störende Ponysträhne aus dem Gesicht. Haruka grinste. „Wie du meinst. Bisaflor, Erdbeben!“ „Roserade, spring hoch! Und jetzt Spukball!“, befahl Shuu. Der Spukball traf Bisaflor, das durch seine Größe einiges an seiner Wendigkeit als Bisasam eingebüßt hatte. Doch Haruka ließ sich nicht aus der Ruhe bringen. „Die Kraft holen wir uns wieder. Bisaflor, Gigasauger!“ Die beiden kämpften mit voller Konzentration, sodass ihnen zuerst gar nicht auffiel, dass der Himmel immer dunkler wurde, und erst als ein Regenschauer über die hereinbrach, riefen sie ihre Pokémon zurück und suchten irgendwo einen Unterschlupf. „Das kam aber ganz schön plötzlich“, stellte Haruka fest, als sie endlich Unterschlupf unter einem kleinen Felsvorsprung gefunden hatten. „Das haben Sommergewitter so an sich“, spottete Shuu. Seine unfreiwillige Leidensgenossin zog ein genervtes Gesicht. „Jedenfalls sind wir jetzt ziemlich nass, und ich habe keine Lust, so bald noch mal da rauszugehen.“ „Wieso nicht? Wie du ausnahmsweise mal richtig erkannt hast, sind wir sowieso schon völlig durchnässt.“ Ruckartig stieß sich das Mädchen von der Felswand ab, die ihr bis eben noch als Lehne gedient hatte, und baute sich vor Shuu auf. „Ich hab so die Nase voll davon, dass du immer noch mit deinen blöden Sprüchen auf mir rumhackst! Mal bist du nett, und dann wieder ein totaler Kotzbrocken. Mir reicht’s!“ Mit diesen Worten verließ sie den schützenden Vorsprung und stapfte hinaus in den strömenden Regen. „Haruka! Haruka, jetzt warte doch mal.“ Shuu war ihr gefolgt und hielt sie nun am Handgelenk fest. Sie hätte ihn ganz leicht abschütteln können, doch irgendetwas hielt sie davon ab. „Was?“, knurrte sie stattdessen. Immer noch hielt er ihre Hand fest. „Wie anders die Welt aussieht, wenn es regnet, oder? Obwohl so ein Sommerregen ganz warm ist und sogar irgendwie angenehm, haben sich alle Menschen in ihre Häuser geflüchtet. Der Regen dämpft auch alle Geräusche, sodass man sich fast vorkommen könnte, als wäre man allein auf der Welt, oder?“ Haruka schwieg, immer noch beleidigt, und auch etwas verwirrt über Shuus plötzlichen poetischen Anfall. „Aber wenn der Regen aufhört, dann wird bald wieder alles ganz geschäftig. Die Luft ist nach einem Gewitter immer unglaublich klar, findest du nicht?“ Als er immer noch keine Antwort bekam, fuhr Shuu fort: „Findest du nicht, dass unsere Streits irgendwie genauso sind? Wenn sie vorbei sind, sieht man plötzlich alles unglaublich deutlich.“ Er drückte ihre Hand etwas fester. Haruka wandte sich endlich zu ihm, sodass sie ihm ins Gesicht sehen konnte. „Mir ist gerade alles ganz klar geworden.“ Sie lächelte. Der Regen prasselte unaufhörlich auf die beiden hinab, doch das störte sie nicht. Sie merkten nicht einmal, wie es langsam aufklarte. Erst als der Regen sich vollständig verzogen hatte und nur noch ein Regenbogen über ihnen schwebte, lösten sie sich voneinander. „So ein kleines Gewitter hat doch durchaus seine Vorteile, oder?“, meinte Shuu grinsend, als er Haruka eine nasse Haarsträhne aus dem Gesicht strich. „Da hast du Recht“, erwiderte diese und gab ihm noch einen kleinen Kuss auf die Wange. „Und genau deshalb liebe ich den Sommer.“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)