Kryptonit von Ur (Jeder Held hat eine Schwäche) ================================================================================ Kapitel 9: Wahrheit ------------------- Und wieder einmal eine Nachtschicht. Diesmal ist es etwas kürzer und wieder aus Anjos Sicht. Das nächste Kapitel ist dann wieder aus Christians Sicht erzählt :) Ich habe ein bisschen rumgeplant und gegrübelt und bin zu dem Ergebnis gekommen, dass Kryptonit wohl noch an die 15 und maximal 18 Kapitel bekommen wird. Ne ganze Menge ist das. Ich wünsche euch eine gute Nacht und viel Spaß beim Lesen! Liebe Grüße! PS: Für Myrin und Lisa, die immer so fleißig korrigieren :) ________________________ Wer schon einmal mit einem Gott in einem Duschraum stand, der kann jetzt nachvollziehen, wie ich mich fühle. Wie ein Stück Gemüse in heißem Wasser. Oder eher noch schlimmer. Christian steht unter der Dusche neben mir und ich muss immer wieder zu ihm hinüber sehen. Das Wasser zeichnet seine Muskeln nach und wenn er sein Gesicht mit geschlossenen Augen dem Strahl entgegenhält, dann wird mir ganz schwach zumute. Ich darf ihn nicht so anstarren… aber ich muss. Er ist wirklich viel zu schön, um hier einfach so nackt neben mir zu duschen. Und natürlich, es wäre viel zu gnädig, wenn ich ihn einfach nur ansehen könnte, ohne dass etwas passiert. Ich hätte einfach nicht zu sehr darauf achten sollen, wie Christians Hände über die nackte Haut fahren und Duschgel darauf verteilen. Denn prompt meldet sich mein Schritt und ich merke gleichzeitig, wie ich knallrot anlaufe. Nicht doch, nicht doch, nicht doch! Ich wende mich ab, schalte hastig das Wasser aus und sehe mich panisch nach einem Handtuch um. »Handtücher liegen hinten auf dem Regal«, kommt es prompt von Christian und ich drehe mich um, sehe die Handtücher und haste zum Regal hinüber. Eins der weichen, flauschigen Handtücher wird um die Hüfte gewickelt. Hilft nur mäßig. Ich möchte sterben. Wieso müssen mir immer diese peinlichen Dinge passieren? Ich höre, wie Christian das Wasser ausstellt und zu mir herüber kommt. Bitte, lass den Boden aufgehen und mich darin versinken. »Du hast da Schaum«, sagt Christian und fährt mir mit zwei Fingern über eine Stelle am Hals. Ich explodiere gleich. Meine Haut kribbelt an der Stelle, an der seine Finger mich berührt haben. Ziemlich unanständige Gedanken drängen sich in den Vordergrund und ich stolpere zwei Schritte rückwärts und… rutsche auf dem nassen Boden aus. Ich sehe mich schon mit dem Kopf auf die Fliesen krachen, das Handtuch davonfliegen und Christian freien Ausblick auf mein Malheur haben… aber stattdessen packt Christian mich geistesgegenwärtig und seine Arme schlingen sich um meinen Oberkörper, bevor ich falle. »Du bist ein ziemlicher Tollpatsch«, sagt er und sieht mich besorgt an. »Alles ok?« Christian ist nackt. Und ich habe nur ein Handtuch um die Hüften. Seine Haut auf meiner löst ein heftiges Brennen und Kribbeln aus. Ich nicke hastig und rappele mich auf, damit ich nicht mehr wie ein Mehlsack in Christians Armen hänge – die nebenbei bemerkt ziemlich toll aussehen, wenn er die Muskeln anspannt. »Ja, ich weiß… danke«, krächze ich und drehe mich um, damit Christian nicht doch noch freie Sicht auf meinen Schritt bekommt. »Ich geh mich mal anziehen«, murmele ich und gehe besonders behutsam in Richtung Umkleide. Nach zwei Minuten hat sich mein Problem endlich in Luft aufgelöst, aber mein Herz hämmert immer noch wie verrückt, weil ich beinahe hingeflogen wäre und Christian fast… diese Peinlichkeit gesehen hat. Als er zu mir in die Umkleide kommt, bin ich bereits angezogen und sitze völlig fertig auf einer der Bänke. Christian schmunzelt. »War’s so anstrengend?«, erkundigt er sich und ich sehe zu, wie er sich das Handtuch von der Hüfte zieht und nach seiner Boxershorts greift. »Wenn man sonst nie Sport macht«, gebe ich zurück. Und jetzt bei der Hitze draußen zu Fuß nach Hause. Ich hab keine Ahnung, ob ich nicht auf halber Strecke an einem Herzinfarkt sterbe. Ich sehe Christian dabei zu, wie er sich anzieht. Seine Haare sind immer noch nass und sehen ganz wirr aus. Die rote Stelle unter seinem Auge tut mir wirklich Leid. Ich bin einfach viel zu tollpatschig. Felix wäre das sicherlich nicht passiert… aber was fange ich auch an, mich mit Felix zu vergleichen? Das ist absolut hoffnungslos. »Du… Christian?«, frage ich schließlich, während er nach den Schlüsseln zur Halle kramt. Seine Hose ist immer noch nass, weil er vorhin mit ihr unter die Dusche gestiegen ist. »Hm?« Er sieht mich fragend an und mein Herz schlägt schon wieder viel zu schnell. Ich werde frühzeitig an einem Herzstillstand sterben. Selbst um verliebt zu sein bin ich zu zart besaitet. »Wie kommt es eigentlich, dass du so gut Bescheid weißt… über Kerle wie Benni?« Der Gedanke kam mir schon vorher. Selbst wenn er Typen wie Benni trainiert, dann ist doch nicht wirklich jeder von denen schwul und hat ein Problem mit sich selbst. Christian sieht mich schweigend an und ich bekomme ein flaues Gefühl im Magen. »Ich glaube nicht, dass du das wirklich wissen willst«, sagt er schließlich sehr leise und geht hinüber zur Tür. »Doch, will ich. Sonst hätte ich nicht gefragt«, sage ich und bin bemüht, meine Stimme laut und fest klingen zu lassen. Christian bleibt an der Tür stehen und wirft den Schlüssel in die Luft. Es klirrt, als er ihn wieder auffängt. Dann dreht er sich wieder zu mir um und kommt zu mir hinüber, um sich neben mich auf die Bank zu setzen. »Also schön«, sagt er und lehnt den Kopf hinten an die Wand. Ich starre ihn gebannt von der Seite an. »Sein Name war Jakob. Und er war wie du.« Mein Herz rutscht mir irgendwo in die Kniekehlengegend und ich halte sogar einen Moment lang den Atem an. Ich habe danach gefragt und ich muss mir das jetzt anhören. Auch wenn es vielleicht meine bedeutungslose Welt ins Wanken bringen wird. »Ich war fünfzehn, ich war beliebt und ich habe mich immer darum bemüht, cool zu sein. Darum, dass alle mich gut finden. Ich hab Markenklamotten getragen, Fußball geschaut und mit Mädchen geflirtet. Jakob war still, er war nett. Er hat Cello gespielt. Seine Klamotten waren meistens ausgeleiert, er hat jeden die Hausaufgaben abschreiben lassen, der danach gefragt hat…« Christians Stimme klingt ernst und es hört sich so an, als würde er sich vor seinen eigenen Worten ekeln. Ich habe ihm nun mein Gesicht zugewandt und beobachte seine Mimik. Christian hat den Kopf immer noch nach hinten gelegt und schließt nun die Augen. »Ich bin immer gut mit ihm ausgekommen. Wir hatten zusammen Mathe und Englisch, wir hatten fast denselben Schulweg und haben viel geredet. Bei ihm musste ich nie cool tun, ich musste ihn nie beeindrucken. Wenn er mich angelächelt hat, dann hatte ich gute Laune. Es hat ihn nie gestört, dass ich ihn in der Schule weniger beachtet habe, als es in Ordnung gewesen wäre. Ich musste schließlich ein Image wahren…« Bilder schieben sich vor mein inneres Auge. Ein junger Christian mit Cap und Baggy- Jeans, der Witze auf Kosten anderer reißt und sich im Glanz des Gelächters sonnt. Benni macht das auch manchmal. Und ich habe eine dumpfe Ahnung, wohin diese Geschichte führen wird. Mir wird noch mulmiger. »Dann sind wir auf Klassenfahrt gefahren. Ich weiß noch genau, dass es der dritte Tag in der Herberge war, als ich mich abends mit ihm unterhalten habe. Wir saßen draußen vor der Tür auf dem Rasen. Ich weiß noch haargenau, wie es dort ausgesehen hat und dass es nach Flieder gerochen hat. Und dann hat Jakob mir erzählt, dass er nicht auf Mädchen steht. Und dass er unsicher deswegen ist und dass er das noch nie jemandem erzählt hätte. Ich war der Erste und der Einzige, dem er es gesagt hat. Und in dem Moment ist mir klar geworden, dass es mir genauso geht. Dass sein Lächeln mir gute Laune macht, weil ich ihn nicht nur wie einen guten Freund mochte. Und von diesem Abend an hab ich alles falsch gemacht.« Ich würde am liebsten die Augen schließen und die Arme über mein Gesicht legen. Aber stattdessen sehe ich Christian weiter an. Sein Gesicht sieht aus, als würde er sich an die schlimmste Zeit seines Lebens erinnern. »Ich war ein angepisster, schwuler Fünfzehnjähriger mit drei jüngeren Geschwistern, die alle mehr Aufmerksamkeit bekommen haben als ich. Ich hab in einer Krise gesteckt, weil ich feststellen musste, dass ich auf Männer stehe und nicht normal und cool war – zumindest nicht nach jugendlichen, pubertären Maßstäben. Und Jakob war Schuld an allem. Das hab ich mir eingeredet. Er war Schuld, dass ich plötzlich schwul war und dass ich mich selbst nicht mehr leiden konnte. Also musste er darunter leiden. Ich hab ihm das Leben so schwer gemacht und ich hab jedes Mal in seinen Augen die Frage gesehen, was er denn eigentlich falsch gemacht hätte. Nichts. Er hatte nichts falsch gemacht. Er war einfach nur viel stärker als ich und konnte sich damit abfinden, schwul zu sein. Ich konnte das nicht.« Es fällt mir schwer mir vorzustellen, dass Christian nicht immer so war wie heute. So offen, tolerant und hilfsbereit. Dass er nicht immer so stark war und nicht immer so zu sich gestanden hat wie jetzt. Er öffnet die Augen und sieht mich nun direkt an. Ein Schauer läuft über meinen Rücken. »Es war am letzten Schultag vor den Sommerferien, als wir ihn zu viert verprügelt haben, bis er nicht mehr aufstehen konnte. Er hat geweint und geblutet und lag einfach nur auf dem Boden, eingerollt zu einer Kugel. Ich hab ihn nach diesem Tag nie wieder gesehen. Er kam nicht mehr zur Schule, nach den Sommerferien war er verschwunden. Wir haben ihn krankenhausreif geprügelt. Ich bekam eine Anzeige für Körperverletzung und hab meine Sozialstunden abgeleistet. Ich war an diesem Tag… als wir ihn zusammengeschlagen haben… so wütend auf ihn. Weil meine Gefühle einfach nicht verschwinden wollten. Ich dachte mir, wenn er nur einfach verschwinden könnte, dann würde es wieder in Ordnung sein. Als wäre irgendetwas nicht in Ordnung gewesen…« Christians Stimme klingt verbittert und seine Augen funkeln angewidert. Ich kann es ihm ansehen, wie sehr er sich selbst dafür verabscheut, was er getan hat. »Mein schlechtes Gewissen wollte nicht verschwinden. Ich hab Alkohol getrunken, mich ständig geprügelt, hab mit Mädchen rumgemacht… bis meine Eltern dem einen Riegel vorgeschoben haben. Sie haben mich zum Schulpsychologen geschickt und der hat angeordnet, ich sollte Antiaggressionstraining machen. So kam ich zum Kickboxen. Es hat über ein Jahr gedauert, bis ich endlich aufgehört habe, mir einzureden, dass ich hetero sei. Und als es endlich so weit war, hab ich Jakob einen Brief geschrieben. Aber er hat nie geantwortet. Ich hab viele Briefe an seine Adresse geschickt. Ich hab nach dem Abi sogar seine neue Adresse rausfinden können. Aber auch auf diese Briefe hat er nie geantwortet. Ich kann’s ihm nicht verübeln. Ich hätte mir wahrscheinlich auch nicht geantwortet…« Schweigen kehrt ein, als Christian sich wieder abwendet und seine Fingerknöchel betrachtet, die weiß sind, weil er den Schlüssel offenbar so fest mit den Fingern umschließt. Ich schlucke schwer und spüre, wie ich unweigerlich den Arm hebe… und dann lege ich meine Hand ganz vorsichtig auf Christians angespannte Hand. Er blinzelt ein wenig verwundert und sieht mich an. Seine braunen Augen sehen fragend aus. »Wenn du weißt, wo er wohnt, dann solltest du hingehen und dich persönlich bei ihm entschuldigen«, sage ich und meine Finger kribbeln heftig angesichts der Berührung mit Christians Haut. Also ziehe ich sie hastig zurück. Meine Stimme klingt ganz kratzig. Christian sieht einen Moment erneut auf seine Finger hinunter, als würde er dort etwas suchen. Dann blickt er erneut auf. »Ich weiß nicht, ob…« Er bricht ab und atmet tief durch. »Ausreden helfen ja nichts… Ich hab viel zu viel Schiss, um bei ihm vor der Tür aufzutauchen«, meint er. Dass Christian mal vor etwas Angst hat, hört sich merkwürdig ab. Aber irgendwie ist es auch schön. Schön, dass auch der Held eine Schwäche hat. »Ich würde wollen, dass… dass derjenige sich bei mir entschuldigt, wenn es ihm wirklich Leid tut. Und dir tut es doch Leid. Wenn Jakob so war… oder ist… wie ich… dann wollte er sicher auch immer, dass du dich persönlich bei ihm entschuldigst«, sage ich und meine Stimme klingt selbst für meine eigenen Ohren ungewöhnlich entschlossen. Christian sieht mich an und ich möchte in diesen braunen Augen untergehen. »Du bist der Zweite, dem ich das erzähle und der Erste, der mir das rät«, sagt Christian dann nachdenklich. »Wer weiß es denn noch?«, frage ich und in Gedanken bin ich sofort bei Felix… »Sina. Sonst niemand.« Mein Herz überschlägt sich mit einem Mal. Felix weiß es nicht. Ich weiß es aber. Er hat es mir erzählt! »Du hast mir so oft geholfen… dann möchte ich dir jetzt auch mal helfen«, sage ich mit trockenem Mund und Christian lächelt mich an. »Danke«, sagt er. Und dann umarmt er mich. Einfach so. Mein Herz fliegt ihm in die Arme. Was auch immer Christian getan haben mag, jetzt und hier in dieser viel zu warmen Umkleide umarmt er mich und ich atme den Duft seines Duschgels ein und möchte in seinen Armen schmelzen. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)