Der Skeptiker von Arle ================================================================================ Kapitel 1: ----------- Er war ihm gefolgt. So lange er denken, sich zurückerinnern konnte, war er ihm gefolgt. Der Skeptiker, der Namenlose. Wie ein Schatten. War ihm niemals nahe gekommen, hatte stets jede direkte Konfrontation gemieden. Und doch spürte er, seit er fähig war sein Gedächtnis zu gebrauchen und sich jede einzelne Begebenheit in dasselbe zu rufen, seinen Atem im Nacken. Er folgte ihm, war ihm immer gefolgt und hatte stets alles was er tat in Zweifel gezogen. Was auch immer es war, worum auch immer es ging und ganz gleich wo er sich aufhielt. Es gab kein Entkommen. Wo immer er war, ER war bei ihm. Und zuweilen schien es ihm, als sei er der einzige Teil seines Lebens – etwas wozu er selbst sich gemacht hatte – der Bestand hatte, der sich niemals änderte. Und das Einzige was er, der Skeptiker, nicht in Zweifel zog. Anfangs hatte er Angst gehabt, ihn gefürchtet wie den Tod persönlich. Manchmal trieb er ihn schier in den Wahnsinn. Er hatte ihm unzählige schlaflose Nächte bereitet, ihn wieder und wieder an seine Grenzen und nicht selten darüber hinaus gebracht. Er hatte ihm eine Neurose eingebracht, die er jedoch überwunden hatte. Und er hatte ihm die größten Erfolge seines Lebens beschert. Eines Lebens, das, wie er gelegentlich zutiefst erschrocken feststellte, bereits unwiderruflich mit ihm verknüpft war. Gelegentlich erhaschte er einen Blick auf den Skeptiker. Bei einem Dinner, einer Party, einer Geschäftsreise oder dergleichen. Manchmal auch einfach inmitten des Stadtbildes. Doch konnte er sich nie an sein Gesicht erinnern. Er erkannte ihn, wenn er ihn sah, doch hätte man ihn danach gefragt, er hätte ihn um nichts in der Welt beschreiben können. Der Skeptiker besaß kein Gesicht. Er war eine Stimme. Eine leise, bald schmeichelnde bald bedrohliche Stimme in seinem Kopf, von der auch er schon geglaubt hatte, dass sie nichts als Einbildung, der Skeptiker selbst nichts als ein Phantom, ein Trugbild seiner Phantasie, seiner gereizten Nerven war. Doch der Skeptiker war kein Phantom. Er war real. Ein Mensch aus Fleisch und Blut, ein Mann, der ihm folgte wie ein Schatten. Sie telefonierten. Und man telefonierte nicht mit einem Trugbild. Es war abends, nachts. Er stand in seiner realen Wohnung und hielt einen realen Hörer in der Hand. Meist sprach nur einer von ihnen. Entweder er oder der Skeptiker. Und dieser Jemand sprach dann sehr lange. Der Skeptiker musste nicht mehr fragen. Er erzählte es von sich aus. Es war wie ein Ritual. Er redete und redete und dann war es lange still in der Leitung. Gelegentlich drangen leise Hintergrundgeräusche an sein Ohr, die etwas über den Aufenthaltsort des Schattenmannes verrieten. Und dann sprach der Skeptiker. Wenn ihn etwas interessierte fragte er nach, wenn nicht überging er es einfach, auch wenn es ihm selbst ausgesprochen wichtig erschien. Und wenn der Skeptiker das tat, dann konnte das nur zwei Dinge bedeuten. Entweder war die Angelegenheit bei Weitem nicht so bedeutsam wie er geglaubt hatte, oder er ging davon aus, dass er bereits die beste Lösung dafür kannte. Der Skeptiker hatte eine schöne Stimme. Angenehm, ruhig und sehr tief. Manchmal, wenn er verschwörerisch über eine Sache rationalisierte – dieser Begriff schien ihm wie gemacht für den Skeptiker – war sie so tief, dass er sie mehr zu spüren als zu hören glaubte. Er schauderte. Wann immer er das tat, ergriff eisige Kälte Besitz von seinem Körper und zugleich begann in ihm das Feuer des Ehrgeizes zu lodern. Der Skeptiker spottete recht gern, doch im Laufe der Zeit hatte er feststellen müssen, dass er es nur dann tat, wenn er es auch verdient hatte. Wenn er vorschnell und unüberlegt gehandelt oder eine kindlich-naive Entscheidung gefällt hatte. Dann spottete der Skeptiker, flüsterte ihm mit schmeichelnder Stimme all das zu, was er tief in seinem Inneren doch immer schon wusste. Der Skeptiker war ehrlich, gnadenlos ehrlich, aber niemals bösartig. Was er tat war schlicht das: Er sagte die Wahrheit. Ob es ihm nun gefiel oder nicht. Und egal wie schmerzlich sie auch war. Aber er tröstete auch, der Skeptiker. Ließ nicht zu, dass er den Mut gänzlich verlor, sich und alles andere aufgab. Ja, der Skeptiker konnte ausgesprochen fürsorglich sein. Aber er war kritisch. Immer kritisch. Ganz egal worum es ging. Gleichgültig welche Meinung er vertrat. Immer hatte er irgendwelche Bedenken, Einwände, irgendetwas auszusetzen. Und niemals ließ er eine einfache, schnelle Lösung zu. Früher einmal, zu Beginn dieses nervenzerfetzenden Spiels, hatte er versucht vor ihm zu fliehen. Damals, als es begonnen hatte, er es zum ersten Mal spürte – das Gefühl verfolgt zu werden. Ein aufmerksamer Blick, den er nicht zuzuordnen vermochte, gar für Einbildung hielt und der immerzu auf ihn gerichtet war. Dann kamen die Anrufe. Eine Stimme, eine männliche Stimme in der Leitung. Anfangs hatte er sich nichts dabei gedacht, dann hatte er es für einen schlechten Scherz gehalten und schließlich hatten sie ihm solche Angst gemacht, dass er sich eine neue Telefonnummer hatte geben lassen. Das war nachdem er schon seit Wochen keine Anrufe mehr entgegengenommen und, um dem unheilvollen Läuten zu entgehen, zeitweise sogar den Stecker gezogen hatte. Ein Handy besaß er zu dieser Zeit noch nicht. Doch es hatte nichts genützt. Kaum 48 Stunden später klang ihm die Stimme erneut aus dem Hörer entgegen. Zwei Mal hatte er das gemacht, war sogar so weit gegangen sich eine neue Wohnung zu suchen. Drei Mal hatte er das getan, doch kaum, dass alles neu installiert und eingerichtet war, klingelte, manchmal noch am selben Abend, das Telefon. Er war damals am Rande eines Nervenzusammenbruchs gewesen – und schrecklich wütend. Noch nie in seinem Leben war er so wütend gewesen. „Wenn Sie nicht endlich damit aufhören, rufe ich die Polizei!“ Wären sie sich damals schon so vertraut fremd gewesen, der Skeptiker hätte verhalten gelacht, nein eher nur gelächelt und hätte sich, mit einem Anflug von Spott in der Stimme, erkundigt, weshalb ihm das denn erst jetzt eingefallen wäre. Jetzt, da er schon so viel unnötigen Aufwand betrieben hatte um ihn loszuwerden. Aber damals kannten sie sich noch nicht und so konnte oder wollte es der Skeptiker offenbar nicht riskieren, dass der Kontakt abbrach. Damals hatte er sich seiner noch nicht sicher sein können. Das war heute anders. Auch damals hatte jemand gelacht. Aber es war nicht der Skeptiker gewesen. Das hätte er erkannt. Nur ein unangenehm lautes Lachen im Hintergrund, das ihn verschreckte. Und der Skeptiker hatte es gewusst. Mit sanfter Stimme hatte er ihn beruhigt. „Kein Grund zu weinen“, hatte er gesagt und erst da hatte er bemerkt, dass ihm Tränen über die Wangen liefen. Er hatte das Schlagen einer Tür vernommen, dann war es still in der Leitung gewesen. Aber er war noch da. Er konnte ihn fühlen. Den Atem des Mannes, der ihn so sehr quälte. Wie lange hatte er gesprochen? Wie lange hatte er den Hörer gegen sein Ohr gepresst und ihm all diese Dinge erzählt? Der Skeptiker hatte geschwiegen. Nicht ein einziges Wort war über seine Lippen gekommen. Und dann, als er nach schier endlos langer Zeit völlig entkräftet innehielt, hatte er ihm diese magischen Worte gesagt. „Ich bin bei dir. Ich werde immer da sein.“ Dann war die Leitung tot. Tief in Gedanken versunken eilte er durch die nächtlichen Straßen. Die Straßenlaternen warfen ihr mattes Licht auf das Kopfsteinpflaster. In winzigen Tropfen fiel der Regen zur Erde. Stürzte sich aus der Schwerelosigkeit der Wolken hinab in die schmutzigen Städte der Menschen, als wollte er sie reinwaschen. Frei von all dem Schmutz der sie erstickte, frei von all ihren Sünden. Wie Vieles hatte, seit der Skeptiker gewaltsam in sein Leben getreten war, an Bedeutung verloren. War ganz und gar unnütz geworden. Manchmal glaubte er durch Nebel zu wandern, obwohl sein Blick klarer geworden war. Er wusste jetzt was zu tun war, fand seinen Weg sicher und weniger taumelnd. Doch die Hände, die sich sanft über seine Augen gelegt hatten waren nicht verschwunden. Sie waren immernoch da. Zeit spielte keine Rolle mehr. Der Skeptiker hatte keine Zeit, er war allgegenwärtig. Er war bei ihm, ganz gleich was er tat. Er war zur festen, vielleicht einzigen Konstante seines Lebens geworden. Es gab kein Leben ohne den Skeptiker. Als er unter den Brückenbogen trat, fühlte er sich an die Szene aus einem Film erinnert. Es war spät, die Straßen menschenleer. Doch als er den Kopf hob, bemerkte er eine Gestalt am anderen Ende. Inmitten des Regens, der immer heftiger wurde, stand der Skeptiker. Genau an der Grenze zwischen dem schwachen Licht der Straßenlampen und der undurchdringlichen Schwärze der Nacht. Sein langer schwarzer Mantel verschmolz mit der Finsternis. Und doch sah er die schlanke, hochgewachsene Gestalt ganz deutlich vor sich. Seine Augen lagen im Schatten, in der Dunkelheit der Nacht wirkte die Blässe seiner Züge unwirklich. Unbeweglich, als kümmerten ihn Regen und Kälte nicht, stand er da und sah in seine Richtung. Nie hätten seine Augen allein ihn erkennen können. Nicht in dieser Finsternis. Und doch wusste er es. Tief in seinem Inneren geriet etwas in Aufruhr, reagierte etwas auf ihn. Er wusste nicht was es war, aber anders als seine Augen konnte es durch niemanden getäuscht werden. Er hätte ihn niemals verwechselt. Wortlos sahen sie einander an. Gleich. Gleich würde er sich abwenden. Würde er ihm den Rücken zukehren und verschwinden. So wie er es immer tat. Und er? Er würde allein zurückbleiben. Sein Leben leben und auf ein Zeichen, auf einen Anruf des Skeptikers warten. Er hörte seine eigenen Schritte auf dem Pflaster, dann hatte er den Anderen erreicht und klammerte sich an ihn. Presste seinen zitternden Leib, in dessen Inneren sich eine nie gekannte Hitze ausbreitete, an den Fremden. Der Skeptiker rührte sich nicht. Nur seine Blicke folgten ihm. Er sah es nicht. Er spürte es. Das Gesicht in den Falten seiner Kleidung vergraben, die Augen geschlossen, fühlte er die Nähe des Mannes wie nie zuvor. „Wie kannst du es wagen?“ Seine Stimme bebte und als er aufsah erkannte er zum ersten Mal so etwas wie Verwirrung auf dem Gesicht des Skeptikers. „Wie kannst du es wagen, außerhalb meines Körpers zu sein?“ Er küsste ihn. Und als ihre Lippen sich berührten, hatte er das Gefühl als stünde sein Körper in Flammen. Begierig darauf sich mit dem zu verbinden, was immer schon ein Teil von ihm gewesen war. Er kannte den Ort nicht an den der Schattenmann ihn führte. Lebte er dort? War dies das Heim des Skeptikers? Er würde sich nicht erinnern. Er wusste er würde es nicht wiedererkennen, so wenig wie er sich das Gesicht des Skeptikers in sein Gedächtnis rufen konnte. Deshalb sah er sich nicht um. Deshalb fragte er nicht. Deshalb und weil es keinerlei Bedeutung hatte. Der Ort spielte keine Rolle. So wenig wie es die Zeit getan hatte. Der Skeptiker war ein Denker. In allem was er sagte, dachte und tat ganz und gar rational. Er berechnete und arbeitet so präzise wie ein Uhrwerk. In jeder Sekunde herrschte dieser Mensch über ihn, lag alles was geschah und noch geschehen würde in seiner Hand. Exakt, mit einer Genauigkeit, die nichts, absolut nichts dem Zufall überließ. Und doch war er selbst so unkalkulierbar. Niemand dachte wie der Skeptiker. Aber der Skeptiker dachte wie alle anderen. Weil er es konnte. Weil er es wusste. Und niemand wusste woher. Und obwohl es so war, obwohl er ihn nicht verstand, obwohl der Skeptiker weit mehr einer Maschine glich, als dass er menschliches an sich hatte, war es das Wunderbarste, das er jemals gefühlt hatte. Als er ins Freie trat war der Himmel von tiefem, wolkenlosem Schwarz. Noch immer warfen die Straßenlaternen ihr trübes Licht auf die Pflastersteine. Er sog die klare, kalte Nachtluft ein und genoss den Augenblick. Er fühlte sich ganz und gar ausgefüllt, als ob ein lange verloren geglaubter Teil seines Selbstes zu ihm zurückgekehrt wäre. Sie waren eins geworden, er und der Skeptiker. Diese Stimme, die ihn all die Jahre verfolgt hatte, klang nun in seinem Inneren. Sie hatten sich gehen lassen – und der Skeptiker hatte IHN gehen lassen. Er hatte ihn freigegeben. All die Jahre war er bei ihm gewesen, hatte ihn verfolgt, hatte jeden seiner Schritte gekannt und bewertet. Langsam ließ er die Luft wieder ausströmen. Es war vorbei. Diese Zeit war vorüber. Er hatte diesen Mann, diesen ewig kritischen Begleiter gebraucht und deshalb war er bei ihm gewesen. Nun nicht mehr. Er selbst war nun die kritische Instanz. Er war nicht mehr von ihm abhängig. Nun, da er ein Teil von ihm geworden war, brauchte er den Skeptiker nicht mehr. Er sah ihm nach wie er in der Nacht verschwand. Wäre Mitleid Teil seiner Natur gewesen, er hätte es für ihn empfunden. All die Jahre...und so wenig Selbsterkenntnis. Der Skeptiker lächelte, auch wenn es niemand sah. Auch wenn er es jetzt noch nicht wusste, ja nicht einmal ahnte – er würde es sehr bald verstehen. Dass er niemals ohne ihn würde leben können. Und wenn der anfängliche Freudentaumel erst einmal verflogen war, würde er begreifen, dass sich nichts geändert hatte. Nichts, außer der Art seiner Abhängigkeit. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)