Beauty of the Dark von Jemima (Carlisle x Esme) ================================================================================ Kapitel 1: O N E ---------------- Seit der Jahrhundertwende hatte die Medizin bis zum Jahr 1911 allerhand Fortschritte gemacht und einige Forschungen versprachen lang ersehnte Früchte zu tragen. Doch während sich die Mediziner an den Fakultäten schon gebührend auf die Schulter klopften, fehlte den Ärzten in den Krankenhäusern und Praxen oftmals nur eine helfende Hand, die dort mit anpackte, wo Hilfe notwendig war. Krankheit und Elend waren in diesen Tagen nicht weniger geworden. Der Korridor, der einige Behandlungsräume miteinander verband, wirkte wie eine Verbindungsstraße auf einem der Märkte in Columbus. Das Pflegepersonal lief an den Patienten vorbei, ohne einem von ihnen besonders viel Beachtung zu schenken. Einer dieser Menschen, die darauf warteten, dass ihr Name von einer Krankenschwester aufgerufen wurde, war Esme Platt. Der jugendliche Leichtsinn war ihr zum Verhängnis geworden, als sie sich selbst beweisen musste, dass sie noch immer wie in frühster Jugend den Apfelbaum erklimmen konnte. Leichtfüßig war Esme den schmalen Grad zwischen Dummheit und Leichtsinn entlang gewandert, bis sie schließlich daneben getreten hatte. Das Knacken des Astes war ein so feines Geräusch gewesen, dass sie es neben dem Rascheln der Blätter nicht hatte hören können. Doch in diesem Moment war es das Vorzeichen für etwas Unvermeidliches gewesen. Der Untergrund, auf dem sie stand, gab unter ihren Füßen nach und ihre Finger streiften den Ast über ihr nur noch mit den Fingerkuppen, als sie hinab fiel. Der Schock war noch nicht ganz gewichen, als eine Angestellte ihrer Eltern schon nach ihrem Vater rief. Er war aufgebracht und tadelte ihr Verhalten, doch Esme sah die Sorge, die sich sofort auf seine Gesichtszüge schlich. Den stechenden Schmerz in ihrem Bein registrierte die junge Frau erst, als ihr Vater ihr aufhelfen wollte. Sie konnte von Glück reden, dass ihr nichts Schlimmeres passiert war, zumindest hatte ihr Vater ihr dies immer wieder gesagt, als er sie ins Krankenhaus gebracht hatte. Von ihrem Platz aus blickte Esme auf eine fensterlose, weiße Wand, hinter der sich ein weiteres Behandlungszimmer befand. Das Schwesternzimmer lag einige Schritte den Gang hinab, hinter einer Glastür. In diesen, nach Süden gerichteten Raum, fielen noch die letzten Strahlen der untergehenden Sonne. In dem viel zu kleinen Korridor war es kühl und Esme hätte alles dafür gegeben, wenn die Sonne es bis hierher geschafft hätte. Die Frau mittleren Alters, für die ihr Vater kurz zuvor aufgestanden war, damit sie sich auf den Platz neben seiner Tochter setzen konnte, hustete in ihr beigefarbenes Taschentuch. Esme wandte den Blick ab und begann, sich immer unwohler zu fühlen. Sie konnte nicht einfach aufstehen und sich die Beine vertreten, ebenso wenig, wie sie dem Gefühl von Krankheit nicht entkommen konnte. Die Luft war erfüllt von dem erdrückenden Geruch nach Medizin, Krankheit und Blut. Esme faltete die Hände in ihrem Schoß, den ein leichtes grünes Sommerkleid bedeckte. Die Spuren ihres Sturzes waren auch hier noch deutlich zu erkennen. Die Zeit schien an diesem Ort einem ganz anderen Gesetz zu folgen. Von ihrem Platz aus hatte Esme einen guten Blick auf eine die große, massive Standuhr im Schwesternzimmer. Doch auch wenn sie wusste, dass die Zeit unaufhörlich voranschritt, schien der Sekundenzeiger sich immer langsamer auf die Zwölf zuzubewegen. „Mr. Platt, wenn Sie mir bitte folgen würden?. Doktor Cullen wird sich gleich um Sie kümmern“, forderte eine Krankenschwester die beiden auf. Esmes Vater trug seine Tochter vorsichtig in das Behandlungszimmer und setzte sie ebenso behutsam auf der weißen Bahre ab, während er einen Blick mit ihr austauschte. Esme empfand Reue für ihre Gedankenlosigkeit. Es gab auf dem elterlichen Hof viel zu tun und sie würde in den nächsten Tagen, wenn nicht sogar Wochen, keine große Hilfe sein. Sie sollte sich keine Sorgen machen, hatte ihr Vater gesagt. Doch im gleichen Moment hatte Esme die Sorgenfalte zwischen seinen Augenbrauen gesehen, sie benötigten nun zwei weitere Hände, die die Ihren ersetzten und diese waren heutzutage nur tüchtig, wenn sie gut bezahlt wurden. „Ah, Sie müssen Miss. Platt sein.“ Mit dem blonden Arzt erreichten die Sonnenstrahlen, auf die Esme vorhin vergebens gewartet hatte, das kleine Zimmer. „Ich bin Doktor Carlisle Cullen.“ Er reichte zuerst der jungen Frau und dann ihrem Vater die Hand, bevor er sich auf den kleinen Hocker setzte, der vor Esme stand. Ein handliches Klemmbrett legte er auf seinem Schoß ab, während er seine Patientin musterte. „Was mag dieser reizenden, jungen Dame wohl passiert sein, dass sie hierher kommen muss?“ „Meine Tochter ist vom Apfelbaum gefallen. Wir nehmen an, dass sie sich den Fuß gebrochen hat“, antwortete Esmes Vater und begegnete dem Blick Dr. Cullens, der in diesem Moment von der jungen Esme aufsah. Seinem Blick nach zu urteilen, hätte er diese Worte viel lieber von seiner Patientin, als von deren Vater, gehört, weshalb er nur knapp nickte und sich wieder der brünetten Schönheit zuwandte. Diese unterbrach mit einem zaghaften Lächeln den Blickkontakt und gab somit die zarten Wesenszüge ihres Profils preis. „Was bringt denn eine so reizende junge Lady, wie Sie es sind, dazu, einen Apfelbaum zu erklimmen?“ Er war sichtlich amüsiert über diese bezaubernde Gesellschaft. „Für gewöhnlich sind es eher junge Knaben, die einen Hang zum Leichtsinn besitzen. War keiner dieser bei Ihnen, damit sie den Apfel für Euch hätten pflücken können?“ Es fiel Carlisle nicht sonderlich schwer, dieses Gespräch aufrecht zu erhalten und sich um seine Patientin zu kümmern. Seine Sinne waren ausgeprägter, als die der Menschen, und ließen sich nicht so leicht von diesem netten Gespräch ablenken. Die Gelassenheit und Ruhe, die er widerspiegelte, standen im Kontrast zu dem geschäftigen Treiben, dass vor der Tür des Behandlungszimmers herrschte. „Die Schwerkraft muss sehr parteiisch sein und Kindern mehr durchgehen lassen, als jungen Erwachsenen.“ Esmes Blick begegnete den ungewöhnlich gefärbten Augen, als ihre melodische Stimme sich zum ersten Mal an den blonden Arzt richtete. Carlisle zögerte für einen kurzen Moment, in dem er sich den Klang dieser liebreizenden Stimme einzuprägen versuchte. Er war sich durchaus bewusst, dass ihr Vater ihn argwöhnisch beobachtete, weswegen er sich mit einem Lächeln wieder ihrem Fuß zuwandte. Er schob seine Hand unter die Ferse, um ihn leicht anzuheben und betrachten zu können. „Dann möchte ich Euch ermutigen, Euch das nächste Mal eine Leiter zu Hilfe zu nehmen, man weiß ja nie, ob die Schwerkraft nicht eines Tages ganz an Loyalität verliert. Immerhin ist die bezaubernde Lady doch unlängst aus dem Kindesalter heraus.“ Den Worten folgte ein kurzes, nur für Esmes Augen bestimmtes, Zwinkern. Die junge Frau verdeckte ihr leises Lachen mit der Hand, als die Verlegenheit ein zartes Rosé auf ihre Wangen zauberte. Esme zog ihren knöchellangen Rock etwas höher, als der fachkundige Arzt auch ihren Strumpf entfernte, um die helle Haut, unter welcher der Schmerz pochte, genauer zu betrachten. Carlisle war darauf bedacht, vorsichtig zu sein, doch es schien unvermeidlich, dass aus dem unheilvollen Pochen erneut ein Schmerz wurde, der die junge Frau zusammenzucken ließ. Die kühlen Finger, die über ihre Haut wanderten, besänftigten das Gefühl, konnten es allerdings nicht vollständig vertreiben. „Ich werde Euren Fuß etwas betäuben. Ich kann ihn mir besser ansehen, wenn ich nicht die gesamte Zeit lang Angst habe, Euch noch mehr Schmerzen zuzufügen.“ Vorsichtig senkte er Esmes Fuß wieder, bevor er sich erhob. „Ich hoffe, Ihr habt keine Angst vor Spritzen“, fügte er hinzu und war völlig auf die junge Esme konzentriert. Sie ihrerseits war sehr darauf bedacht, gefasst zu wirken und sich ihre Schmerzen nicht anmerken zu lassen. Doch Carlisles geschulten Augen entgingen dabei keinesfalls die Tränen in ihren Augenwinkeln, die er zu gerne hätte wegwischen wollen. Sie widerstand dem Drang, sich zu ihrem Vater umzudrehen. Mr. Platt hatte sich einige Schritte entfernt ans Fenster des Behandlungszimmers gestellt. Ihm war es sichtlich unangenehm, anwesend zu sein. Ein Blick Esmes hätte gereicht, um herauszufinden, ob es an dem jungen Arzt lag, oder der Tatsache, dass seine Tochter, deren helfende Hände gebraucht wurden, verletzt hier saß. Doch Esme widerstand dem Drang und nutzte den Augenblick, in dem Dr.Cullen die Spritze aufzog, um ihn unbeobachtet näher zu betrachten. „Ich werde vorsichtig sein, denn nichts liegt mir ferner, als Euch weitere Schmerzen zuzufügen“, sagte er, denn er schien den Blick, den sie ihm zuwarf, falsch interpretiert zu haben. Doktor Cullen bediente sich Worten, die sehr altmodisch wirkten. Zumindest klang es für Esme so, die aus sehr einfachen Verhältnissen stammte. Von den Gepflogenheiten und Etiketten der höheren Gesellschaft hatte sie keine genaue Ahnung. Dass sie schlecht erzogen worden war, konnte sie zwar nicht sagen, denn selbst für eine Bauernfamilie hatten sie in der Stadt ein sehr gutes Ansehen, aber für die obere Schicht würde es niemals reichen. Doch aus eben jener Schicht schien dieser Arzt zu stammen, der sie nun erneut anlächelte. Esme erwiderte es zögerlich, auch wenn ihr im Grunde nicht danach zu Mute war; in seiner Gegenwart schien es unmöglich zu sein, nicht auf ihn zu reagieren. „Mein Vertrauen liegt in Ihren Händen, Doktor.“ Wie selbstverständlich verließen die Worte die geschwungenen Lippen ihrer Besitzerin. Sie selbst war überrascht, wie viel bedingungslose Ehrlichkeit in diesen Worten steckte. Carlisle belächelte sie. „Was könnte einen Arzt mehr ehren, als diese Worte zu hören?“ Ein kurzer Blick zu Esmes Vater hatte ihn darauf verzichten lassen, andere Worte zu wählen. Er riskierte, dass der Mann die Geduld über den beinahe schelmenhaften Umgang von des Arztes mit seiner Tochter verlor. Doch es war schwer, selbst für Carlisle, sich dem natürlichen Charme der jungen Frau zu entziehen. Es gab keine anderen Worte, die Doktor Cullens besser bezeichnet hätten, als elegant und graziös. Esme folgte beinah jeder einzelnen Bewegung und jeder Geste des Arztes mit ihren Blicken, bis er wieder vor ihr kniete und erneut vorsichtig ihren Fuß anhob. Ohne zu zögern platzierte er die Spritze an der richtigen Stelle. „Sie werden gleich einen leichten Schmerz verspüren, nur ein kleiner Stich, aber ich hoffe Euer Vertrauen reicht so weit.“ Bei diesen Worten spürte Esme die Nadel durch ihre Haut stechen. Es war ein kurzer Schmerz, der mit dem heißen Pochen in ihrem Fuß kaum vergleichbar war. Als die feine Nadel die Haut der jungen Frau durchbrach, lag ein feiner Geruch von Blut in der Luft. Für jedes andere Lebewesen wäre dieser leichte Hauch des metallenen Duft nicht vernehmbar gewesen, doch Carlisles Sinne waren genau darauf geschärft. Nach all den Jahren jedoch, hatte das rote Gold keinerlei Herrschaft mehr über ihn. Wie der Duft einer Blume, mehr war es für den Arzt nicht mehr. Jedoch musste er zugeben, dass die junge Frau einen außergewöhnlich verlockenden Geruch mit sich trug. Esme konnte ihre Augen kaum von dem praktizierenden Arzt abwenden. Sie betrachtete abermals die ungewöhnlich helle Haut und seine feinen Gesichtszüge. Doch das was an seiner ganzen Erscheinung am meisten heraus stach, waren die Augen, die in einer hellen Bernsteinfarbe glänzten. Esme hatte nie einen Menschen getroffen, der ähnliche optische Merkmale besessen oder sie so fasziniert hatte. Während Doktor Cullen ihren Fuß näher betrachtete und mit seinen kühlen Fingern ihre Haut abtastete, legte breitete sich ein Schweigen bei den Anwesenden aus. Nur die Geräusche aus dem Flur hatten sich nicht verändert. Vielerlei Schritte waren zu vernehmen und Stimmen, deren Worte Esme durch die Tür hindurch nicht verstehen konnte. „Heute ist hier der Teufel los, ihr hättet Euch wahrlich einen besseren Tag aussuchen können. Für gewöhnlich ist die Belegschaft hier sehr entspannt“, entschuldigte sich Carlisle für die Turbulenzen, die auch seine Patienten mitbekommen hatten. "Sie sind nicht aus Ohio, oder?", fragte Esme unverblümt und völlig zusammenhangslos. Sie hörte, wie sich ihr Vater hinter ihr räusperte. Sofort verschwand die Neugier auf ihrem Gesicht und sie senkte verlegen den Kopf. "Entschuldigen sie die Frage, das war unhöflich. Es tut mir sehr leid", setzte sie sofort hastig hinterher und senkte den Blick erneut. "Ich nehme an, dass Sie trotz der Gegebenheiten eine Diagnose stellen können, Doktor Cullen?", lenkte ihr Vater nun auch ein, um das Benehmen seiner Tochter zu überspielen. Dabei war die Ungeduld in seiner Stimme kaum zu überhören. Und nun konnte auch Esme sich nicht mehr davon abbringen lassen, sich kurz zu ihrem Vater herumzudrehen, nur um zu sehen, dass ihm nicht gefiel, wie sie und ihr Arzt miteinander umgingen. Während Esmes‘ Frage Carlisle nur einen Moment aus der Fassung gebracht hatte und ihn dazu verleitete, ihr mit einem Lächeln zu antworten, empfand er das Einmischen ihres Vaters als weit aus unhöflicher. Zu gerne hätte er jede Frage der hübschen, jungen Dame vor ihm beantwortet, doch er besann sich darauf, dass es besser war, seine Konzentration wieder auf ihren Vater zu richten. "Ihre Vermutung scheint sehr zutreffend zu sein. Eure Tochter hat sich wohl den Fuß gebrochen. Allerdings muss ich sie etwas eingehender untersuchen, um zu diagnostizieren, wie wir weiter verfahren werden“, antwortete Carlisle, bevor er sich wieder an Esme wandte. Sie faszinierte ihn. Doch er musste vorsichtig sein, bevor ihr Vater auf die Idee kam, nach einem anderen Arzt zu verlangen. Erst als Dr. Cullen sich wieder mit ihrem Fuß befasste, merkte sie, dass er ihre Frage nicht beantwortet hatte. Innerlich seufzte sie darüber, denn sie hätte gerne eine Antwort gehabt. Auch wenn es eigentlich klar ersichtlich war, dass er nicht aus Ohio kam. Vielleicht, so vermutete sie, war es auch keine Gewohnheit für ihn, in so einem bürgerlichen Krankenhaus zu arbeiten. Seine Art, seine Aussprache und jede Geste wies auf eine höhere Schicht hin. Es ergaben sich so viele Fragen für Esme, die es sich nicht zu stellen schickte und wohl für diesen Moment unbeantwortet bleiben mussten. Seine Finger waren ungewöhnlich kalt, als ob er gerade in eisigen Schnee gefasst hätte. Dennoch konnte Esme nicht sagen, dass die Berührungen unangenehm waren, es war keine klirrende, schmerzliche Kälte - es war nur fremd. "Sie haben einen britischen Akzent." Esme lächelte und sah ihn an, sie kam nicht umhin ihn in ein Gespräch zu verwickeln - es war wie ein innerer Drang, dem sie nicht widerstehen konnte. „Einige unserer Geschäftspartner kommen aus Großbritannien, deswegen bin ich damit vertraut", erklärte sie und überlegte dabei, ob jene Leute auch so eine blasse Haut besaßen oder ähnlich feine Merkmale. Doch insgeheim war sie sich sicher, dass Doktor Cullen einzigartig war. Zumindest in ihren Augen. Die Worte hatten sie von ihrer Verletzung abgelenkt, die sie trotz allem noch immer spürte, bis ihr Fuß tauber und schmerzresistenter wurde. Doch auch auf das Gefühl der kühlenden Finger musste sie verzichten, als der Schmerz nur noch etwas Nebensächliches war, das langsam in den Hintergrund verschwand. Carlisle wusste, dass er Esme nicht mehr viel weiter ausweichen konnte. Ihm würde es sichtlich schwer fallen, ihren Worten zu widerstehen, die ihn zum Sprechen bringen wollten. Und so gab er dem Drang, den die bezaubernde Dame in ihm auslöste, nach. „In der Tat, Ihr habt eine hervorragende Auffassungsgabe. Ich komme gebürtig aus London.“ Er sah zu ihr auf und lächelte sie an, um ebenfalls ein Lächeln auf ihre wunderschön geschwungenen Lippen zu zaubern. Und es funktionierte. Das triumphierende Lächeln konnte die Verlegenheit etwas überdecken, als der junge Arzt, der immer noch vor Esme kniete, dieses Mal auf ihre Worte einging. Sie strich sich die haselnussbraunen Haare hinter das Ohr, auch wenn ihr einige der widerspenstigen Strähnen wieder ins Gesicht fielen. Für einen kurzen Augenblick war die junge Frau froh darüber, dass er den Blick abgewandt hatte. Ihr Gesicht, das nach dem Sturz noch immer etwas blass war, bekam langsam wieder eine rosige Farbe - gegen die Esme unfähig war, etwas zu unternehmen. "Und Ihre Berufung, als Arzt Menschen zu helfen, hat Sie über den großen Ozean geführt?" Das Lächeln wurde unsicher, als ihr Blick den des Doktors kreuzte. Sofort wandte sie den Blick wieder ab und gab vor, sich ihr Bein anzusehen, das in diesem Moment nicht weniger von Interesse hätte sein können. „Ich lebe nun schon einige Zeit hier in Amerika und hatte die Hoffnung, dass man es nicht mehr so leicht bemerkt, aber Ihr habt Recht, die Arbeit hat mich hier hergeführt.“ Carlisle wandte den Kopf etwas ab, als aus dem Korridor mit einem Mal ein großer Tumult zu hören war. Er seufzte leise, als er sich erhob. „Verzeiht, Ihr müsst mich einen Augenblick entschuldigen. Ich bin sofort wieder bei Euch.“ Er sah sie mit ehrlichem Bedauern in den Augen an. Esme nahm die Worte missmutig entgegen, doch sie hatte keine weitere Gelegenheit mehr, sich auch nur einen weiteren Augenblick diesem Gefühl hinzugeben. Doktor Cullens kühler Atem streifte den Rücken ihrer Hand, als er ihr einen Kuss darauf hauchte. Ihr Atem stockte für den Augenblick einer Sekunde und ihr Puls verfiel in einen schnellen Takt, während sie dem jungen Mann nachsah, als dieser aus der Tür rauschte. „Ich werde auf Sie warten…“, flüsterte sie so leise, dass sie sich sicher sein konnte, dass weder ihr Vater noch er sie gehört hatten. Doch sie konnte sein Lächeln nicht mehr sehen, das ihr verraten hätte, wie ausgeprägt sein Gehör war. Esme benötigte einige Augenblicke, um aus ihrer Regungslosigkeit zu erwachen, dann strich sie sich über die warmen Wangen und versuchte, sich zu beruhigen. Ihr Kopf war zwar von der Tür abgewandt, aber ihr Blick glitt immer wieder in die Augenwinkel, zu der Stelle an welcher der Arzt verschwunden war. Carlisle erkundigte sich bei seinen Kollegen, die in heller Aufregung zu sein schienen. Es hätte keinerlei Anstrengung benötigt, herauszufinden, was geschehen war. Dennoch tat er sein Möglichstes, um in seiner Rolle als Mensch nicht weiter aufzufallen. Bei den mittlerweile regelmäßigen Straßenkämpfen, waren die Anblicke der Verletzten keine Überraschung mehr. Dennoch verfielen zumeist die jungen Ärzte immer wieder in deutliche Panik. Ein Blick auf die Trage gab Carlisle genügend Auskunft, er sah, dass das Opfer trotz des vielen Blutverlustes noch ein starkes, lebendiges Herz besaß. Er bot dem jungen Arzt seine Hilfe an, doch sie wurde nicht angenommen. Er musste seine Freude darüber, dass er wieder zu seiner hübschen, jungen Dame zurückkehren durfte, etwas zügeln, als er bemerkte, wie er das blutüberströmte Opfer anlächelte. Menschen waren von je her von Interesse gewesen. Auch wenn Carlisle vor Jahrhunderten ebenfalls einer von ihnen gewesen war – so hatte er heute eine neuerliche Sicht auf diese zerbrechlichen Geschöpfe. Doch die junge Dame mit ihrer zarten Haut und ihrem weltoffenen Lächeln, unterschied sich in vielerlei Hinsicht von den anderen. Ihr Herzschlag war für ihn zwischen den hunderten anderen hier anwesenden Menschen, noch immer deutlich hörbar. Mit jedem Schlag ihres Herzens, erinnerte er sich an den Anblick ihrer dunkelbraunen Augen, die ihn neugierig angesehen hatten. Ihr Blick schien etwas in ihm zu erreichen, dass er anderen Menschen nicht offenbaren wollte und noch nicht einmal durfte. Doch ihr schien er machtlos ausgeliefert zu sein, auch wenn er ahnte, dass sie sich ihrer Macht nicht bewusst war. Und dennoch wollte er sein Wissen erweitern, darüber, wieso der bloße Blick dieser Augen ihn so in Esmes Bann zog. Als er das Krankenzimmer erneut betrat, schloss er die Tür sorgsam hinter sich, bevor er sich entschuldigend an Esme und ihren Vater wandte. „Es tut mir außerordentlich leid, wir haben einen Notfall bekommen. Aber nun werde ich mich wieder um Euren Fuß kümmern.“ Während der erste Teil seiner Erklärung nüchtern und sachlich geklungen hatte, wurde seine Stimme weicher, als er wieder Esme direkt ansprach. „Bevor Euch noch eine Frage einfällt, die Euch interessiert“, vorsichtig nahm Carlisle den geschundenen Fuß seiner Patientin wieder in die Hand. „würdet ihr mir verraten, ob Euch dies weh tut?“ Vorsichtig umfasste er mit der anderen Hand Esmes Knöchel, während er mit seinen Fingerspitzen leichten Druck auf verschiedene Stellen des Fußes ausübte. Esme verzog das Gesicht und biss sich auf die Unterlippe, aber dennoch konnte sie ein schmerzvolles Stöhnen nicht unterdrücken. Der Schmerz raste durch ihr Bein und breitete sich wie eine Stichflamme in ihrem ganzen Körper aus. Sie benötigte einen Augenblick, bevor sie wieder sprechen konnte. "Ich würde gerne noch mehr fragen, mich würde noch so einiges interessieren ..." Esmes Enthusiasmus war kaum zu übersehen, aber dennoch sprach sie leise, so dass ihr Vater sich nicht einmischen konnte, außer er würde zugeben, dass er gelauscht hatte, denn dies wäre nötig um sie beide zu verstehen. Nervosität ersetzte ihre anfängliche Begeisterung, als ihr bewusst wurde, auf welchem Weg sie versuchte, den Arzt für sich zu gewinnen. Es war nicht ihre Art, so offen mit Männern zu reden, es widersprach ihrer Erziehung. Carlisle schmunzelte über die junge Dame, die so herausstechend war, zwischen all den Menschen, denen er hier in Columbus schon begegnet war. Es stimmte ihn ein wenig traurig, zu wissen, dass er in wenigen Tagen von hier verschwinden musste, um kein Aufsehen zu erregen. Wäre er ein Mensch aus Fleisch und Blut gewesen, hätte er sich ihrer angenommen, doch so war es er für die liebliche Schönheit eine zu große Gefahr. „Wir werden sicherlich in den nächsten Tagen eine Gelegenheit haben, noch einmal miteinander zu sprechen, denn ich muss Euch sagen, dass ich Euch mit diesem Bruch noch nicht nach Hause schicken kann.“ Mit diesen Worten wandte sich der Arzt an den Vater seiner Patientin. „Dieser Bruch muss operativ behoben werden. Der Eingriff ist eine Routineoperation, ich bin spezialisiert auf solche Vorfälle. Dennoch wird Eure Tochter eine Weile hier bleiben müssen. Den genauen Zeitraum kann ich erst nach dem Eingriff abschätzen, aber es werden in etwa zwei Wochen sein“, erklärte er Esmes Vater und setzte ihren Fuß wieder vorsichtig ab. Esme wandte den Kopf, bis sie ihrem Vater zum ersten Mal, seit sie dieses Behandlungszimmer betreten hatten, direkt in die Augen sah. Es war ihm anzusehen, dass er bis zu diesem Augenblick gehofft hatte, eine andere Diagnose zu hören. Und auch Esme musste zugeben, dass es ihr etwas Angst machte, sich einer Operation unterziehen zu müssen. „Wie bereits zuvor, bitte ich Euch, mir zu vertrauen, Miss Platt. Nichts liegt mir ferner, als Euch zu verletzen.“ Ihm war ihr angstvolles Herzklopfen nicht entgangen, als er von der Operation gesprochen hatte, und umso wichtiger erschien es Carlisle daher, sie zu beruhigen. Er fing den faszinierenden Blick ihrer braunen Augen ein und lächelte sie sanft an. Er wusste, dass seine Worte erfolgreich gewesen waren, als sie das Lächeln erwiderte. Schweren Herzens begann Carlisle schon Abschied zu nehmen, bevor er sie richtig kennen gelernt hatte. Doch er war sich sicher, dass er sich an den Anblick dieses bezaubernden Lächelns noch lange erinnern würde, selbst wenn die Blume die Blüte ihres Lebens hinter sich gelassen hatte. „Ich lasse Euch von einer Schwester auf eines der Zimmer bringen, in der Zwischenzeit werde ich mich um die Vorbereitungen kümmern. Ihr müsst Euch keine Sorgen machen, in einigen Wochen könnt ihr Euch wieder auf Apfelbäumen vergnügen.“ Carlisle musste lachen, als er das erwartungsvolle Glänzen in ihren Augen sah. Kapitel 2: T W O ---------------- Die Zeit war etwas Relatives, wenn man bereits so viele Jahre auf der Welt existierte. Wenn es nur einen Tag gab, an dem die Sonne niemals unterging und die Nacht niemals hereinbrechen würde. Carlisle empfand keine Müdigkeit in Anbetracht seines langen Lebens, wie es viele Vampire nach einigen Jahrhunderten taten. Das Leben brachte so viel Neues und Interessantes hervor, dass es wert war, dem Verlauf der Zeit zu folgen. Einsamkeit jedoch war etwas, gegen die Carlisle lange Zeit keine Lösung gefunden hatte. Einen Gefährten unter den Sterblichen zu suchen, stand aus so vielen Gründen außer Frage. Das menschliche Leben war so vergänglich, wie eine zarte Blüte im Frühling, die im Herbst langsam zu welken begann. Ein kurzer Augenblick, für eine Ewigkeit voller Schmerzen bei ihrem Verlust und nicht zuletzt die Regeln der Volturi, die es verboten, sich den Menschen zu offenbaren. Er veränderte sich nicht mehr, seine Zeit war im Alter von dreiundzwanzig Jahren stehen geblieben. Die Menschen waren so leichtgläubig und nahmen gerne vieles hin. Sie suchten Erklärungen, um nicht an das glauben zu müssen, was sie nicht wollten. So waren seine ockerfarbenen Augen eine Laune der Natur und die helle Haut eine Pigmentstörung. Carlisle war zufrieden damit, dass die Menschen die Lügen, mit denen er lebte, selbst erschaffen hatten. Dennoch war er gezwungen, immer wieder die Stadt zu wechseln, denn so einfach es auch war, die Menschen zu täuschen, es gab eine Sache, die sie sich mit nichts auf der Welt erklären konnten. Und zwar die Tatsache, dass Carlisle nicht mehr alterte. Seit einigen Monaten lebte er nun schon in Ashland County, einer kleinen Stadt in Wisconsin, die umgeben war von mehreren kleinen Gemeinden. Carlisle zweifelte nicht daran, dass sie eines Tages zusammenwachsen würden, um eine größere Stadt zu bilden, doch von diesem Schritt waren sie heute noch weit entfernt. Für die Menschen dieses Ortes war Carlisle Cullen ein Vierteljahrhundert alt, seine guten Referenzen hielten die Menschen davon ab, Fragen über ihn zu stellen oder ihn selbst in Frage zu stellen. Je älter er sich ausgab, desto begrenzter war die Zeit, in welcher er sich an einem Ort aufhalten konnte. Ein normales Leben war somit unmöglich – doch es war für einen Vampir ohnehin eine ungewöhnliche Lebensweise, für die er sich entschieden hatte. „Ich wusste gar nicht, dass Sie einen Sohn haben, Doktor Cullen. Und in Ihren Unterlagen haben sie ebenso nicht erwähnt, dass Sie verheiratet sind.“ Der Mann mittleren Alters, der gegenüber von Carlisle saß, wandte seinen interessierten Blick von ihm ab, als die Tür hinter ihnen aufging und seine Tochter den Raum betrat. Carlisle nutzte den kurzen Moment, als auch die junge Frau sich umwandte, um die Tür zu schließen, den Wein in seinem Glas wieder in die Flasche zu füllen. Wenn es sich vermeiden ließ, verzichtete der gebürtige Engländer darauf, menschlichen Bedürfnissen, wie Essen und Trinken, nachzugehen. Sein Mund formte ein freundliches Lächeln, als er zu sprechen begann. „Das liegt daran, dass ich niemals verheiratet war, Mr. Lecoq. Edward ist mein Adoptivsohn“, seine dunkle Stimme gluckste amüsiert, „Ganz so alt, dass ich einen beinahe erwachsenen Sohn haben könnte, bin ich noch nicht.“ Etwas peinlich berührt nickte sein Vorgesetzter, der ihn an diesem Abend zum Essen eingeladen hatte. Ihm schien seine Bemerkung nun, da Carlisle sie widerlegt hatte, völlig unangebracht. Ihm war anzusehen, dass er sich darum bemühte, das Thema zu wechseln. „Er ist der Sohn meiner Schwester, sie ist leider verstorben. Ich habe versprochen, mich um ihren Sohn zu kümmern und habe Edward vor einem Jahr zu mir genommen.“ Carlisle hätte einfach ein anderes Thema ansprechen können, doch ihm war bewusst gewesen, dass Lecoq diese Frage auf den Lippen gelegen hatte. Und er wollte nicht Mittelpunkt des örtlichen Gesprächs sein, darüber, was hinter seinem Sohn steckte. „Das ist bedauerlich zu hören.“ Mit diesen Worten wandte er sich an Edward, der sich sichtlich unwohl dabei fühlte, in den Mittelpunkt des Geschehens zu rutschen. „Mein herzlichstes Beileid, Edward.“ Nicht nur Lecoq, sondern auch seine Tochter schenkten ihm einen besorgten und mitleidigen Blick. Dieses Abendessen, dass Carlisle aus Pflicht und Anstand angenommen hatte, war Edwards erster offizieller Schritt zurück in die Gesellschaft von Menschen. Seit drei Jahren nun war der junge Mann an der Seite des Arztes und ebenso wie er ein Unsterblicher. Edwards Familie war der Spanischen Grippe zum Opfer gefallen und auch seine Lebenszeit war so schnell geschwunden, wie die letzten Körner in einer Sanduhr. Der letzte Wille seiner Mutter, dass Carlisle alles tun sollte, um ihren Sohn zu retten, hatte den Arzt schließlich dazu gebracht, Edward zu erschaffen. Bis zum heutigen Tag, stellte sich Carlisle die Frage, ob sie gewusst hatte, was er war. Sein Verschwinden war niemandem aufgefallen, dafür war das medizinische Personal zu beschäftigt mit der Versorgung so vieler erkrankter Menschen. Die Pandemie hatte in ganz Amerika Todesopfer in Millionenhöhe gefordert. Und erst im letzten Jahr konnte die Grippewelle endgültig eingedämmt werden und würde hoffentlich auch auf immer verschwunden sein. Nach Edwards Verwandlung war Carlisle mit ihm umgezogen; eine Wohnung mitten in einer Großstadt wie Chicago wäre ein zu großes Risiko für einen Neugeborenen Vampir gewesen. Außerdem konnte er nicht davon ausgehen, dass niemand den jungen Mann erkannte, der offiziell auf der Namensliste des Massengrabes stand, das für die Grippeopfer ausgehoben worden war. Während seiner Zeit in Lockwood hatte er der Öffentlichkeit seinen Adoptivsohn vorenthalten, bis dieser seine Instinkte und Sinne besser beherrschen konnte. Carlisle hatte großes Vertrauen in Edward, der ihm zuhörte und versuchte, seine Hilfe und Ratschläge anzunehmen. Doch mit sich selbst war er niemals ins Reine gekommen – sodass er sich nach über einem Jahr weigerte, sich unter die Menschen der kleinen Ortschaft zu begeben. Carlisle respektierte es. Mit ihrer Rückkehr in den Bundesstaat Wiconsin jedoch, war es schwerer, den jungen Mann geheim zu halten. Zwar war Ashland County nicht größer als Lockwood, doch sie wohnten nicht mehr annähernd so weit entfernt, als dass die Menschen nicht bemerken würden, dass Carlisle nicht alleine lebte. Und so kehrte Edward zurück in das Leben der Sterblichen. „Es freut mich, dass Sie sich dazu entschieden haben, sich in Ashland niederzulassen, Doktor Cullen. Ihre Erfahrungen und Referenzen sind erstaunlich und das in ihrem Alter“, lobte Lecoq seinen neuen Mitarbeiter in den höchsten Tönen. „Wo haben Sie studiert, wenn ich fragen darf?“ „Mein Studium habe ich England begonnen, wo ich auch geboren bin. Promoviert habe ich allerdings in Deutschland“, erklärte Carlisle sachlich und war darauf bedacht, keine Zeitangaben zu machen. Doch diese Details waren, wie er wusste, kaum von Bedeutung, wenn sein Gegenüber erst gehört hatte, dass er in Deutschland studiert hatte. Ein Land, das für seine medizinischen Forschungen ein hohes Ansehen besaß. „Europa? Und dann hat es Sie in die Vereinigten Staaten gezogen“, hakte der Mann mittleren Alters nach. Ihm war anzusehen, wie brennend ihn weitere Details aus Doktor Cullens Leben interessierten. „Ja, ich habe meine Schwester begleitet. Ich habe sehr schnell eine Anstellung in Columbus gefunden und seitdem hält mich allerhand fest in diesem Land.“ Carlisle lächelte und blickte aus den Augenwinkeln zu Edward hinüber, der in diesem Moment das Lächeln nur erwiderte, als er den Kopf etwas abwandte. Edward hatte bei seiner Verwandlung eine Gabe bekommen, an die sich Carlisle anfänglich erst gewöhnen musste. Sein Adoptivsohn konnte Gedanken lesen. Natürlich hatte er in diesem Moment das gesehen, woran Carlisle als erstes gedacht hatte. An das seidene braune Haar, das über die schmalen Schultern des schlanken Körpers fiel, der gerade damit begonnen hatte, zur Frau zu werden. Die leuchtenden braunen Augen, die so viel mehr an ihm gesehen hatten, als andere Menschen. Fast so, als hatte sie eine leise Ahnung davon gehabt, was er war. Doch auch wenn ihr so viele Fragen auf ihren den Lippen lagen, sie hatte nicht eine davon ausgesprochen und Carlisle war froh darüber. Nach all den Jahren hatte er sie nicht vergessen können und er war sich sicher, dass er ihren Anblick mit in die Ewigkeit seiner Existenz nehmen würde. Die Gedanken ließen ihn nicht los, Vampire vergaßen nicht, niemals. Doch versuchte sich Carlisle wieder auf das Gespräch mit seinem Vorgesetzten zu konzentrieren. Es kostete ihn keinerlei Mühe, die interessierten Fragen zu beantworten, ohne dass er das Gefühl hervorrief, gelangweilt zu sein. Sein Lebenslauf war wie ein Text in einem Drehbuch, den er immer wieder aufsagen musste – seine Rolle im Leben der Sterblichen. „Sagen Sie, Doktor Cullen, wieso ist so ein gebildeter Mann wie Sie nicht verheiratet?“ Die massige Gestalt des Chefarztes lachte amüsiert und ließ für einen kurzen Moment die kristallenen Weingläser erzittern. Es wirkte beinahe Bedrohlich und Unheilvoll, wenn man zu diesem Laut nicht das freundliche Gesicht des Mannes gesehen hätte, der vor Carlisle saß. „Die Frauen müssen doch Schlange stehen.“ Ein flüchtiges Lächeln huschte über Cullens Lippen. „Edward sagt immer, ich sei mit meiner Arbeit verheiratet. Womöglich ist da etwas dran“, zog er sich aus der Affäre; was hätte er ihm auch anderes erzählen sollen? Wieder ertönte das Lachen des anderen Mannes, bevor er das Weinglas erneut erhob. „Ich will Ihnen das nicht einmal ausschlagen, immerhin verrichten Sie wahre Wunder in meinem Krankenhaus, Doktor Cullen.“ Lecoqs Blick lag erwartungsvoll auf seinem Kollegen, wartend, dass dieser seiner Gestik folgte. Kurz zögerte Carlisle, bevor auch er das Glas erhob, doch sein Blick war aus den Augenwinkeln heraus auf Edward gerichtet. Die topasfarbenen Augen des jüngeren Vampirs glänzten auf eine zwiespältige Art und Weise, die Carlisle beunruhigte. Der Blick seines Adoptivsohnes war auf das Kristallglas gerichtet, in dem der Metochi Chromitsa in seiner dunklen Farbe schimmerte. Es war unschwer zu erahnen, an was er Edward erinnerte. Versteckt vor den Blicken der beiden Sterblichen vor ihnen, griff Carlisle unterhalb des Tisches nach Edwards Hand und drückte sie leicht. Die ersten Jahre waren auch für ihn nicht sehr einfach gewesen und in diesem Moment sah er ein Spiegelbild seiner selbst. Er versuchte, Edward zu zeigen, dass er bei ihm war und dass solch instinktive Begehren und Gedanken nicht von ihm Besitz ergreifen mussten. Zwar hätten die beiden Cullens sofort aufstehen und den Raum verlassen können, doch Carlisle wollte Edward nicht das Gefühl geben, dass er ihm die Selbstbeherrschung nicht zutraute. Edwards Nasenflügel wölbten sich bei jedem seiner tiefen Atemzüge, mit denen er den Geruch der Menschen um sich herum aufnahm. Seine Hand zitterte vor Anspannung, während Carlisle ihm beruhigend über den Handrücken strich. Er musste verstehen, dass er diese Entscheidung treffen konnte, wenn er wollte. Das Gespräch verlief weiter, ohne dass die törichten Menschen bemerkten, in welcher Gefahr sie sich befanden, sodass sie noch ausgelassen lachen und reden konnten. Die ganze Zeit über hielt Carlisle den Körperkontakt aufrecht, um Edward damit zu helfen. Langsam spürte er die Änderung, spürte, wie sich das aufkochende Gemüt des jungen Vampirs beruhigte und er wieder an Fassung gewann. Dennoch war der weitere Verlauf des Abends eine Geduldsprobe. Der Anstand ließ es nicht zu, dass Carlisle sich allzu schnell wieder empfehlen konnte. Als sich die kleine Gesellschaft nach dem Essen noch in den Salon setzte, kam Carlisle einen Augenblick zu spät, um den Platz neben Edward zu beanspruchen. Nichts lag ihm ferner, als ihn näher an den Geruch zu bringen, der ihn in diesem Moment so elendig quälte, doch die Tochter ihres Gastgebers war schneller. Die ganze nächste Stunde lang behielt Carlisle seinen selbst erschaffenen Gefährten im Auge. Es war nicht einmal mehr für die Menschen zu übersehen, wie angespannt der jüngere Cullen war. Nur seine Atemzüge nahm einem die Vermutung, dass eine Marmorstatue auf dem Sofa Platz genommen hatte. Seine Lippen waren fest aufeinander gepresst und ergaben eine schmale Linie, die nun sein ausdrucksloses Gesicht zierte. Mit jedem Herzschlag der jungen Frau neben Edward, wurde Carlisle mehr von der Nervosität erfasst, dass der jüngere Vampir sich nicht mehr beherrschen konnte. Drei Jahre waren nichts im Vergleich zu der Kraft, die es verlangte, den natürlichen Instinkt zu unterdrücken. Exakt vierunddreißig Minuten, nachdem sie sich an dem Kaminfeuer der Lecoqs niedergelassen hatten, stand Edward mit einem Mal auf. Die Anwesenden hatten sich so an seine Reglosigkeit gewöhnt, dass selbst Carlisle für einen Augenblick zusammenzuckte. Das Feuer im Kamin war mit einem Mal nicht mehr die einzige aber dafür die unscheinbarste Gefahr in dem üppig gestalteten Raum. In Edwards Innerem loderte der Kampf mit seiner Selbstbeherrschung bedrohlicher, als jede außer Kontrolle geratene Flamme es je sein könnte. Jeder Muskel geriet in Bewegung und zuckte unter der hellen Haut. Auch Carlisle erhob sich, unschlüssig darüber, ob er allein Edward aufhalten könnte, wenn dieser sich erneut seinen niedersten Instinkten hingab. Doch noch ehe der Arzt auf den Beinen war, hatte sich sein Geschöpf auch schon umgewandt und verließ mit schnellen Schritten den Raum. Dabei war das Knurren, das wütend seiner Kehle entsprang, den Anwesenden noch länger im Ohr, als seine Schritte, die durch die Halle des Foyers hallten, bevor Edward hinaus auf die Straße trat. „Es tut mir leid, Edward hat noch immer an dem Verlust seiner Eltern zu arbeiten – ihm sind zu viele Menschen in einem Raum unangenehm“, entschuldigte sich Carlisle, denn er wollte sich der Höflichkeit halber verabschieden, bevor er seinem Adoptivsohn nachrannte. „Keine Ursache, ich kann es ja verstehen. In Gesellschaft von Vater und Tochter müssen die Wunden allemal aufbrechen. Richten Sie ihm bitte meine besten Wünsche aus, Doktor Cullen.“ Lecoq stand nicht auf, sondern sah hinauf in das Gesicht des Arztes, nur um im nächsten Moment beinahe ängstlich den Kopf abzuwenden. Im Schein des Feuers konnte Carlisle sein wahres Alter nicht verbergen. Die Weisheit und die Erfahrung der letzten Jahrhunderte malte sich wie ein Gemälde auf seine feinen Gesichtszüge. „Es tut mir aufrichtig leid, Ihre nette Gesellschaft so schnell verlassen zu müssen, Doktor Lecoq, aber ich möchte mich um meinen Sohn kümmern.“ Auch in Cullen selbst stieg ein wenig Nervosität empor, während er versuchte, sich des Anstandes entsprechend zu verabschieden, schließlich wusste er nicht, was Edward vor der Tür trieb. Zwar hatte er dem Geruch der Familie widerstanden, bei denen sie zu Besuch gewesen waren – doch konnte er dies auch bei all den anderen Menschen tun, die in Ashland wohnten? Sie befanden sich mitten im Stadtkern, umringt von vielen Bewohnern dieser kleinen Stadt. Lecoq nickte und erhob sich schwerfällig aus seinem Sessel. „Ich werde Sie noch zur Tür begleiten“, bot er sich an. „Machen Sie sich keine Umstände“, lächelte Carlisle und wandte sich schon in Richtung Tür ab, „Und vielen Dank für die Einladung.“ Die junge Frau, die noch immer so fassungslos wie reglos auf der Couch saß, auf der Edward bis vor einigen Augenblicken noch gesessen hatte, warf Carlisle nun ein mitleidiges Lächeln zu. Ein letzter Abschiedsgruß verließ seine Lippen, bevor er zusah, dass er Edward einholte, bevor dieser etwas tat, das sie beide bereuen würden. Edwards Spur war leicht zu verfolgen; der junge Vampir hatte sich nicht die Mühe gemacht, unauffällig zu entkommen. Auf der Flucht vor seiner selbst, konnte man nur der Verlierer sein. Denn dem Schatten seines Gewissens würde man niemals entkommen. Doch man konnte der erneuten Versuchung widerstehen, wenn man die Kraft dazu besaß und Edward kämpfte darum, nicht das zu entwürdigen, was Carlisle ihn seit drei Jahren lehrte. Mit einem wütenden Knurren trat der Vampir mit den braunen Haaren gegen ein Stück Metall, das scheppernd über den Boden schlitterte. Es war das Eingangsschild eines längst vergessenen Pubs, der einmal hinter der mit Holz verschlagenen Tür existiert hatte. Auf dem verbeulten, angelaufenen Schild stand in schwarzen Buchstaben ‚Dead Mans Inn‘ Viel lauter noch, als das Metall, war das kehlige Knurren, das Edwards Stimme zum Zittern brachte. Der kühle Abendwind trug das verlockende Bukett der Sterblichen an ihn heran. Viel intensiver, als in dem kleinen Raum zuvor, in dem ihm Carlisles Gedanken und seine Präsenz noch etwas mehr Kraft gegeben hatten. Es war weder der frische Frühlingsabend, noch der Wind, der aus dem Norden her wehte, der Carlisle leicht schaudern ließ. Edwards Anblick genügte, um dem älteren Vampir die schwere Last der Reue erneut aufzuerlegen. Mit geballten Fäusten und jedem Muskel angespannt, befand sich Edward in einem Kampf mit sich selbst. „Du musst das nicht tun, Edward. Ich weiß, dass du es schaffen kannst und ich kann dir dabei helfen.“ Seine ruhige Stimme stand im Gegensatz zu der Nervosität, die Carlisle innerlich spürte. Ihm war nur allzu bewusst, dass dieser Abend, wenn Edward sich nicht zurückhalten konnte, ein schlimmes Ende nehmen würde. Der aufgehende Mond war bis zu diesem Augenblick verdeckt geblieben. Doch nun, da sich sein silbernes Licht seinen Weg zwischen den Wolken hindurch bahnte, brach die Dunkelheit und ließ die Schatten der Nacht aus ihren Verstecken kriechen. Das fahle Mondlicht tauchte die Welt unter sich in ein graues, kühles Zwielicht. Edwards Gesicht hüllte sich ebenfalls in Schatten und untermalte den Schmerz, der auf seinen Zügen lag. Doch Carlisle wich keinen Schritt zurück, der junge Mann vor ihm konnte ihm keinerlei Angst einjagen. Er selber kannte die Qualen ihrer Existenz zur Genüge. „Was bist du, Carlisle? Ein Masochist?“ Ein wütendes Knurren entfuhr Edwards Kehle und seine Körperhaltung gegenüber seinem Schöpfer wurde feindselig. „Du begibst dich in ihre Gegenwart und verweilst unter ihnen, zuckst dabei mit keiner Miene und widerstehst diesem…“ Einen kurzen Augenblick lang schwieg Edward und sein Gesichtsausdruck änderte sich, spiegelte ein tiefes Verlangen wieder. Seine Augen waren auf Carlisle gerichtet, doch sein Blick reichte durch ihn hindurch. „…Geruch, die süße Essenz des roten Goldes in den Adern der Sterblichen. Der Herzschlag, der dafür Sorge trägt, dass es durch ihre Adern pulsiert.“ Seine Hand lag auf seinem Hals, als könnte er das tödliche Verlangen damit unterdrücken. „Es ist ein brennendes Verlangen, zu jeder Zeit. Wie kannst du dich dagegen wehren, diesem Instinkt nicht nachgeben?“ Während er die letzten Silben aussprach, wurde seine Stimme leiser, doch seine Haltung hatte sich nicht geändert. „Wie kannst du auf die Individualität eines Menschen achten? Ich höre nur ihren Puls und rieche ihr Blut und kann mich später an nichts anderes mehr erinnern.“ Das Knurren erklang dieses Mal tief aus seiner Brust heraus und war nur gegen ihn selbst gerichtet. „Wie kann ein Jäger sich wünschen, unter seinen Opfern zu leben? Du bist ein Wolf im Schafspelz.“ Der Blick der bernsteinfarbenen Augen des älteren Vampirs ruhten auf seinem Gegenüber. Einige der Worte kannte er bereits aus Edwards Mund, doch andere Erkenntnisse und Vorhaltungen waren ihm neu und trafen ihn selber tief, obwohl sich der Jüngere damit selbst anklagte. „Wenn wir erst in der Lage sind, den Hunger zu kontrollieren, sind wir menschlicher, als du ahnst. Unsere Instinkte mögen anders sein, doch wir können selbst bestimmen, ob wir ihnen nachgebe oder nicht.“ Langsam ging Carlisle auf Edward zu. „Wut und Hass sind nicht die einzigen Gefühle, die du empfinden kannst, Edward“, versprach er ihm abermals, wie damals, als sein letzter Herzschlag verklungen war. „Ich bin ein Monster, erschaffen, um zu töten. Wie kannst du uns menschliche Empfindungen zusprechen?“ Edward ließ den Kopf sinken und verbarg sein Gesicht in seinen Händen. „Hast du in keinem Moment das Bedürfnis gehabt, deine Zähne in ihre helle Haut zu schlagen? Sie mit dir zu nehmen? War ihr Geruch nicht allzu verlockend, als sie vor dir saß?“ Ohne, dass er den Name ausgesprochen hatte, wusste Carlisle, über wen Edward redete. Offensichtlich war, dass er eine Antwort von Carlisle erwartete, dessen Verhalten gegenüber dem menschlichen Mädchen, das er niemals verstanden hatte. „Ich lebe schon so lange, dass ich die Kontrolle meines Wesens nur noch unterbewusst vollziehe. Das Verlangen und das Brennen sind noch immer vorhanden, doch ich nehme es kaum noch wahr.“ Über die nächste Frage jedoch musste Carlisle einen Moment länger nachdenken, auch wenn er die Antwort bereits kannte. „Es war verlockender denn je, aber ich hätte sie auf keinen Fall verletzen oder ihr etwas antun können. Es wäre nicht gerecht gewesen, sie einfach mit mir zu nehmen, ohne dass sie eine andere Wahl gehabt hätte.“ „Und ich hatte eine Wahl?“ Die Wut kehrte mit dem offenen Vorwurf an Carlisle zurück, als er ihn unterbrach. „Du wärst gestorben“, antwortete er ihm trocken und presste die Lippen zu einer schmalen Linie zusammen. Für einen weiteren Augenblick sahen sich die beiden Männer nur in die Augen, ohne dass einer der beiden fähig war, den Blick abzuwenden. „Es wäre immerhin eine Wahl gewesen…“ Edward wandte den schmerzerfüllten Blick ab, während seine Worte an Überzeugung verloren. „Wie auch den Menschen, ist es uns selbst überlassen, für was wir uns entscheiden. Ich habe dir meinen Weg aufgezeigt, doch ob du ihn annimmst, ist alleine deine Entscheidung, Edward. Ich kann und werde dich nicht dazu zwingen.“ Mit diesen Worten wandte sich Carlisle um und begann, den Weg zurückzugehen, den er gekommen war. „Warte.“ Es waren nur wenige Schritte, bis Carlisle stehen blieb und lächelte, als er Edwards flehende Worte hörte. „Es tut mir leid, Carlisle.“ Einen kurzen Augenblick wartete der Angesprochene, bevor er sich wieder zu seinem Schützling umwandte. „Lass uns nach Hause gehen, Edward, dort können wir uns ungestörter unterhalten.“ Vergeblich hatte Esme auf das Sonnenlicht gewartet, das die Dämmerung vertreiben sollte, um sie aus der ewigen Dunkelheit zu befreien. Doch während sie noch immer zum Himmel blickte, hatte sie keine Hoffnung mehr, jemals erlöst zu werden. Das letzte kleine Licht, das sie sich zuversichtlich erhalten hatte, war längst unter ihren schützenden Händen erloschen. Es war ihr unmöglich, das zu erhalten, was sie mit ihrem Leben beschützt hätte. Und zurück blieb nur die Einsamkeit, welche die Leere in ihrem Inneren schmerzlich füllte. Der kühle Morgenwind wehte vom Wasser zu ihr herüber. Er strich über ihre bloßen Füße, bis zu den Beinen hinauf, unter das dünne weiße Nachthemd, das sie noch immer trug. Ihr Körper erschauderte, doch Esme spürte die Kälte nicht mehr. Selbst das feuchte Gras unter ihren Füßen war nicht so unangenehm, wie es früher gewesen war. Esme verschwendete keinen Gedanken daran, dass sie krank werden könnte, denn sie wusste, dass dies nun nicht mehr wichtig war. Von der Klippe, auf der sie stand, konnte sie den Cequamegon Bay überblicken, bis der morgendliche Nebel ihr die Sicht nahm. An manchen Tagen, wenn das Wetter gut war, konnte man das andere Ufer erkennen. Doch heute war sie nicht wegen der Aussicht hier. Sie nahm nichts um sich herum wahr, als ihren eigenen Herzschlag und Atem. Sie hatte keine Angst vor dem, was kommen würde, oder was danach auf sie wartete. Dieses Gefühl hatte sie ihr Leben lang begleitet und nun, da sie die Chance hatte, sich zu entscheiden, war es wie eine Erleichterung. Esme hatte sich gewünscht, dass das Sonnenlicht das Letzte sein würde, was sie sah. Doch der dichte Nebel ließ nur vermuten, dass der Tag schon begonnen hatte. Sie schloss die Augen, als sie einen weiteren Schritt auf die Kante zutrat. Seit ihrem Sturz vor zehn Jahren, hatte sie hohe Orte gemieden. Doch nun war sie sich nicht einmal sicher, ob die Höhe genügte, um all das zu beenden, was sie hinter sich lassen wollte. Kein Zweifel überkam sie im letzten Moment, denn es gab nichts mehr, das sie an dieses Leben band. Keine Reue der Menschen wegen, die sie zurückließ, denn jene, die sie liebte, hatten sie längst verlassen. Ein Lächeln zeichnete sich auf ihren Lippen ab, als sie von der Klippe sprang. Mit einem Mal waren das Rauschen der Wellen und das Kreischen der Möwen nicht mehr zu hören. Ihr eigener Herzschlag mischte sich mit dem Flüstern des Windes, der sie begleitete, während der Boden immer näher kam. Sie hatte die Augen geschlossen, wissend, dass ihr Ende jeden Moment kommen würde. In den letzen Augenblicken, rief Sie sich Erinnerungen in ihr Gedächtnis, die sie niemals vergessen wollte. Und so tat sie es auch nicht im Angesicht des Todes, der sie zu sich holte, als ihr Körper auf dem Strand aufkam, den das Meer mit seinen Wellen nicht ganz bedecken konnte. Die weichen Klänge von Edwards Klavierspiel erfüllten den Raum und halfen Carlisle dabei, sich auf das Buch zu konzentrieren, in dem er gerade las. Doch es fiel ihm zunehmend schwerer, sich auf die Zeilen zu konzentrieren, als ob etwas anderes ihn ablenkte, das er nicht sehen oder hören konnte. Der heutige Tag war lang und schwer gewesen, für jeden einzelnen der beiden Männer. Doch Edward hatte alte Erinnerungen wiedererweckt. Er vergaß niemals und dennoch verdeckten viele andere Gedanken jene, die am schmerzlichsten waren. Carlisle sah von den schwarz bedruckten Seiten auf, die an den Rändern schon langsam zu vergilben begannen. Noch heute fiel es ihm schwer, der Versuchung zu widerstehen, nach dem jungen Mädchen zu suchen, doch sein klarer Verstand verbat es ihm, sodass er nur beten konnte, dass sie ein glückliches und erfülltes Leben führte. Irgendwo dort draußen. Kapitel 3: T H R E E -------------------- Das schlechte Gewissen war Carlisle bis an seinen Arbeitsplatz gefolgt. Seit er die Wohnung verlassen hatte, die er sich mit Edward teilte, ließen ihn die Gedanken nicht los, die ihn daran erinnerten, wie egoistisch seine Entscheidung gewesen war. Die gestrige Nacht hatte nicht nur in dem jüngeren Vampir viele Zweifel und Empfindungen geweckt, sondern auch in ihm selber. Wäre er nicht gewesen, wäre Edward an der Spanischen Grippe gestorben. Sein Körper würde nun dort ruhen, wo sein Name auf den Grabstein des Massengrabes stand, direkt unter denen seiner Eltern. Doch dem war nicht so. Der Wunsch der Mutter, dass der Arzt alles für ihren Sohn tun sollte, nahm Carlisle als Rechtfertigung für diese unverzeihliche Tat, den jungen Mann zu verwandeln. Er hatte sich eingeredet, dass Edward keine andere Wahl gehabt hätte, doch das erschien ihm heute als eine eigennützige Lüge. Carlisle seufzte leise und wandte seinen Blick aus dem Fenster, neben welchem sein Schreibtisch stand. Es war gerade groß genug um zuzusehen, wie der Horizont von einem hellen Licht gesäumt wurde und die Dunkelheit immer weiter vor der Morgendämmerung zurückwich. Das unnatürliche und kalte Licht der Glühbirnen erhellte den Raum. Nur zu gerne hätte Carlisle Kerzen angezündet, um die benötigte Lichtquelle zu erzeugen. Bis der deutsche Erfinder Heinrich Göbel 1865 das erste künstliche Licht erzeugte, genügte den Menschen der Schein ihrer Kerzen. Sein Konzept reichte noch keinesfalls für den großen Durchbruch, und so bekam das warme Kerzenlicht noch eine Gnadenfrist von nicht mehr als 25 Jahren. Als es Thomas Alva Edison im Jahr 1879 die Verwendung von Kohlefäden und die Einführung einer Schraubfassung gelang, war der Weg geebnet für den wirtschaftlichen Durchbruch. Das Licht der Kerzen erlosch und wurde durch das grelle künstliche Licht ersetzt, das nach wie vor in Carlisles Augen brannte, wenn er zu lange hinein sah. Die Krankenhausleitung befürchtete, dass Carlisles, wenn er Kerzen nutzen würde, in einem unvorsichtigen Moment, das Krankenhaus in Brand setzen würde. Und so blieb dem Arzt keine andere Wahl, als die Lampen anzuschalten, bis die Morgendämmerung genug Licht besaß, um das kleine Zimmer zu erhellen. Einmal mehr war Carlisle erleichtert darüber, dass er dem Duft der jungen Frau vor zehn Jahren widerstehen konnte. Es war schwer genug für ihn, Edward zu beobachten, wie er sich mit seinem neuen Leben quälte. Mit anzusehen, wie Esme ihn von sich wies, weil sie es nicht ertragen konnte, dass er sie zu diesem Dasein gezwungen hatte, war unerträglich. Der eindringliche Wunsch nach einem Gefährten, war schon lange Zeit vor Edward in ihm erwacht. Doch welchen Preis musste er nun zahlen, dafür dass er sich nicht mehr einsam fühlte. Carlisle verbarg sein Gesicht in seinen Handflächen und schüttelte leicht den Kopf, als hoffte er, dass die Gedanken ihn endlich losliessen. Das Gefühl von Reue lies den Vampir nicht los und rief ihm immer wieder ins Gedächtnis zurück, wie rücksichtslos er sein eigenes Verlangen erfüllt hatte. Vom Korridor, auf welchem Carlisles Arbeitszimmer lag, drangen immer mehr Geräusche an ihn heran. Die Frühschicht war schon längst eingetroffen, um den Nachtdienst in den wohlverdienten Feierabend zu schicken. Und auch das Pflegepersonal begann sich um die Patienten zu kümmern. Zu der Frühschicht gehörte für gewöhnlich die ärztliche Visite der stationären Patienten, doch an diesem Tag würde Carlisle daran nicht teilnehmen. Heute waren es die Formalien, die ihn beschäftigen würden. Von den letzten Tagen war noch so viel Arbeit aufzuholen, dass es keinen sonderlich gewundert hatte, als er einige Stunden früher an seinem Arbeitsplatz erschienen war. In Wahrheit wollte Carlisle nur Abstand von seinem Adoptivsohn gewinnen. Und auch der Wunsch, seine Gedanken zu ordnen, hatte ihn so früh hierher getrieben. Doch dies waren Details seines Lebens, die keinen der Menschen zu interessieren hatten. Einzelne Bruchstücke von Gesprächen drangen an Carlisles Ohr, er nahm sie wahr, doch nichts davon weckte sein Interesse genug, um seine Konzentration darauf zu richten. Viel mehr versuchte der blonde Arzt sich wieder auf den Bericht vor sich zu konzentrieren, doch es fiel ihm ausgesprochen schwer, die Gedanken an Edward und auch Esme beiseite zu schieben. Die Morgendämmerung schritt schnell voran, als konnte sie es nicht erwarten, den Mond vor den Blicken der Menschen zu verbergen. Das nächste Mal als Carlisle den Kopf hob, war es bereits hell geworden. Doch heute würde der Sonnenaufgang hinter der grauen Wolkenschicht stattfinden, die sich vor den Himmel geschoben hatte. Während Carlisle aus dem Fenster sah, erfüllte den Raum und auch ihn selber eine bedrückende Stimmung. Im ersten Moment glaubte der Arzt, dass das schmerzliche Gefühl sein schlechtes Gewissen war, das er wegen Edward noch immer deutlich verspürte. Dass in ihm eine ganz andere Empfindung heranwuchs, bemerkte der Vampir erst als sie ihn bereits gänzlich erfüllte. Ein leises flüstern drang an sein Ohr, dessen Worte er nicht genau verstehen konnte. Jedes noch so nichtige Gespräch, das im Krankenhaus geführt wurde, schien Carlisles Aufmerksamkeit für sich zu beanspruchen. Hilflos registrierte der Vampir, dass das leise Wispern nach ihm rief, doch er konnte es nicht verstehen. Ein tiefer Schmerz setzte ein, als die Stimme immer leiser wurde und mit einem Mal ganz zu verschwinden drohte. Es brannte in seiner Brust, an jener Stelle, an der einmal sein Herz geschlagen hatte. Es erschien Carlisle unmöglich tatenlos sitzen zu bleiben, er konnte die Gefühle von Befangenheit und Hilflosigkeit nicht einfach an sich vorüber ziehen lassen. Der Stuhl fiel hinter ihm zu Boden, als er sich in einer schnellen Bewegung erhob. Sein Atem ging flach und schnell, ohne dass er wusste weshalb. Der Blick seiner bernsteinfarbenen Augen glitt erneut hinaus aus dem Fenster. Der Anblick des hellen, wolkenbedeckten Himmels fesselte ihn auf eine seltsame und beängstigende Art und Weise. Ein kühler Luftzug erreichte ihn, obwohl das Fenster fest verschlossen war, doch in diesem Moment hatte er das Gefühl, dass er den Wind fühlen konnte, der vom Meer aufs Land wehte. Carlisle hob die Hand, wollte nach etwas greifen, dass dabei war vom Wind davon getragen zu werden, doch ebenso spürte er, dass er es, was auch immer es sein mochte, nicht halten konnte. Der Schmerz schien den Vampir, welcher geglaubt hatte alles Schreckliche dieser Welt schon erlebt zu haben, innerlich zu zerreisen. Ihm war unklar was er tun sollte oder konnte, doch er lief zur Tür, hob die Hand, um die Türklinke zu berühren und zögerte. Das Gefühl verschwand, entglitt den Händen, mit denen er das Unbekannte festhalten wollte. Der Wind trug es mit sich, ebenso wie das leise Flüstern, von dem er wusste, dass es auf ewig verstummt sein würde. Weshalb ihn in diesem Moment eine tiefe Trauer erfüllte, konnte sich Carlisle nicht erklären. Doch er wollte es auch nicht verhindern, er spürte, dass es das Richtige war. Die Hand sank langsam wieder hinab, als Carlisle seinen Blick erneut aus dem Fenster wandte. Ohne die leise Stimme und den Schmerz, fühlte er sich mit einem mal so leer und bedeutungslos. Eine gefühlte Ewigkeit verging, bis Carlisle sich umwandte und sich wieder an seinem Schreibtisch niederließ. Die Sorgen, die er empfand, waren auf seinen Gesichtszügen abzulesen. Eine Erklärung für das zu finden, was geschehen war, schien vergebens. Mit einem tiefen Seufzer, versuchte sich der Arzt wieder auf seine Arbeit zu konzentrieren. Die Gedanken zerstreuten sich nur langsam und blieben doch präsent genug, um sie nicht vergessen zu können. Der Füllfederhalter beschrieb mit seiner schwarzen Tinte Zeile um Zeile auf dem Blatt, auf welchen er bereits begonnen hatte seinen medizinischen Bericht zu verfassen. Es war so viel Routine dabei, dass Carlisle kaum darauf achtete, was er schrieb. In seinem Kopf war das Schriftstück längst komplettiert und musste nur noch zu Papier gebracht werden. Und erst als das Ende des Blattes erreicht war und die Feder zum Stillstand kam, überflog Carlisle den Text und konnte das Entsetzen nicht zurückhalten, dass ihn ereilte. Seine eigene feine Handschrift hatte die anklagenden Worte geschrieben, die nichts mehr mit dem Bericht zu tun hatten, den er schreiben sollte. ‚Tod Tod Tod Tod Tod‘ die Worte bedeckten beinahe das ganze Blatt mit seiner Handschrift. Carlisle wandte den Blick ab und wagte es nicht ein zweites Mal hinzusehen. Langsam ließ er den Füllfederhalter auf den Schreibtisch sinken und strich mit der freien Hand durch sein blondes Haar. In all den Jahren, die er bereits lebte, war ihm kaum etwas Vergleichbares passiert. Es behagte Ihn keinesfalls, dass die Ereignisse, die er nicht einmal verstand, ihn so völlig aus der Fassung brachten. Carlisle entschied sich, dass er ein wenig Abstand von seinem Sprechzimmer benötigte, um sich wieder zu sammeln. Der Stuhl wurde erneut zurückgeschoben, als Carlisle sich erhob. Sein Blick glitt noch einmal über das Schriftstück und der blonde Mann senkte beschämt den Blick, nicht ahnend, was sein Unterbewusstsein schon längst erkannt hatte. Auf den Fluren des Krankenhauses herrschte bereits reger Betrieb. Man hörte das Klicken der Türen, wenn sie ins Schloss fielen und die Gedämpften Worte dahinter, wenn die Pfleger oder Ärzte mit den Patienten sprachen. Unter normalen Umständen hätte Carlisle solch ein ruhiger Morgen, ohne einen medizinischen Zwischenfall, glücklich gestimmt. Es gab selten Orte in der Welt der Menschen, an denen das Zwischenmenschliche und die Hilfsbereitschaft so ausgeprägt waren wie in seinem Beruf. Doch heute schien alles um ihn herum nur eine untergeordnete Rolle zu spielen. Er achtete darauf, dass er dem entgegenkommenden Leuten aus den Weg ging, doch er wirkte viel zu sehr in Gedanken, als dass er einen Gruß mit mehr erwidert hätte als mit einem angedeuteten Nicken. Carlisle war erleichtert, dass Edward viel zu weit entfernt war, um Einsicht in seine Gedanken zu haben und er würde sein Möglichstes tun um das Geschehen des heutigen Morgens auch weiterhin vor ihm zu verbergen. Es war nicht einfach die Gabe seines Schützlings auszutricksen, doch es funktionierte, wenn man wusste wie. Scheinbar ziellos trugen Carlisles‘ Beine ihn durch das Gebäude. Der belebtere Teil des Krankenhauses lag bereits hinter ihn, als er wieder aufsah. Die großen weißen Pendeltüren, vor denen er nun stand, markierten das Ende des Diagnostizierenden Bereiches und führten direkt in die Chirurgie. Das Krankenhaus in dem Carlisle arbeitete, verfügte über mehrere sehr gut ausgestattete Operationsräume, in denen er selbst schon das ein oder andere Mal gestanden hatte. Um diese Uhrzeit jedoch kam nur jenes Personal hier vorbei, das in die Pathologie mussten, die direkt dahinter angrenzte. Das Leichenschauhaus war kein schöner Ort, die Toten wurden dort vor ihrer Obduktion aufgebahrt und warteten auf ihren Termin beim Rechtsmediziner. Es grenzte an Geschmacklosigkeit, die beiden Bereiche miteinander zu verbinden, wie der Vampir fand. Carlisle war im Begriff sich auf seinem Absatz abzuwenden, um zurück zu seiner Arbeit zu gehen, als hinter ihm Schritte zu hören waren. Anders als sein leiser Gang, hallte der schwere Gang der Menschen von den marmorierten Wänden wieder. Neugierde erfasste den Arzt, wer oder was zu dieser Zeit hierher kam. Und so blieb er stehen und betrachtete mit vorgetäuschtem Interesse das Schwarze Brett, dass die Operationstermine des heutigen Tages anzeigten. Die Schritte hinter ihm kamen immer näher. Carlisle nahm den Herzschlag der Personen wahr. Etwas verwundert bemerkte er, dass ein Herzschlag mehr existierte, als Schritte zu hören waren. Automatisch wandte er seinen Blick auf den Plan für den Vormittag. Doch dort war kein Eingriff vorgesehen. Der Vampir wandte seine Aufmerksamkeit auf den unscheinbarsten Herzschlag, er war nur kurz und leise zu hören, doch er war vorhanden. Eine Notoperation schien außer Frage, dafür hatten die ankommenden Personen einen zu gemächlichen Schritt inne. Eine Vorahnung ergriff ihn wie ein eiskalter Schauer. Seine Sinne als Vampir waren ausgeprägter als die eines Menschen, wahrscheinlich hatte das medizinische Personal die leichten Regungen gar nicht mehr wahrgenommen. „Es ist schade um sie, sie ist hübsch.“ Hörte Carlisle einen der beiden Pfleger, wie er vermutete, sprechen. Er belauschte sie, noch lange bevor sie in sein Sichtfeld kamen. „War. Und sie wird es bald nicht mehr sein, wenn sie unter der Erde liegt.“ Amüsierte sich der zweite junge Mann und machte deutlich, dass ihm noch das gewisse Feingefühl fehlte. „Aber schade ist es dennoch. Kaum verwunderlich, dass sie den Sprung von der Klippe nicht überlebt hat. Dazu muss ich nicht einmal Arzt sein, um das festzustellen.“ Der leichte Herzschlag klang stockend und schien sich zu bemühen seine ihm übertragene Aufgabe weiter auszuführen. Es war nur eine Frage der Zeit, so wusste Carlisle, bis das Herz aufgeben würde. Die Frau, über die das Pflegepersonal sprach, würde es aber längst nicht mehr mitbekommen – dessen war er sich leider nur all zu sicher. „War sie nicht Lehrerin hinten im Waisenhaus?“ „ So genau schaue ich mir die Toten nicht an, wenn ich sie nach unten bringe. Schlimm genug das ich den Bereich immer betreten muss.“ Beschwerte sich der andere. Aufmerksam lauschte Carlisle den Worten und sah aus den Augenwinkeln immer wieder auf die Biegung, die der Korridor machte – doch noch bevor er sie sehen konnte, nahm er etwas anderes wahr. Etwas, dass längst vergessen geglaubt war und alte Erinnerungen weckte. In den wenigen Augenblicken die ihm blieben, bevor der Duft sich wieder zerstreuen konnte, versuchte der Arzt sich zu entsinnen, woher er ihm bekannt war. In seiner Erinnerung jedoch war das süßliche, blumige Aroma ausdrucksstärker und viel verlockender. Nun erweckte es nur eine beinahe ungewollte Vorahnung. Carlisles Hände ballten sich zur Faust, vor seinem inneren Auge sah er das lange brünette Haar, dass vom Wind umspielt wurde, wann immer sie nach ihrer Operation im kleinen Park saß, der den Patienten zur Entspannung zur Verfügung stand. Wie ein Puzzle, fügten sich die einzelnen Teile, welche die Ereignisse des Tages beschrieben, zu einem schmerzlichen Bild zusammen. Es gab keinen Zweifel, denn die Sinne eines Vampirs waren nicht dazu geschaffen seinen Besitzer zu täuschen. Die Schritte kamen näher und ohne einen zweiten Gedanken daran zu verschwenden, verschwand Carlisle durch die Tür, zu einer angrenzenden Besenkammer. Die beiden Pfleger sollten ihn nicht sehen oder bemerken – denn er würde ihn nachgehen, um sich zu vergewissern, dass dieser verlorene Herzschlag zu der Frau gehörte, für deren Wohl er immer gebetet hatte. Die Rollen der Bare, auf der die vermeintlich tote Frau lag, passierte Carlisles Versteck und fuhr über die Schwelle der großen Pendeltüren. Und erst als diese wieder still standen, öffnete der Arzt die Tür und kam heraus. Beinahe sofort suchte er nach dem schwachen Herzschlag, der unter dem noch immer anhaltenden Gespräch, den festen Schritten der beiden Männer und ihren gesunden Herzschläge verborgen lag. Erleichtert nahm er wahr, dass ihr Herz noch immer gegen den nahenden Tod ankämpfte. Carlisle wusste nicht, ob es etwas gab, das er für sie tun konnte, doch er musste sich vergewissern, dass sie es war. Er verschwendete keinen Gedanken mehr daran, entdeckt zu werden oder was zu tun war, wenn er alleine mit ihr war. Carlisle folgte dem Weg, der ihm scheinbar vorbestimmt war. Mit jedem Schritt, den er auf den weißen Marmorboden setzte, folgte er dem roten Faden, der ihn erneut mit Esme zu verbinden schien. Die Schmerzen in seinem Inneren wurden mit jedem Schritt, den er ihr näher kam, stärker. Am liebsten hätte er die Pfleger verjagt und das Tuch von der Frau fortgerissen. Doch ihm war bewusst, dass es zu gefährlich war diese Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. In jedem Moment, in dem ihr Herz stockte, um nur noch mühsamer weiter zu schlagen, zuckte Carlisle zusammen. Eine Angst überkam ihn, dass es zu spät war, bevor sie in dem kühlen Räumen der Rechtsmedizin angekommen war. „Stell sie einfach da hin, Rybakowski wird sich später darum kümmern.“ Die Stimme des Mannes, der eben noch solch große Sprüche geklopfte hatte, wirkte in diesem Moment vorsichtig, wenn nicht sogar ängstlich. Carlisle konnte es ihnen nicht einmal verübeln, wenn man bedachte, dass sie in einem Raum, umringt von Toten, standen. Doch nun wünschte er sich mehr denn je, dass die beiden verschwinden würden. „Na komm, ich habe oben noch andere Dinge zu tun.“ Der Erste schien es noch eiliger zu haben als zuvor schon und war schon auf dem Weg zur Tür, noch bevor er zu Ende gesprochen hatte. Als Carlisle in das Büro des Rechtsmediziners gegangen war, das genau neben dem Hauptraum der Pathologie angrenzte. Sein Kollege Rybakowski war noch nicht zum Dienst erschienen und Carlisle war zum ersten Mal dankbar über seine Unpünktlichkeit. Die Schritte wurden zu einem leisen Echo im Treppenhaus, das zurück in den belebteren Teil des Krankenhauses führte. Die Stille nahm erneut ihren rechtmäßigen Platz an diesem Ort ein. Nur ein leises Geräusch war zu hören, dass nicht in die Gegenwart von all jener Herzen gehörte, die längst aufgehört hatten zu schlagen. Carlisle suchte den Weg zwischen den mit Tüchern verdeckten Leichnamen um die Bare zu finden, auf der die Frau fälschlicherweise gelegt wurde. Selbst für ihn war der Herzschlag nur noch schwach zu vernehmen und dennoch wollte er sie dem Tod nicht so einfach überlassen. Ihr Geruch. Ihre Präsenz. Es gab keinen Grund daran zu zweifeln, dass sie es war, die auf diesem schrecklichen Weg zurück zu ihm gefunden hatte. Der kühle Luftzug, der den Raum in einem angemessenen Kältegrad versetzte, ließ die Leichentücher in sanfte Bewegungen verfallen. Doch nur unter einem konnte man ganz schwach die noch lebendigen Bewegungen sehen, die von ihr ausgingen. Carlisle hatte sie gefunden. Er zögerte nicht das weiße Tuch von ihrem Körper zu ziehen. Doch er stockte für einen Moment, auch wenn er bereits wusste, wen er darunter vorfinden würde. So viele Empfindungen durchströmten den Vampir, doch das ausdrucksstärkste war der Schmerz zu wissen, dass er ihr dies alles hätte ersparen können. Bis zuletzt hatte er gehofft, dass sie ein glückliches und erfülltes Leben hatte. Selbst in diesem ruhigen Zustand, erkannte Carlisle die Sorgenfalten auf ihrer weichen Haut, unbeschwert war ihr Leben nicht verlaufen. Für die Augen der Menschen verborgen, erzählten die hellen Konturen auf ihrer Haut, die auf alte, längst verheilte Wunden schließen ließen, eine noch viel grausamere Geschichte. Liebevoll und dennoch vorsichtig, aus Angst, der zierlichen Frau noch mehr Schmerzen zuzufügen, strich Carlisle über ihre Wange und spürte an seinem Handgelenk ihren kaum mehr wahrnehmbaren Atem. Sie war älter geworden, doch auch jetzt, im Angesicht des Todes, besaß sie eine natürliche Schönheit. Die Schläge ihres Herzens wurden immer flacher und dumpfer und erlösten Carlisle aus der Starre, in die er verfallen war, als er Esme angesehen hatte. Sein Blick war erfüllt von Entschlossenheit. Er musste nicht mehr darüber nachdenken, was er zu tun hatte. Sie zu verlieren, war das Letzte, was Carlisle ertragen konnte. Er hatte sie einmal gehen lassen, doch nun war die Zeit gekommen, sie bei sich zu behalten. Ein zaghaftes Lächeln zeichnete sich auf seinem Mund ab, als er mit seiner Hand weiter hinab strich und über den Hals der jungen Frau strich. Carlisle spürte das Pulsieren der Halsschlagader unter seinen Fingern. Sie war schwach, doch es war noch nicht zu spät. Er beugte sich vor und küsste diese so betörende Stelle ihres Körpers. Ihr ganz eigener Geruch machte es dem erfahrenen Vampir schwer, nicht einfach seiner Natur nachzugeben. Doch es war nicht ihr Blut, dass er von diesem schwachen Körper erbitten wollte, sondern dass dieser durchhielt und ihr die Chance gab erneut zu erwachen. Kaum mehr als einen Augenaufschlag lang zögerten die scharfen Fänge, bevor die zarte Haut unter ihnen brach. Als Carlisle die eisenhaltige Flüssigkeit mit all seinen Geschmacksnerven berühren und das rote Gold schmecken konnte, stieß er seine Zähne reflexartig tiefer in das weiche Fleisch und drängte sich mehr an den blutigen Kuss. Seine Existenz schien sich nur noch auf diese eine Stelle zu beschränken, an der Esme und er miteinander verbunden waren. Er fühlte ihren Herzschlag, hörte ihn in seinen eigenen Ohren. Ihre Stimme, von welcher er schon erwartet hatte, sie niemals mehr zu hören, stieß einen schmerzerfüllten Schrei aus. Noch als seine Hand sich auf ihre Lippen drückte, um die Laute von anderer Leute Ohren fernzuhalten, hörte er das Echo. Carlisle löste sich von ihr und blickte in die weit aufgerissenen braunen Augen. „Es tut mir leid Esme.“ Carlisle flüsterte leise, auch wenn er wusste, dass sie beide noch alleine waren. „Aber ich kann dich hier nicht sterben lassen. Verzeih mir die Schmerzen, ich habe dir versprochen dir keine zuzufügen.“ Er berief sich auf ein Gespräch vor zehn Jahren. Nach ihrem Sturz, hatte er ihr Bein mit einer Spritze ruhig stellen wollen und hatte ihr versprochen, dass er ihr nicht weh tun würde. Es war lange her, doch Carlisle hatte niemals einen Moment dieser Begegnung vergessen. Der Geschmack ihres Blutes lag auf seinen Lippen und noch jetzt roch er den intensiven Geruch aus den kleinen Wunden an ihrem Nacken. Die Verlockung war unermesslich, doch ihm war bewusst, dass sie es nicht überleben würde, wenn er sich noch einmal an ihr bediente. Carlisles Hand dämpfte die Schreie, doch für ihn waren die Qual und der Schmerz deutlich zu sehen. Esme wandte sich, bis das Tuch, das sie bedeckt hatte, zu Boden fiel. Der Blick des älteren Vampirs folgte dieser Bewegung, doch blieb er an den Stellen ihres Körpers hängen, die nicht mehr von Kleidung bedeckt blieben. Die Wunden die er hier sah, waren keine Verletzungen des Sturzes wegen, von denen die Pfleger zuvor gesprochen hatten. Sie waren viel älter und erzählten eine Geschichte die Carlisle am liebsten niemals gehört hätte. „Ich bringe dich von hier fort. Ich bitte dich, den Schmerz zu ertragen bis wir in Sicherheit sind. Esme, ich werde nicht mehr von deiner Seite weichen.“ Versprach Carlisle ihr, auch wenn er nicht wusste, ob sie ihn verstehen konnte. Langsam hob er seine Hand von ihrem Gesicht und war dennoch darauf gefasst, ihren Mund sofort wieder zu verschließen. Doch auch wenn er sie noch immer hören konnte, waren ihre Lippen fest verschlossen. Ein sanftes Lächeln trat auf seine Lippen, als ihm bewusst wurde, dass sie ihn gehört hatte. Vorsichtig nahm er sie hoch. Es war keine Last, es war wie damals, als sie sich den Fuß gebrochen hatte. Ihr Gewicht war das Gegenstück zu seinem auf der Waage des Lebens und es gab nichts, das Carlisle lieber auf den Armen getragen hätte. „Es wird alles wieder gut, Esme.“ Durch den Schrei aufmerksam geworden, hatten sich zwei Ärzte auf den Weg gemacht, dem Geräusch zu folgen. Carlisle hatte sie nicht sofort bemerkt, so dass sie schon beinahe an den Türen zur Pathologie waren, als er selber mit Esme auf den Armen davor stand. Die Schritte waren schon zu nahe, um aus der Tür zu laufen und sich in einem der angrenzenden Behandlungszimmer zu verstecken. Es war sicher, dass die beiden herannahenden Personen sich überall umsehen würden und Carlisle wollte nicht wissen was geschehen würde wenn man ihn mit der eben noch Tod befundenen Frau auf den Armen erwischte. Er drückte Esme sanft an sich und sah sich nach der ersten Tür um, der Hintereingang zum Obduktionsraum. Zu gerne hätte er nun Edwards Gabe gehabt, um zu wissen, wo sie für einen kurzen Moment in Sicherheit waren, den sie benötigten um hier heraus zukommen. Nur einen kurzen Augenblick würde er benötigen, um zu entfliehen. Er war schnell genug, damit dass das menschliche Auge es nicht wahrnehmen würde. Doch er musste sie ablenken, damit sie ihn nicht in dem Moment zuvor erkannten. Die Schritte kamen näher und hatten bereits die lange Treppe erreicht, die hinab in den Keller führte, aus dem es nur diesen einen Ausweg gab. Carlisle verbarg sein Gesicht in dem braunen Haar von Esme und versuchte einen Ausweg aus ihrer Lage zu finden. Nur einen kurzen Augenblick und sie könnten entkommen. „Shh, Esme, ich werde dich zurück zum Sonnenlicht bringen.“ Flüsterte er ihr leise ins Ohr, als im gleichen Moment die Flügeltüren aufschwangen und die beiden Ärzte den Pathologischen Bereich betraten. Kapitel 4: F O U R ------------------ Einen kurzen Moment verharrten die beiden Ärzte, die dem Schrei bis hierher gefolgt waren. Für einen Augenblick, war ihnen so, als hätte jemand hinter den Türen gestanden. Jedoch war der schmale Korridor, der die vier Haupträume der Pathologie miteinander verband, leer. Die beiden hochgewachsenen Männer sahen sich an, keiner von ihnen wollte seinen Gedanken teilen, aus Angst ausgelacht zu werden. Ein natürlicher Instinkt ließ sie in eine leichte Panik verfallen, welche sie versuchten vor dem jeweils anderen zu verbergen. Ihre Schritte waren bedacht und ruhig, doch beide sahen sich immer wieder zum jeweils anderen um. Es musste ihnen sehr unwahrscheinlich vorkommen, dass sich hier unten noch jemand zu Wort meldete. Und dennoch hatten sie etwas gehört, ohne zu ahnen, dass ihr unterschwelliges Gefühl mehr Wahrheit beinhaltete, als ihnen lieb war. Die Handzeichen, die sie einander gaben, während sie langsam voran schritten, um die ersten beiden Türen zu öffnen, konnte Carlisle nicht sehen. Der Vampir, der noch immer die Frau auf den Armen hielt, drückte sich gegen die metallene Wand des Hauptraumes der Pathologie – dem Leichenschauhaus. Die Tür zu seiner rechten war der einzige Eingang zu diesem großen Saal, der gefüllt war von verdeckten Menschen, die ihren letzten Atemzug längst getätigt hatten. Und ebenso der einzige Ausgang. Der mit Metall verkleidete Korridor der Kellerräume, in dem sie sich befanden, machte es möglich ohne große Konzentration, jeden Schritt nachzuvollziehen. Zumindest dem geschärften Sinnen der kalten Wesen würde niemals ein Schritt der Menschen entgehen. Die ersten beiden Türen auf dem Korridor waren ein kleines Zimmer mit Reinigungsutensilien auf der linken Seite und der Obduktionsaal auf der rechten. Mit einem Ruck zogen sie die Türen auf. Kurz sahen die menschlichen Ärzte sich um und schlossen die Türen dann verhältnismäßig leise, um weiter zu gehen. Die nächsten beiden Türen und auch die letzten in diesem Flur, waren zur rechten das Büro des Rechtsmediziners und zu linken das Leichenschauhaus, in dem Carlisle mit Esme stand. Die Schritte kamen näher und der einzige Ausweg war, an den beiden menschlichen Kollegen vorbei zu kommen ohne das diese noch einmal das Gefühl bekamen hier unten nicht alleine zu sein. Mit Sicherheit war Carlisle zu schnell, als das sie ihn identifizieren konnten. Doch er wollte auch keineswegs den Gedanken an etwas Übernatürliches in ihnen wecken. Die Zeit, in der die Menschen noch an böse Geister, Dämonen und andere Wesen glaubten, lag noch nicht weit genug zurück um sicher zu sein, dass sie es einfach abtaten. Selbst ein Aufmerksamer Mensch, würde früher oder später argwöhnisch werden, wenn er Carlisle beobachtete. Denn manche typisch menschlichen Verhaltensmuster, konnte selbst der Jahrhundertealte Vampir nicht umsetzen. Die dritte Tür schlug zu, noch bevor ein Schritt den Boden des Raumes betrat, in dem Carlisle noch nach einem möglichst unauffälligen Ausweg suchte. Beruhigend strich er Esme durch das braune Haar, er hoffte, dass sie den Schmerz ertragen würde bis sie hier heraus waren. „Alles wird gut, geliebte Esme.“, hauchte er ihr ins Ohr. Carlisle wusste nicht ob seine Worte sie in ihrem Leid erreichen würden, doch er wollte versuchen ihr beizustehen für das, was er ihr angetan hatte. Mit dem Glauben, dass wenn jemand hier unten war, sie ihn finden würden, betraten die beiden Männer das weitläufige Leichenschauhaus. Der kühle Luftzug erreichte sie und schlüpfte unter ihre Kittel. Doch es war nicht nur die Kälte, die ihnen eine Gänsehaut bescherte. Mit wachsamen Blick sahen sie sich in dem stillen Raum um. Aufmerksam sahen sie an den Wänden entlang, in alle Ecken, die Schutz bieten mochten. Doch auf den ersten Blick war nichts zu sehen. Die beiden Ärzte teilten sich auf und gingen die einzelnen Gänge entlang, die zwischen den Baren verliefen. Einige von ihnen waren leer. Unter anderen wölbten sich menschliche Körper. Der Gedanke, dass sich jemand unter einem dieser Tücher verbarg, erschien ihnen nicht sehr angenehm. Das erste Tuch wurde von einem der leblosen Körper gezogen, gefolgt von einem kurzen Moment der Stille. Die Herzschläge der beiden Männer übertönten ihre nervösen Atemzüge. Auch wenn sie optisch gefasst wirkten, innerliche erfasste sie beide eine gewisse Unruhe. Der Größere der beiden lachte kurz auf, um zu verbergen wie unbehaglich ihre gegenwärtige Situation wirklich war. Ein falsches Gefühl der Sicherheit breitete sich in den beiden Männern aus. Im nächsten Augenblick stand der Mann hinter seinem Kollegen und klopfte ihm belustigt auf die Schulter. Beide blickten auf das starre Gesicht der Leiche vor ihnen hinab. Genau dies war der Moment, auf den Carlisle gehofft hatte, seit die beiden Menschen die Räume betreten hatten. Er sprang auf, Esme noch immer sicher auf seinen Armen, und nutzte den Vorteil seiner Geschwindigkeit, um den Räumlichkeiten zu entfliehen. Die Bewegung wurde von beiden anwesenden Männern wahrgenommen, doch als sie sich umsahen, war dort nichts mehr, das ihren Verdacht hätte bestätigen können. Leise schlossen sich die Pendeltüren hinter Carlisle. Er hielt Esme auf den Armen und brachte mit schnellen Schritten den chirurgischen Bereich hinter sich. Hinter den großen weißen Türen, welche den operativen Bereich von einem langem Korridor trennte, an welchen sich kein weiteres Behandlungszimmer anschloss. Folgte man dem Weg einige Meter geradeaus, spaltete sich der Gang in zwei Richtungen. Während er nach links nur zum Empfangsbereich und Diagnoseräumen führte, gelangte man über den rechten Weg zum Hinterausgang. Und eben jener war der Ausweg den Carlisle für Esme und sich sah. Weit weg wollte er sie bringen von den Menschen, die ihr jenes Leid gebracht hatten, dass er auf ihrem Körper Narben hinterlassen hatte – Carlisle hoffte, dass sie nach ihrer Verwandlung nicht mehr zu sehen sein würden. Nur selten fand das Tageslicht einen Weg in die fensterlosen Gänge des Krankenhauses. Müde flackerten die künstlichen Lichtquellen an der Decke und hüllten die Räumlichkeiten in eine erdrückende Atmosphäre. Hinter den wenigen Türen, an denen Carlisle vorbeikam, konnte er das Kratzen von Füllfederhaltern auf Papier hören, ebenso wie das beschäftigte Tippen auf Schreibmaschinen. Der Atem seiner menschlichen Kollegen übertönte die kaum hörbaren Schritte Carlisles, als er den Korridor hinab lief. Er war sich gewiss, dass niemand auf ihn Aufmerksam wurde und niemand mitbekam wie er mit einer vermeidlichen Leiche das Krankenhaus verlassen wollte. Sanft drückte Carlisle Esmes‘ Kopf gegen seine Brust. Noch konnte er ihr Herz spüren, wie es seinen Kampf gegen das Gift begonnen hatte. Bald schön würde es aufgeben und Esmes Körper der Unsterblichkeit überlassen, zu welcher er sie aus purem Egoismus gezwungen hatte. Sanft hielt er sie in den Armen. Jede Berührung war vorsichtig und bedacht, ganz als ob der blonde Vampir Angst hatte sie zu zerbrechen, vor lauter Euphorie, dass sie es war, die in seinen Armen lag. Noch war sie ein Mensch, doch mit jedem der kurzen Atemzüge, welche ihre Lippen verliesen, würde sie mehr und mehr die eisige Kälte der unsterblichen Existent heimsuchen. Carlisle wusste nicht, wie er ihr all dies erklären sollte, doch wie konnte er sie einfach zurücklassen? Immer wieder fiel sein Blick kurz auf die junge Frau, die selbst im Angesicht der Qualen ihres ewigen Lebens, von bezaubernder Schönheit war. Er wünschte sich ihr den Schmerz zu nehmen, den er ihr zugefügt hatte und welchen sie nun stillschweigend für sich behielt. Noch bevor er seine Kollegen sehen konnte, vernahm Carlisle ihre Stimmen. Ein kühler Luftzug wehte durch eine geöffnete Tür in das Klinikum hinein. Der blonde Vampir begriff dass die vier Personen, deren Herzschlag er pochen hörte, direkt vor dem Hinterausgang standen. Ein weiteres Mal machte der Korridor eine Biegung nach rechts und verlief dann geradewegs auf den Ausgang zu. An jener Ecke blieb Carlisle stehen lehnte sich gegen die kühle, weiße Wand hinter ihm. Vorsichtig wandte er den Kopf und sah in die Richtung, aus welcher er die ruhigen Herzschläge hörte. Das Sonnenlicht, das einen Weg durch die dicke Wolkenschicht gefunden hatte, fiel durch die geöffnete Tür in den Korridor. Vier lange Schatten deuteten in jene Richtung, in der Carlisle sich noch zu verstecken versuchte. Wie eine Warnung vor dem gefährlichen kalten Wesen, doch die Menschen nahmen es nicht wahr. Vier Ärzte und Pfleger standen direkt vor der Tür und versperrten Carlisle die einzige Möglichkeit unbemerkt und ungesehen aus der Klinik zu gelangen. Sie lachten ausgelassen über die Anekdoten die einer der Ärzte über seine letzte Schicht preisgab. Wäre die Situation in der Carlisle sich befand anders gewesen, so hätte er sich eingemischt und ihnen mitgeteilt, dass sie ihre Schweigepflicht missachteten. Doch in diesem Augenblick, war das Einzige, was wirklich zählte dieses wundervolle Wesen in seinem Armen, das beinahe für immer verloren gewesen wäre. Ohne das Carlisle sich darüber vergewissern musste, wusste er, dass auf der Mitte des Weges, welcher zwischen seinen Kollegen und ihm lag, eine Tür auf der linken Seite in das Treppenhaus führte. Von hier aus gelangte man in die beiden oberen Stockwerke, welche die Büros, als auch die Stationen umfassten. Die einzelnen Kellerteile des großen Gebäudes waren unterteilt. Carlisle hatte sich dort unten nie genau umgesehen, um zu wissen ob es einen Notausgang gab. Niemals hätte er erwartet, dass dieses Wissen einmal von Nöten sein würde. Doch weder Aufwärts noch Abwärts erschien ihm als eine Option Esme hier herauszubringen. In der Hoffnung, dass seine menschlichen Kollegen wieder zurück an die Arbeit gehen würden, blieb Carlisle hinter der Ecke stehen. Doch je mehr Zeit verstrich, etwas das ihn sonst in keinster Weise berührte, desto mehr wurde seine Hoffnung durch Nervosität ersetzt. Es war eines jener Gefühle, die er nur selten in seinem unsterblichen Leben erfahren durfte. Der Körper in seinen Armen zitterte, ihm war die Tortur, die ihr Körper durchlebte wohlbekannt. Alle noch fähigen Funktionen versuchten sich gegen das Gift zu wehren, gegen das sie keine Chance hatten. Es würde sich mit ihrem Blut mischen und auf seinem Weg zum Herzen jede lebendige Zelle ersticken. Die Schmerzen würden mit jedem Atemzug stärker werden, welchen sie noch fähig war zu verrichten. Und jetzt schon, hörte er wie schwer und flach jeder einzelne über ihre Lippen kam. Hätte es in seiner Hand gelegen, so hätte er ihr jeden Schmerz abgenommen, der mit jedem Herzschlag durch ihrem Körper zog. Carlisle versuchte das Pochen ihres Herzens genau zu verinnerlichen, denn ihm war bewusst, dass es aufhören würde zu schlagen. Ganz gleich ob ihr Körper die Verwandlung zuließ oder nicht. Jedes Geräusch das um ihn herum erklang, nahm Carlisle deutlich wahr. Wachsam achtete er darauf, dass sich niemand von hinten an Esme und ihn herannahte. Doch außer seinen Kollegen, die während der Arbeitszeit rauchten, schien niemand diesen Korridor zu wählen. Die Zeit, die Esme nicht hatte, verging mit jedem Atemzug langsamer. Carlisle hatte die Zeit noch nie so deutlich und seit langem nicht mehr so menschlich empfunden wie in diesen endlos wirkenden Augenblicken. Auch wenn Esme noch immer all die Schmerzen für sich behielt, die ihren Körper heimsuchten, spürte Carlisle die Zuckungen ihrer Glieder. Die Reue, welche Carlisle empfand, war unermesslich. Vorsichtig beugte er sich vor und küsste sie auf die verschwitzte Stirn. Ihr süßlicher Geruch ließ Carlisle beinahe vergessen in was für einer beengenden Situation sie beide sich befanden. Er konnte nicht unterdrücken, dass er sich, wie damals, zu ihr hingezogen fühlte – doch bereitete ihn dieser, in seinen Augen, egoistische Gedanke, nur noch mehr Schuldgefühle. „Niemals mehr werde ich dich zurücklassen, so fern du es zulässt…“ Vor ihm auf dem Korridor, welcher an dem Hinterausgang entlangführte, wurde es mit einem Mal etwas lebendiger. Die Männer warfen ihre Zigarettenstummel hinaus auf den betonierten Fußweg. Der eine streckte sich und machte seinem Körper deutlich, dass es nun wieder an die Arbeit gehen sollte, der andere beklagte sich darüber das seine nächsten Patienten ein Gräuel waren. Carlisle empfand Abscheu gegenüber ihrer Haltung als Ärzte. Doch in diesem Moment waren ihm Worte und Handlung seiner Kollegen gleichgültig, denn erleichtert beobachtete er, dass sie endlich gingen und ihm die Chance gaben zu entkommen. Die Schritte entfernten sich nur langsam in Richtung des großen Treppenhauses, das vom Foyer aus nach oben führte. Carlisle wartete gewissenhaft, bis sie weit genug entfernt waren um nicht mehr den kurzen Luftzug zu spüren, welcher ins Krankenhaus hineinkommen würde, wenn er hinaustrat. Ihre weißen Kittel waren noch deutlich im fahlen Licht des Korridors zu erkennen, als Carlisle um die Ecke ging, Esme noch immer an sich gedrückt. Auch wenn er davon ausgehen konnte, das kein Mensch jemals seine Schritte hören würde. So ging er noch vorsichtiger auf die Tür zu. Das Tageslicht fächerte sich in dem Korridor und zwang Carlisle dazu aus dem Schatten zu treten, welche ihm bis dahin Schutz geboten hatte. Carlisle ging langsam in einen Laufschritt über, um die menschliche Geschwindigkeit hinter sich lassen zu können, wenn er erst die gläserne Tür erreicht hatte. Doch dorthin sollte er, zumindest in diesem Moment, nicht gelangen. Scheinbar unfähig die Schmerzen weiterhin still zu ertragen, hallte ein Schrei durch den langen Korridor und wurde von den kahlen Wänden zurückgeworfen. Völlig reglos blieb Carlisle stehen und zögerte einen Moment zu lange um den Blicken seiner Kollegen zu entfliehen. Ihre Blicke trafen sich und für den blonden Vampir gab es keinerlei Zweifel daran, dass sie ihn entdeckt und erkannt hatten. Noch bevor sich einer der Männer umwenden konnte um ihm nachzurennen, hatte Carlisle das Treppenhaus betreten. Er dachte nicht lange darüber nach, als er hinab in den Keller lief – denn die oberen Stockwerke waren voll von noch mehr Menschen und vielleicht auch den beiden Ärzten die schon im Leichenschauhaus versucht hatten ihn zu finden. Es waren Schritte zu hören, jedoch erschwerte der Widerhall in den kahlen Hospitalkorridor, dass Carlisle erkennen konnte ob es seine Kollegen waren oder einfach jemand anderes der näher an den Ort des Geschehens kam. Je weiter man die Treppen hinab stieg, desto mehr bekam man das Gefühl, dass sich niemand darum kümmerte was hier unten geschah. Während das vorletzte Licht noch mit seinen letzten Kräften flackerte, hatte die Glühbirne danach längst schon aufgegeben. Für einen Menschen wäre hier unten in der Dunkelheit nichts erkennbar gewesen, doch Carlisles Augen gewöhnten sich schnell daran. Ebenso wie sie sich von dem noch ungewohnten künstlichen Licht der Neuzeit erholten. In dem Kellerbereich, in welchen es Carlisle unverhofft verschlagen hatte, schien es keine Verbindung zu anderen Bereichen zu geben. Zwei Durchgänge führten zu weiteren Räumlichkeiten, welche mit allerlei medizinischen Utensilien zugestellt waren. Seien es verpackte Spritzen und Handschuhe oder Skelette, zur Unterweisung der medizinischen Praktikanten. Unter vielen der verdeckten Gegenstände vermutete der Vampir ausrangiertes Mobiliar. Die Staubkörner knirschten unter Carlisles Füßen und verdeutlichtem ihn, dass er seit langem der erste sein musste, der diese Räume betrat. Er blickte zurück und vernahm immer noch die Schritte aus der Etage über ihnen. Ihm war bewusst, dass er hier unten keinen Ausweg für sie schaffen konnte – auch wenn er die Kraft hätte die Wand zu durchbrechen, sah er davon ab. Doch er wusste nicht, ob die Kollegen schon davongingen oder ihm nachgingen. Er wusste nur, dass er Esme schützen musste, niemand durfte sie sehen. Sie war kaum mehr ein Mensch und würde es niemals wieder sein. Die Schritte, welche dem wachsamen Mediziner schon zuvor aufgefallen waren, drangen noch immer an sein Ohr. In mitten des kurzen Ganges, der den Keller ausmachte, blieb Carlisle stehen. Er drückte Esme an sich, als konnte er somit unterbinden, dass derjenige, der gerade die Tür zum Treppenhaus geöffnet hatte, sie sah. Die Hand der Frau hielt sich so sehr an seinem Kittel fest, dass man ihre Knöchel genau erkennen konnte. Zu gerne hätte Carlisle ihre Hand genommen, doch er konnte sie nicht loslassen und riskieren, dass sie zu Boden fiel. Stufe für Stufe kam die unbekannte Person dem Ausweglosen Versteck des blonden Mannes näher. Dabei wirkte eben jener Mensch ruhig und gelassen, als ahnte er das Carlisle sich selbst in eine Sackgasse begeben hatte. Wissend das ihm weder der verdeckte Aktenschrank, noch das alte Anatomiegestell ihm genügend Schutz bieten konnte, war der Vampir mit der jungen Frau auf den Armen stehengeblieben und hatte sich in Richtung der Tür gewandt. Nur wenige Schritte hinter ihm begann die Wand, welche den Raum eingrenzte. Carlisle wusste nicht was er tun oder sagen sollte, wenn man ihn hier erwartete. Doch ihm war bewusst, dass er Esme um jeden Preis schützen würde. Auf den letzten Treppenstufen erschien ein langgezogener Schatten, welcher den Besucher ankündigte. Noch immer begleitete seine Bewegungen ein gemächlicher Schritt, der bedrohlich nahe gekommen war. Wer auch immer zu ihm hinunter kam, wusste, dass Carlisle hier war. Die Frage war nur, ob dieser jemand auch wusste, dass die Frau in seinem Arm auf der Totenliste stand… Durch den Schlitz am Rande der Tür drang ein Lichtschein nach außen. Jedoch war das Büro von Doktor Carlisle Cullen fest verschlossen. Sein Vorgesetzter Doktor Lecoq, der sich nach dem Wohlbefinden des jungen Edwards erkundigen wollte, überlegte einen kurzen Augenblick ob er noch einmal klopfen sollte. Jedoch entschied er sich, dass es wohl einen Grund gab weshalb die Tür versperrt war und es war offensichtlich, dass Doktor Cullen nicht gestört werden wollte. Auf die Idee, dass sein hochgelobter Angestellter gar nicht mehr in seinem Büro war, sondern mit einer noch viel zu lebendigen Leiche aus dem Hospital flüchtete, wäre er niemals im Leben gekommen. Einen solch talentierten Angestellten, würde er ohnehin niemals in Frage stellen. Darum wandte sich Doktor Lecoq um und überlies Doktor Cullen seiner scheinbaren Arbeit. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)