Das Portal von Rubinfuchs88 (Die Welt in dir) ================================================================================ Kapitel 5: Der einsame Weg -------------------------- Dad hatte sich tatsächlich zwei Wochen Urlaub genommen und alle seine geplanten Termine kurzfristig gekippt, um mich jeden Tag genau im Auge haben zu können und sorgfältig zu beobachten, wie es mir nach und nach besser ging. Am ehesten war es an meinem Essverhalten abzusehen. Zuerst konnte ich nur püriertes Gemüse einigermaßen schmerzfrei schlucken. Schließlich arbeitete ich mich über Milchreis, Suppe und Hühnerfrikassee zu ganz normalen Essen hinauf. Die Zeit bis zu meinem ersten Schultag nach dem Unfall, wie ich es bezeichnete, rückte unweigerlich näher und mit jedem verstrichenen Tag wurde ich wieder unruhiger. Dad hingegen nutzte die Zeit und kümmerte sich um diverse Reparaturen am Haus und manchmal ertappte ich ihn sogar, wie er im Wohnzimmer auf dem Sofa saß und in Ruhe ein Buch las. Ich genoss es über die Maßen, nicht allein im Haus zu sein und die Abende mit meinem Dad verbringen zu können. Langsam glaubte ich, wir würden wieder etwas näher zusammenrücken und sein Interesse an meinem Leben wachsen. Manchmal schauten wir einfach nur schweigsam einen Film oder spielten Karten. Wenn es ein besonders schöner Nachmittag war konnte ich ihn sogar überzeugen, mit mir spazieren zu gehen, was er früher schon immer gehasst hatte, da es ihm fürchterlich sinnlos erschien, ohne jegliches Ziel einfach drauf los zu gehen. Die Schmerzen in meinem Hals und in der Lunge und die wiederkehrenden Attacken von Übelkeit, nahmen rasch ab. Anders war es jedoch mit den Erinnerungen. Jene Bildfetzen, die vor meinem geistigen Auge entlang rasten und mich jedesmal, wenn ich allein war und etwas zur Ruhe kam, mich an die merkwürdige Szenerie und den tief sitzenden Schrecken erinnerten. Manche Nacht wachte ich Schweiß gebadet auf und hatte mich mit den Händen in die Decke gekrallt. Ein einziges Mal erschrak ich mich so sehr vor meinen Erinnerungen, dass ich als ich erwachte nach Nanuk gerufen haben musste, denn Dad saß bereits an meinem Bett und erklärte mir noch im selben Moment, dass er nicht da sei. In Gedanken korrigierte ich ihn etwas benommen, dass Nanuk wohl nie wieder dieses Haus betreten würde. Einerseits pochte mein Verstand darauf, dass es völliger Unsinn war, das zu Glauben aber meine innere Stimme flüsterte mir jede Nacht und jeden Moment, den ich aus dem Fenster starrte und den schmalen Pfad hinter unserem Haus betrachtete ein, dass dem nicht so war. Er war weg. Der Schatten am Waldrand war nichts weiter als der letzte Tribut, den er unserer Freundschaft zugemessen hatte; der letzte wehmütige Blick zurück auf etwas oft so wundervolles. Die Tage verstrichen und wieder und wieder dachte ich an ihn, spürte wie ich ihn vermisste und wie mir seine Nähe fehlte und doch fiel es mir schwer, mir einzugestehen, dass ich ihm hätte verzeihen können, wenn er wieder auftauchen würde. Anstatt meinen eigenen Gefühlen jedoch auf den Grund zu gehen flüchtete ich mich zusehends mehr in diverse Fantasiewelten, dass ich kaum merkte wie schnell die Zeit verstrich. Der erste Schultag stand bevor. Schweren Herzens rollte ich mich früh morgens auf von der Wand weg und schlug die Bettdecke zur Seite, als mein Wecker mir lautstark mitteilte, dass es an der Zeit war aufzustehen. Noch etwas schläfrig schaute ich mich sekundenlang im Zimmer um und wartete darauf, dass nicht nur mein Körper sondern auch mein Geist einigermaßen wach wurde. Mikosch blinzelte mich müde an und legte sich langsam wieder auf die zerwühlte Decke nieder, nachdem ich ihn unabsichtlich aufgescheucht hatte. „Beth bist du wach?“, rief Dad vom Fuß der Treppe. „Ja! Ich komme gleich runter!“ Langsam stand ich auf und zog die Gardine vor meinem Fenster auf, um in die Dämmerung in unseren Garten hinaus zu schauen. Eine flackernde Laterne warf vom Straßenrand aus hier und da ihr gelbliches Licht auf den Schnee und ließ so Hebungen und Senkungen hervortreten. In Gedanken bemerkte ich plötzlich eine Regelmäßigkeit in dem Farbenaufkommen. Fußabdrücke schienen von unserem Haus in Richtung des Waldes zu führen. Ich blinzelte ein paar Mal, um pure Einbildung meinerseits ausschließen zu können. Die Spuren blieben. „Beth! Du schaffst es nicht, wenn du jetzt nicht aufstehst!“, ertönte wieder Dads Stimme, nur dieses Mal etwas mahnender. „Ist gut.“, antwortete ich tonlos und konnte mich nur schwer vom Fenster lösen. Die restlichen Minuten, die ich brauchte um mich für die Schule fertig zu machen spielte ich in Gedanken alle Möglichkeiten durch, die diese Spuren hätten verursachen können. Im Inneren wusste ich woher sie kamen aber ich wollte vollends sicher sein. „Dad? Warst du in den letzten Tagen im Garten?“, fragte ich beiläufig, als ich mich bereits angezogen an den Küchentisch setzte um zu frühstücken. Die Kaffeetasse absetzend las er noch die letzte Zeile aus dem Artikel in der Zeitung zu Ende, ehe er den Kopf hob und mich fragend anguckte. „Was sollte ich denn im Garten machen? Da ist doch kaum noch ein Durchkommen nach den ganzen Schneefällen in den letzten Tagen.“ „Mh ja da hast du wohl recht.“ Damit schloss die erste Möglichkeit schon mal aus. „War sonst jemand bei uns im Garten? Neues Holz haben wir nicht bekommen oder?“ „Wie kommst du denn darauf? Nein. Es war niemand im Garten.“, sagte er und verzog nun etwas das Gesicht. „Wieso? Ist da etwas im Garten?“ „Ich hab Fußspuren gesehen.“, sagte ich so lustlos ich konnte und war nun noch unmotivierter in die Schule zu gehen. Am liebsten wäre ich sofort aufgesprungen und in den Garten gerannt, um den Ursprung all dessen zu finden. Letztlich kam nur noch einer in Frage, der sich dort hätte aufhalten können. Irgendetwas musste er dort getan haben, irgendetwas von dem er wusste, dass ich es finden würde. Vielleicht hatte er einen Brief versteckt, in dem er mir alles erklären würde und er wollte möglichst ausschließen, dass ihn vor mir jemand sah oder überhaupt das ihn jemand sah, wie er ihn mir brachte. Vermutlich wollte er mir aus dem Weg gehen. Ich hätte ihn beim Überbringen sehen können, ihn Abfangen können und ihn zur Rede stellen können. Eine Vorstellung, die ihm nach und nach immer mehr Unbehagen zu bereiten schien. So sehr mich diese Erkenntnis auch beschäftigte, konnte ich mich nicht noch länger vor der Schule drücken. So bald ich diesen Tag überstanden hätte, würde ich mich sofort daran machen, die Stelle hinter dem Haus abzusuchen. „Bis nachher Dad und lass nicht wieder das Mittagessen anbrennen!“, lächelte ich und warf mir im Flur meinen Mantel über. „Ich werde es versuchen.“, antwortete er gespielt beleidigt. Einmal tief einatmend öffnete ich die Haustür und schaute hinaus. Es war halb acht Uhr morgens. Niemand stand vor unserer Tür und wartete auf mich, lächelte mich liebevoll an und witzelte darüber wie absurd ich doch den ganzen Unterricht am heutigen Tage wieder finden würde. Ein trauriges Lächeln stahl sich auf meine Lippen. Ob es das wohl gewesen war? Ob unsere Freundschaft nun so auseinander gehen sollte? Ich wusste es nicht. Aber ich wollte es wissen und daher musste ich den Tag schnellst möglich hinter mich bringen. Rasch machte ich mich auf den Weg und wie am Tag zuvor mit Grace abgesprochen, wartete sie ein paar Straßen vor der Schule auf mich, um mir meinen Weg zu erleichtern. „Guten Morgen!“, lächelte sie und schob sich ihre Pudelmütze ein wenig zurecht. „Wo hast du denn Nanuk gelassen?“ Ihre Frage schien mir wie ein Fauststoß auf den Magen zu schlagen. Ich hatte nicht einen Augenblick darüber nachgedacht, was ich eigentlich sagen sollte, wenn Nanuk tatsächlich nicht mehr auftauchen würde. Mit meiner Fassung ringend visierte ich den Eingangsbereich der Schule an und überlegte fieberhaft, was ich antworten sollte, ohne das es irgendwie merkwürdig klang. „In letzter Zeit verstehen wir uns nicht mehr so gut, da erschien es mir besser morgens lieber alleine zur Schule zu gehen.“ „Das war mir schon klar. Ich meinte das eher dahin gehend, dass er schon seit Tagen gar nicht mehr aufgetaucht ist. Kein Lehrer weiß wo er ab geblieben ist, bei ihm zu Hause soll es stets finster sein und am Telefon erreicht man auch niemanden. Der schwarz haarige Schöne ist wie vom Erdboden verschluckt. Da dachte ich mir, dass doch wenigstens du wüsstest wo er sein könnte.“, antwortete sie schließlich mit einem wenig Spott in der Stimme, während wir uns durch die Tür auf den Flur schoben. Sofort waren wir von einem nahezu unerträglichen Lärmpegel umgeben, der ein normales Gespräch schier unmöglich machte. Ich zuckte nur unmerklich mit den Schultern, nachdem sie den fordernden Blick keineswegs von mir abwandte. Sie wollte eine Antwort von mir, das war mir klar, nur konnte ich ihr keine geben und selbst wenn ich tatsächlich gewusst hätte was mit Nanuk war, hätte ich es niemandem preis gegeben. Insgeheim wünschte ich mir, dass sie mich vielleicht nur ärgern wollte und sobald wir den Klassenraum betreten würden, er wie gewohnt an seinem Platz saß, die grünen kräftigen Augen auf uns gerichtet und die schmalen sanften Lippen zu einem gutmütigen Lächeln verformt. Er war nicht da. Der Platz neben dem meinen war leer und verlassen. Die Unterlagen im Fach unter der Tischplatte waren verschwunden. Es war fast so als sei er nie da gewesen. Beklommen schritt ich die Stufen hinauf und ließ mich langsam und bedächtig auf meinem Stuhl nieder. Sekundenlang starrte ich neben mich auf den verlassenen Platz. Irgendetwas Schweres schien sich auf meine Brust zu legen und ließ mich zäh atmen. Die Stunden schlichen langsam an mir vorüber. Ich hatte keine Ahnung was für einem Unterricht ich beigewohnt hatte, mit wem ich den Tag über gesprochen hatte oder was ich überhaupt groß getan hatte. Alles wirkte so belanglos auf mich als sei der Tag es nicht mehr wert, ihn ohne Nanuk zu würdigen und zu genießen. Grace versuchte noch ein paar Mal im Laufe der Unterrichtsstunden, ein vernünftiges Gespräch mit mir zu führen aber ich war gänzlich unfähig ihr länger als einem Satz zu folgen. Auf dem Weg nach Hause hatte sie es vollkommen aufgegeben und verabschiedete sich nur rasch. In Gedanken trottete ich weiter, bis ich an der Kreuzung ankam, an der Nanuk sonst immer abgebogen war, um nach Hause zu gehen. Ich blieb stehen. Tief atmend starrte ich die Straße hinab, die in einem jähen Bogen das Ende nicht mehr preis gab. Ich rang minutenlang mit mir ob ich hingehen sollte. Was sollte ich schon vorfinden, wenn er tatsächlich einfach verschwunden zu sein schien. Andererseits fielen mir die Fußspuren wieder ein. Vielleicht war es angebrachter erst sie zu untersuchen, bevor ich mich auf den Weg zu ihm machen sollte. Ich tat es schon wieder, ärgerte ich mich. Ich dachte hin und her und würde zu keinem Ergebnis kommen. Entschlossen machte ich einen Schritt nach vorne und überquerte die Straße. Das musste ein Ende haben. Zu oft grübelte ich unendlich lange über Dinge und tat so als wären sie schier unlösbar, anstatt einfach mal zu Handeln und das Schicksal entscheiden zu lassen. Was würde es schon ausmachen, ob ich jetzt nachsah oder später. Irgendwann hätte ich den Weg angetreten, da war ich mir sicher und das zählte. Die Straße schien verlassen vor mir zu liegen. Ich sah kein Auto auf den Einfahrten stehen oder irgendwo Leben hinter den Fenstern zum Vorschein kommen. Völlig allein stapfte ich über die teils nicht geräumten Fußwege. Der Schnee knirschte unter meinen Füßen und ließ mich mehrmals fast ausrutschen. Unter der Schneeschicht musste an einigen Stellen bereits Eis gewesen sein. Je näher ich seinem Haus kam, desto langsamer wurde ich. Meine Schritte wurden kürzer und mein Blick war fest auf die verhangenen Fenster gerichtet. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite direkt vor dem dunkelroten Haus blieb ich letztlich stehen. Ein eisiger Wind tobte plötzlich durch meine Haare und nahm mir die Sicht. Für einen Moment überkamen mich trotz aller guten Vorsätze wieder Zweifel ob ich tatsächlich am richtigen Platz, zur richtigen Zeit war. Sekundenlang rang ich mit mir, ob ich nicht einfach wieder umdrehen sollte und das Schicksal sein eigenes Spiel spielen lassen sollte. „Reiß dich zusammen. Jetzt bist du schon hier, jetzt kannst du auch klingeln.“, flüsterte ich doch meine Worte kamen selbst für mich nicht mehr deutlich an, da sie vom Wind davon getragen wurden. Zögerlich überschritt ich die Straße, schob das Tor auf und ging zur Haustür. Im Briefkasten neben dem Eingangsbereich stapelte sich Post und auf dem Weg zur Tür schien schon ewig keiner mehr Schnee geschoben zu haben. Meine Spuren waren wohl die ersten seit langem. Verloren durchzogen sie die frische Schicht Pulverschnee, wie die Fährte eines einsamen Wolfs. War ich das nun? Ein einsamer Wolf? Nein. Mit Sicherheit nicht. Ich hatte auch noch andere Menschen um mich herum, Menschen die mir auch viel bedeuteten. Und doch war es ein nahezu unerträglicher Verlust, den ich mit seinem Verschwinden erleiden würde. Abermals wehte ein eisiger Wind durch meine Haare und unter meinen Mantel, wie die letzte Warnung vor dem nahenden Unheil. Ein Schauer fuhr mir den Rücken hinunter, als ich meine Hand nach der kleinen metallenen Klingel ausstreckte. Neben mir bogen sich die alten Tannen und schmissen mit Schnee um sich, der auf ihren Ästen gelegen hatte. Ich kam mir vor wie in einem Gruselfilm und das obwohl es heller Tag war. Das Surren der Klingel drang dumpf zu mir hindurch. Gespannt wartete ich auf die polternden Schritte auf der Treppe und das freudige Gesicht, welches mir gleich die Tür öffnen würde. Nichts passierte. Den Schnee von meinen Wimpern blinzelnd klopfte ich erst sacht und dann immer energischer an die alte Holztür. Nachbarn schoben ab und an einen Kopf hinter der Gardine hervor und schauten was ich da tat. Keiner bemühte sich großartig, nicht von mir gesehen zu werden. Neugierde war mit das weit verbreiteteste Laster der hier wohnenden häufig alten Leuten. Es kümmerte mich nicht, denn viele kannten mich und würden wohl nicht gleich die Polizei alarmieren. Langsam begann meine Hand vom kräftigen Klopfen zu schmerzen. Angestrengt stellte ich mich auf meine mittlerweile fast tauben Zehenspitzen und wollte durch das hohe runde Türfenster schauen, doch auch dieses war verhangenen und verwehrte mir einen Einblick. Minutenlang stand ich regungslos vor der Tür, unwillig zu akzeptieren, dass mir niemand öffnen würde, dass er tatsächlich fort war. Tränen der Enttäuschung und der Wut sammelten sich in meinen Augen. Die Gefühle überkamen mich schlagartig und ohne jede Vorwarnung. Eine Chance mich auf diese Situation zu wappnen hatte ich oft genug gehabt und dennoch hielt ich es insgeheim für unnötig, denn ich wollte mir beim besten Willen nicht eingestehen, dass es tatsächlich war wie es sich mir nun darstellte. In Gedanken ergriff ich den Türknopf und drehte wütend daran. Ein Knacken drang an meine Ohren und die Tür sprang einen Spalt weit auf. Irritiert starrte ich auf den runden metallenen Knauf. Schnell wischte ich mir die Tränen aus dem Gesicht und warf einen vorsichtigen Blick in das Dunkel. „Hallo?“, rief ich zögerlich und drückte die Tür sacht soweit auf, dass ich den Kopf hindurch stecken konnte. Meine Stimme hallte durch den großen Vorraum doch niemand antwortete mir. Langsam schob ich mich durch den Spalt und schloss die Tür hinter mir. Unmerklich schüttelte ich mich ein wenig, froh aus dem eisigen Wind hinaus zu sein und verteilte ein paar Schneeflocken auf dem dunklen Parkettboden. Die Fenster im unteren Geschoss waren alle mit großen dunklen Gardinen zugezogen. Nur schwer quälte sich etwas Licht durch sie hindurch und ließ mich wage Umrisse erkennen. Der große offene Flur war leer. Ich glaubte noch ein paar staubfreie Stellen zu erkennen, an denen einmal wundervolle antike Möbel gestanden hatten. Ich ließ mir keine Zeit die restlichen Räume zu untersuchen, sondern stürmte sofort auf die vor mir liegende Treppe zu. „Nanuk?“, schrie ich fast und polterte die Stufen hinauf, den langen schmalen Flur entlang bis ans Ende. Die anliegenden Türen standen offen und auch in ihnen konnte ich während meines vorbei Schnellens keine Möbel erkennen. Alles war verlassen. Vor seiner weißen Zimmertür blieb ich stehen. Unter dem Türschlitz schien ein wenig Licht hindurch, die mich Hoffnung schöpfen ließ. „Nanuk? Bist du da? Ich bin es, Beth!“, flüsterte ich fast und klopfte sacht an die hölzerne Tür. Das dumpfe Poltern brach sich an den Flurwänden und türmte sich für mich zu einem lauten unnatürlichen Grollen auf. Ich schluckte schwer und drückte schließlich die Klinke nach unten. Mit einem leichten Schubs nach vorn, schwang sie geschmeidig auf und gab die Höhle des Löwen preis. Natürlich war er nicht da. Was hatte ich mir auch eingebildet. Dennoch war dies hier womöglich der einzige Raum im ganzen Haus, in dem noch Möbel vorhanden waren. Beruhigen tat mich das jedoch nicht. Mappen und Bücher waren aus den Regalen links neben mir gerissen worden und lagen auf dem dunklen Teppich verteilt. Mir gegenüber, vor den beiden Fenstern, hatte jemand die Blumen herunter geschmissen und die dunkle Erde hatte sich rings um die Töpfe verteilt. Das Bett war zerwühlt und das Laken teils zerrissen und herausgezogen. Die Kissen schienen zerfetzt worden. Haufenweise Federn wirbelten bei einem Windhauch durch die Luft. Für einen Augenblick machte es den Anschein als sei ein Engel hier qualvoll seiner Flügelpracht beraubt worden. Mir stockte unweigerlich der Atem. Völlig unfähig mich vom Eingang weg zu bewegen starrte ich weiter ins Zimmer. An den pastellzarten Wänden schienen sich Risse zu befinden, als habe jemand mit einem Schwert oder dergleichen wild um sich geschlagen. Sauber abgetrennte Hälften seiner Poster lagen vor den Wänden. Die Schranktüren aus massivem Holz standen offen und diverse Kleidungsstücke lagen vor ihm verteilt. Es wirkte als habe er die Flucht vor etwas ergriffen. Aus mir unerklärlichen Gründen traute ich mich nicht weiter hinein. Wie gebannt blickte ich im Raum auf und ab und versuchte mir einen Reim auf das alles zu machen. Was musste passiert sein, dass das komplette Haus bis auf sein verwüstetes Zimmer leer stand. Einbrecher würden keinen Bogen um ein einzelnes Zimmer machen und alles andere dafür mitnehmen. Das ergab, wie so vieles in letzter Zeit, einfach keinen Sinn. Schwerfällig wandte ich den Blick ab und machte auf dem Hacken kehrt. Ich gehörte dort nicht hin und hatte eigentlich auch kein Recht länger zu verweilen, geschweige denn sein Zimmer zu Betreten und vielleicht sogar eigenständig nach Antworten zu suchen. Mit Sicherheit war diese Sicht der Dinge unbefriedigend und vermutlich hätten viele andere Menschen schon aus der puren Neugierde heraus anders gehandelt aber mir missfiel dieser Gedanke zusehends. Ich hatte schlicht zu viel Angst, vor dem was ich hätte finden können und war noch zu erstarrt von dem Bild, was sich mir geboten hatte. Feigheit konnte in vielen Fällen Menschenleben retten, doch in diesem speziellen Fall war es nichts weiter als schwach, das wusste ich nur zu gut. Ich war stets ein schwacher Mensch gewesen, hatte mich nur zu gern von Anderen leiten lassen und mich letztlich darüber beschwert, wenn es dann nicht so verlief, wie ich es eigentlich gern gehabt hätte. Bei Nanuk musste ich mich nicht beschweren. Blind konnte ich ihm folgen, ihn die Dinge erledigen lassen und den richtigen Weg für uns suchen lassen und war stets mit dem Ergebnis zufrieden gewesen. Es war so unendlich leichter in der zuvor geschlagenen Schneise eines anderen zu wandern, als sich eine eigene neue zu bahnen. Dumpf hallten meine Schritte durch den Gang und durch das insgesamt verlassene Haus. Abermals schossen mir die Tränen in die Augen, denn die Erkenntnis war nun so nah an mich herangetreten, dass ich es kaum noch schaffte sie irgendwie verdrängen zu können. Er war weg. Vielleicht würde er nie mehr wiederkommen. Möglicherweise war ihm etwas passiert und es wurde doch eingebrochen. Stand ich dann nicht in der Pflicht dem nach zu gehen. Nur was sollte ich tun, um das heraus zu finden? Sollte ich bei der Polizei anrufen und nachfragen, ob etwas passiert war? Ich blieb vor der Haustür stehen. Leise schniefend blickte ich mich noch mal zur Treppe um, als sich in der Luft plötzlich ein kaum sichtbarer Film die Treppe hinunter wog. Erstarrt vor Schreck starrte ich das bizarre Gebilde an. Es sah aus wie die Verzerrungen der Luft, die sich im Sommer über den heißen Asphaltstraßen bildeten, nur das diese hier mit einem leicht bläulichen Ton versetzt waren und sich bewegten. Fast wie die Erscheinung eines Geistes, schoss es mir ohne Vorwarnung durch den Kopf. Gemächlich waberte das Etwas auf mich zu und mit ihm erschien mir die Temperatur in dem Raum rapide zu sinken. Ich wollte rennen, rennen so schnell wie ich konnte doch meine Beine rührten sich nicht. Völlig regungslos war ich nicht in der Lage den Blick von diesem merkwürdigen Ding abzulassen. „Das ist Einbildung Beth. Nichts weiter. Ein schlechter Streich deines Geistes.“, flüsterte ich völlig apathisch. Je näher mir die Wolke, wie ich sie nun einfach für mich nannte, kam desto bläulicher verfärbte sie sich. Wie ein Spinnennetz schien sich die Luft auf meine Haut zu legen und jeder einzelne Faden erschien mir klebrig und kalt. Trotz meines steigenden Unbehagens verspürte ich tief in mir drin, das merkwürdige Gefühl, ich sei nicht mehr allein. Eine wohlige Zufriedenheit vernebelte meinen Geist und täuschte mich über den Umstand hinweg, dass Nanuk fort war. Mit einem Mal glaubte ich er sei einfach wieder da, sein Geist würde über mich wachen und meine aufgewühlte Seele beruhigen. Das Funkeln nahm ab, bis ich es nur noch schwer erkennen konnte und die Fäden auf meiner Haut sich nur noch wie ein sanfter Windkuss anfühlten. Meine Angst war verschwunden und doch rannen nun unzählige Tränen über mein Gesicht. Ich hatte das trügerische Gefühl, dass es nicht meine Trauer war, die mich weinen ließ. Ein abstruser Gedanke aber ich kam nicht von ihm los. Langsam sank ich auf die Knie und vergrub weinend das Gesicht in meinen Händen. Laut schluchzend rührte ich mich minutenlang nicht vom Fleck. Völlig eingenommen von Gewissensbissen und resignierender Trauer über Geschehnisse, die mir verborgen blieben, glaubte ich dennoch genau in diesem Moment Nanuk so nahe gewesen zu sein, wie schon seit langem nicht mehr. Eine verrückte Idee meines Verstandes flüsterte mir zu, dass er es war, der mir diese Gedanken und Gefühle geschickt hatte. Wie auch immer das hätte sein können. Und selbst wenn es alles nur Zufall gewesen wäre und es letztlich nichts weiter als meine eigenen tief verborgenen, mich nun übermannenden Gefühle waren, so tat es unendlich gut sie zu spüren. Es dauerte lange bis ich mich wieder gefasst hatte und beklommen den Heimweg antreten konnte. In Gedanken versunken hielt ich meine geschlossenen Hände an die Brust, als würde ich damit dieses Gefühl bewahren können. Wortlos öffnete ich unsere Haustür und ging ohne jeden Umweg die Treppe hinauf und ließ mich benommen auf meine Fensterbank nieder. Ich dachte gar nicht daran, meinen Mantel auszuziehen. Völlig eingeschneit starrte ich regungslos aus dem Fenster. „Beth? Bist du das? Sagst du mir neuerdings kein Hallo mehr?“, fragte Dad von Treppenabsatz zu mir hinauf, doch seine Worte kamen so fremd und weit weg bei mir an. Es fühlte sich an, als sei ich gar nicht wirklich dort, sondern in einem Traum gefangen, der mich quälte und nicht wieder los ließ. „Ich wollte dir nur sagen, dass ich die Spuren im Garten gesehen habe. Ich hab schon geschaut ob uns was gestohlen wurde aber die Luke zum Keller ist unversehrt. Du brauchst dir also keine Sorgen machen.“ Ein kurzes Zucken fuhr durch meinen Körper, als habe mir jemand einem Stromstoß versetzt. Ruckartig sprang ich in die Höhe und stürzte die Treppe hinunter, vorbei an meinem völlig irritierten Vater und hinaus in den Garten. So gut ich konnte stapfte ich schnellen Schrittes durch den Schnee, in den ich mittlerweile fast bis zu den Knien einsank. Angestrengt visierte ich die bereits vorhandenen Spuren von Dad an, in der Hoffnung, dass ich dadurch leichter vorwärts kommen würde. Im hinteren Bereich unseres Gartens angekommen war der Schnee größtenteils aufgewühlt und einzelne Spuren kaum noch erkennbar. Innerlich ärgerte ich mich, nicht schon heute Morgen hinuntergegangen zu sein aber nun ließ es sich nicht mehr ändern. Ruhig suchte ich mit meinen Augen die Hauswand ab, entlang der Fenstersimse und den kleinen Nischen im Holz. Mir fiel nichts Ungewöhnliches auf. Akribisch begann ich entlang der Ritzen zu tasten, ob nicht doch irgendetwas zwischen ihnen steckte doch meine Hände blieben leer. Unnachgiebig überlegte ich fiebrig, was die Spuren sonst noch hätten bedeuten können und begann während meiner Überlegungen durch den Schnee zu stiefeln. Unbewusst tapste ich in jede einzelne Spur und folgte ihr in den dämmrigen Wald. Selbst durch das dichteste Geäst fanden die kleinen Flocken hindurch ihren Weg zum Boden und auch wenn die Schicht hier um einiges dünner war, so ließ sich die Fährte immer noch leicht verfolgen. Es dauerte nicht lang und ich hörte die Autos von der Straße nicht mehr, sah keine Lichter der kleinen niedlichen Fenster. Langsam stiefelte ich immer tiefer in den Wald, völlig ab von jedem Weg den ich kannte. Zwischen mächtigen alten Baumstämmen hindurch, über gefrorene Bäche und umgestürzte Bäume hinweg, beschlich mich nach und nach der Gedanke, dass ich vielleicht einer Trugfährte folgte. Aus mir unerklärlichen Gründen fing langsam mein Herz an schneller zu schlagen. Irgendwie wurde ich nervös und fühlte mich bei etwas ertappt. Schwer schluckend blieb ich stehen und schaute mich um. Es war dämmrig um mich und man konnte nicht weit zwischen den mächtigen Bäumen hindurch schauen. Unser Haus hatte ich schon lange aus den Augen verloren. Das einzige was mir half wieder zurück zu finden war die Tatsache, dass ich nur Berg ab laufen müsste. Ab und an knisterte es leise in den Baumwipfeln und ein kleines Käuzchen schaute aus verschlafenen Augen zu mir hinunter, als wollte es mir vorwurfsvoll deutlich machen, dass ich dort um diese Uhrzeit nichts zu suchen hatte. Sacht segelte ab und an ein Windhauch durch die Stämme und schob eine kleine Welle von Schnee vor sich her. Knirschend wogen sich über mir die Baumkronen im Wind und verteilten hier und dort noch mal eine Hand voll Schnee, die von den Ästen hinunter fielen. Nichts drang an meine Ohren, was auf mich hätte befremdlich wirken können. „Hallo?“, rief ich sicherheitshalber und aus manchen Richtungen raschelte es ruckartig. Das waren vermutlich nichts weiter als kleine Mäuse, die ich aufgeschreckt hatte. Antworten tat mir jedoch niemand. Ein letztes Mal warf ich einen prüfenden ausgiebigen Blick in alle Richtungen, konnte immer noch nichts feststellen und ging schließlich weiter. „Jetzt werde ich schon vollends bescheuert.“, ärgerte ich mich leise. Was tat ich da eigentlich? Rannte Blindlinks fragwürdigen Spuren hinterher und glaubte ein blaue Dunstwolke hätte mit mir kommuniziert. Nahe liegender war der Gedanke, dass mein Hirn durch mein Ersaufen doch was abgekriegt hatte. Vermutlich spielte mir meine Fantasie unliebsame Streiche, wo ich mich doch immer nach solchen Szenerien gesehnt hatte. Abermals blieb ich stehen. Einen Augenblick starrte ich den Spuren hinterher, wie sie weiter den Berg hinauf führten und anscheinend kein Ziel hatten. „Was für ein Unsinn.“, raunte ich leise und schüttelte den Kopf. Ich wollte bereits kehrt machen, als meine Neugierde sich wieder zurückmeldete. Und wenn da doch etwas war? Wenn er nur meinen Ehrgeiz und meinen Willen testen wollte? Letztlich wäre es egal gewesen. Was hätte es an der ganzen Sache geändert. Völlig gleich was dort vielleicht auf mich wartete oder auch nicht, wovon ich eher ausging. Brummig schob ich meine Gedanken beiseite und trat den Heimweg an. „Mein Gott! Wo warst du denn schon wieder? Es ist schon fast Abendbrotzeit und du rennst die ganze Zeit draußen herum und kein Mensch weiß wo du bist!“, raunte mir Dad entgegen, kaum das ich mit meinem Hintern in der Diele stand. „Ich war so lange weg?“, fragte ich irritiert, da ich mir keineswegs Gedanken über die Zeit gemacht hatte. „Willst du mich jetzt ärgern?“, knurrte er und stand mit verschränkten Armen in der Küchentür. Sein Blick war finster und die Brille auf seinen Nasenrücken hinunter gerutscht. „Was ist eigentlich los mit dir? Seit dem Nanuk hier nicht mehr auftaucht bist du völlig von der Rolle. Ich meine ich weiß ja das er ein guter Freund war aber Freunde kommen und gehen nun mal.“ Langsam lockerte sich seine Haltung wieder und er machte ein paar Schritte auf mich zu, bemüht ein verständnisvolles Gesicht aufzusetzen. „Es tut mir Leid. Es wird nicht wieder vorkommen.“, blockte ich trocken ab und schritt die Treppe hinauf. „Beth? Elizabeth!“, raunte er nun wieder. „Bleib gefälligst stehen wenn ich mit dir rede!“ „Nenne mich nicht so!“, fauchte ich zurück und blieb auf den Stufen stehen. Ich war unzufrieden mit mir und dem Rest der Welt und das gab ich ihm durchaus zu spüren. Ob er nun endgültig dafür verantwortlich war, war mir in dem Moment vollkommen gleich. „Was weißt du denn schon? Ich musste erst fast krepieren, damit du endlich mal wieder etwas mehr Zeit mit mir verbringst. Meinst du ich merke nicht, dass du schon wieder mit den Hufen scharrst. So wie du die letzten Tag durch das Haus tigerst suchst du doch geradezu nach einem Grund, um mich wieder alleine zu lassen. Und das nehme ich dir noch nicht einmal übel, denn du bist nun einmal so aber dann heuchele mir nicht vor, dass du gerne hier bist!“ Tränen der Wut stiegen mir in die Augen. „Wie redest du denn mit mir? Unterstehe dich in solch einem Ton mit mir zu sprechen! Du hast Hausarrest, für den gesamten restlichen Monat!“ „Du glaubst doch nicht im Ernst, dass du mich hier einsperren kannst! Ich bin nicht Mum!“, schrie ich ihn an und polterte die letzten paar Stufen hinauf und schmiss mit aller Kraft meine Zimmertür zu, die laut scheppernd ins Schloss schnellte. „Und knall die Türen nicht so!“, hörte ich noch seine wutentbrannte Stimmte dumpf zu mir hoch kommen. Ich wusste noch nicht einmal so recht warum ich plötzlich so aus meiner Haut gefahren war. Eigentlich wollte ich es nur umgehen über Nanuk sprechen zu müssen und dann schien sich mein Hirn abgeschaltet zu haben. Resignierend über meine abstrusen Sinneswandel pellte ich mich aus meinen dicken Sachen und warf sie achtlos vor die Fensterbank. Tief atmend schmiss ich mich aufs Bett und starrte das Mondposter an. So lang war der Abend schon her, dass ich an einem solchen Strand gelegen hatte und in den Nachthimmel blickte. Leise seufzend rollte ich mich auf die Seite. Hatte er tatsächlich gesagt, dass ich Hausarrest hatte? Das war nun wirklich ein schlechter Scherz. Als hätte mich das von irgendetwas abgehalten. Meine jähzornige Laune kehrte zurück. Ich richtete mich fluchs wieder auf und zog mir meine Jacke wieder an. Langsam schritt ich ans Fenster und versuchte den Holzrahmen so leise wie möglich hochzuschieben. Direkt neben meinem Fenster war ein Gitter für Rosen an dem ich wunderbar hinunter klettern konnte. Ich kam mir zwar vor, als sei ich gerade aus einem schlechten Teenie Film entsprungen aber mich hielt momentan nichts in meinem Zimmer. Vorsichtig tastete ich mit den Fußspitzen nach Lücken im Gatter in die ich hinein treten konnte. Es dauerte nicht lange und ich konnte einen Hüpfer in den Schnee machen und mich zügig vom Grundstück stehlen. Ich konnte mir gut vorstellen, wie er toben würde, wenn er heraus bekam, dass ich keineswegs brav in meinem Zimmer geblieben war. Auch der Zorn würde schnell wieder verrauchen, denn die nächste Geschäftsreise stand doch schon wieder vor der Tür und dann hatten wir beide ein paar Tage Zeit unsere erhitzten Gemüter abkühlen zu lassen. Vielleicht war es uns auch beiden zu viel, plötzlich ständig aufeinander zu hocken, war es doch die letzten Jahre nie so gewesen. Grübelnd schlenderte ich die Straße entlang. Langsam verkroch sich die Sonne hinter den Bergen und es begann zu dämmern. Die Laternen fingen gemächlich an zu glimmen und zogen bereits die ersten paar Insekten an, die bei diesen Temperaturen tatsächlich noch zu überleben schienen. Wobei es sich eher um vereinzelte Tiere handeln musste, die durch Zufall aus ihrem Winterschlaf erwacht waren und nun auf ihren baldigen Tod warteten. Direkt in ihrer Nähe hörte ich bereits Fledermäuse quieken und rasend schnell durch die Luft sausen. Es war nichts weiter als eine Frage der Zeit, das stand fest. Gemächlich schlug ich den Weg zu einem alten Spielplatz in der Nachbarschaft ein. Silhouetten von metallenen Gerüsten erhoben sich zwischen den Häusern. Einsam und verlassen pendelte eine Schaukel etwas im Wind. Und wieder erinnerte es an irgendeinen Horrorfilm. Hatte ich das nicht schon genügend erlebt. Müde vom Tag und seinen abstrakten Ereignissen griff ich nach dem kalten Metall der Kettenglieder, um mich selbst auf das alte Holzbrett zu setzen und ein wenig hin und her zu schwingen. Seufzend legte ich meinen Kopf gegen die Metallringe und starrte in den sich verdunkelnden Himmel. Wind strich über mein Gesicht; sanft und kalt. Die Luft war wunderbar klar und kühl. Die Laternen leuchteten sacht und tauchten den Schnee um sie herum in ein helles gelb orange. Über meinem Kopf surrten die Fledermäuse entlang und versuchten nach irgendwelchen Insekten zu schnappen. Die Ruhe genießend ließ ich meinen Blick über die Rutsche und die Bänke schweifen. Bei einem orange glühenden Punkt blieb ich hängen. Den Kopf etwas anhebend beobachtete ich die Stelle und sah, wie der Punkt aufglühte und wieder verschwand und nach kurzer Zeit wieder aufglühte. Dort musste jemand mit einer Zigarette sitzen, dachte ich und richtete mich nun vollends auf. Wieder suchte mich ein merkwürdiges Gefühl der Nervosität heim und redete mir ein, ich würde verfolgt oder beobachtet werden. Plötzlich bewegte sich der Punkt. Wild sprang er in der Luft umher und sank schließlich auf Hüfthöhe hinab. Da kam jemand auf mich zu. Meine Muskeln versteiften sich. Für einen Moment überlegte ich ob ich rennen sollte, doch der Gedanke erschien mir so übertrieben, dass ich letztlich nur das kleine Taschenmesser in meiner Manteltasche fest umschloss und mir innerlich schwor es zu gebrauchen, sollte ich dazu gezwungen werden. „Ist schön hier draußen nicht wahr? So schön ruhig.“, sprach eine männliche feste Stimme mich von der Seite an. „Ist ganz angenehm.“, antwortete ich, gab mir jedoch keine Mühe mein Misstrauen zu verbergen. Stumpf starrte ich weiter nach vorne und wollte damit kenntlich machen, dass ich keinerlei Interesse an einem Gespräch hatte. Vergeblich. Mit einem kurzen Auflachen schnappte er sich die Schaukel neben mir und ließ sich plump auf das Holzbrett fallen. Genüsslich schien er nochmals an seiner Zigarette zu ziehen, die nun Feuerrot aufleuchtete, ehe er sie achtlos vor sich zu Boden warf und im flachen Schnee austrat. Einen weiteren Moment schien er einfach nur schweigend in den Himmel zu starren und begann ein wenig hin und her zu schaukeln. Vorsichtig warf ich einen verstohlenen Blick zur Seite, konnte jedoch bei der hereinbrechenden Dunkelheit nur noch die aufleuchtenden Umrisse erkennen, die von den Laternen erhellt wurden. Er war eindeutig größer als ich. Er schien recht kurze Haare zu haben, denn sein Hinterkopf hob sich deutlich markant gewölbt vom Hintergrund ab. An seiner Stirn sah es aus, als würden ihm ein paar Strähnen etwas wüst ins Gesicht hängen. Vielleicht war er einer dieser neumodischen Punks, die sich ihre Haare extra mi viel Gel und ewigen Zeiten vor dem Spiegel so im Gesicht drapierten, dass man ja ihre Augen kaum sah. Nase und Mund waren normal geformt und wiesen keine Besonderheiten, wie einen großen Buckel oder dergleichen auf. Es ließ ihn irgendwie perfekt wirken so ohne Macken und genau das war es, was so viele Mädchen dahin schmelzen ließ. Aalglatte Perfektion. Dabei konnten wir noch nicht einmal was dafür, schließlich war es einer der Urinstinkte, die uns nach dem kräftigsten Partner suchen ließen. Was jedoch nicht viele davon abhielt trotzdessen mit einem kompletten Deppen zusammen zu sein und sich einzureden dabei die Glückseligkeit mit Löffeln gefressen zu haben. Möglicherweise war das der kleine aber feine Unterschied, der unsere Evolution tatsächlich ausmachte. Die Beharrlichkeit stets Kompromisse einzugehen, mit dem ständigen Zweifel, dass man nichts Besseres finden würde als das was man bereits besaß. Sein Kinn war kräftig, etwas kantig und stets in Bewegung. Vermutlich kaute er noch nebenher Kaugummi. Vom Rest seines Körpers konnte ich nicht viel erkennen, da er eine dicke Cordjacke und Jeans trug. „Bist nicht so gesprächig was?“, fragte er und ich glaubte er würde verstohlen grinsen. „Was sollte ich auch schon mit einem Fremden besprechen?“, antwortete ich trocken. Langsam aber sicher wurde mir die Situation zusehends unangenehmer. Ich kannte ihn nicht und war mir sicher so einen Typ auch noch nie an unserer Schule gesehen zu haben. Man musste natürlich in Erwägung ziehen, dass er älter war als ich ihn einschätzte und demnach gar nicht mehr zur Schule ging. In diesem Fall gab es keine großen Möglichkeiten ihn schon mal gesehen zu haben, selbst wenn er schon Jahre in unserer Gegend gewohnt hätte. Ich hatte kaum etwas mit den Erwachsenen aus unserer Nachbarschaft zu tun, es sei denn sie waren die Eltern von Freunden von mir. Ich hatte es nie als Nachteil empfunden nur die junge Generation überblicken zu können, mit all ihren Grüppchen und Cliquen. Das war schon schwierig genug wie ich fand. „Stimmt wohl. Ich dachte nur, dass du vielleicht mit jemandem reden magst, anstatt hier so alleine zu sitzen. Um ehrlich zu sein hatte ich aber auch keine Lust da hinten im Dunkeln zu bleiben und zu wissen das ich beobachtet werde.“ „Ich hab dich nicht beobachtet.“, sagte ich tonlos und begann ihn immer weniger zu mögen. „Natürlich nicht. Und das du ständig herüber geschaut hast habe ich mir natürlich eingebildet, nicht wahr?“, fragte er höhnisch und scharrte nebenher ein wenig im Schnee herum. „Bist du nur hier her gekommen, um mich zu ärgern? Dann kannst du auch gern wieder gehen. Ich bin hier um meine Ruhe zu haben und mich nicht dumm von der Seite bequatschen zu lassen.“, knurrte ich nun und hoffte, das würde ihn vertreiben. „Sag mal kenne ich dich irgendwoher?“, fragte er unverhofft und trat urplötzlich einen Schritt an mich heran, um mein Gesicht näher betrachten zu können. Erschrocken fuhr ich zusammen und sprang von der Schaukel auf. Mein Herz pochte wild in meiner Brust und ich wusste nicht ob es Angst war oder ein aufkeimendes Prickeln, wie es in Situationen zwischen Mann und Frau des Öfteren mal auftrat. Vehement sträubte ich mich die zweite Möglichkeit überhaupt als solche anzuerkennen und machte noch zwei Schritte von ihm weg. Perplex und ohne dass ich es wirklich bewusst gesteuert hatte, grub sich meine Hand unter den dicken Wollschal um meinen Hals und ergriff den weichen kühlen Anhänger, der an seiner antik erscheinenden Kette auf meinem Dekolleté ruhte. Da stand er nun. Den Kopf leicht schief gelegt und die Hände in den Hosentaschen verschwinden lassend, schien er mich ratlos anzustarren. Ein tiefer dunkler Schatten hatte sich auf sein Gesicht gelegt, so dass ich seine Mimik nicht sehen und demnach auch nicht deuten konnte. Sekundenlang schwieg er und ließ es dadurch zu, dass sich wieder Distanz zwischen uns aufbauen konnte. Distanz, die mich beruhigte und mir anscheinend sagen sollte, dass er nichts Böses von mir wollte. Man hatte so viel in den Nachrichten gehört und in der Zeitung gelesen. Immer wieder standen da Schicksale von Jungen unschuldigen Mädchen, trocken nieder geschrieben von irgendeinem alten senilen Greis, der sich mit dem Job gerade mal eine kleine Butze und einen gebrauchten Kleinwagen leisten konnte. Mädchen, die genau wie ich erst nett und freundlich in ein Gespräch verwickelt wurden und urplötzlich schlug die Situation um und sie fanden sich gefesselt in einem Auto oder mit zerrissenen Sachen irgendwo im Gebüsch liegend wieder. Wimmerten und Schreiten aber niemand hörte sie oder man ignorierte sie. Und selbst wenn die gebrochenen Stimmen begannen zu schweigen, wenn sie gefunden wurden und sie wieder in ihren üblichen Alltag geschubst wurden, so hörte doch kaum einer die andauernden stummen Schreie, die fortan ihr Leben begleiten würden. Ich wollte keins von diesen Mädchen sein. Hochsensibilisiert betrachtete heutzutage fast jedes Mädchen einen Mann, mit dem es alleine an einer Bushaltestelle saß, alleine die Straße mit ihm teilte oder auch einfach nur einen Schokoriegel an seine Kasse bezahlen wollte, als Bedrohung. Jeder Mann war eine potenzielle Gefahr, denn jede Art von Mann war bereits dazu in der Lage gewesen. Ärzte, Ehemänner, Polizisten… ja selbst die eigenen Väter. Wolken zogen auf und um uns wurde es noch dunkler. Sacht strich ein frischer Wind über mein Gesicht und wehte mir ein paar meiner dunklen Strähnen über die Stirn. Ein paar Haare kitzelten an meiner Nase und ich spürte wie ich niesen wollte. Krampfhaft versuchte ich den Zwang zu unterdrücken, doch vergebens. Zusammenzuckte schnaufte ich und versuchte währenddessen ihn keine Sekunde aus den Augen zu lassen. Innerlich spannten sich bereits meine Muskeln, die Möglichkeit in Betracht ziehend, dass er meine Unbeholfenheit ausnutzen würde, um mich zu überrumpeln. Nichts geschah. „Du bist sehr misstrauisch. Würde es nicht unhöflich sein, würde ich dich fragen, ob es einen Grund dafür gibt aber du hättest eh nicht geantwortet, nehme ich an.“, sagte er und seine Stimme hatte sich unmerklich verändert. Ich glaubte sie wäre härter geworden. Ohne etwas zu sagen griff er in seine Jackentasche und schien nach etwas zu suchen. Meine innere Alarmglocke läutete so laut, dass ich fast geschworen hätte diesen Ton irgendwie nach außen abzugeben. Abermals spannten sich meine Muskeln und Adrenalin schlich sich wieder in meine Adern zurück. Eigentlich hätte ich einfach gehen sollen. Hin und her gerissen fürchtete ich mich jedoch ihm den Rücken zuzukehren. Ich hätte eigentlich gar nicht dort sein dürfen. Vielleicht hatte der Hausarrest meines Vaters doch seinen Sinn gehabt. Wenn ich nur auf ihn gehört und mich seiner Strafe ergeben hätte, dachte ich betrübt. Fieberhaft versuchte ich mir noch die letzten wenigen Reste an Wissen von meinen Stunden bei einer Selbstverteidigungsgruppe ins Gedächtnis zu rufen. Meist musste man den Gegner heran kommen lassen um wirklich schlagfertig agieren zu können. Am liebsten hatte es mein Trainer sogar gesehen, wenn man von selbst nach vorne trat und sozusagen in den Schlag hineinrannte, um seinem Wiedersacher den Handlungsspielraum zu nehmen. Ich konnte mir weiß Gott was Besseres vorstellen, als dem Kerl jetzt auch noch auf die Pelle zu rücken. Gebannt starrte ich auf seine Hand, wie sie in der Tasche herumwühlte und nach etwas suchte. Seine Finger gruben sich immer tiefer hinein. Dumpf raschelte der Stoff unter den Bewegungen. Er selbst wirkte ruhig und besonnen, machte keinen Anschein als würde er kurz davor sein etwas Schreckliches zu tun. Knisternd kam plötzlich eine kleine sacht glänzende Packung zum Vorschein. „Ich wusste doch, dass ich noch eins haben müsste.“, flüsterte er mehr zu sich selbst als zu mir. Langsam und bedacht darauf mir nicht zu nahe zu kommen und somit mein Misstrauen zu steigern, machte er einen Schritt in meine Richtung und beugte sich nach vorn, als müsste er über einen breiten Tisch langen. Sekundenlang hielt er mir ruhig und geduldig die Packung mit dem letzten samtweichen Taschentuch darin entgegen. Verdutzt starrte ich ihn an. Irgendwie schämte ich mich auf einmal ein wenig. Es mochte wohl wahr sein, dass die Zahlen von Vergewaltigungen gestiegen waren aber das musste nicht heißen, dass man jedem ständig etwas vorausahnend zu Lasten lag. Wie so oft maßte ich mir an, den Menschen der mir gegenüber stand und Gutes für mich wollte besser zu kennen und zu glauben, dass dem nicht so sei. Vorsichtig hob ich meine Hand, zögerte einen Augenblick und hob den Blick in seine Richtung. Ich wollte sein Gesicht sehen, wollte wissen ob er mich vielleicht anlächelte oder ob es für ihn nur eine Geste der guten Manieren war. Dunkle Schatten zeichneten sich auf dem Gesicht des jungen Mannes ab. Für diesen Moment wirkte er um Längen älter, als ich vorerst angenommen hatte. Die Konturen der Knochen und Muskeln erschienen mir härter und steifer. Eine Woge von Neugierde und einem mir befremdlichen undefinierbaren Verlangen schlug mir plötzlich entgegen, als könnte ich sie körperlich greifen. Ich wollte nicht unhöflich sein oder ihm gar einen Grund geben wütend auf mich zu sein, so dass ich meine Bewegung langsam und aufmerksam beendete. Knisternd und kalt spürte ich das Plastik zwischen meinen Fingern und sah wie meine Hand ein wenig zitterte und dann passierte es. Seine Finger streiften die meine so deutlich und so gezielt, dass es unmöglich hätte ein Zufall sein können. Wie elektrisiert fuhr ich zusammen, jedoch gleichwohl unfähig meine Hand zurück zu ziehen. Es fühlte sich an, als ob mit dem Kontakt unserer Hände eine Hitze von ihm auf mich überging, die sich wie ein suchender Virus heiß und fordernd durch meinen Körper fraß und nach der schwächsten Stelle suchte, um sich dort einzunisten und mein Immunsystem zu vernichten. Schlagartig wurde mir schummrig zumute und mein Magen krampfte sich zu einem kleinen Klumpen zusammen. Ausnahmsweise war ich froh darüber mir nicht den ganzen Tag den Bauch vollgeschlagen zu haben, denn in diesem Moment hätte nicht der geringste Krümel mehr in meinem Verdauungsapparat Platz gefunden. Ein leises Keuchen verließ meine Kehle und ich konnte mich gerade noch zusammenreißen nicht meine Haltung zu verlieren. Einmal fest die Augen zu und wieder aufschlagend starrte ich den Schatten vor mir an. Behutsam zog er seine Hand zurück, geradeso als wollte er mir höhnisch mitteilen, dass diese Berührung für ihn keinerlei Bedeutung hatte. Fast wie in Zeitlupe lehnte er sich wieder zurück und ließ seine Hände wieder in den Taschen verschwinden. Sein Kreuz hatte sich gestrafft und seine Haltung war wie die einer Person, die auf jemanden herabsah. Als sei sie nicht das wert, was er zuvor geglaubt hatte. Ich schluckte schwer und machte unmerklich einen unsicheren Schritt zurück. Schnee knirschte unter meinen Füßen und paarte sich mit dem sanften Hauch des Windes. Die kühle klare Luft nahm mir nach und nach meine Benommenheit und ich sah, wie ich das Taschentusch in meiner geballten Faust hielt. Mein Verstand wollte nicht begreifen was da gerade passiert war, geschweige denn sich einen Reim darauf machen. Stumm starrte ich ihn und hoffte er würde etwas sagen, würde die Situation irgendwie aufklären oder zumindest irgendetwas tun um diesen peinlichen Moment zu beenden. „Das wäre auch zu einfach gewesen.“, flüsterte er leise, so dass ich es kaum verstand und machte einfach auf dem Absatz kehrt. Völlig perplex starrte ich ihm nach, wie er ohne ein weiteres Wort durch den Schnee stapfte und in der Dunkelheit verschwand, als sei er nie dagewesen. Unfähig ihm irgendetwas hinter her zu rufen stand ich in der Finsternis und zerquetschte weiter die kleine Verpackung in meiner Hand. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)