Epilogue von mystique (KaibaxWheeler) ================================================================================ Kapitel 5: Enervation --------------------- 5. Kapitel: Enervation „Yugi!“ Ein Ruck ging durch Wheeler und er eilte Muto hinterher. „Yugi, warte!“ Aus den Augenwinkeln nahm ich wahr, wie Gardner die Hände in ihre Schürze krallte. Hastige Schritte erfüllten das Haus. Dann Wheelers Rufen. Und schließlich eine Antwort, ablehnend und so wuterfüllt, dass selbst Mutos Sohn verwundert den Kopf hob. „Was tust du hier?“ Stille. Angespanntes Lauschen. Ich schüttelte den Kopf und richtete meine Aufmerksamkeit auf das zweijährige Kind. Bedauerlicherweise konnte ich den Dialog zwischen Muto und Wheeler nicht so ausblenden, wie ich es gerne getan hätte. „Um Rechenschaft abzulegen.“ Noch etwas hochgestochener und man würde meinen, Wheeler müsste sich vor dem höchsten Gericht behaupten. „Das kommt etwas spät.“ Doch vielleicht war es sogar genau das für ihn. Muto war für Wheeler immer die höchste Institution gewesen. „Ich weiß. Und dafür gibt es keine Entschuldigung.“ „Das stimmt. Die gibt es nicht.“ Ich wollte nicht zuhören. Ich wollte nicht mit hineingezogen werden. Doch durch meine Präsenz wurde ich es. Ich hatte Mutos zweijährigen Sohn auf dem Schoß – ich war schon tief genug selbst in der Sache mit drin. Und weil ich ohnehin schon zuviel mitbekommen hatte, entging mir nicht, wie anders Muto sich verhielt. Wheeler musste es sich ordentlich mit ihm verscherzt haben, wenn Muto so mit ihm sprach. Selbst ich hatte diesen Tonfall nie auf mich gezogen. „Keine Entschuldigung“, wiederholte Wheeler. „Aber eine Erklärung.“ Wieder Stille. Anspannung. Dann ein Seufzen. „Welche Erklärung?“ Ein Funke des alten Mutos. „Können wir das Gespräch ... woanders weiterführen?“ Eine Tür wurde geöffnet, dann geschlossen. Und auf einmal war es geradezu gespenstig still. Ich musterte Gardner, deren Griff sich wieder gelockert hatte. Sie lächelte mich an. „Möchtest du einen Kaffee?“ Er war mir selten willkommener. Wheeler und Muto ließen sich Zeit. Garnder versuchte mir zu vermitteln, dass die beiden viel zu klären hatte. Ohne dass ich fragte, legte sie mir die komplizierte Situation dar. Vor sechs Jahren hatte Wheeler ohne ein weiteres Wort vom einen auf den anderen Tag die Stadt verlassen. Niemand hatte gewusst wieso, niemand hatte sagen können, wohin er gegangen war. Zunächst herrschte Ratlosigkeit, dann Sorge, schließlich Ärger. Und dann ein Lebenszeichen: Ein Anruf. Nur wenige Worte. Wheeler hatte beteuert, es ginge ihm gut. Er hatte nicht gesagt, wo er war oder wann er wiederkommen wollte. Nur eins: „Ich brauche Zeit.“ Natürlich hatten sie ihm die Zeit gegeben. Es verging ein Monat, ein halbes und schließlich ein ganzes Jahr. Dann zwei. Im dritten Jahr starb Yugis Großvater. Keine Reaktion von Wheeler. Gardner erzählte mir, dass es Muto in der Zeit schlecht gegangen sei. Er hatte mit dem Verlust zu kämpfen und musste sich überlegen, ob er das Geschäft seines Großvaters fortsetzte oder aufgab. Noch immer keine Nachricht von Wheeler. Muto resignierte und schloss den Laden. Ein Monat später traf eine Karte ein. Muto hatte sie nicht einmal angesehen, sondern sie wortlos in den Müll geworfen. „Er war verletzt“, erklärte mir Gardner. „Und erschöpft. Normalerweise hätte er nie so reagiert – so ist Yugi nicht – aber die Umstände ... er war so enttäuscht.“ Sie erzählte mir, dass sie die Karte ohne sein Wissen wieder aus Abfall geholt und behalten hätte. Sie ging zum Regal und griff nach einem Buch. Sie schlug es auf und präsentierte eine unscheinbare Karte. Kommentarlos reichte Gardner sie mir. Ich betrachtete sie mit geringem Interesse. Die Vorderseite hatte ein gängiges Trauermotiv – nichts Außergewöhnliches. Wheeler hatte sie in irgendeinem Discounter gekauft. Dann drehte ich sie um und hob unwillkürlich die Brauen. Ich bin ein idiotisches Arschloch. Du musst mir nicht verzeihen. Ich habe Mist gebaut. Ich habe Angst, Yugi. Wenn ich dir das nächste Mal unter die Augen trete, habe ich hoffentlich den Mut, ehrlich zu dir zu sein. Es tut mir leid, aber ich weiß noch nicht, wann das sein wird. Ich gab ihr die Karte zurück. Ich sah in ihrem Blick, dass sie nicht wusste, wovon Wheeler gesprochen hatte und dass sie die schwache Hoffnung hatte, ich könnte es ihr sagen. Als ich das nicht tat, seufzte sie und setzte sich wieder neben mich. Das aufgeschlagene Buch lag auf ihrem Schoß. Ich erinnerte mich an Wheelers Unbeholfenheit und offensichtliches Missbehagen, als er Yugi gegenübergestanden hatte. Es war nicht nur die Reue gewesen. Was immer er in der Karte gemeint hatte, würde er Muto heute mitteilen. Sonst wäre er nicht hierher gekommen. Ein Jammern lenkte die Aufmerksamkeit auf Jou. Er sah seine Mutter aus flehenden Augen an. Gardner schien das Prozedere zu kennen und legte lächelnd das Buch beiseite. Sie schien dankbar für die Ablenkung. „Da hat jemand großen Hunger“, trällerte sie und hob den Jungen auf die Arme. Er ließ meinen Anhänger nur widerwillig los, doch er schien zu wissen, dass es Essen geben würde und der Hunger siegte über die Neugier. Bevor Gardner den Raum verließ, drehte sie sich zu mir um. „Wenn du möchtest, kannst du mitkommen. Es ist unhöflich, einen Gast alleine zu lassen.“ Ich schnaubte. „Bitte. Ich fühle mich in keinster Weise gekränkt, wenn man mir einen Moment der Ruhe gönnt.“ Sie verstand den Wink und zuckte die Schultern. „Wenn dir nach Gesellschaft ist, findest du mich in der Küche. Der Raum rechts neben der Eingangstür. Nicht zu verfehlen. Folge den glücklichen Lauten eines essenden Kindes.“ Sie zwinkerte mir zu und ging. Und ich war endlich allein. Mit zu vielen Gedanken. Gardners Offenheit war irritierend. Sie hatte keinen Grund, mich zu behandeln wie einen alten Freund. Und dennoch tat sie es. Dann Mutos offensichtliche Veränderung, die mir mehr zu denken gab als ich angenommen hatte. Vom Duel Monster Champion zum Kinderbuchautoren und Illustrator mit Hemd und Krawatte. Er hatte eine Familie mit Frau und Kind. Gardner blühte in ihrer Muterrolle auf und auch wenn ich nicht darüber nachdenken wollte, konnte ich mir Muto nicht als schlechten Familienvater vorstellen. Also gelang ihm auch das. Sie hatten sich verändert, hatten ihr Leben fortgesetzt. Ich wollte es nicht denken, aber mir war bewusst gewesen, dass es passierte, seit Gardner vor einer Stunde das Tor geöffnet hatte: Und was ist mit mir? Diese eine Frage, die doch so ausschlaggebend war. Der Vergleich, den ich mir bis jetzt verboten hatte. Das Ergebnis, das offensichtlich war und das ich versucht hatte, auszublenden. Ich stand an derselben Stelle wie vor zehn Jahren. Ich hatte mich kaum vorwärts bewegt. Muto schien mir immer einen Schritt voraus gewesen zu sein. Heute konnte ich nicht einmal mehr seinen Rücken sehen. Und das Schlimmste an allem war, dass diese Erkenntnis schmerzte. Ich blieb noch sieben Minuten und dreiundzwanzige Sekunden sitzen. Dann hielt ich es nicht mehr aus. Meine Gedanken wandten sich gegen mich. Ich verlor die Kontrolle über sie. Ich richtete mich ruckartig auf. Mit schnellen Schritten durchquerte ich das Wohnzimmer, dann den Flur. An der Wohnungstür zog ich mir mit viel zu unruhigen Bewegungen die Schuhe an. „Kaiba?“ Gardner hatte mich gehört. Ich reagierte nicht und streifte mir meinen Mantel über. „Kaiba, ist alles in Ordnung?“ Aufrichtige Sorge. Kalter Schweiß stand auf meiner Stirn. „Ich muss gehen.“ Ich brauchte mir keinen weiteren Gedanken bezüglich Wheelers machen. Ich hatte ihm den Gefallen getan, hatte keinerlei Verpflichtung ihm gegenüber. „Warum? Ist etwas passiert?“ Es ging sie nichts an! Und selbst wenn etwas passiert wäre, gäbe es keinen Grund, ausgerechnet ihr davon zu erzählen. „Kaiba. Kaiba, hörst du mich?“ Mein Atem ging zu schnell. Gardners Stimme klang viel zu besorgt. Ich war viel zu lange hier gewesen. Ohne ein weiteres Wort verließ ich das Haus. Schloss die Tür hinter mir bloß, um Abstand zu Gardner zu schaffen. Und nicht nur zu ihr. Zu allem, was in diesem Haus war. Erst als ich im Auto saß und meine Hände das Lenkrad umklammerten erlaubte ich es mir, mich etwas zu entspannen. Ich startete den Wagen und fuhr viel zu schnell, um Mutos Haus so rasch wie möglich hinter mir zu lassen. Meine Hand war am Türgriff. Ich stand halb im Raum. Mein Blick war unfokussiert auf das gegenüberliegende Fenster gerichtet. Die Erinnerung an den Weg zurück zur Villa war wie von einem Nebel getrübt. Ich stolperte in das Zimmer und schloss nicht einmal die Tür hinter mir. Ich hatte keinen Grund. Außer mir war niemand im Haus. Niemand. Ich tastete über den Nachtschrank. Nichts. Ich öffnete die Schublade. Meine Finger erfassten einen Tablettenstreifen. Niemand. Ich wusste nicht, welche Tabletten es waren, aber in diesem Moment war mir alles recht. Scherztabletten, Schlaftabletten, Halsbonbons. Solange ich nur irgendwas hatte, mit dem ich meinen Verstand austricksen und meine zitternden Hände beruhigen konnte. Ich schluckte die Tablette ohne Wasser. Und wartete. Mein Atem beruhigte sich. Ich strich mir über die Stirn. Sie war noch immer feucht, vielleicht vom Regen, vielleicht vom Schweiß. Ich mobilisierte meine Kräfte und stand auf. Ging ins angrenzende Badezimmer und nahm eine Dusche. Danach ging es mir kaum besser, aber die klamme Kälte hatte mich kurzzeitig verlassen. Ich zog frische Kleidung an und setzte mich aufs Bett. Ich lauschte dem Prasseln des Regens und dem Ticken der Uhr. Die Zeit ging schleichend vorüber, draußen wurde es dunkler. Der Regen schlug schwach, dann stärker gegen die Fenster. Das Ticken der Uhr schien sich zu verlangsamen, auch wenn ich wusste, dass es nur meine subjektive Wahrnehmung war. Dann erklang ein neues Geräusch. Ein Klirren. Ich lauschte, doch es wiederholte sich nicht. Ich erhob mich langsam und durchquerte den Raum. Vielleicht ein offen gelassenes Fenster? Ich seufzte und durchquerte den Flur, und ging ins Erdgeschoss. In der Eingangshalle war es still und ich hörte nichts. Ich spürte auch keinen Windzug. Ich musste mir das Geräusch eingebildet haben. Ich erklomm die Treppen und kehrte in die erste Etage zurück. Ich achtete nicht auf meine Schritte und erst als ich mitten im Zimmer stand fiel mir auf, dass es nicht meins war. Es war Wheelers. Das Zimmer, in dem Wheeer geschlafen hatte. Ich wollte mich zum Gehen umdrehen, da schlagen sich Hände um meinen Hals und ich wurde zu Boden geworfen. Ich konnte nicht einmal überrascht aufschreien, da mir jegliche Luftzufuhr abgeschnitten wurde. Ich blickte fassungslos in das schwarze Gesicht einer maskierten Person über mir. Das einzige, was ich trotz der Schwärze sehen konnte, war das diabolisch verzerrte Grinsen. Ich erwachte mit einem Ruck. Blickte schwer atmend an die Decke über mir. Ich schnappte nach Luft und fing an zu husten. Ich presste eine Hand auf meine Kehle und rang keuchend nach Atem. Unfokussiert blickte ich mich um. Ich war in meinem Zimmer. Alleine. Kein Angreifer. Niemand außer mir. Niemand. Ich richtete mich auf, bis ich aufrecht saß. Lange blickte ich auf meine Hände hinab. Ich schrieb Träumen keine große Bedeutung zu, aber es war das erste Mal, dass ich meinen eigenen Tod vor Augen gehabt hatte. Ich kannte Träume, in denen ich um Mokuba gekämpft hatte. Auch in meinem Alter kehrten die Szenarien zurück, in denen ich ihn nicht hatte retten können. In denen ich vor seinem Grab gestanden und keine Vergebung gefunden hatte. Dieser Traum war realer gewesen. Ich konnte die Hände um meinen Hals förmlich noch immer spüren. Das Lächeln meines Angreifers noch immer sehen. Seinen Atem noch immer hören. Ich schauderte und schüttelte den Kopf. Idiotisch. Nicht mehr als ein Traum. Irrational. Ich zuckte zusammen, als jemand an der Tür schellte. Und fluchte über meine eigene Reaktion. Ich spielte mit dem Gedanken, einfach sitzen zu bleiben. Es gab niemanden, den ich erwartete. Es war halb fünf – niemand klingelte um halb fünf bei mir. Ich ging ans Fenster und sah nach draußen. In der Entfernung sah ich am Tor des Grundstücks eine schemenhafte Gestalt. Alleine. Ungeschützt im Regen. Mir viel nur eine Person, die idiotisch genug war, hierher zurück zu kehren. Ich wandte mich ab und verließ den Raum. Neben der Eingangstür war ein Schaltkasten in der Wand. Er hatte ein Zahlenfeld für die Alarmanlage und Knöpfe, mit denen die Garage und das Eingangstor geöffnet wurden. Ich drückte den Knopf für letzteren Befehl. Dann öffnete ich die Eingangstür und wartete. Wheeler brauchte drei Minuten vom Tor bis zur Tür. Er war bis auf die Haut durchnässt. Und lächelte mich tatsächlich an als er mich erblickte. „Danke“, sagte er. Weiter nichts. Ich fragte: „Was willst du hier?“ Und verschränkte die Arme. Es wehte ein kühler Wind. „Fragen, ob ich noch hierbleiben darf.“ „Warum? Ich habe dich zu den Mutos gebracht. Sie nehmen dich doch mit Freuden bei sich auf. Ein Kind mehr oder weniger macht keinen Unterschied.“ Ich war heute viel zu nachsichtig mit Wheeler gewesen. Er hatte sich zuviel rausgenommen. „Sie haben kein Gästezimmer.“ Vielleicht log er. Vielleicht auch nicht. Japanische Häuser waren auf ein Minimum reduziert, was den Platz betraf. Es waren meist kaum genug Zimmer für alle Familienmitglieder vorhanden. Doch was dachte ich überhaupt darüber nach? „Aber ein Sofa besitzen sie“, bemerkte ich sachlich. Und ich sah Wheeler an, dass sie ihm genau das Angebot gemacht hatten, auf das ich jetzt anspielte. „Das haben sie.“ „Es ist passabel. Dir sollte es zum Schlafen reichen.“ „Das würde es.“ „Warum bist du dann zurückgekommen?“ Er lächelte. Und wieder war es dieses kaputte, viel zu bittere Lächeln. „Einfach so.“ Ich verzog den Mund. „Ich bin nicht dazu verpflichtet, dich aufzunehmen. Genau genommen schuldest du mir nach dem heutigen Tag etwas.“ „Ich weiß.“ „Ich sollte dich hier draußen stehen lassen. Du hast mich in etwas hineingezogen, das mich nichts anging.“ „Ich weiß.“ „Du nervst.“ Regenwasser rann über sein Gesicht. Löste sich in Tropfen und fiel mit dem Regen zu Boden. „Ich weiß.“ „Köter.“ Mir gingen die Optionen aus. „Reicher Pinkel.“ Ich trat zurück und schloss die Tür. Ließ zwölf Sekunden verstreichen, bevor ich sie wieder öffnete. Und ließ Wheeler, der sich kein Stück vom Fleck bewegt hatte, hinein. Eine halbe Stunde später war Wheeler geduscht, trug frische Kleidung von mir (ich wollte nicht später beschuldigt werden, jemanden vorsätzlich krank werden zu lassen) und saß mir in der Küche wieder mit einem heißen Kakao gegenüber. Ich trank einen Kaffee. Schwarz. Draußen hatte es noch immer nicht aufgehört zu regnen. Warum ich hier mit Wheeler saß, wusste ich nicht genau. Er hatte mich nie danach gefragt, mit ihm etwas zu trinken. Ich hatte als erster den Weg in die Küche gefunden und mir einen Kaffee gemacht. Ich hatte kaum zwei Minuten hier gesessen, da war Wheeler durch die Küchentür gekommen, hatte begonnen, sich wie selbstverständlich die Milch aufzuwärmen und hatte sich schließlich zu mir gesetzt. Er hätte vieles sagen können. Wenn es nach mir gegangen wäre, hätte er auch stundenlang schweigen können. Natürlich würde Wheeler so etwas für ihn Unnatürliches niemals tun. Ich rechnete schon damit, dass er mir lang und breit berichtete, wie es zwischen ihm und Muto gelaufen war. Stattdessen sagte er: „Du hattest eine Panikattacke.“ Ich ließ die Kaffeetasse sinken. Und bemerkte zu spät, dass mein Zögern Antwort genug für ihn war. „Téa hat mich darauf angesprochen. Sie war wirklich besorgt. Sie sagt, du hättest fürchterlich ausgesehen. So hätte sie dich noch nie erlebt.“ Ich schwieg. „Ich weiß, dass ich recht habe. Ich kenne Panikattacken. Ich hatte ebenfalls welche, auch wenn es Jahre her ist.“ Ich musterte Wheeler eingehend. Ich hätte niemals erwartet, dass jemand wie er Panikattacken hatte. Dass er Panikattacken hatte. Ich fragte nicht, warum. Er sagte nicht, warum. Wir schwiegen uns an. „Wie oft?“, fragte er als sein Becher schon halb leer war. „Ich wüsste nicht, was dich das anginge.“ „Also leugnest du es nicht.“ „Was würde es mir bringen? Pseudo-Analysen von dir oder vielleicht sogar Behandlungs-Empfehlungen. Danke, aber das brauche ich nicht.“ „Also hast du es im Griff?“ „Wheeler, was kümmert es dich? Ich habe einen Moment meine Nerven verloren – so ungern ich es auch zugeben. Ich wüsste nicht, was daran für dich von Relevanz ist. Lass es einfach.“ „Nicht, wenn es solche Ausmaße annimmt.“ „Was für Ausmaße? Habe ich Gardner verschreckt? Habe ich die Einrichtung beschädigt? Habe ich auf meinem Heimweg einen Unfall verursacht? Du überinterpretierst schon wieder.“ „Nimmst du Medikamente?“ „Nimmst du Medikamente?“ „Nicht mehr.“ Und wieder erwischte er mich unerwartet. Ich versuchte, es mir nicht anmerken zu lassen. „Frage ich dich, was für welche du genommen hast?“ „Schlaftabletten. Manchmal Beruhigungsmittel, wenn es besonders schlimm war.“ „Habe ich gesagt, dass es mich interessiert? Wheeler, du hättest von mir aus auch Drogen nehmen können und es wäre mir egal.“ „Ich habe mit dem Gedanken gespielt. In manchen Ländern ist es nicht illegal, so wie hier in Japan.“ Ich verdrehte die Augen. „Hörst du mir eigentlich zu? Es interessiert mich nicht.“ „Warum bist du dann hier?“ „Es ist meine Küche.“ „Du könntest mittlerweile genauso gut wieder in deinem Zimmer sein. Du hättest keine Skrupel, mich hier einfach sitzen zu lassen. Aber du bist hier geblieben. Bei mir. Mit mir. Also hindert dich etwas daran, zu gehen. Neugier? Verleugnetes Interesse?“ Er beugte sich vor. „Einsamkeit?“ Ich stand auf. „Das reicht. Ich hab genug von deinen Unterstellungen. Du weißt, wo du mich findest. Also komm nicht einmal in die direkte Nähe des Zimmers, es sei denn, das Haus steht in Flammen.“ Ich wandte mich zum Gehen. „Du bist einsam, Kaiba“, sagte Wheeler und ich hielt inne. „So einsam, das es wehtut. Du lebst isoliert. Du nimmst Tabletten, um damit klarzukommen. Du gehst langsam, aber sicher kaputt.“ Ich verließ die Küche. Und kam trotzdem nicht umhin, Wheelers hinterher gerufene Worte zu hören: „Aber du bist es, der sich von der Außenwelt abschottet, nicht umgekehrt.“ Was wusste er schon?! Gar nichts. Absolut gar nichts. ~ „Das war es dann wohl. Das Flugzeug startet gleich, Seto.“ „Es ist ein Privatjet, Mokuba. Er wird nicht ohne dich fliegen.“ „Weißt du es mit Sicherheit? Selbst unser gebündelter Kaiba-Einfluss kann den festgelegten Start eines Flugzeuges nicht verhindern.“ „Doch, wenn wir den Flughafen kaufen.“ „Seto.“ „Ich habe nicht gesagt, dass ich es vorhabe. Aber ich könnte es in Erwägung ziehen.“ „Wir brauchen keinen Flughafen.“ „Man weiß nie.“ „Seto.“ „...“ „Ich muss jetzt los.“ „Du hast recht. Ich muss auch los. Ich habe noch einen Termin.“ „An einem Feiertag?“ „Hat das je einen Unterschied gemacht?“ „Ach, Seto.“ „Pass gut auf dich auf, Mokuba.“ „Du auch auf dich, Seto. Ich komme dich immer wieder besuchen, ja?“ „Ich weiß.“ Ich wandte mich zum Gehen. „Seto?“ „Ja?“ Mokuba wirkte, als würde er um die richtigen Worte ringen. „Vergiss nicht ... ich meine, du darfst nicht immer ...“ Er seufzte. „Vielleicht solltest du Yugi mal besuchen?“ „Vielleicht“, antwortete ich und ging. Ich wusste, dass er meinen Worten ebenso wenig glaubte, wie ich. ~ ~ „Wie oft haben Sie dieses Gefühl?“ „Hin und wieder. Morgens nach dem Aufstehen. Manchmal spät abends, wenn ich von der Arbeit wiederkomme. Hin und wieder auch an freien Tagen.“ „Ich verstehe.“ „Tun Sie das wirklich oder wollen Sie mir nur das Gefühl vermitteln, damit ich ihnen weiterhin Schecks schreibe?“ „Herr Kaiba, Ihre Feindseligkeit ist unangebracht. Ich versuche, Ihnen zu helfen.“ „Dann sagen Sie mir, was ich habe.“ „Panikattacken.“ „Panikattacken.“ „Eben diese.“ „Habe ich etwa gesagt, ich renne schreiend durch mein Haus oder verkrieche mich unter meinem Bett und in Schränken?“ „Panikattacken zeigen sich nicht nur durch derartige Symptome. Alles, was sie beschrieben haben, spricht dafür. Herzrasen. Kalter Schweiß. Unkontrolliertes Zittern. Der Fluchttrieb.“ „Panikattacken.“ „Panikattacken, Herr Kaiba. Ausgelöst durch Stress –“ „Ich habe keinen Stress.“ „Oder Einsamkeit.“ „Ich bin nicht einsam.“ „Wann haben Sie Ihren Bruder das letzte Mal gesehen? ... Herr Kaiba?“ „Vor zwei Monaten.“ „Wann haben sie kürzlich mit ihm gesprochen?“ „Vor drei Wochen.“ „Haben Sie in dieser Zeit Besuch empfangen?“ „Nein.“ „Waren Sie bei jemandem zu Besuch?“ „Nein.“ Ich spürte, wie mein Herzschlag sich beschleunigte. „Wie groß ist ihr Freundeskreis? ... Haben Sie mehr als fünf enge Freunde? ... Zwei? Einen?“ „Ich brauche keine Freunde.“ Schweiß bildete sich auf meiner Stirn „Wie lange liegt ihre letzte Beziehung zurück? Mehr als ein Jahr?“ Meine Hände begannen zu zittern. „Zwei Jahre.“ „Was ist der erste Gedanke, den sie morgens nach dem Aufstehen haben?“ An diesem Tag hatte ich meine erste Panikattacke während der Sprechstunde. ~ Wieder eine heiße Dusche. Wieder frische Kleidung. Ich verließ mein Schlafzimmer und ging in mein Arbeitszimmer auf der anderen Seite des Flures. Setzte mich an den Schreibtisch und fuhr den Rechner hoch. Mein Blick blieb an einem Bild von Mokuba hängen, das vereinsamt am anderen Ende des Schreibtisches stand. Ich schüttelte den Kopf und begann mit der Arbeit. Da mein Arbeitspensum in den vergangenen Jahren stetig geschrumpft war, hatte ich es mir angewöhnt, Arbeiten, sofern sie nicht drängten, zu sammeln, bis sie sich so anhäuften, dass ich stundenlang durcharbeiten konnte, manchmal sogar eine ganze Nacht am Stück. Denn es waren Stunden ohne störende Gedanken. Heute Abend war es wieder so weit: Es hatte sich genug Arbeit angehäuft, um mich die Nacht über zu beschäftigen. Ich spürte, wie meine Stimmung sich hob, während ich das erste Programm öffnete. Als ich den Computer ausschaltete hatte es aufgehört zu regnen. Am Horizont zeigte sich der erste Rotschimmer der aufgehenden Sonne. Ich streckte meine steifen Glieder und stand zum ersten Mal seit Stunden auf. Einen Moment lang wurde mir schwarz vor Augen, doch so schnell wie er gekommen war, verschwand der Schwindel wieder. Ich schloss die Tür hinter mir und durchquerte den Flur. Auf dem Weg zu meinem Schlafzimmer kam ich an Wheelers Zimmer vorbei. Ich blieb stehen. Nicht, weil ich ein plötzliches Interesse an Wheeler entwickelt hatte, sondern weil die Tür sperrangelweit offen stand. Stirnrunzelnd trat ich näher. Wheelers Zimmer war leer. Seine zum Trocknen über die Heizung gelegten Kleidungsstücke waren nicht mehr da. Der Schlafanzug sowie die geliehene Hose und der Pullover lagen sauber zusammengefaltet auf dem unberührt wirkenden Bett. Wheeler war weg. Er war gegangen. Und das Ausbleiben meiner Genugtuung war allarmierend. tbc Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)