24 Days von Kiru (Ein Adventskalender, ursprünglich für Tattoo, nun zugänglich für alle!) ================================================================================ 02.12. Eyes that lose their vividness ------------------------------------- als Verbrechen suchte sich Erpressung aus! ~*~ Ryo ließ seine Augen auf seine Hände gerichtet, er hätte es nicht ertragen, jetzt aufzusehen. Er hätte seinen eigenen Anblick nicht ertragen. Das hellrote Wasser im Waschbecken war gerade dabei, abzulaufen, und trotzdem drückte er noch einmal auf den Seifenspender und wusch sich die Hände zum sicherlich vierten Mal ausgiebig. Die Seife schäumte auf, strahlend weiß, keine Verbindung mehr zum roten Schaum, der sich noch vor einer Minute gebildet hatte. Und trotzdem hielt Ryo seine Hände unter den laufenden Wasserhahn und musste noch mehr Seife nehmen. Als ihm ein dunkelroter Spritzer am Rand des Waschbeckens auffiel, wischte er ihn sowohl vollkommen bewusst als auch mechanisch weg. Er spürte seine Hände kaum noch, sie waren taub geworden. Das Wasser war eiskalt. Als der letzte Seifenrest abgewaschen war, fuhr Ryo sich mit den gefühllosen Händen übers Gesicht, und obwohl die erfrischende Sensation seinen Körper belebte, sein Geist blieb weiterhin betäubt, wie seine Hände. Es würde wohl noch eine Weile dauern, bis beides wieder auftaute. Da wagte er es zum ersten Mal, sich aufzurichten und anzusehen. Seine Augen waren müde, trotz des kalten Wassers, sein Mund bildete eine schmale Linie, seine Haare waren feucht geworden und die Nässe auf seiner Haut glänzte. Von dem Blut war nichts mehr zu sehen. Und trotzdem fühlte Ryo sich beschmutzt. „Ich hab dich gesehen.“ Bei diesen Worten hätte Ryo beinahe einen Herzinfarkt bekommen. Er fuhr zusammen und drehte sich sofort um, sein Herz unnatürlich heftig schlagend. Als ihm die Bedeutung der Worte bewusst wurde und als er den Sprecher erblickte, wurden seine Knie schwach und er musste sich am Waschbecken festhalten. Derjenige, der ihn angesprochen hatte, war ein Jugendlicher aus seiner Nachbarschaft. Ryo hatte ihm, als der Junge noch kleiner gewesen war, für ein oder zwei Jahre Klavierunterricht erteilt, daher wusste Ryo, wie er hieß: Jun. Inzwischen hatte Jun allerdings leuchtend pinke Haare und befand sich offenbar noch immer in der rebellischen Phase, wenn man sich seine Kleidung ansah. Doch das war alles nicht so wichtig, viel wichtiger war die Tatsache, dass er Ryo KANNTE, dass er wusste, wer er war. Und dass er ihn gesehen hatte, selbstverständlich. Jun stand neben der Eingangstür, und er stand so, dass er sich an einem anderen Ort sicherlich lässig an die Wand oder gegen den Türrahmen gelehnt hätte, an einer öffentlichen Toilette jedoch war es offenbar selbst ihm zu unhygienisch. Er hielt eine Zigarette in der Hand, die er augenscheinlich bereits seit einiger Zeit unbeachtet hatte abbrennen lassen. Aber auch das war nicht so wichtig, viel wichtiger war das schiefe Lächeln auf seinen Lippen, mit dem er Ryo bedachte. Ich bin geliefert, dachte Ryo und lehnte sich unwillkürlich an das Waschbecken, da er zunehmend schwächer wurde. Doch sein Geist war durch den Schock wieder klar geworden und überlegte blitzschnell, was er tun konnte. Bestechen? Betteln? Oder sogar... „Ich verpfeif dich nicht“, fuhr der Jugendliche fort, ungerührt davon, dass er einem Mörder gegenüber stand. „Und ich verschaff dir ein Alibi.“ Ryos Verstand schlug Purzelbäume. Wenn Jun als Augenzeuge aussagte, dann war alles vorbei. Es stünde zwar Aussage gegen Aussage, aber alles würde für Jun und gegen Ryo sprechen. Kurz: Er hatte ein Problem. Nein, er würde das kleinere Übel nehmen müssen. Er hatte schließlich keine Wahl. „Unter welchen Bedingungen?“, entgegnete er und bemühte sich, seine Stimme fest und bestimmt klingen zu lassen, aber wahrscheinlich gelang es ihm nicht einmal zur Hälfte. Der Schreck über Juns plötzliches Auftauchen saß ihm noch in den Knochen. „Was willst du dafür?“ Jun schürzte die Lippen, während er überlegte. Dabei warf er achtlos seine Zigarette auf den Boden und trat sie mit dem Absatz aus. „Deine Karre“, antwortete er schließlich. „Du gibst mir die Schlüssel und die Papiere und rührst sie nie wieder an. Sie bleibt aber auf dich zugelassen. Einverstanden?“ Was blieb ihm anderes übrig? So langsam hatte Ryo sich wieder gefangen. Er wusste, dass es ein Fehler war, aber er konnte nicht anders. Wäre es nicht Jun, sondern irgendein Fremder gewesen, irgendjemand, den er nicht kannte, irgendjemand, der ihn nicht kannte... Aber daran wollte er nicht denken. Nein, er musste es verdrängen. Wortlos griff er in seine Hosentasche und warf dem Pinkhaarigen seinen Autoschlüssel zu. Jun fing ihn geschickt auf und belohnte Ryo mit einem Grinsen. „Danke“, bemerkte er, zufrieden klingend. „Einigen wir uns darauf, dass ich dich gestern angerufen habe, weil ich unbedingt ein bestimmtes Stück spielen wollte und du nun mal mein Klavierlehrer warst? Komm, dann können wir die Einzelheiten besprechen, denn wenn die Polizei uns befragt, sollten wir die gleiche Geschichte zum Besten geben.“ Damit wandte Jun sich ab und verließ die öffentliche Toilette. Ryo warf einen Blick zurück zum Waschbecken und überprüfte, ob er auch keinen Blutspritzer vergessen, alle Spuren beseitigt hatte. Ihm war nach dem Mord sofort klar gewesen, dass er ziemliche Schwierigkeiten bekommen würde, er hatte sich nur nicht ausgemalt, dass sie in dieser Art auftreten würden. Und außerdem hatte er nun kein Auto mehr. Vorsichtshalber warf er Juns Zigarette noch in den Abfall, bevor er sich zu dem anderen nach draußen gesellte und sich gleichzeitig fragte, wie der etwa Neunzehnjährige eine Erklärung dafür finden wollte, dass sie beide sich bis ein Uhr nachts getroffen hatten. ~*~ Ryo war noch nie ein guter Schauspieler gewesen, doch an diesem Vormittag fühlte er sich, als hätte er sein Debüt als Hauptdarsteller in einem Stück, dessen Text er nicht kannte. Und er hatte das Gefühl, seine Rolle glänzend zu spielen. Genauso glänzend wie seine Augen in dem Moment, in dem der Polizeibeamte ihm mitteilte, dass seine Frau in der vergangenen Nacht in einem nahe gelegenen Park erschlagen wurde. Es lief wie am Schnürchen. Es lief beinahe zu gut. „Fassen wir noch einmal zusammen“, begann der kleinere der beiden Beamten, der während des vorangegangenen Gesprächs mitgeschrieben hatte. „Gestern gegen 15 Uhr bekamen Sie überraschend einen Anruf von Jun, der vor etwa sieben Jahren ein Klavierschüler von Ihnen war. Er bat Sie, ihm mit einem bestimmten Klavierstück zu helfen, und begründete seinen Anruf damit, dass ihm niemand anders eingefallen sei. Obwohl gestern der Hochzeitstag von Ihrer Frau und Ihnen war, sagten Sie zu. Daraufhin entbrannte eine Diskussion zwischen Ihnen beiden und Sie gingen im Streit auseinander.“ Ryo nickte, erneut unter Tränen. Hätten die beiden Polizisten ihn nicht so mitfühlend angesehen, wäre er sich ziemlich lächerlich vorgekommen. „Sie und dieser Jun übten bis spät in die Nacht, sodass Sie erst um drei Uhr wieder zuhause waren. Da Ihre Frau nicht da war, vermuteten Sie, sie sei zu ihrer Schwester gefahren, und gingen schlafen. Ist das korrekt?“ Wieder nickte Ryo. Die Uhrzeit seiner Rückkehr stimmte sogar – nur war er nicht nachmittags zu Jun gegangen. „Wie erklären Sie sich, dass Ihre Frau um die Uhrzeit alleine draußen unterwegs war?“, wollte nun der andere Polizist wissen. „Ich... wenn wir uns gestritten hatten, sind wir oft in dem Park spazieren gegangen. Wahrscheinlich wollte sie... hat sie Trost gesucht“, gab Ryo zurück und spürte, wie sich ein Kloß in seinem Hals bildete. Zumindest hier log er nicht vollkommen. „Hätte ich gewusst, dass sie so spät noch alleine raus will, hätte ich... hätte ich...“ Seine Stimme versagte, und er vergrub das Gesicht in den Händen. Als die beiden Polizisten nach einigen Minuten wieder gingen, fühlte Ryo sich, als fiele der Vorhang zu seinem Theaterdebüt unter tosendem Beifall über seine gelungene Darbietung des trauernden Ehemannes. Am Abend, als es an seiner Tür klingelte, musste Ryo nicht lange überlegen, wer sein unerwarteter Gast war. Er öffnete und wurde augenblicklich von seinem Besuch zur Seite geschoben, als wäre ER der Eindringling. Jun zog wortlos seine Schuhe aus, warf seine Jacke in Richtung Garderobe und schaute sich kurz um, um sich zu orientieren. Dann entschied er sich für die erste Tür, da er sich offenbar daran erinnerte, dass dort die Küche lag. „Hast du nichts zu essen?“, wollte er enttäuscht wissen. „Dann bestell Pizza. Für mich eine extra große mit Ananas und Eiern. Ach ja, und sag ihnen, du bezahlst das Doppelte, wenn sie noch Pfirsiche drauf tun.“ Dann stapfte er weiter ins Wohnzimmer, wo er sich umgehend auf das Ledersofa warf und sich die Fernbedienung schnappte. Ryo war ihm gefolgt und betrachtete ihn nun sprachlos. Ihm waren im Laufe seines Lebens bereits viele dreiste Menschen begegnet, aber das hier war wohl der Gipfel der Unverschämtheit. „Was glaubst du, was-“ „Die Bullen sind heute noch bei mir aufgetaucht“, fiel Jun ihm ungerührt ins Wort und griff nach der Zigarettenschachtel, die auf dem Wohnzimmertisch lag. Ryo brachte diese einzelne Aussage so sehr aus dem Konzept, dass er vergaß, seinen ‚Gast’ zurechtzuweisen, dass in der Wohnung nicht geraucht wurde. „Haben mich nach gestern gefragt, erst, was ich gemacht habe und so. Bin natürlich nicht drauf reingefallen. Haben mir aber geglaubt, als ich deine Geschichte bestätigt habe, ohne dass sie mir was vorkauen mussten. Fanden es aber komisch, dass wir sieben Jahre lang nichts miteinander zu tun haben und ich dich plötzlich anrufe.“ Wäre es doch nur dabei geblieben, dass wir nichts miteinander zu tun haben, dachte Ryo und musste sich ratlos durch die Haare fahren. Ihm war ein Stein vom Herzen gefallen, das stimmte schon – er hatte damit gerechnet, dass die Polizisten Jun kontaktieren, allerdings war er sich längst nicht sicher gewesen, was der Jugendliche ihnen erzählen würde. Nur jetzt schuldete er Jun wirklich etwas. Und er bezweifelte, dass es mit seinem Auto getan war. „Was ist jetzt mit der Pizza?“, wollte der Jugendliche unzufrieden wissen und schaltete den Fernseher ein. „Ich hab Hunger.“ „Bekommst du zuhause nichts zu essen?“, entgegnete Ryo ungehalten und fragte sich gleichzeitig, wie er sich dem anderen gegenüber verhalten sollte. War er nur allzu willig und höflich, würde Jun das sicherlich ausnutzen, aber wenn er zu viel Widerstand leistete, könnte es böse ausgehen für ihn. „Meine Mutter kocht schon lange nichts mehr“, lautete Juns Antwort, bei der er mit den Schultern zuckte. Sein Blick richtete sich auf den flimmernden Bildschirm, während sein sonst so gleichgültiges Gesicht einen beinahe verbissenen Ausdruck bekam. Wären sie nicht in der Situation, in der sie sich nun einmal befanden, hätte Jun Ryo beinahe leid getan. Er schien das Paradebeispiel für einen vernachlässigten Jugendlichen zu sein, seine Haarfarbe lediglich ein Wunsch nach Aufmerksamkeit, sein Kleidungsstil ein verzweifelter Versuch, Sorge zu provozieren. Und all das wurde jetzt offenbar auf Ryo abgewälzt. Schweigend wandte er sich ab, um das Telefon zu holen, und überlegte, ob er noch einen Flyer einer Pizzeria irgendwo herumliegen hatte. So ging es die nächste Woche weiter. Ryo hatte sich die Woche freigenommen und unzählige Beileidsbekundungen von seinem Vorgesetzten wie von seinen Kollegen erhalten. Verwandte und Bekannte riefen bei ihm an, und jedes Mal präsentierte er ihnen seine glaubhafteste Vorführung, spielte die Anrufer und Besucher an die Wand und merkte, wie er mit jeder Vorstellung müder wurde. Die Tat selbst schien ihm nicht so sehr zuzusetzen wie seine falsche Trauer. Sie lastete tonnenschwer auf ihm. Und Jun kam und ging, wann er wollte. Er fragte Ryo immer mal wieder nach Geld und Zigaretten, verlangte jedoch hauptsächlich nach Essen und Unterhaltung. Oft gab er sich damit zufrieden, auf dem Sofa zu liegen und fernzusehen, solange er etwas zu essen hatte. Doch auch allein seine Anwesenheit übte einen großen psychischen Druck auf Ryo aus. Dazu kam noch, dass die Polizei einige Male vorbeischaute und Ryo nach der möglichen Existenz eines Geliebten ausfragte, ob er sich insgesamt mit seiner Frau gut verstanden hatte und so weiter. Ryo war klar, dass es so nicht weitergehen würde. Mit der gesamten Situation nicht. ~*~ Und er behielt Recht. Am achten Abend kam Jun gegen neun Uhr und verlangte nach Alkohol. Als Ryo meinte, er habe keinen im Haus, wurde Jun ungehalten und schickte Ryo los, noch an irgendeiner Tankstelle Bier zu kaufen. Als Ryo wiederkam, stank seine Wohnung nach Zigarettenqualm und Jun zählte das Bargeld, das er in Ryos Nachttisch gefunden hatte. Daraufhin warf Ryo dem Eindringling das Sixpack in den Schoß. „Wie lange soll das noch so weitergehen?“, fragte er scharf und fixierte den Jugendlichen wütend. „Wie lange willst du meine Wohnung besetzen, dich von mir verköstigen lassen und-“ „Bis du dich stellst?“, entgegnete Jun, schien sich allerdings selbst nicht sicher zu sein. Er drückte seine Zigarette im Aschenbecher aus und stellte das Bier auf den Boden. „Ist es das, was du willst?“ „Nein. Ist es nicht“, widersprach Jun ruhig. „Aber ich denke, viel früher wird es nicht aufhören. Mir gefallen deine Wohnung und deine Gesellschaft. Hier kann ich machen, was ich will.“ „Bist du nur deshalb hier? Weil das hier ein Paradies für heimatlose Teenager ist?“, fragte Ryo gereizt. „Weil du alles bekommst, ohne etwas dafür zu tun?!“ Er bekam keine Antwort. Stattdessen wandte Jun sich wieder dem Fernseher zu und riss geistesabwesend das Sixpack auf, holte einen Flaschenöffner aus der Hosentasche und öffnete eine Flasche Bier. Frustriert nahm Ryo sich sein Geld vom Wohnzimmertisch und machte Anstalten, den Raum zu verlassen, als er seinen Namen hörte. Er wollte Jun bereits anschnauzen, dass er ihm das Geld nicht geben würde, verstummte aber ob der Miene, der er sich gegenüber sah. Jun schaute ihn an, weder gleichgültig noch verbissen noch amüsiert oder mit sonst einem Gesichtsausdruck, der Ryo bekannt war. Es lag Neugier darin, aber Neugier für das Falsche, Sensationslust, Verlangen nach etwas, das man besser unterdrückte. „Warum hast du sie umgebracht?“, flüsterte der Jugendliche, das Bier in seiner Hand vergessen. Ryo war kurz davor, ihm zu sagen, dass ihn das nichts anging, dass es verdammt noch mal seine Sache war, aber in diesem Augenblick wurde ihm eins bewusst: Wenn er es jetzt nicht aussprach, würde er niemals die Gelegenheit dazu bekommen – oder zumindest hoffentlich. Er persönlich vertrat die These, dass viele Verbrecher ihre Taten vor der Polizei zugaben, nur damit sie sie endlich los waren. Damit das Feuer, das auf der Seele brannte, gelindert werden konnte. „Sie hatte eine Affäre“, hörte er sich sagen und spürte, wie die Wut zurückkehrte, die ihn in jener Nacht durchflutet hatte. Diese unbändige Wut. „Mit meinem Bruder. Er war gleichzeitig mein erbittertster Konkurrent und ich hasse ihn. Sie wusste das. Und trotzdem hat sie sich von ihm ficken lassen. Weißt du, warum?“ Es war eine rein rhetorische Frage, Ryo sprach nicht mit Jun, sondern mit sich selbst. „Weil sie Kinder wollte. Und ich nicht. Deshalb wollte sie mir Kuckuckskinder unterjubeln, sie meinte wohl, dass es wegen der ähnlichen Gene nicht auffallen würde.“ „Würde jeder, der seinen Ehepartner betrügt, umgebracht, gäbe es kein Bevölkerungsproblem mehr“, wandte Jun ein. Seine Augen blitzten vor Interesse, trotz seines abfälligen Kommentars. „Es war nicht das Einzige“, rechtfertigte Ryo sich, plötzlich müde geworden. „Es... kam alles zusammen. Sie hat in Wunden herumgebohrt, die sie besser in Ruhe gelassen hätte. Sie hat behauptet, mein Bruder wäre besser als ich, in vielerlei Hinsichten, sie hat sogar davon gesprochen, sich scheiden zu lassen und ihn zu heiraten. Da war es vorbei mit mir. Da habe ich die Beherrschung verloren.“ „Ich weiß“, gab Jun zurück und nickte langsam. „Den letzten Rest habe ich mitbekommen. Hast du dich gut um sie gekümmert?“ Die Erinnerung kehrte plötzlich zurück, ebenso plötzlich wie Juns Frage gewesen war, Ryo sah sich wieder, wie er einen Stein aufhob und zuschlug, und noch einmal, hielt ihr den Mund zu, damit sie nicht so laut schrie, wie das Blut seine Hände besudelte... „Für mich klang es nämlich ganz verdammt nach einer Frau, die versucht, ihren Ehemann eifersüchtig zu machen, damit er sich wieder für sie interessiert.“ Ryo glitten die Geldscheine aus der Hand, während alle Farben um ihn herum mit einem Mal noch kräftiger, leuchtender wurden. Er drehte sich um und schaffte es noch zur Toilette, bevor er sich das erste Mal übergab. Sein Magen entleerte sich vollständig, bis nur noch Galle kam, und trotzdem konnte Ryo nicht aufhören zu würgen. Er hatte seine Frau getötet, brutalst ermordet. Und bis jetzt war er damit durchgekommen. Niemand hatte etwas gemerkt. Bis auf Jun, natürlich. Nach einiger Zeit fühlte er sich wieder soweit wohl, dass er ins Wohnzimmer zurückkehren konnte. Jun hielt ihm schweigend ein Bier hin, Ryo nahm es und trank, um den widerlichen Geschmack loszuwerden. Sein Magen hätte sich beinahe wieder umgedreht, aber er beherrschte sich und zwang den Alkohol durch seine Speiseröhre. Eine Weile sagte keiner der beiden ein Wort. „Früher hab ich dich bewundert“, meinte Jun irgendwann. „Du hast es geschafft zu arbeiten – auch noch in einem langweiligen Bürojob – und gleichzeitig Klavier zu spielen, so gut, dass viele Musiker neidisch wären. Ich fand das bewundernswert. Ich wollte unbedingt auch so sein, in die Schule gehen UND gut Klavier spielen, deshalb habe ich meine Mutter immer wieder angebettelt, dass sie dich weiterhin bezahlt. Nur irgendwann hatte sie dafür kein Geld mehr.“ „Ich habe seit sechs Jahren nicht mehr gespielt“, murmelte Ryo. Jun warf ihm einen Seitenblick zu. „Hast du den Flügel noch?“ Während Ryo sein drittes Bier anfing, wischte Jun die Oberfläche des Flügels behutsam und fast schon ehrfürchtig frei von Staub. Das Musikinstrument stand in einem einzelnen Raum, dafür hatte Ryo Platz gehabt, als er die Wohnung bezogen hatte. Inzwischen war das Zimmer um den Flügel herum vollgestellt, verstaubt und vergessen. Und Jun setzte sich an das Instrument, klappte den Schutz für die Klaviatur hoch und begann zu spielen. Es war ein klassisches Stück und Jun spielte es flüssig, auch wenn er immer wieder falsche Noten anschlug. Er spielte nicht gut, bei Weitem nicht, aber auf seinem Gesicht lag ein Ausdruck des Friedens, als genüge es ihm vollständig, dass er einzelne Töne traf. Ryo bezweifelte nicht, dass es so war. Er selbst fühlte sich leer, während er den Flügel betrachtete. Er hatte ihn zusammen mit seiner Frau gekauft und ihr oft etwas vorgespielt. Dass Jun nun darauf spielte, besaß eine gewisse Ironie für ihn, die er kaum ertrug. Er trank sein Bier aus. Nach einiger Zeit hielten Juns Hände inne und er wandte sich zu seinem Zuschauer um. „Hast du schon mal mit einem Mann geschlafen?“ Ryo hielt seinen Blick fest und musste die Augenbrauen hochziehen, halb überrascht, halb ungläubig. „Nein, und ich hatte es auch nicht vor.“ „Hattest du vor, jemals deine Frau umzubringen?“, fragte Jun weiter und auf seinen Lippen lag erneut das schiefe Lächeln, das Ryo bereits an jenem Abend gesehen hatte. „Keine Sorge, so schlimm ist es nicht.“ Er stand auf und stellte sich vor Ryo, machte sich daran, dessen Gürtel zu öffnen. „Ich kann das nicht“, sagte Ryo leise. „Du solltest aber“, meinte Jun lächelnd und drückte ihre Lippen zum ersten Mal an diesem Abend aufeinander. „Willst du wissen... weshalb ich keine Angst vor dir habe?“, hauchte Jun an das Ohr des anderen. Seine Hände waren in Ryos schwarzen Haaren vergraben, seine nackten Oberschenkel an Ryos Seiten gepresst. „Normalerweise... bekommt man, glaube ich, Lust aufs Töten. Du wurdest aber so sehr abgeschreckt, dass du dich so etwas nicht noch einmal traust.“ Ryo schwieg. Er hatte die ganze Zeit keinen Laut von sich gegeben, auch nicht, als Juns hübscher schlanker Körper sich kurz darauf mit einem leisen Stöhnen unter ihm wand. Einige Zeit lagen sie regungslos da, dann legten Juns Lippen sich an Ryos Hals. „Wie wär’s, wenn du mal unten liegst?“, flüsterten sie. Nein, das Blut war von Ryos Händen und seinem Gesicht verschwunden. Doch etwas, was ihn an seinen schmutzigen Zustand erinnerte, war der dunkle Fleck auf seinem Hals, dort, wo diese Lippen noch vor Kurzem gewesen waren. Ryo betrachtete seine Hände, in denen er immer noch kein Gefühl hatte, so kalt war das Wasser gewesen. Das Licht in seinem Badezimmer war mindestens genauso kühl, und so wollte er eigentlich nicht länger dort bleiben. Doch wenn er sein Badezimmer verließ, dann würde er ins Schlafzimmer müssen, und dort würden ihn zwei Augen anstarren, die ihr Glitzern verloren hatten, dann würde ihn ein Körper anklagen, dessen Blutstrom versiegt war, dann würden seine Erinnerungen ihm vor Augen führen, was er im Moment noch beiseite geschoben hatte. Seine Gedanken waren simpel: Ein Handtuch nehmen, sich die Hände abtrocknen. Die Finger, die Handrücken, die Handinnenflächen, die Handabdrücke auf Juns Hals. Ryo hielt sich eine Hand vor den Mund, als sein Brechreiz wiederkehrte. Er überwältigte ihn beinahe, aber schließlich schaffte Ryo es, ihn niederzukämpfen. Könnte er nicht im Badezimmer schlafen? Nein, wahrscheinlich konnte er gar nicht mehr schlafen. Er zuckte zusammen, als es an der Tür klingelte. Jetzt ist es vorbei, dachte er. ~*~ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)