Der letzte Winter von PONPON (Remember to still feel alive.) ================================================================================ Kapitel 1: ----------- Der letzte Winter You have seen your last cold winter And felt your last sun But, remember to still feel love When you have felt your last heartbeat And taken your last breath Remember: the world still spins Dúné „Hör sofort damit auf!“, fahre ich meinen Gegenüber, wie ich etwas verspätet merke, vielleicht zu heftig an. Dieser zuckt darauf hin kaum merklich zusammen, weicht aber keinen Zentimeter von mir ab. „Womit denn?“ Ich werde einer Musterung aus leicht zusammengekniffenen Augen unterzogen, und die Person, der diese beinahe schwarzen Augen gehören, legt fragend ihren hübschen Kopf schief. Wenn er dabei nicht so niedlich aussehen würde, hätte ich ihm schon längst eine verpasst. „Adrian...“, knurre ich, und hoffe dabei, dass sich das wenigstens ein bisschen bedrohlich anhört. Leider scheint das nicht im Geringsten die erhoffte Wirkung zu haben. Das Einzige, was es bei Adrian, meinem so genannten besten Freund auslöst, ist ein leises Lachen, dass mir einen wohligen Schauer den Rücken hinunterjagt. Moment. Wohlig war der ja wohl nicht. Ich sollte meine Gedanken besser im Zaum halten. Genau diese Gedanken driften jetzt wieder zu den samtweichen Händen ab, die immer noch auf meiner Wange liegen und viel zu gut riechen. Überhaupt riecht Adrian viel zu gut. Kann der das denn nicht einfach sein lassen? Zu allem Überfluss hat er sein Gesicht, ohne dass ich es gemerkt habe, eindeutig zu nah vor meinem platziert. „Was wird das denn jetzt?“, presse ich zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. Mein ganzer Körper steht vom einen auf den anderen Moment unter Strom. Ganz knapp verfehlt sein Mund meine Lippen und als er mir etwas leise ins Ohr haucht, das man als „Das weißt du doch genau“, verstehen konnte, jagt mir schon wieder so ein bescheuerter Schauer den Rücken hinab. Grob packe ich ihn an den Schultern und schiebe ihn von mir weg. Ich muss einen sinnvollen Satz hervorbringen, der ihn auch nur im Mindesten davon überzeugen kann, sich jemand anderen zum Anfassen zu suchen. Adrian ist besoffen. Sternhagelvoll. Und wenn er dicht ist, dann... dann stürzt er sich eben auf das Nächstbeste, was zufällig zwei Beine hat und nicht hässlich wie die Nacht ist. Das bin meistens ich, weil ich immer an Adrians Seite bin. Naja, fast immer. Ganz geht nicht, obwohl mir das schon irgendwie recht wäre. Angestrengt halte ich ihn auf Abstand. „Hör zu...“, seufze ich. „Was auch immer du jetzt tun wirst, du wirst es Morgen unter Garantie bereuen. Hier sind doch in jeder Ecke- “ Ich mache eine Geste, die den ganzen, völlig überfüllten Raum einschließen soll. “- Tussen, denen du dich an den Hals werfen kannst, oder?“ Mit hochgezogenen Augenbrauen sehe ich ihn an. „Will aber nich'.“, nuschelt Adrian und schiebt sich trotz meiner Hände, die auf seinen Schultern liegen, wieder näher an mich heran. „Ich will dich, Gab.“, sagt er leise. Ich kann nicht anders als vor Schreck, Verwunderung und... einem ganz komisch kribbeligen Gefühl in meinem Bauch die Augen weit aufzureißen. So höre ich das wirklich nicht oft von ihm. Okay, ganz ruhig, Gabriel, ganz ruhig. Das meint er nicht so. Ganz sicher nicht. Nimm das nicht ernst. Geh nicht darauf ein. Tief atme ich ein, um anschließend geräuschvoll auszuatmen. „Die Leute hier starren schon. Mach das du von mir weg kommst. Jetzt sofort!“, zische ich gefährlich leise, und diesmal kommt es bei ihm an. Mühsam, wie es scheint, rückt Adrian von mir weg und streicht sich eine schwarze Haarsträhne aus dem Gesicht. Ich seufze einmal auf, bevor ich fortfahre: „Entweder, du gehst dir jetzt ein Mädel suchen, oder du gehst nach Hause, in dein Bett, und schläfst deinen Rausch aus. Alleine!“ Er kneift wieder leicht die Augen zusammen, aber diesmal kann ich den Ausdruck auf seinem Gesicht nicht deuten. „Alleine?“ Mit einem Schlag wird es mir klar. So sieht er mich nur an, wenn er verletzt ist. „Gut, das ist dann wohl das Beste.“, raunt er und stürmt ohne weitere Worte an mir vorbei in Richtung Ausgang. Verdammt. Hätte ich ihn nur nicht überredet, zu dieser idiotischen Party zu gehen. Hätte mir doch denken können, dass das wieder auf's Gleiche hinausläuft. Darauf, dass wir uns streiten. Den genauen Grund verstehe ich selbst meistens nicht. Ich schiebe mich zwischen den Menschenmassen hindurch, die sich alle in diesen für die enorme Anzahl an Leuten viel zu winzigen Raum natürlich genau heute Abend hinein zwängen mussten, sodass ich Adrian schon nach wenigen Momenten aus den Augen verloren habe. Als ich ihn dann aber Sekundenbruchteile später dicht an Mara, irgend so ein Mädchen aus unserem Jahrgang, gedrängt sehe, bin ich eigentlich nicht besonders verwundert. Wäre auch merkwürdig gewesen, wenn er wirklich gegangen wäre. Eigentlich sollte ich jetzt beruhigt sein. Weil wir keinen handfesten Streit vom Zaun gebrochen haben. Weil keine bösen Worte gefallen sind. Weil wir uns nicht blamiert haben. Aber ich kann nicht anders, als den beiden mit einem gewissen Missfallen in meinem Blick aus sicherer Entfernung zuzuschauen. Würde ich nicht zugeben, dass ich genau jetzt, in diesem Augenblick, wie blödsinnig eifersüchtig wäre, dann würde ich mich einen verdammten Lügner schimpfen müssen. Und das bin ich auch. Ein Lügner. Wieso soll es mich interessieren, wenn er mit einer langweiligen, dummen Tusse rummacht? Ihr die Zunge in den Hals steckt und seine samtweichen Hände unter ihr viel zu weit ausgeschnittenes Top schiebt? Es sollte mich kalt lassen, aber sowas von! Ich seufze noch einmal leise auf, bevor ich nun in der festen Absicht zu gehen den Ausgang anstrebe. Etwas ungelenk stolpere ich in den Hausflur hinein, der sich vor dem Wohnzimmer befindet und sich wie Kaugummi in die Länge zu ziehen scheint. Nach einer gefühlten Ewigkeit bin ich dann endlich raus aus dem Protzhaus, welches dem Vater von einem Typen aus meiner Klasse gehört. Ich kenne ihn noch nicht einmal richtig. Also, weder den Typen, noch den Vater. Ist ja auch egal. Meine Lust auf die Party ist mir jedenfalls eindeutig vergangen. Ach ja, Tobias heißt der Typ, Glaube ich. Aber ganz sicher bin ich mir da nicht. Tobias' Vater ist gerade auf Geschäftsreise und seine Mutter? ...Keine Ahnung wo die ist. Das riesige Haus, das meiner Meinung nach für 3 Leute viel zu groß ist, befindet sich bloß leider mitten im Nirgendwo. Wir sind mit dem Auto da. Und wer hat den Führerschein und den Autoschlüssel? Adrian… Dass mir das nicht früher eingefallen ist! Ich bin wohl doch etwas angetrunkener, als ich vermutet habe… So langsam wie es mir möglich ist, tapse ich bis zu Adrians Auto und lasse mich davor auf den Boden fallen. Das Gras ist nass und schlammig, aber das stört mich gerade mal recht wenig. Ich lasse meinen Kopf gegen einen der Autoreifen sinken und schlafe schließlich binnen kürzester Zeit ein. Unwillig stöhne ich auf, als mich jemand am Arm packt, mich durchrüttelt und einfach nicht mehr aufhört. Scheiße, ist das so schwer zu sehen, dass ich hier schlafen will? Mein bösartiger Wachrüttler scheint das nicht zu erkennen, denn er hört immer noch nicht auf. Genervt öffne ich meine Augen einen Spalt breit, nur um in Adrians etwas glasige, aber doch wieder recht nüchtern dreinblickende Augen zu schauen. Wieso kann der den Alkohol nur so schnell abbauen? Das ist unfair! Eben das will ich ihm gerade ins Gesicht schleudern, da packt er mich auch schon an den Handgelenken und zieht mich in eine aufrechte Position. Bevor ich weiter protestieren kann, hat er auch schon die Beifahrertür geöffnet und schiebt mich ins Auto. Etwas unsanft lande ich auf dem Sitz und sacke sofort gegen die Lehne. Ich bin so müde, dass ich sofort wieder einschlafen könnte. Was ich dann auch tue… Um mich herum ist es wunderbar warm. Wie ein Kater schnurrend vergrabe ich mich so tief wie ich kann in die flauschigen Kissen und ziehe mir die Decke ein Stückchen weiter über den Kopf. Mehr als ein schwaches Grummeln bringe ich aber nicht zu Stande, als mir die Decke kurz darauf wieder weggezogen wird. Ich gähne herzhaft, bevor ich mich dazu durchringe, meinen Oberkörper langsam aufzurichten und in das eindeutig zu helle Tageslicht zu blinzeln. „Gib mir die Decke zurück!“, maule ich, während ich mir die Hände schützend vors Gesicht halte, weil es mir nun doch irgendwie zu hell wird. Jetzt erst fällt mir ein, dass ich überhaupt nicht weiß, mit wem ich es da zu tun habe. Scheiße! Filmriss. Habe ich Gestern wirklich so viel getrunken? Der Störenfried wagt es auch noch, meine Hand vorsichtig, aber bestimmt, von meinem Gesicht zu entfernen und sieht mich dann offensichtlich sehr belustigt an. „Du bist und bleibst einfach ein Morgenmuffel“, lacht Adrian und setzt sich neben mich aufs Bett. Jedoch nur um mir seinen Ellenbogen in die Seite zu rammen, was mich aufschrecken lässt. „Hallo, ich bin schon wach...“, murre ich, und bedanke mich bei ihm mit einem, wie ich hoffe, giftigen Blick von der Seite. „Schon gut, schon gut.“ Er hebt beschwichtigend die Hände und wuschelt mir mit einer ganz beiläufigen Bewegung durch die Haare. „Du siehst schrecklich aus, Gab, echt jetzt! Man könnte meinen, dass du hier den Kater hast und nicht ich.“ Wieso sieht das Lächeln, das um seine Mundwinkel spielt, so verdammt anziehend aus? So anziehend, dass ich ihm seine taktlose Bemerkung von gerade eben fast verzeihen könnte. Aber eben nur fast. „Danke, wie nett von dir!“, knurre ich ihn an und erhebe mich dann ganz vom Bett. Kein Wunder, dass es so bequem gewesen war, ich habe ja schließlich nur Boxershorts an. Moment... Ich kann mich nicht daran erinnern, mich gestern Nacht ausgezogen zu haben. Gut, ich kann mich an einiges nicht erinnern, aber das... „Adrian.“ Ich stemme die Hände in meine Hüften und fixiere ihn mit funkelnden Augen. „Hast. Du. Mich. Ausgezogen?“ Unwohl weicht er meinem Blick aus. Dachte ich's mir doch. „Wieso hast du mich eigentlich mit zu dir genommen? Hättest mich doch auch zu Hause absetzten können“ „Ja, sicher! Ist ja nicht so, dass du geschlafen hast wie ein Toter und hackedicht warst. Klar hätte ich dich da einfach vor deiner Haustür rausgeschmissen und wäre gefahren.“ Ich atme hörbar aus. „Hättest du vielleicht besser gemacht!“, rutscht es mir dann heraus. Ehrlich getroffen schaut Adrian mich an. Ups, da bin ich wohl ein bisschen zu weit gegangen. „Außerdem hätten wir ja nicht in einem Bett schlafen müssen…“, meine ich, um irgendwie von dem, was ich gerade gesagt habe, abzulenken. „Woher willst du wissen, dass wir das haben?“, fragt Adrian mich mit hochgezogenen Augenbrauen und deutet auf die Matratze, die sich auf der gegenüberliegenden Seite des Raumes befindet. Ich schlucke. Herzlichen Glückwunsch, Gabriel! Du hast es mal wieder geschafft. Und natürlich hindert dich jetzt dein dämlicher Stolz daran, dich zu entschuldigen. Idiot. Aber so ist das eben. Ich bin ein stolzer Mensch. Okay, ich bin ein zu stolzer Mensch, ich geb's ja schon zu. Und weil ich das bin, sammele ich meine Sachen zusammen, ziehe mich an und verlasse ohne ein weiteres Wort an Adrian zu richten erst sein Zimmer und dann das mir inzwischen sehr gut bekannte Haus. Während dem Laufen drehe ich mich noch einmal um und betrachte das Haus meines besten Freundes. Es ist eine mittelgroßes, schneeweiß gestrichenes Haus, auf dessen roten Dach sich die Schneedecke idyllisch abhebt. Manchmal weiß ich gar nicht, ob wir das wirklich sind. Also beste Freunde oder so. Wir streiten uns dafür eigentlich viel zu oft. Aber dann gibt es wieder so Augenblicke, in denen einfach alles stimmt. Wahrscheinlich ist das auch der Grund, warum Adrian sich weiterhin um mich bemüht. Kaum jemand würde das ein seiner Stelle tun. Er kennt mich viel zu gut und akzeptiert mich trotzdem. Jedenfalls denke ich das, sonst würde er sich ja nicht mit mir abgeben. Als ich leise aufseufze, eine schreckliche Angewohnheit meinerseits, tritt mein Atem in grauen Wölkchen an die Luft. Fröstelnd stecke ich meine Hände in die Hosentaschen und stapfe frustriert durch den matschigen Schnee. Adrian wohnt in einer, wie sollte es auch anders sein, ruhigen und friedlichen Wohngegend. Dort, wo eben der Ottonormalverbraucher lebt. Es ist nicht so, dass unser Dorf nicht auch andere Ecken hätte. Obwohl der Ort nicht gerade groß ist, gibt es hier doch alles. Von der Unterschicht, über die Mittelschicht bis hin zur Oberschicht. Meine Familie gehört zur ersten Schicht, weshalb ich mir zeitweise gestatte, neidisch auf Adrian zu sein. Müde und ja, Adrian behält Recht, verkatert ziehe ich durch das Dorf, in dem ich seit knapp einem Jahr wohne. Manchmal verfluche ich den Tag, an dem meine Rabenmutter beschlossen hat, dass uns allen die Landluft ganz bestimmt gut tun würde und wir deshalb aus der Stadt ziehen sollten. Ich habe mich natürlich mit allem, was ich geben konnte, dagegen gewehrt, aber geholfen hat das nichts. Mein Freundeskreis, den ich mir so mühsam aufgebaut hatte, ist jetzt hunderte von Kilometern von mir weg. Abgesehen davon haben die mich sicher sowieso schon vergessen. Außer Adrian habe ich hier keine Freunde. Diese ganzen Dorftrottel kann man getrost abschreiben. In der Schule finde ich auch nicht so richtig Anschluss, weil ich das ehrlich gesagt gar nicht will. So lange ich Adrian habe, brauche ich niemand anderen. Meine Mutter, unser Klassenlehrer und sogar der werte Schulpsychologe sehen das eindeutig anders, aber das geht mir gerade mal sonst wo vorbei. Im Gegensatz zu Adrian sind diese ganzen Volldeppen nichts anderes als erbärmlich. Warum soll ich also mit ihnen reden? Ist doch recht einfach zu verstehen, oder? Noch ermüdeter als vorher lasse ich mich schließlich eine halbe Stunde später auf meinem Bett nieder und strecke alle Viere von mir. Während ich den völlig verkorksten Samstag Revue passieren lasse, frage ich mich, ob und wie ich mich Morgen bei Adrian entschuldigen soll. Bevor ich zu einem Entschluss kommen kann, bin ich allerdings schon wieder eingeschlafen. In Klamotten dieses Mal. Ja, ich schlafe viel und gerne. Montagmorgen reißt mich der Wecker um kurz vor Sechs unsanft aus dem Schlaf. Erbost will ich das dumme Ding anschimpfen, kann mich aber noch davon abhalten. Nein, auf so ein Niveau lasse ich mich nicht herab. Ganz selten zumindest. Gemächlich stehe ich auf, wasche mich und putze mir die Zähne. Schnell verdrücke ich ein nicht besonders üppiges Frühstück, bevor ich auf Zehenspitzen und natürlich in voller, dem Winter angepasster Montur in die schneiende Kälte hinaustrete. Normalerweise begrüßt mich jetzt ein breit grinsender und gemeinerweise ganz und gar nicht müde aussehender Adrian. Heute ist von genau diesem aber nichts zu sehen. Also ist er wirklich richtig sauer. Wenn er mich Morgens versetzt, muss ich schon einiges an Mist gebaut haben. Er weiß nämlich genau, wie sehr ich alleine zur Schule fahren hasse. Die Fahrt mit dem Bus von unserem Dorf zu der Schule, die wir beide Besuchen, und die in der nächstgelegenen etwas größeren Stadt liegt, dauert eine dreiviertel Stunde oder gar länger. Und wenn Adrian nicht mit mir fährt, habe ich so gut wie immer die absolut nervtötende Natascha an der Backe. Sie geht in die gleiche Klassenstufe wie Adrian und ich. Irgendwie hat sie einen Narren an mir gefressen, was ich beim besten Willen nicht verstehen kann. Bin ich denn nicht unfreundlich genug? Wie es das Schicksal so will, erwartet mich gerade Heute eine freudestrahlende Natascha an der Bushaltestelle. „Morgen Gab!“, flötet sie und fällt mir noch im selben Moment um den Hals. Ich denke gar nicht daran, sie zurück zu umarmen, was sie aber nicht zu stören scheint. Nahtlos geht sie zu den allgemeinen Smalltalk fragen über; Wie geht's? Was hast du am Wochenende so gemacht? Hast du schon für Mathe gelernt? Ich brauche gar nicht zuzuhören, um zu wissen, was sie sagt. Als der Bus mit einem bedrohlich klingenden Quietschen vor uns halt macht, habe ich ihr noch keine einzige Antwort gegeben. Einschüchtern tut sie das wohl nicht, denn sie setzt sich im Bus auf den freien Platz neben mir. Und das, obwohl es genügend andere freie Plätze gegeben hätte. Enttäuscht stelle ich fest, dass Adrian nicht im Bus ist. Er hat anscheinend den Früheren genommen, obwohl der ja wirklich zu unchristlichen Zeiten fährt. Oh scheiße! Ich habe Angst, ihm in der Schule zu begegnen. Entschuldigungen hasse ich wie die Pest. Um mich von meinen unschönen Gedanken abzulenken, konzentriere ich mich doch tatsächlich auf das, was Natascha sagt und gehe darauf ein. „Hey, du kannst ja doch reden.“, zieht sie mich mit einem Lächeln auf. Ich finde das aber gar nicht so lustig und da bei ihr das Lächeln nicht annähernd so niedlich aussieht wie bei Adrian, kann ich ihr das dumme Dahergerede auch nicht verzeihen. Trotzdem gebe ich mir Mühe. „Klar kann ich das.“, sage ich also nur, und zucke mit den Schultern. Gelangweilt betrachte ich mein Gesicht in der Fensterscheibe, da Natascha urplötzlich das Reden eingestellt hat. Ein Wunder, dass die schweigen kann. Meine hellblond gefärbten Haare fallen mir ein bisschen ungeordnet ins Gesicht. Den Pony sollte ich mir echt mal wieder schneiden lassen und auch der Ansatz ist schon viel zu weit rausgewachsen. Sieht ja nicht mehr sonderlich schön aus, was ich da auf meinem Kopf rumtrage. Meine eigenen hellblauen, leicht mandelförmigen Augen mustern mich kritisch. Ich bin Halbasiate, Halbeuropäer, darum die blauen Augen und die eigentlich dunkelbraunen Haare. Meine gepiercten Ohren sind immer noch ein bisschen rot, sicher wegen der Kälte. Hätte ich mir doch eine Mütze mitgenommen. Bis der Bus bei der Haltestelle, an der ich und Natascha aussteigen müssen, angehalten hat, sagt sie kein Wort mehr. Dann aber, als wir beim Aussteigen sind, hat sie auf einmal die Sprache wiedergefunden und erzählt mir irgendwas über eine Party am Samstag, auf der ein Typ einen anderen angemacht haben soll. Moment. Eine Party? „Die Party bei Tobias?“, denke ich laut, und hätte mir fast erschrocken die Hand vor den Mund gehalten. Dabei wollte ich ja eigentlich nicht nachfragen. „Ja, die meine ich. Warst du denn auch da?“, fragt Natascha erstaunt. Gemeinsam betreten wir die Schule und ohne meine Antwort abzuwarten, besitzt sie die Unverschämtheit, sich bei mir einzuhaken. Ich bin zu müde, zu genervt und zu sehr in meinen Gedanken bei dem Horrorsamstag, als dass ich sie wegschieben könnte. „Ehm... Ja, ich war da auch. Hab aber nichts von diesen Typen da mitbekommen.“ Sie hört mir meine kleine Lüge sicher nicht an. Natürlich nicht. Weniger als eine Minute später sind wir bei meinem Klassenzimmer angekommen und Natascha nimmt sich gleich die nächste Unverschämtheit heraus. Vor offenstehender Klassenzimmertür umarmt sie mich - viel zu lange, wie ich finde - und aus irgendeiner Laune heraus umarme ich sie zurück, was ihr ein leises, aber doch hörbares Quieken entlockt. Schrecklich. Sie löst sich widerwillig von mir, murmelt mit geröteten Wangen ein „Bye.“, und macht sich sehr schnell aus dem Staub. Ein wenig wie bestellt und nicht abgeholt stehe ich jetzt in der Tür und weiß nicht was ich machen soll. Besonders Adrians prüfender Blick, der tonnenschwer auf mir lastet, irritiert mich gewaltig. Vor allen Dingen hat der doch Mara direkt neben sich stehen, die sich dicht an ihn schmiegt. Oh. Mara und er, im Klassenzimmer zusammen? Das muss heißen, sie ist jetzt seine Freundin. Nicht, dass mich das so sehr überrascht, wie ich gerade gucke, aber sonst ruft mich Adrian immer an, wenn er eine neue Eroberung gemacht hat oder erzählt mir anderweitig davon. Vielleicht ist er doch noch saurer als ich dachte? Diese Vermutung bestätigt sich, als ich mich auf unseren Platz zu bewege und sehe, dass Maras Jacke über meinem Stuhl hängt. Mein Herz schlägt schwer in meiner Brust und ich balle meine Hände zu Fäusten. Während ich versuche, mir nichts anmerken zu lassen, gehe ich schweigend in die letzte Reihe und setze mich auf den einzigen freien Platz am einzigen freien Tisch. Gut, dann sitze ich eben heute hier alleine. Fast verzweifelt hoffe ich, dass es bei heute bleibt. Wie sehr ich mich da doch geschnitten habe. Nachdem mich Adrian den ganzen Montag über konsequent ignoriert hat, hat er jetzt, wo es Dienstag ist, anscheinend vor, das Spiel fortzusetzen, bis ich von mir selbst aus auf ihn zukomme und mich bei ihm entschuldige. Aber hier in der Schule will ich das nicht machen. Für heute Abend haben wir uns am Freitag verabredet, war ein Kumpelabend geplant. Ich bin zu feige, ihn während des Unterrichts oder in der Pause zu fragen, ob das noch steht, also beschließe ich, abends einfach bei ihm vorbeizuschauen. Als es immer dunkler Draußen wird, werde ich furchtbar nervös. Ich weiß immer noch nicht, was ich zu ihm sagen soll. Und was mache ich, wenn er gar nicht da ist? Ach, egal. Ich lasse es auf einen Versuch ankommen. In fast völliger Dunkelheit kämpfe ich mich durch das Schneegestöber, um dann die übliche halbe Stunde später bei Adrian anzukommen. Zitternd vor Kälte betätige ich die Klingel. Die Tür öffnet sich knarrend und mir klappt beinahe die Kinnlade hinunter. Vor mir stehen Mara und Adrian. Er legt seinen Arm um sie, und sie hat meiner Meinung nach viel zu wenig an. Ich schlucke hörbar und mache sofort wieder auf dem Absatz kehrt. Hätte ich mir das nicht denken können? Verdammt, Gabriel, warum kannst du nicht nur ein einziges Mal dein Gehirn einschalten, bevor du dir irgendwas zurecht denkst?! Blindlinks renne ich durch den sachte vom Himmel fallenden Schnee. Die Tränen, die meine Wangen hinunter rinnen, sind heiß. Gott, benehme ich mich wieder kindisch! Ist doch nicht das erste Mal, dass Adrian eine Freundin hat. Aber es ist das erste Mal, dass er dich 2 Tage lang ignoriert und dir nichts davon erzählt, flüstert eine leise Stimme in meinem Kopf. Kann die nicht einfach die Klappe halten? Gerade ist mir nicht so nach der Wahrheit. But, those you love can't help you Can't help you when you moan This is it: you're finally alone Am nächsten Tag ist mir irgendwie nicht so nach Schule. Und am übernächsten auch nicht. Und den Tag darauf auch nicht. Schließlich bleibe ich die ganze Woche über zu Hause. Und Adrian meldet sich kein einziges Mal bei mir. Warum sollte er auch, ich bin es ja, der sich bei ihm entschuldigen müsste. Seufzend drehe ich mich in meinem Bett auf die andere Seite. Ich weiß nicht, seit wie vielen Stunden ich mich schon hin und her wälze. Vielleicht sind es auch Tage. Egal. Alles egal. Ich schließe die Augen wieder, und falle erneut in einen Dämmerzustand. Krank fühle ich mich mittlerweile wirklich, was aber wahrscheinlich daran liegt, dass ich seit Tagen nichts Richtiges mehr gegessen habe. Meine Ma' kann noch so viel Toben und Rumschreien, wie sie will, ich werde nicht aufstehen. Hat ja eh keinen Sinn! Nicht, dass jetzt jemand denkt, ich wäre völlig verblödet. Natürlich ist mir immer noch klar, dass ich mit einer einfachen Entschuldigung vieles retten könnte. Aber nun finde ich, liegt es an Adrian, sich mal bei mir zu melden, um zu fragen was los ist, wenn ihm auch nur ein bisschen was an mir liegt! Daraus, dass er sich meldet, schließe ich... Autsch. Lieber nicht darüber nachdenken. Das tut zu sehr weh. Als mein Handy endlich, nach tausend Ewigkeiten klingelt, springe ich ein wenig zu hastig auf, sodass ich fast wieder rittlings aufs Bett zurückfalle. Ich schaffe es aber doch noch rechtzeitig, dranzugehen, ohne vorher aber das Display näherer Betrachtung zu unterziehen. Niemand außer Adrian ruft mich an. Ich warte stumm darauf, dass er etwas sagt. Als dann aber eine Stimme an meine Ohren dringt, die sich so gar nicht nach Adrian anhört, will ich am liebsten sofort auflegen. Nach kurzer Anstrengung finde ich dann aber heraus, dass Natascha dran ist, und bin sogar so freundlich, ihr anständig zuzuhören. Bekomme ich eben nur den Schluss ihres Satzes mit. „...was denn los mit dir ist. Du warst ja die ganze Woche nicht in der Schule! Und ich mache mir Sorgen um dich! …Wenn irgendwas los ist, kannst du es mir ruhig sagen!“ Womit habe ich bloß so viel Liebenswürdigkeit verdient? Ich kann mich nur knapp beherrschen, trocken aufzulachen. Wieso verwandelt sich Natascha nicht eben mal in Adrian? „Ich komme schon klar.“, bringe ich irgendwie hervor und drücke dann ganz schnell auf Auflegen. Ich kann mein Handy gar nicht schnell genug auskriegen. Zur Sicherheit stöpsele ich zusätzlich das Telefon aus. Adrian wird sich ja eh nicht mehr melden. Als ich mich nun wieder ins Bett lege, fühle ich mich noch leerer als zuvor. Klar, Natascha hat es nur gut gemeint, aber besser gemacht hat sie es nicht. Im Gegenteil. Mir ist wieder so elend, dass ich den Würgereiz nur mühsam unterdrücken kann und meine Augen feucht werden. Warum, Adrian? Warum? Es ist wieder Montag. Die Welt ist immer noch genauso grau, kalt, und unbarmherzig wie am Montag zuvor. Und mir ist alles schon so egal, dass ich wieder zur Schule gehe. Zwar erst zur Zweiten Stunde, aber immerhin. Schweigen breitet sich aus, als ich das Klassenzimmer betrete. Sie schauen überall hin, nur nicht zu mir. Was ist? Habe ich eine ansteckende Krankheit, oder wie? Ich würde diese Deppen jetzt gerne anfauchen, aber mir fehlt die Kraft. Ein Wunder, dass ich es bis in die Schule geschafft habe. Stumm setze ich mich auf meinen neuen Platz und stütze mich mit den Ellenbogen auf dem Tisch ab, meinen Kopf lasse ich in meine Hände sinken. Vorsichtshalber schließe ich die Augen und öffne sie erst wieder, als unser Klassenlehrer, Herr Matthias, den Raum betritt. Sein Blick fällt zuerst, wie immer, auf mich. „Ah, Gabriel. Sind sie auch mal wieder im Lande?“ Überflüssigerweise nicke ich. „Und? Dürfte man auch den Grund für ihr Fehlen erfahren?“ Jetzt bin ich kurz davor, den Kopf zu schütteln, besinne mich dann aber doch eines Besseren. „War krank,“ nuschele ich. Da eine Totenstille herrscht, kommen meine leisen Worte sehr wohl bei Herrn Matthias an, der tut aber so, als hätte er mich nicht verstanden und interpretiert mein Fehlen selbst. „Wirklich? Kann es nicht sein, dass Sie es einfach nicht verkraftet haben, dass ihr einziger Freund offensichtlich ab letzter Woche lieber jemand anderen als Sie neben sich sitzen hat? Wir reden nach der Stunde noch mal. So geht das nicht!“ Feixend sieht er mich an. Ein paar Vollidioten meinen, ihr Gekicher wäre angebracht, aber ich sehe das anders. Langsam erhebe ich mich und schultere meine Tasche, meine Sachen hatte ich noch nicht ausgepackt und meine Jacke habe ich ebenfalls noch an. „Das glaube ich nicht,“ sage ich leise und gehe mit gesenktem Blick an meinem Lehrer vorbei. Adrian habe ich noch kein einziges Mal angesehen. Halb erwarte ich, dass Herr Matthias noch etwas sagt, halb dass Jemand aus meiner Klasse noch einen dummen Spruch bringt und ich Idiot hoffe doch tatsächlich, dass Adrian aufspringt, und mir nachläuft. Das tut er natürlich nicht. Nach diesem gescheiterten Versuch, mich wieder in die Gesellschaft einzugliedern, falle ich erschöpft in mein Bett. Ich bin schon wieder so müde, obwohl ich doch eigentlich gar nichts gemacht habe. Merkwürdig. Keine Ahnung, wie viel Zeit vergangen ist, aber das nervige Türklingeln unterbricht meinen Schlaf. Ist bestimmt nur meine kleine Schwester, die wie so oft ihren Schlüssel vergessen hat. Da stehe ich sicher nicht auf. Als aber das Klingeln nach 5 Minuten kein Ende nehmen will, falle ich letztendlich doch aus dem Bett. Nur in Shorts mache ich mich auf zur Tür, ist ja eh nur meine Schwester. Betont ruhig ziehe ich die Tür auf, um ihr irgendeine flapsige Begrüßung entgegenzuknallen, da rutscht mir die Türklinke beinahe wieder aus der Hand. Adrian steht vor mir, und die Kälte, die vom Treppenhaus schleichend in den Flur kriecht, lässt mich erschaudern. Das muss von der Kälte kommen! Der Ausdruck in Adrians Augen ist... Wow. Unbeschreiblich. Wortlos drängt er sich an mir vorbei in die Wohnung und zieht die Tür hinter mir zu. Bevor er anfängt, zu sprechen, fährt er sich einmal mit der Zunge über die scheinbar trockenen Lippen und streicht sich seine schwarzen Haare aus der Stirn. „Also, Gab... Gabriel...“, er stockt. „Es tut mir Leid.“, flüstert er dann. Ich komme mir ein bisschen blöd vor, wie ich hier vor ihm im düsteren Flur stehe, nur in Boxershorts, ungekämmt und... ach was weiß ich was noch! Verlegen kratze ich mich am Hinterkopf. Ohne auf seine Entschuldigung einzugehen sage ich: „Ich gehe mir eben was anziehen, okay? Und du, hm. Warte einfach kurz vor meinem Zimmer und komm dann rein, ja?“ Er sieht mich pikiert an. Hatte er etwa erwartet, dass ich ihn sofort in meine Arme schließe? Ich tue seinen Blick mit einem leichten Schulterzucken ab und tapse in die Richtung meines Zimmers. Schließlich bin ich vernünftig angezogen, in Form einer grauen Jogging Hose und eines blauen Shirts, und habe die die Vorhänge aufgezogen. Mit zitternden Hände öffne ich meine Zimmertür und lasse Adrian ein. Verdammt. Ich kann ihn nicht angucken. Sonst muss ich wieder... Tränen sammeln sich schon in meinen Augen, jeden Augenblick bereit, loszuströmen. Kraftlos lasse ich mich auf mein Bett sinken und sacke ein bisschen in mir zusammen. Weil er nach einiger Zeit immer noch nichts gesagt hat und nur reglos herumsteht, mache ich den Anfang. „Also... Was tut dir Leid?“ Er fährt sich einmal mit den Fingern übers Gesicht und setzt sich dann auf meinen Schreibtischstuhl. „Alles.“ „Definiere Alles,“ sage ich, und schlucke. Er soll gefälligst reden und nicht rumdrucksen, wenn er schon mal hier ist. Unruhig dreht er sich auf dem Schreibtisch Stuhl hin und her. „Also, dass... Dass ich so zu dir war. Die ganze letzte Woche. Dass ich dir nichts von Mara gesagt habe. Dass...“, er macht eine Pause, und die Stille, die sich jetzt ausbreitet, wiegt sicher mehrere tausend Tonnen. „Dass was?“ Meine Stimme ist nur noch ein Hauch. „Dass ich beinahe unsere Freundschaft zerstört hätte,“ murmelt er ebenso leise. Die Tränen fangen einfach an, loszukullern. Ich habe sie sicher nicht darum gebeten. Und dieses enge Gefühl in meinem Hals stellt sich wie auf Kommando ein. Mir entweicht ein Schluchzen, woraufhin ich ertappt zusammenfahre. „Du weinst doch nicht, oder?“ Ich kralle meine Hände in die Matratze und schweige. „Gab?“ Adrian steht auf, und oh Gott, er kommt doch echt zu mir rüber. Sein Gesicht ist auf einmal ganz nah bei meinem. Mit seinen warmen Händen hebt er mein Kinn an, sodass ich ihn ansehen muss und er gleichzeitig die feinen Tränenspuren sieht. Er zögert einen kurzen Moment, dann legt er wie in Zeitlupe erst den einen Arm um mich, dann den anderen. Mein Herz hört kurz auf zu schlagen und bollert dann umso heftiger gegen meine Brust. „Entspann dich, ich tu dir schon nichts.“, nuschelt er mir ins Ohr, und eine verräterische Hitze steigt mir in die Wangen. Ich fange wieder an zu zittern, aber diesmal hat das einen anderen Grund. Seine Nähe macht mich verrückt. So verrückt, dass ich es wage, meinen Blick wieder auf ihn zu richten, und ihm dann einfach so, als wäre das was ganz nebensächliches und alltägliches, einen Kuss auf die Lippen zu drücken. Ich merke, wie ein Ruck durch seinen Körper geht, muss aber verwundert blinzeln, als er nicht von mir wegrückt. Auch ihm sieht man die Verwunderung deutlich an. „'Tschuldige,.“, meine ich deswegen, und schiebe ihn ein bisschen von mir weg. „Ich bin nur irgendwie... durcheinander. Außerdem kannst du... Also, du kannst mich jetzt loslassen.“ Ein wenig überrascht bin ich schon, als ihm daraufhin die Röte ins Gesicht steigt. Und es nimmt mir fast schmerzhaft den Atem, wie gut ihm das steht. Da geht mir, vollkommen unabhängig von meinem kleinen Ausrutscher gerade, eine entscheidende Sache auf. „Mit Mara ist Schluss, oder?“ Ertappt schaut er zur Seite und setzt sich neben mir aufs Bett. „Ja, schon. Aber ich wäre auch so zu dir gekommen.“ Wer's glaubt. Naja, ich will mal gnädig sein. Es ist ja Adrian, der das gesagt hat, und nicht irgendein X-beliebiger Typ. Bevor sich wieder diese schlimme Stille zwischen uns ausbreiten kann, fängt Adrian an, zu Sprechen. „Was ich dich noch fragen wollte. Da ist heute Abend so eine Party. Willst du...Also willst du mit mir da hingehen? Und davor einfach noch ein bisschen... Kumpelabend machen? Du weißt schon, den, den...“, verlegen bricht er ab. Natürlich weiß ich. Wie könnte ich auch nicht. Am Liebsten würde ich diesen ganzen, bescheuerten Abend vergessen. „Mir wäre nur Kumpelabend lieber,“ meine ich. „Echt? Du hast keine Lust auf Party?“ Mit großen Augen sieht er mich an. „Den Umständen entsprechend nicht.“ „Oh...“, macht er nur, und guckt dabei so betreten drein, dass ich nicht anders kann, als aufzuseufzen. Weil er eben Adrian ist, werde ich trotzdem mitgehen. Vielleicht, damit einfach so schnell wie es geht alles zwischen uns wieder stimmt. „Ist okay, ich komme mit.“, sage ich deswegen. Überschwänglich fällt er mir nochmals um den Hals und will mich gar nicht mehr loslassen. Wir ernten den ein oder anderen verwunderten Blick, als wir zusammen die Wohnung betreten. Die Party ist eine meiner sonst so geliebten WG-Partys, aber heute kann ich nichts daran finden. Zu viele Leute aus unserer Klasse sind da, die mich angucken, als wäre ich ein besonders seltenes Tier. Das Einzige, was zählt ist aber, dass ich mit Adrian hier bin. Zwar hat der wieder mehr Aufmerksamkeit für die weiblichen Wesen, die sich hier aufhalten, als für mich, aber solange er nicht von meiner Seite weicht, ist alles in Ordnung. Er sieht heute Abend wieder so unverschämt gut aus, in der schlichten Bluejeans und dem schwarzen Shirt. Seine schimmernden schwarzen Haare hat er sicherlich nicht gestylt, auch wenn es so aussieht. Ich dagegen habe einen Tick zu lange an meinen Haaren herumgezupft, und ich denke, das sieht man auch. Egal, vollkommen egal. Die dürfen sonstwas von mir denken, wenn sie wollen. Ich hab da ja ohnehin nirgends mitzureden. Mal wieder bin ich so in Gedanken versunken, dass ich gar nicht bemerke, wie sich Adrian mit einer Flasche Bier zu einer Gruppe Mädchen verzieht, von denen er sogar wahrscheinlich dummerweise die Meisten kennt. Bin mir gar nicht sicher, ob er sich bei mir abgemeldet hat, weil ich gerade... ähem, nicht besonders anwesend war. Ich staune nicht schlecht, als mir plötzlich das einzige Mädchen, das ich hier kenne, aufgeregt zuwinkt und auf mich zu gerannt kommt. Natascha zieht mich in eine kurze Umarmung, und lächelt mich an. Da kommt mir das merkwürdige Handygespräch wieder in den Sinn und ich setze gerade zu einem „Sorry“ an, als sie auch schon abwinkend mit ihrer linken Hand wedelt. „Lass ma' sein, ist schon gut. Freue mich ja, dass es dir besser zu gehen scheint.“ Sie harkt sich bei mir ein, und schleppt mich zu einer Gruppe von Mädchen und - wie ich beruhigt feststellte - einigen Jungen. Ist nicht so, dass ich eine Mädchen-Phobie habe. Bin nur nicht so gerne mit einem Haufen Weiber alleine. „Seht ihr, ich hab nicht gelogen. Er redet echt mit mir!“ Kichernd piekt sie mich in die Seite, worauf hin ich ihr einen verwirrten Blick zuwerfe. Irgendwas habe ich da verpasst. „Was ist denn hier los?“, frage ich deswegen an Natascha gewandt. Ein triumphierendes Grinsen breitet sich auf ihrem Gesicht aus. „Ach nichts, gar nichts!“, meint sie, und gluckst. Da erkenne ich noch jemand anderen bekannten in dem Kreis. Rebecca heißt sie, glaube ich. Ist auch in meiner Klasse. Oder war es doch die Parallelklasse? Naja, nicht so wichtig. Jedenfalls meint Rebecca jetzt augenrollend: „Ja, ist schon gut, wir glauben's dir ja.“ Das entlockt Natascha ein lautes, aber nicht unangenehmes Lachen. „Du bist ja nur neidisch!“ „Neidisch? Wie? Auf wen?“ Ich werde hellhörig. Schmunzelnd zieht mich Natascha wieder von dem Grüppchen weg. „Du bist echt 'n bisschen schwer von Begriff, oder?“ Sie wackelt mit ihrer Bierflasche vor meiner Nase rum, als ob das was an meinem Unverständnis ändern würde. Verschwörerisch beugt sie sich zu mir rüber und raunt mir ins Ohr: „Es gibt da einige Mädchen, die dich ziemlich heiß finden. Aber keine von denen traut sich, dich anzusprechen, weil du immer so abweisend wirkst und nur mit Adrian redest. Und die wollten mir alle nicht glauben, dass ich irgendwie mit dir befreundet bin. Und das sind wird doch, oder? Also, Freunde, meine ich.“ Ihr Lächeln ist so offen und ehrlich, dass ich meinen Kopf einfach nicht nach links und rechts bewegen kann, sondern beinahe automatisch nicke. „Wir sind Freunde, 'kay? Aber nicht mehr.“, füge ich meiner eigenen Sicherheit halber hinzu. „Klar. Ich hab mir eh schon gedacht, dass du wahrscheinlich schwul bist, wenn du so wenig auf mich anspringst. Aber das macht mir gar nichts.“ Sie strahlt mich an und ich kann nicht anders, als sie verblüfft anzustarren. Ihre Schlussfolgerung ist zwar ausgemachter Blödsinn, aber das Ergebnis ist das Richtige. Nicht schlecht Natascha, nicht schlecht. „Du brauchst nicht so zu starren.“, meint sie und bricht schon wieder in dieses ansteckende Lachen aus. Ich kann nicht anders, als mitzulachen. Vielleicht ist sie doch nicht so übel, wie ich gedacht habe. Irgendwie habe ich es tatsächlich geschafft, mich in ein Gespräch mit Natascha zu vertiefen. Es macht sogar richtig Spaß, sich mit ihr zu unterhalten, wenn man geistig voll dabei ist. Sie ist nämlich gar nicht so blöde, wie ich dachte. Eigentlich ist sie sogar ziemlich intelligent und aufgeweckt. Nicht mit Adrian zu vergleichen, aber trotzdem nett. Als ob ich ihn mit meinen Gedanken magisch angezogen hätte, taucht Adrian plötzlich neben mir auf und ebenso plötzlich merke ich, dass etwas mit ihm nicht stimmt. Dieses Glasige in seinen Augen. Mist, wieso kann er es nicht ein einziges Mal hinbekommen, sich nicht bis zur Besinnungslosigkeit zu besaufen? Eben die Besinnungslosigkeit scheint ihn ergriffen zu haben, denn er drängt mich gegen die Wand, an der ich gerade noch lässig gelehnt habe. Ohne Zögern küsste er sich meinen Hals hoch, um schließlich auf meinem Mund zu landen. Viel zu spät bemerke ich seine Zunge, der ich dummerweise schon Einlass gewährt habe. Er wird doch wohl jetzt nicht... Als er zu dem Kuss, der mir jetzt schon den Atem raubt, dann auch noch anfängt, die Hände unter mein Shirt zu schieben, ist es ganz um mich geschehen. Der Moment, in dem ich ihn von mir wegschieben hätte sollen, ist schon längst verstrichen. Nichts kann mich mehr in die Realität zurückhohlen, außer... Außer Nataschas kleine Hände, die mir wie verrückt auf den Rücken trommeln. „Gab, Adrian, Mensch! Wenn ihr sowas machen wollt, dann geht doch wenigstens auf den Flur!“, meint sie aufgebracht. Mit einem Schlag nehme ich die Welt um mich herum wieder war und bin gerade noch so gegenwärtig, mir Adrian zu packen und ihn unter den brennenden Blicken aller Anwesenden aus dem überfüllten Wohnzimmer rauszuzerren. Die dämlichen Sprüche und die Pfiffe übergehe ich dabei geflissentlich. Zum Glück folgt uns Niemand, wäre dem so gewesen, wäre mein Herz sicher zum Stillstand gekommen. Als ich die Tür zum Wohnzimmer zuziehe, blinzelt Adrian mich irritiert an. Ich packte ihn an den Schultern, und schob ihn noch ein bisschen von der Tür weg. Versuchte der etwa schon wieder, sich mir mehr zu nähern, als es gut für mich war? Zuerst sieht es so aus, als will er mich wieder küssen, dann überlegt er es sich anders und ein harter Schlag trifft mich mitten ins Gesicht. Der kalte Schmerz breitet sich aus, bis er in meinem Herzen angekommen ist. Meine Brust zieht sich zusammen und meine Beine sacken unter mir weg. Stöhnend breche ich zusammen. Schmecke ich da Blut auf meinen Lippen? Hat Adrian mich gerade... geschlagen? Fassungslos sehe ich zu ihm hoch. Er guckt aus dunkel glänzenden Augen zurück, die Wut verzerrt seine Züge. „Warum haste' dich nich' gewehrt?“, zischt er bedrohlich leise. Nüchtern ist der auf keinen Fall. „Und wieso hast du dich nicht zurückgehalten?“, rutscht es mir heraus, was ich im nächsten Moment bereits bereue. Adrian packt mich am Kragen und zieht mich an der Wand hoch. Der nächste Schlag trifft mich direkt in die Magengrube und ich spucke Blut. Jetzt könnte ruhig einer von diesen Vollidioten durch die Tür spaziert kommen und mir helfen. Aber die Musik ist viel zu laut und die komplette Mannschaft viel zu besoffen, als dass jemand etwas mitbekommen würde. Ich huste, und versuche dann, einen halbwegs vernünftigen Satz hervorzubringen. „Checkst du denn nicht, wie schwierig es ist, dich jedes mal zurückzuweisen?“ „Schwierig?“ Echot er. „Wieso schwierig?“ „Das werde ich dir verdammte Scheiße noch mal nicht jetzt sagen, du Arsch!“ Ich werde nun doch eindeutig lauter. Hatte er sich nicht vor wenigen Stunden noch entschuldigt? Weiterhin hustend richte ich mich auf, stolpere den Flur entlang, ziehe die Tür auf und falle praktisch ins Freie. Adrian folgt mir nicht. Stattdessen höre ich, wie die Tür zum Wohnzimmer erst geöffnet und dann wieder geschlossen wurde. Einen tollen besten Freund habe ich. Echt jetzt. Remember to still feel alive Zu Hause angekommen, haste ich erstmal ins Badezimmer. Dabei ist es mir egal, ob ich Lärm mache, oder nicht. Angeekelt spüle ich mir den Mund aus, aber der Geschmack von Blut will nicht verschwinden. Resignierend werfe ich meine Jacke über den Handtuchständer und ziehe mir schließlich auch mein Shirt über den Kopf. Ein Stückchen über meinem Bauchnabel bildet sich ein beachtlicher blauer Fleck, der zudem an den Rändern rot anläuft. Uh, das sieht übel aus. Zu meinem Glück lag das Haus, dem die Party stattgefunden hatte, direkt bei einer Bushaltestelle. Mit dem Bus, der dort recht regelmäßig auch nachts fährt, bin ich schnell in die Innenstadt rein gekommen. Da habe ich den letzten Bus, der zu uns ins Dorf fährt, bekommen und war so verhältnismäßig schnell daheim. Ich reibe mir über die Nase und dann übers Kinn. Mein Gesicht habe ich im Spiegel noch nicht genau inspiziert. Das will ich mir gerade ersparen. Als ich schließlich ins Bett falle, überkommt mich grenzenlose Fassungslosigkeit. Der Schock saß bis eben so tief, dass ich gar nicht richtig verstanden habe, was eben passiert ist. Jetzt wird mir wieder übel, wenn ich daran denke. Das kann nicht wahr sein... Es kann und darf einfach nicht wahr sein! Kein Wecker klingelt. Niemand weckt mich auf. Und so ist es Mittag, Dienstag Mittag um genauer zu sein, bis ich mich ächzend aus dem Bett erhebe und unter die Dusche tapse. Am Liebsten würde ich alles von mir runterwaschen, was in der letzten so Woche passiert ist. Das geht aber leider nicht, deswegen fühle ich mich nach dem Duschen genauso beschissen wie vorher. Lustlos greife ich in meinen Kleiderschrank, ziehe mir wahllos etwas an und schmeiße mich wieder auf mein Bett, wo ich nahezu reglos liegen bleibe. Stunden später fasse ich einen endgültigen Entschluss. So kann das nicht weitergehen, denke ich mir. Von fraglichem Tatendrang gepackt stehe ich auf und schalte meine Handy ein. Mit steifen Fingern tippe ich den Pin ein und warte angespannt. Eine Minute später habe ich eine Sms an Adrian geschickt. Treffen wir uns heute um halb Sechs an der Bushaltestelle? Gabriel Die Haltestelle ist von uns beiden gleich weit entfernt, also ist der Treffpunkt nur gerecht. Sekunden darauf summt mein Handy, eine Antwort von Adrian. Okay. Ich denke auch, wir müssen reden. Hat der denn jetzt eine Vollmeise? Das hört sich ja so an, als würde er mir einen Vorwurf machen wollen! So nach dem Motto, du bist Schuld an dem, was Gestern passiert ist. Übernimm gefälligst die Verantwortung! Ich würd's ihm glatt zutrauen. Nervös wandert mein Blick zu dem Wecker auf meinem Nachttisch. Halb Fünf, zeigt er an. Ich starre eine geschlagene Stunde auf die Anzeigetafel des Weckers. Als es dann endlich Halb Sechs ist, ziehe ich mir noch schnell etwas anderes an, eine Jeans und einen dicken Pulli, und trete leise in den Flur hinaus. Von meiner Mutter fehlt wie meistens jede Spur und meine kleine Schwester sitzt zu Hundert Prozent im Wohnzimmer und guckt fern. Bevor ich die Wohnung verlasse, ziehe ich mir noch eine warme Jacke über. Ich bin so aufgeregt, dass ich beinahe die Treppenstufen hinunter gefallen wäre. Wie kann man nur so dumm sein, über seine eigenen Füße zu stolpern? Ernsthaft. Meine Nervosität steigert sich ins Unermessliche, als ich das Treppenhaus verlassen habe, und mich auf den Weg zur Haltestelle mache. Ich gehe so schnell, dass ich 10 Minuten zu früh da bin. Irgendwie lässt mich das Aufatmen. Meine Erleichterung verflüchtigt sich aber viel zu schnell, als ich aus wenigen Metern Entfernung dann erkenne, dass Adrian schon da ist. Er scheint mich noch nicht gesehen zu haben, starrt nur sehr tief in Gedanken stur gerade aus. Seine Hände hat er in seine Hosentaschen geschoben. Adrian zittert unmerklich, er wirkt sehr verkrampft. Geschieht im Recht, ätze ich lautlos, und erschrecke sofort über mich selbst. Sowas kann ich nicht denken. Nicht über Adrian, egal was passiert ist. Fast lautlos nähere ich mich ihm, er bemerkt mich erst, als ich ein leises „Hey.“ über die Lippen bringe. Kurz sieht es so aus, als wolle er seine Hände aus den Hosentaschen nehmen, um mit ihnen was-auch-immer zu tun, aber letztendlich tut er nichts. Adrian hebt und senkt seinen Kopf einmal. Dunkle Schatten liegen unter seinen Augen. Leider sieht er nicht so scheiße aus wie ich es vermutlich tue, mit meiner Geschwollenen Wange und meinem leicht blau angelaufenen Auge. Heute Morgen hätte mich um ein Haar der Schlag getroffen, als ich das volle Ausmaß der Verheerung in meinem Gesicht betrachtet hatte. Ich hole tief Luft, um zu der kleinen Ansprache anzusetzen, die ich mir im Kopf zurecht gelegt hatte, während der letzten ruhelosen Stunden. „Du... Du brauchst jetzt gar nichts zu sagen. Lass mich einfach nur reden.“ Vorsichtshalber schaue ich ihn nicht direkt an, während ich rede, sondern fixiere dabei lieber die Tafel mit den Wartezeiten für den Bus. „Ich verstehe nicht ganz, was gerade mit uns passiert. Ich kann diese bescheuerte Frage nach dem Warum nicht aus meinem Kopf vertreiben. Warum du mir das alles antust. Warum mich das so sehr trifft. Warum ich dir immer wieder verzeihe. Warum ich dir einfach alles verzeihe. Warum ich...“, ich werde leiser und muss schlucken,“...Warum ich dich liebe. So, jetzt ist es raus, und ich denke, damit ist auch alles zwischen uns vorbei. Wir können keine Freunde mehr sein, wobei ich mir noch nicht mal mehr sicher bin, dass wir das jemals waren. Mach's gut Adrian. Pass auf dich auf.“ Ich kann die Tränen nicht zurückhalten, und ich will es auch gar nicht. Schluchzend drehe ich mich um, nicht ohne ihm vorher noch einmal in die fast schwarzen Augen zu schauen. Er zeigt keine Regung. Langsam, ganz langsam laufe ich los, ohne zu wissen, welche Richtung ich einschlage. Adrian hat mir so oft weh getan in der letzten Woche. Vielleicht bisher am Meisten mit dem Schlag mitten ins Gesicht. Aber noch viel mehr verletzt mich das, was er jetzt, in genau diesem Moment tut. Beziehungsweise das, was er nicht tut. Er läuft mir nicht nach. Er sagt nichts. Nicht mal meinen Namen. Und ich... Tja, ich bin schon zu weit von ihm weg um je wieder umzukehren. Das ist der letzte Winter, in dem ich mich als Adrians besten Freund bezeichnen kann. Es zumindest bis vor kurzem noch konnte. So viel ist sicher. All there's left is love and pain You have seen your last cold winter And felt your last sun Jedes Mal, wenn ich nach Hause komme, habe ich das Gefühl, mir fällt die Decke auf den Kopf. Die düstere Wohnung erdrückt mich, und das Geräusch des dauerhaft laufenden Fernsehers bringt mich fast um den Verstand. Ebenso wie mich die beständige Abwesenheit meiner Mutter verrückt macht. Kann sie nicht einmal für mich da sein? In der Schule gehen Adrian und ich uns aus dem Weg. Er hat seit dem Tag meines... Geständnisses kein einziges Wort mehr mit mir gewechselt. Und angesehen hat er mich auch nicht, es sei denn aus Versehen. Natascha dagegen weicht mir nicht mehr von der Seite. Sie ist immer für mich da. In den Pausen, während ihren Freistunden, nach der Schule. Meistens bin ich Mittags bei ihr, sie wohnt ja auch bei uns im Dorf. Ich fühle mich wohl bei ihr, ganz einfach schon weil sie nichts von mir erwartet. Rein gar nichts. Sie erwartet nicht, dass ich gut drauf bin, nicht, dass ich sie unterhalte, nicht, dass ich besonders freundlich bin. Natascha nimmt mich so, wie ich bin. Stur, launisch und ein bisschen zu einsam. Sie weiß selbst, dass sie die Leere nicht füllen kann, die Adrian zurück gelassen hat, aber sie versucht es doch nach besten Kräften. Manchmal schlägt sie dabei sogar etwas über die Stränge, doch meistens passiert das nur, wenn wir bei ihr sind. Es tut so weh, meine Situation immerzu glasklar in meinem Bewusstsein zu haben. Aber totschweigen darf ich es auch nicht, meint Natascha, und da hat sie leider recht. Auch wenn ich echt froh wäre, wenn das ginge. Bloß leider ist Heute einer der Tage, an denen sie auch in der Schule denkt, dauernd in meinen Wunden bohren zu müssen. Sie meint es gut, das ist mir klar. Aber irgendwann wird es mir zu viel. Gerade stehen wir im Gang vor dem Klassenzimmer, in dem mein nächster Unterricht stattfindet, als sie mich mit unangenehmen Fragen geradezu bombadiert. „Gab, jetzt komm schon. Stell dich nicht taub, das bringt nichts.“ Ich beiße mir auf die Unterlippe und schweige mich weiter aus. „Das kann doch keiner mit ansehen, wie ihr um euch herumschleicht“, meint Natascha, und wirkt irgendwie aufgebracht. Verstehe gar nicht, was sie hat. „Wir haben das doch alles geklärt,“ seufze ich deswegen. „Ihr habt... WAS BITTE? Ihr habt überhaupt gar nichts geklärt! Du hast ihm deine verdammten Gefühle gestanden und er hat seine beschissene Klappe nicht aufgekriegt um auch nur EINEN TON dazu zu sagen, verfickte Scheiße!“ Wow. So viele Schimpfwörter hat sie garantiert noch nie in einem Satz verwendet. Über diese Verwunderung hinaus merke ich gar nicht, wie mir langsam die Tränen in die Augen steigen. Ganz Ruhig Gab, ganz ruhig. „Natascha, nicht so laut…“, bitte ich sie beinahe vollkommen tonlos. „Oh, tut mir Leid.“, sagt sie und macht ein betretenes Gesicht. Ihr fallen die Tränen, die unaufhaltsam meine Wangen hinunter laufen, eindeutig früher auf als mir selbst. „Gab, alles klar bei dir? Das sind doch nicht etwa... Tränen?“ Sie kommt näher und streicht mir mit einer besorgten Geste leicht übers Gesicht. Als sie merkt, dass ich wirklich weine, nimmt sie mich in den Arm und drückt mich einmal ganz kurz und ganz fest. Dann lässt sie mich wieder los und murmelt noch eine Entschuldigung. Aber für mich gibt es jetzt kein Aufhören mehr. Wenn ich einmal mit dem Rumgeheule anfange, dann hört das so schnell nicht mehr auf. Im schlimmsten Fall hab ich irgendwelche Weinkrämpfe, was jetzt wirklich das absolut peinlichste wäre, was passieren könnte. Da fängt auch schon wie auf Kommando eine unsichtbare Kraft an, mich zu schütteln. Ich balle meine Hände zu Fäusten und meine eigenen Fingernägel graben sich unbarmherzig in meine Haut. Nicht, nein… Plötzlich spüre ich einen Blick auf mir, und dieses wohlbekannte Kribbeln stellt sich in meinem Bauch ein. Adrian sieht mich an. Nein. Warum gerade jetzt? Natascha steht nur neben mir und berührt ab und an vorsichtig meine leicht zitternden Arme, tut sonst aber nichts. Nach Sekunden, die mir wie Jahrhunderte erscheinen, wage ich es endlich, seinem Blick zu begegnen. Was ich da glaube, in seinen Augen zu sehen, lässt mir das Blut in den Adern gefrieren. Warum zur Hölle guckt der mich so traurig an, als würde er sich hier gerade heulend zum Gespött der Schule machen und nicht ich? Schnell schaue ich wieder zu Natascha, die mich daraufhin noch mal in die Arme nimmt. Die Klingel ertönt schrill und wenig später verabschiedet sich Natascha. So gern sie mich auch hat, sagt sie halb im Scherz, halb ernst, ihre Bioklausur wegen mir verpassen will sie nicht. Also stehe ich da jetzt alleine und recht verlassen auf dem Gang rum, während meine Mitschüler mich schamlos anstarren. Warum sind meine verheulten, leicht geröteten Augen nur so viel interessanter als ein etwaiger beginnender Unterricht? Leise seufzend bewege ich mich dann doch ins Klassenzimmer und Herr Matthias zieht die Tür hinter mir zu. Den ganzen Tag habe ich irgendwie versucht, Adrian noch mehr auszuweichen, als ich es sowieso tue. Schule schwänzen wollte ich nicht, das hatte ich schon zu oft gebracht dieses Jahr. Habe mich eben so gut es ging an Natascha geklammert, so komisch sich das auch anhört. Jetzt ist es Mittag, Nataschas Mutter hat mich freundlich, aber bestimmt nach dem Mittagessen bei ihnen auf den Heimweg geschickt, weil sie nachmittags Verwandtenbesuch bekommen würden. Natascha wohnt ganz in meiner Nähe, darum muss ich mich nicht all zu lange durch die Kälte quälen. Zu Hause erwartet mich die gewohnte Stille, die immer herrscht, wenn der Fernseher nicht läuft. Meine Schwester hat sicher noch Schule. Gelangweilt werfe ich mich auf mein Bett und weiß nicht, was mit der ganzen Zeit anzufangen ist, die ich jetzt habe. Hänge ich wirklich schon so sehr an Natascha? Erbärmlich, Gab. Und du magst keine Mädchen, behauptest du von dir? Wie immer, wenn ich nichts zu tun habe, kuschele ich mich unter meine Decke und versuche, einzuschlafen. Schlafen tut so gut. Schlafen ist wie... vergessen. Wie mag wohl einschlafen und nicht wieder aufwachen sein? Nein, keine guten Gedanken. Das hast du doch mit Natascha gründlich durchgesprochen. Die Türklingel reißt mich aus meinen düsteren Gedanken. Nie wieder würde ich irgendjemandem diese blöde Tür öffnen, das hatte ich mir geschworen. Und daran halte ich auch fest. Aber der Klingler bleibt standhaft. 5 Minuten Später hört das Sturmklingeln auf, dafür hämmert jetzt jemand mit seinen Fäusten gegen die Tür. „Gabriel! Gab verdammt! Ich weiß, dass du da bist! Mach endlich auf!“ Ich muss mich verhört haben. Was anderes kann gerade gar nicht passiert sein. Ich habe nämlich eindeutig Adrians unverwechselbar raue und aufgebrachte Stimme gehört. „Bitte!“, ruft er, und es hört sich an, als würde er sich die Seele aus dem Leib schreien wollen. Wenn ich nicht sofort aufstand und ihm aufmachte, würden die Nachbarn uns wegen Ruhestörung verklagen. Mit einem mulmigen Gefühl tapse ich zur Tür und versuche mir so gut es geht einzureden, dass das gar nicht Adrian sein kann. Nun sind es aber doch Adrians dunkle Augen, die mir entgegenblicken, als ich die Tür geöffnet habe. Ohne meine Reaktion abzuwarten, schiebt er sich an mir vorbei, drückt meine Hand von der Türklinke runter und schließt die Tür vorsichtig. Bei der Berührung unserer Hände verspannt sich alles in mir und mir wird heiß und schwindelig. Gott, Gabriel. Du bist doch kein kleines Kind mehr, mach hier nicht so ein Theater! Aber Adrian so nah vor mir zu haben, und dann auch noch ganz allein mit ihm zu sein, ließ mich unmerklich schlucken. „W...Warum... b...bist-“, ich kann einfach keine ganzen Satz zustande bringen und verhaspele mich schon in Gedanken ständig. „Weil ich denke, wir müssen reden. Und das diesmal richtig.“, bringt Adrian sicherer hervor, als ich es jemals in hundert Jahren geschafft hätte. Resolut nimmt er mich an der Hand, ja er nimmt mich wirklich an der Hand, und zieht mich in mein Zimmer. „Zieh dir irgendwas Warmes an. Hier drinnen...“, er guckt sich um, und zuckt dann mit den Schultern, “…geht das nicht. Die Atmosphäre ist so bedrückend. Wir müssen raus, am besten in den Park oder so.“ Autsch. Das sitzt mal wieder. Ich wohne hier doch, ich weiß wie schlecht die Stimmung ist. Aber dass er mir das so frei heraus sagt?! Typisch Adrian. Ich hole mir einen warmen Pulli aus meinem Schrank, wickele mir einen flauschigen Schal um den Hals und ziehe meine braune Lederjacke über den Pulli. „Gut.“ meint Adrian nur, und verlässt schnellen Schrittes erst die Wohnung und dann das Reihenhaus mit der ach so düsteren Atmosphäre. Ich hetze ihm verwirrt hinterher, weil ich immer noch nicht weiß, was ich von der ganzen Aktion halten soll. Es gelingt mir außerdem nur sehr schwer, die Tränen zurückzuhalten. Ich bin ja keine Heulsuse oder so, aber es macht mir schon echt zu schaffen, ihn einfach so wieder vor mir zu sehen. So einfach ist das Ganze dann aber doch nicht. Denn als wir endlich in besagtem Park angekommen sind und auf einer Parkbank Platz genommen haben, breitet sich ein klirrend kaltes Schweigen zwischen uns aus. Ich sitze auf dem ganz linken Rand der Bank, Adrian auf dem ganz Rechten. Jetzt ist Adrian dran mit reden, finde ich, sage dementsprechend nichts. Er versteht meinen Wink mit dem Zaunpfahl ausnahmsweise sogar, und fängt an, zu sprechen. In seiner Stimme schwingt Unsicherheit mit. „Ich weiß, dass es mit einem einfachen Es tut mir Leid nicht getan ist. Deswegen... Deswegen will ich es anders versuchen. Ich habe viel falsch gemacht. Viel zu viel. Kann sogar sein, dass jetzt meinetwegen nichts mehr zu retten ist... zwischen uns. Himmel, Gabriel, ich war so feige. Nur weil ich Angst hatte vor meinen Gefühlen zu dir, habe ich die behandelt wie Dreck. Ich...“ An dieser Stelle muss ich ihn doch unterbrechen und sehe ihn kritisch an. „Vor deinen Gefühlen zu mir? Was für Gefühle, wenn ich fragen darf?“ Ich klinge kälter, als ich es beabsichtigte habe, aber ich kann den Tonfall nicht ändern und will es auch gar nicht. Adrian darf ruhig auch ein bisschen leiden. „Ich... Also, dass... Dass ich dich vielleicht ein bisschen mehr mag, als man seinen besten Freund mögen sollte. Weißt du, das war kein Zufall, dass ich mich, wenn ich betrunken war, immer gerade an dich rangeschmissen habe, Gab.“, sagt Adrian leise. Seine Worte wiederholen sich in einer Endlosschleife in meinem Kopf. Dass ich dich mag. Dass ich dich mag. Dass ich dich mag. Dass ich dich mag. Dass ich dich mag. Ich muss mich regelrecht zwingen, ihm wieder zuzuhören, weil mich diese wenigen Worte so sehr berauscht haben, dass ich auf einmal nichts mehr anderes hören will. Aber natürlich kommt da noch mehr. „Es hat viel zu lange gedauert, bis ich erkannt hab, wie sehr du mir fehlst, und dass ich gerade dabei bin, dich für immer zu verlieren. Ich kann dich verstehen, wenn du mir nicht mehr vertrauen willst und nie wieder etwas von mir hören willst. Dann akzeptiere ich das auch und lasse dich in Ruhe. Andernfalls...“ Leider bricht er gerade jetzt ab, wo es doch spannend wird. „Andernfalls?“, hake ich daher nach. „Naja, also, dann, ich meine, dann können wir ja noch mal über unsere Beziehung nachdenken. So rein freundschaftlich, weißt du, für den Anfang, also das heißt... wenn du willst.“ „Freundschaftlich?“ Ich hebe meine Augenbrauen leicht an und plötzlich fühle ich mich ziemlich mutig. „Du kannst mich mal freundschaftlich!“, sage ich, grinse, und bin schneller an ihn herangerutscht, als er Idiot sagen kann. Ganz vorsichtig lege ich meine Lippen auf seine, lege sogar meine Arme um ihn und ziehe in dicht zu mir. Ein wenig überrascht bin ich schon, als ich spüre, dass unsere Herzen praktisch im Einklang schlagen. Sie rasen um die Wette. Nach einer süßen, viel zu kurzen Ewigkeit löst er sich von mir. Sehe ich das richtig? Schnappt Adrian gerade echt nach Luft? Und das nach so einem unschuldigen Kuss? Irgendwie macht mir das Lust auf mehr. Er ist und bleibt eben einfach Adrian, mein Ein und Alles, dem ich viel zu schnell und viel zu leicht alles verzeihe. „Okay.“, nuschele ich, meine Arme fest um ihn geschlungen,“ Lass uns ab jetzt und für immer zusammenbleiben, ja? Und ich will nie wieder was von Freundschaft hören. Ich liebe dich, dass das klar ist!“ „Wie kannst du sowas bloß so einfach sagen?“, murmelt Adrian dicht an meinem Ohr. „Das war eigentlich nicht die Reaktion, die ich mir erhofft hatte.“, meine ich feixend. Adrian scheint zuerst nicht zu verstehen, worauf ich hinaus will, aber dann zeigt mit eine feine Röte auf seinen Wangen, dass er kapiert hat, was ich meinte. „Ich... Also... Äh... Ich denke, ich liebe dich auch. Vielleicht, also... oder so.“, stammelt er, und ich kann einfach nicht anders, als ihn noch viel fester an mich zu drücken. Mir doch egal, ob ihm da kurz mal die Luft wegbleibt. Just in diesem Moment fängt es an zu schneien. Der Schnee fällt in kleinen Flocken vom Himmel deckt alles mit seiner weißen Decke zu. In einem hatte ich ja doch Recht gehabt. Das ist mein letzter Winter, mit Adrian als meinem besten Freund. Von jetzt an ist er mein Freund, und zwar mein Fester. Das habe ich gerade so beschlossen. „Adrian, weißt du was?“ „Hmm?“ „Ich hasse Winter. Du glaubst gar nicht, wie sehr ich mich auf den Frühling freue.“ You have seen your last cold winter because from now on, every single moment will be filled with warmth Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)