Nullpunkt von Memphis ================================================================================ Kapitel 8: Der menschliche Körper enthält sechs Liter Blut: genug, um eine große Wohnung anzustreichen. ------------------------------------------------------------------------------------------------------- Als ich bei Eddy angerufen hatte, hatte mir seine Mutter erklärt, dass er noch nicht daheim war und noch zu Freunden wollte nach der Arbeit. Freunden oder Freundin? Ich wollte nicht fragen, aber ich ärgerte mich wirklich. Verdammt, ich hätte gestern mit ihm reden sollen. Ich sagte ihr noch, dass er zurück rufen sollte, sobald er wieder da war. Ich verbrachte drei Stunden damit, noch hibbeliger zu sein, als sonst. Ich hatte versucht zu zeichnen, hatte es aber nach ein paar kleinen, grünen Pinguinen aufgegeben, aus denen Blutfontänen spritzten. Das war irgendwie nicht das, was ich machen wollte, auch wenn ich Pinguine ganz cool fand. Ich ging immer wieder an dem Telefon am Flur vorbei und versuchte mir einzureden, dass es nicht daran lag, dass ich auf Eddys Rückruf wartete. Zweimal stand ich auch vor dem Telefon und hatte den Hörer in der Hand, bereit seine Nummer zu wählen. Seine Mutter wäre nur genervt gewesen, wenn ich tatsächlich angerufen hätte. Sie war zuverlässig, sie würde ihrem Sohn schon sagen, dass ich mich gemeldet hatte. Als es dann endlich klingelte, verhedderte ich mich in meiner Bettdecke, als ich aufstehen wollte, hatte mich beinahe elegant auf die Schnauze gelegt und hörte nur ein Tuten in der Leitung, als ich abhob. Verdammt, es hatte doch nur drei mal geläutet. Erst als ich noch mal ein lang gezogenes, schrilles Klingeln hörte, stellte ich fest, dass es nicht das Telefon gewesen war, sondern die Haustür. Gott, heute war nicht so ganz mein Tag. Ich fuhr mir durch die Haare und hob den Hörer der Freisprechanlage ab. „Ja?“, brüllte ich hinein und hoffte, dass man mich unten hörte. Das Ding hatte manchmal einen Wackelkontakt. Mir antwortete nur ein unglückseliges Rauschen und ich legte den Hörer wieder auf, so brachte mir das nichts. Ich drückte den Schlüsselknopf und hoffte einfach darauf, dass es kein psychopathischer Mörder war. Ich öffnete die Wohnungstüre und linste den Treppenaufgang runter. Ich hörte nur, wie jemand mit schnellen Schritten nach oben kam und war mir fast sicher, dass es Eddy war. Er kam oft überraschend bei mir vorbei und eigentlich hätte ich es mir fast denken können, dass er noch bei mir auftaucht, wenn er nicht zuhause war. „Hey, Enni!“ Er grinste mir schon vom Treppenabsatz entgegen und hob einen Sixpack Bier hoch. Ja, so hatte man seine Freunde am liebsten, in Gesellschaft von Alkohol. Wir umarmten uns kurz zur Begrüßung, einfach weil ich mich freute, ihn zu sehen. Nach dem ich den halben Tag darauf gewartet hatte von ihm zu hören, war es einfach eine Wohltat, dass er jetzt hier war. Auch wenn ich im Moment echt keine Lust hatte über Sophie zu reden. Es musste auch nicht jetzt gleich sein, fand ich. Der Abend war noch jung, ich müsste morgen sowieso erst später zur Schule und Eddy hatte morgen Berufsschule. Also alles optimal für einen wundervollen Abend, wie ich fand. Eddy kickte seine Schuhe in den Gang und ging dann in die Küche, wo er nach dem Falschenöffner suchte. Währenddessen erzählte er mir von einem seiner Mitazubis, den er für völlig inkompetent und beschränkt hielt. Ich mochte es, wenn Eddy von seiner Arbeit erzählte, einfach weil ich mir dann wenigstens ein bisschen vorstellen konnte, wie jetzt sein Alltag aussah. „Und was war bei dir noch so los?“, fragte Eddy, nach dem er endlich siegreich den Flaschenöffner gefunden hatte. Er war irgendwie bei den Geschirrtüchern gelandet, auch wenn ich keinen blassen Schimmer hatte, wie er dahin gekommen war. „Hm, nichts besonderes.“ Das mir Nico offenbart hatte, dass er mich flach legen wollte, ließ ich lieber unerwähnt und so wichtig war das auch nicht. Es würde Eddy nur unnötig nerven und das musste ja echt nicht sein. Mit dem Flaschenöffner und dem Sixpack bewaffnet, gingen wir dann in mein Zimmer und ich stellte peinlich berührt fest, dass noch immer die Realitay-Show von vorhin lief und bevor ich den Fernseher ausschalten konnte, hatte die Sendung schon Eddys Aufmerksamkeit erweckt. „Guckst du den Kram immer noch so gerne?“ Er lachte und ich schaltete einfach aus. Hey, jeder durfte schauen was er wollte, oder? Wir waren hier ein freies Land mit freiem Fernsehprogramm. „Kam nichts besseres“, erklärte ich kurz und es war mir trotzdem etwas peinlich. Eddy hatte sich schon früher gerne über meine Programmwahl lustig gemacht, als wäre er mit MTV und Viva besser. „Ja, ja, das sagen sie immer.“ Eddy öffnete zwei von den Flaschen und reichte mir eine. Ich setzte mich damit auf mein Bett, während er zu meinem selten genutzten Rechner hinging und ihn in Gang setzte. Er machte meinen PC immer an, wenn er hier war, damit wir Musik hören konnten. Ich hatte auch jede Menge davon auf meiner Festplatte, was schon etwas komisch war, wenn man bedachte, dass ich nicht sonderlich gerne Musik hörte. Aber Eddy war der Ansicht, dass jeder Mensch in unserem Alter eine ordentliche Musiksammlung brauchte. Und wenn es ihn glücklich machte, war es mir egal. Er setzte sich zu mir aufs Bett und schaute sich das Zeug an, dass ich gezeichnet hatte. Er selber meinte, er könnte mit Kunst nicht viel anfangen, aber er sah es sich gerne an. Mittlerweile konnte er sogar sagen, wenn etwas wirklich Scheiße war. Das unverbrauchte Auge eines Nichtinvolvierten, oder so. „Die Pinguine sind ja geil“, meinte er recht entzückt und hielt sie mir unter die Nase. Ich schaute sie an und wusste nicht genau, was er so toll an ihnen fand. Sie waren grün und voller Blut. „Meinst du?“, fragte ich etwas irritiert. „Klar, die würde ich unbedingt in die Mappe. Die werden sich bestimmt schief lachen!“, ermutigte Eddy mich und ich musste grinsen. So lächerlich das auch war, durch diesen Satz fühlte ich mich tatsächlich etwas mehr bestärkt an meiner Mappe zu arbeiten. Ich merkte auch, dass es mir mehr Spass machte zu zeichnen, wenn Eddy neben mir saß und irgendwelche anderen belanglosen Dinge tat. Vielleicht lag es daran, dass ich es von Kleinauf so gewohnt war, keine Ahnung. „Sag mal, hast du heute schon was gegessen? Ich hab nämlich Bärenhunger“, wechselte er das Thema und wie um das Gesagte zu bestätigen, knurrte sein Magen. Er rieb sich mit einem wehleidigen Blick über den Bauch und man könnte fast Mitleid mit ihm haben. „Ich hätte zerkochte Nudeln mit kalter Soße?“ Heute Mittag war ich noch recht glücklich damit gewesen, jetzt kam es mir etwas armselig vor. Vor allem, da Eddy von sich zuhause wirklich gutes Essen gewöhnt war. „Hm, wir könnten uns auch ne Pizza bestellen. Ich geb sie auch aus!“ Er schaute mich mit großen Augen an und ich seufzte. Mir war es eigentlich nicht recht, dass wir ständig auf seine Rechnung Pizza bestellten. Anderseits meinte er immer, er hätte das Geld und ich konnte ihm auch nichts außer meinen Nudeln anbitten. Und naja, bevor er hier hungern musste, konnten wir ja auch was bestellen. Dafür bot ich ihm ja Logie, wenn schon die Kost von ihm kam. „Die gleiche wie immer?“, fragte ich ergeben und er grinste triumphierend. Manchmal fühlte ich mich ein bisschen wie ein Idiot, weil ich ihm eigentlich nichts abschlagen konnte. Aber in dem Fall sprang zumindest eine Pizza für mich raus. Ich mochte es, wenn Eddy hier war. Dann war die Welt einfach wieder in Ordnung. Ich dachte, ich hatte Glück und würde von Nico am nächsten Tag verschont bleiben. Da er weder in Geschichte, noch in Biologie aufgetaucht war. Eigentlich war ich mir sogar ziemlich sicher, dass er nach dem peinlichen Gespräch von gestern schwänzen würde. Immerhin hatte er mir irgendwie seine kleine, mickrige Seele offenbart, sich vor mir geoutet, gesagt, dass er auf mich stand und war dann bei mir abgeblitzt. Nico war zu dem einfach der Typ, der gerne mal schwänzte, soviel wusste ich über ihn, das hatte er in der 10. nämlich zur Genüge getan. Irgendwie verspürte ich auch eine gewisse Genugtuung bei dem Gedanken, dass ich es schaffte Nico zum Schwätzen zu bringen. Was mir dann allerdings etwas die Laune verdarb, war die Tatsache, dass er mir nach der sechsten plötzlich im Flur über den Weg lief. Er hatte mich angrinst, gegrüßt und ist dann einfach weiter gegangen, als hätte er mir nicht gestern gestanden, dass er scharf auf mich war. Ich war völlig irritiert und verstand auch nicht so ganz, warum er die ersten Stunden nicht da gewesen war und er trotzdem so unbekümmert über den Gang gehen konnte, als wäre es sein gutes Recht nicht jedes Fach zu besuchen. Mann, wenn ich sowas machen würde, würden mich die Lehrer alle sowas zur Sau machen. Aber nein, Nico hatte natürlich wieder Sonderstatus. Lag bestimmt daran, dass er Schulsprecher war. Etwas später fand ich heraus, dass es tatsächlich daran gelegen hatte. Es war SMV-Besprechung gewesen und er offiziell entschuldigt. Manchmal nervte mich Nico einfach schon, weil es ihn gab und gerade besonders durch seine Anwesenheit. „Sag mal, warum läufst du mir eigentlich immer noch nach?“, unterbrach ich seinen Redefluss über die SMV-Versammlung. Er hatte sich über den Kunst- und Kulturreferenten aufgeregt, die wohl nur bei der SMV waren, damit sie ab und zu nicht in den Unterricht mussten. Konnte ihnen niemand verdenken, an so etwas hätte ich auch mal denken sollen. „Hab ich dir doch gestern schon erklärt, ich will dich flach legen.“ Nico zuckte mit den Schultern, als wäre nichts dabei und damit erinnerte er mich sehr an meine Reaktion von gestern. „Und du denkst, dass funktioniert in dem du mir nachläufst?“, hakte ich nach. „Was besseres ist mir noch nicht eingefallen, nach dem mein Anmache mit dem Portrait nicht funktioniert hat“, antwortete er ehrlich und grinste dabei frech. Stimmt ja, er hatte mich vor zwei Wochen nach einem Portrait von sich gefragt. Das hatte ich schon völlig verdrängt. „Du hast mich arrogantes Arschloch genannt.“ Aber daran erinnerte ich mich noch. Ich wusste ja nicht, was Nico so gelernt hatte im Bezug auf Leute flach legen, aber das verbesserte die Chancen definitiv nicht. „Hey, ich hatte einen schlechten Tag gehabt und war wirklich sauer.“ Das klang nicht so sehr nach einer Rechtfertigung, wie es eigentlich sollte. Ich hätte eigentlich eher ein „Entschuldigung, war nicht so gemeint.“ oder „Das war alles ein Missverständnis, ich hab nur mit der Wand geredet.“ erwartet. Da ich nicht wusste, was ich darauf erwidern sollte und er offensichtlich auch nichts mehr zu dem Thema zu sagen hatte, gingen wir schweigend weiter. Erst als ich vor meiner Haustür stand und ich nach meinem Schlüsselbund suchte, fiel mir auf, dass Nico immer noch neben direkt neben mir war und nicht abgebogen war, wie sonst. „Du, ich lass dich nicht in meine Wohnung“, stellte ich noch klar, sperrte dann die Türe auf und ließ Nico davor stehen. Er hatte nichts dazu gesagt und ich hatte nicht zu ihm gesehen. Es war mir egal, ob ihn das irgendwie kränkte. Er war ja selbst daran Schuld, dass er mir nachlief. Aber ich ließ ihn definitiv nicht in meine Wohnung. Da hatte niemand was zu suchen, den ich nicht ausdrücklich einlud. Ich gähnte verschlafen, als es an der Türe klingelte. Ich hatte mich nach der Schule auf meinen Kaffee verzichtet und mich stattdessen für ein paar Stunden zum Schlafen hingelegt, da ich selbst mit dem vielen Koffein im Blut ständig erschöpft war und fand, dass es mal wieder Zeit war ordentlich zu schlafen. Ich wusste nicht genau, wie viel Uhr wir hatten, da mich erst das Türläuten aufgeweckt hatte. Aber draußen war es schon dunkel, also war ab halb acht alles möglich. Verdammt, ich hatte echt lange geschlafen, konnte das sein? Mir kam wieder nur munteres Rauschen entgegen, als ich in die Freisprechanlage lauschte und öffnete die Türe im festen Glauben daran, dass es Eddy sein würde. Wer sonst würde mich sonst noch um diese Uhrzeit besuchen? Vertreter bestimmt nicht. Die liefen allgemein nicht so gerne in den fünften Stock hoch... In Erwartung meinen besten Freund gleich die Treppen hoch hecheln zu sehen, lehnte ich die Wohnungstüre an und ging selbst ins Bad. Meine Zunge fühlte sich irgendwie pelzig an und ich wollte mir noch kurz die Zähne putzen, um dieses unangenehme Gefühl los zu kriegen. Ich spuckte gerade die Zahnpasta aus, als auch schon die Wohnungstüre geöffnet wurde. Was man an dem tollen Quietschen hören konnte, das die Tür seit kurzem von sich gab. Ich trat mit einem strahlend sauberen Lächeln aus meinem Badezimmer und fand mich einem Eddy gegenüber, der alles andere als glücklich aussah. Fuck. Er schaute mich an, als würde er gleich in Tränen ausbrechen und ich war mir ziemlich sicher, dass es mit Sophie zu tun hatte. „Hey, Eddy, was ist los?“ Ich trat auf ihn zu und wollte meinen Arm um ihn legen. „Du Scheiß Arschloch!“, schrie er plötzlich und schubste mich von sich weg. Ich taumelte einen Schritt zurück und knallte gegen die Wand. Was zur Hölle war hier los? Ich konnte nicht anders, als Eddy einfach nur geschockt anzustarren. Ich rieb mir den Kopf, den ich mir gestoßen hatte. Er stand mir mit einem wutverzerrten Gesicht und geballten Fäusten gegenüber. Ich sah, wie ihm Tränen über die Wangen liefen und ich fühlte mich völlig überfordert mit der Situation. So hatte ich Eddy noch nie erlebt. „Was...“, weiter kam ich nicht zu fragen, da Eddy einen Schritt auf mich zumachte und ich nur zusammen zuckte. Ich konnte mich nicht erinnern, dass er jemals wütend auf mich gewesen war und wusste nicht, was ich tun sollte. Irgendwie hatte ich Angst vor ihm und dieses Gefühl tat mehr weh, als alles andere. „Was hast du mit Sophie gemacht?“, brüllte er und machte noch einen Schritt auf mich zu. Ich konnte nicht vor ihm zurück weichen, weil ich sowieso schon an der Wand stand. Was hatte ich mit Sophie gemacht? Die Frage war doch eher, was hatte sie mit mir gemacht?! „Gar nichts?“, antwortete ich verwirrt. Ich wusste, ich hätte mit ihm schon am Sonntag darüber reden sollen, oder wenigstens am Montag. Gott, war ich ein Idiot, als ich dachte, dass sich das alles verlaufen würde. „Erzähl doch keinen Scheiß!“ Eddy hatte das Gesicht verzogen, machte aber keinen Schritt mehr auf mich zu. Ich stand nach wie vor an der Wand und wusste einfach nicht, was ich machen sollte. Ich musste ihm die Sache erklären. Er würde das schon alles verstehen, wir waren beste Freunde, verdammt noch mal. „Gott, ich konnte doch gar nichts dafür, dass mit dem Kuss wollte ich nicht und keine Ahnung“, stammelte ich vor mich hin. Ich wusste nicht, wie ich es ihm richtig erklären sollte. Scheiße, scheiße, scheiße! „Welcher Kuss?“, fragte er irritiert und ich hatte das Gefühl, als hätte ich mich noch mehr in die Scheiße geritten, also sowieso schon. „Wenn es nicht der Kuss war, was denn dann?“, fragte ich ihn verwirrt. Worum ging es hier überhaupt? Ich hatte mit Sophie doch sonst gar nichts zu tun gehabt. Hölle noch mal... „Verdammt noch mal, was für ein Kuss?!“ Er hatte mich plötzlich am Kragen gepackt und drückte mich gegen die Wand. So eine verdammte Scheiße! Ich versuchte seinen Handgriff zu lockern und zappelte unter ihm. Was zum Henker hatte ich gemacht, damit ich es verdient hatte, in so eine bekloppte Sachen reinzugeraten? Er verstärkte seinen Griff noch mehr und starrte mich wütend an. Anscheinend wollte er mich nicht los lassen, bevor ich ihm geantwortet hatte. „Der Kuss mit Sophie“, ächzte ich schließlich und abrupt ließ Eddy mich los, als hätte er sich die Finger an mir verbrannt. Er entfernte sich einen Schritt von mir und schüttelte einfach nur fassungslos den Kopf. Fuck, er hatte es falsch verstanden. Fuck, fuck, fuck. Aber bevor ich mich rechtfertigen konnte, stürmte er aus der Wohnung, knallte die Türe laut donnerend zu und war weg. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)