Nullpunkt von Memphis ================================================================================ Kapitel 3: Zweifel sind meist nichts anderes als bereits zu Grabe getragene Hoffnungen. ---------------------------------------------------------------------------------------- Es hatte am Tag der Beerdigung nicht geregnet. Die Sonne hatte grell gestrahlt und viel zu deutlich die Kummer der Trauergäste abgezeichnet. Wenn es geregnet hätte, hätte man sich unter einen Schirm verstecken können, hätte man das Wasser, das über die Wangen lief, auf die niederprasselnden Tropfen schieben können, hätte alles nicht so real gewirkt. Aber mitten im Hochsommer, da konnte man sich einfach nicht diesem Kontrast der schwarzen Trauer und dem bunten, blühenden Leben entziehen. Es hätte keinen Tag gegeben, der die Beerdigung hätte schlimmer wirken lassen, als dieser. Jetzt verstand ich, warum sie in Filmen Beerdigungen immer im Regen zeigten. Alles andere hätten die Zuschauer als zu verstörend empfunden. Der Pfarrer murmelte irgendwelches Zeug, dem ich nicht zuhören konnte. Ich war froh, dass es bei uns nicht üblich war, dass man Grabreden hielt. Ich wollte nur noch, dass man dieses Loch zu schüttete und ich meine Ruhe hatte. Ich wollte auch keiner der anderen Trauergäste sehen und schon gar keine Beileidsbekundungen über mich ergehen lassen. Man fühlte sich nur noch schlechter, wenn sie einem mit diesen bedaurenden Blick ansah. Hatte der arme Junge jetzt auch noch seine Großmutter verloren, er hatte doch jetzt gar niemand mehr! Und dann zerrissen sie sich den Mund darüber, dass meine Mutter nicht hier war. Ich hatte sie angerufen, aber sie meinte, sie könnten es sich gerade nicht leisten spontan hier her zu fliegen. Für sie war ihre Familie in Deutschland gestorben und Geschichte. Als hätte ich das sowieso nicht schon gewusst. Ich stand am Grab und beobachtete, wie die Erde über den Sarg rieselte, die darauf geworfenen Blumen mit runterriss und schließlich ganz bedeckte. Jemand hatte mich am Arm genommen und weg gezogen. Ich saß da und starrte Eddy konzentriert an, während er über seinen Block gebeugt war, um eine Arbeit für die Berufsschule zu erledigen. Eddy hatte vor einem Jahr seinen Realschulabschluss gemacht und war jetzt mitten in der Ausbildung zum Handelskaufmann. Was ich für ihn ziemlich unpassend fand. Aber Eddy war es egal gewesen, Hauptsache ein Job, hatte er gemeint. Eddy hatte die Stirn leicht graus gezogen und tippte immer ungeduldig mit den Stift auf den Block, wenn er nicht weiter kam. Früher hatte er die Angewohnheit gehabt, auf den Stiften herum zu beißen. Aber er hatte es sich irgendwann mal abgewöhnt, weil das Mädchen wohl voll uncool fanden. Ich hatte diese Eigenheit von ihm eigentlich immer gemocht. „Mann, Enni, hast du nichts besseres zu tun, als mich anzustarren?“, murrte er schließlich und schaute missmutig auf. Ich grinste ihn nur an. „Nicht so direkt. Außerdem mach ich Naturstudien“, erklärte ich ihm und tippte dabei mit meinem Bleistift auf meinen Zeichenblock. Ich fand eine Portraitstudie von Leuten, die mich umgaben, würde in einer Mappe sicher gut aussehen. Und da Eddy einer der Personen war, mit denen ich mit Abstand die meiste Zeit verbrachte, hatte ich entschlossen, dass er mein erstes Opfer war. Es war interessant einen Mensch mal ganz genau zu betrachten. Ich machte das eigentlich selten, selbst bei Eddy, den ich schon hunderttausende Mal gesehen hatte. Es kam einem so vor, als würde man den Mensch plötzlich völlig neu sehen, Dinge an ihm wahrnehmen, die man davor nie bemerkt hatte. In jedem Fall sehr spannend, besonders weil es Eddy war. Bis jetzt hatte ich nie bemerkt, dass er immer noch ganz blasse Sommersprossen hatte. Sie passten nicht zu ihm, aber irgendwie freute ich mich darüber, dass sie mir aufgefallen waren. „Sitzt man dafür nicht irgendwie draußen und malt Bäume?“, kam es von ihm, immer noch den gleichen Blick. „Hallo, Baum!“ Ich lachte und er bewarf mich mit seinem Stift, hatte dabei aber ein Grinsen im Gesicht. Es war einfach zu lustig, ihn so nervös von meinen Blicken zu sehen. Nicht, dass es irgendwas gab, das ihm peinlich sein müsste und das seine Ohren rot glühten, machte das ganze noch viel unterhaltsamer. „Du, wenn das nicht für deine Mappen wäre ...“ „Ja, ja, ich weiß schon. Du musst mich echt mögen und alles.“ Ich winkte ab, tat so, als wäre es nicht weiter von Bedeutung für mich und warf ihm seinen Stift wieder zu, der in meinem Schoß gelandet war. „Übrigens, andere Leute würden Geld dafür zahlen, dass ich sie zeichne.“ „Soll ich mich geehrt fühlen, Maestro?“ Er fing den Stift geschickt, aber schien keine Motivation zu haben, weiter an seinen Hausaufgaben zu arbeiten. „Kannst du, ich würde das nicht bei jedem machen.“ Bei den meisten anderen Menschen würde es mich nämlich stören, solange Zeit darauf zu verwenden, sie zu zeichnen. Für meine Mappe wäre es vielleicht ganz gut, wenn ich mehr als nur Eddy und seine Familie portraitieren würde. Aber eigentlich wollte ich im Moment nur Eddy zeichnen, vielleicht auch als Entschuldigung ihn einfach nur anzusehen. „Ich kann mich nicht konzentrieren, wenn du mich so anschaust.“ Eddy seufzte und legte den Stift schließlich in sein Mäppchen. Immer noch waren seine Ohren ganz rot. „Schüchtern?“ Noch immer hatte ich meinen Stift in der Hand und schaute ihn erwartungsvoll an. Vielleicht könnte ich ihn ja jetzt weiter zeichnen. „Du bist ein Idiot. Mann, ich hab keinen Bock mehr. Komm, wir gehen raus.“ Ohne das ich noch viel widersprechen konnte, hatte sich Eddy schon erhoben und war einfach an mir vorbei marschiert, Richtung Tür. Manchmal konnte er etwas eigenwillig sein. Ich packte meinen Zeichenkram ein und folgte ihm. Er war schon im Flur und hatte seine Schuhe an, wartete wohl nur noch auf mich. Ich mochte das Gefühl, wenn Eddy mich erwartungsvoll ansah. Er schien nur darauf zu warten, dass wir wieder etwas spannendes erlebten. Wenn er mich so ansah, bedeutete es meistens, dass jetzt irgendwas passieren würde. Etwas aufregendes oder vielleicht auch nur ein Gespräch, das einem das Leben leichter machte. Es war in jedem Fall etwas positives und ich würde Eddy überall hinfolgen, wenn er mich so ansah. Egal wann, egal wo, ich würde mitkommen. Ich schulterte meinen Rucksack und wollte gerade das Klassenzimmer verlassen, als mir Nico entgegen kam. Ich hatte ihn erst nicht bemerkt, was mir bei seiner Größe niemand verdenken konnte. Aber er steuerte direkt auf mich zu, ich versuchte ihm aus dem Weg zu gehen und beschleunigte mein Tempo etwas. Vielleicht wollte er gar nicht zu mir ... „Hey, Ennoah, warte mal“, rief er schließlich und ich wägte meinen Chancen ab, wie glaubhaft es war, dass ich ihn nicht gesehen hatte. Aber da er mich direkt angesprochen hatte, wäre es wohl ziemlich scheiße gekommen, einfach weiter zu gehen. Auch wenn mich Nico schon mit seiner bloßen Anwesenheit nervte. „Was willst du?“, fragte ich schließlich, als ich stehen geblieben war. Wir hatten nicht mehr miteinander gesprochen, seit er mich nach dem Bild gefragt hatte. Was nicht weiter verwunderlich war, da wir wirklich überhaupt nichts miteinander zu tun hatten. „Ich brauch noch deinen Zettel für die Studienberatung. Du bist der einzige, der ihn noch nicht abgegeben hat und ich hab dich nie erwischt“, erklärte er mir. Stimmt ja, Nico war Stufensprecher, passte trotz dem vielen Metall zu ihm. Wenigstens fragte er nicht schon wieder nach einer Zeichnung ... „Achso.“ Wenn es nur das war. Ich hatte den Zettel noch irgendwie in meinem Rucksack, keine Ahnung, ob ich den schon ausgefüllt hatte. Eher nicht. Ich suchte trotzdem danach, während ich von ihm beobachtet wurde. Hatte der nichts besseres zu tun? Endlich hatte ich den Wisch gefunden und stellte fest, dass er nur außerordentlich zerknittert war, aber sonst noch so aussah, wie ich ihn bekommen hatte, nämlich leer. Mist. „Sorry, hab den noch nicht ausgefüllt. Soll ich ihn dir morgen geben?“ „Hm, ungern. Kannst du das nicht jetzt machen?“ Können schon, war nur die Frage, ob ich auch wollte. Aber ich verkniff mir das. Immerhin hatte mich meine Oma ordentlich erzogen und wenn man mich nicht gerade zu einem unpassenden Zeitpunkt um etwas anbettelte, versuchte ich höflich zu sein. Selbst Nico gegenüber, der hier gerade auch nur seine „Pflicht“ tat. „Wenn´s sein muss. Braucht aber ein Moment.“ Ich schaute mich nach einer Möglichkeit um, wo ich das Blatt hinlegen konnte, fand aber auf dem Schulflur nichts, also schob ich das Blatt zwischen meine Lippen, um nach einem Stift in meiner Tasche zu kramen. „Kein Ding, ich hab Zeit“, kam es gut gelaunt von Nico. Wenn er soviel Zeit hatte, warum konnte er dann nicht bis morgen auf diesen dummen Zettel warten? Naja, war jetzt auch schon egal. Ich hatte einen Stift gefunden und versuchte jetzt das Blatt an die Wand gedrückt, den Kram auszufüllen. Bestimmte Studienwünsche? Kunst kritzelte ich hin und fragte mich, ob man das überhaupt lesen konnte. Es war echt nicht einfach so zu schreiben. So ein Dreck. Naja, wenn sie es nicht lesen konnten, war es nicht mein Problem. „Hier.“ Ich gab Nico den Zettel, der ihn interessiert musterte. „Kunst, hm?“, meinte er schließlich und ich fragte mich, was das sollte. Natürlich Kunst oder sollte ich bei meiner unglaublichen, nichtexistenten Sprachbegabung und dem wahnsinnigen naturwissenschaftlichen Talent, das ich nicht hatte, was anderes studieren? „Sieht so aus.“ Ich zuckte mit den Schultern, packte meinen Stift wieder weg und machte mich auf den Weg nach unten. Vielleicht sollte ich noch einkaufen gehen, aber ich müsste erst die Dollar von meiner Mutter wechseln lassen. Gestern war der Brief gekommen, aber ich hatte mich nicht wirklich aufraffen können, zur Bank zu gehen. Und so dringend war es auch nicht gewesen, da Eddys Mutter mir eine Packung Kaffee gesponsert hatte und ich bei ihnen gegessen hatte. Ich würde ihnen ja für ihre Gastfreundlichkeit was geben, aber ich hatte ihnen mal Geld angeboten und sie hatten es abgelehnt. „Und was machst du heute noch so?“ Ich schreckte auf, als ich bemerkte, dass Nico neben mir herlief. Mir war nicht aufgefallen, das er mir gefolgt war. „Keine Ahnung. Einkaufen?“, gab ich ehrlich zurück, da ich von der Frage etwas überrumpelt war. „Du sieht mir nicht wie der Typ aus, der shoppen geht.“ Dabei war er mir einen komischen Blick zu und ich hatte das Gefühl, als würde er da gerade was falsch verstehen. „Essen einkaufen, du weißt schon, sowas das man tut, um nicht zu verhungern“, erklärte ich freundlich, wie ich war. „Stimmt ja, du wohnst alleine, nicht?“ Das war doch ein Verhör. Auch wenn Nico dabei ganz arglos klang, ich hasste es ausgefragt zu werden. Und das Thema war sowieso heikel. Ich mochte es ehrlich gesagt nicht, alleine zu leben. Ich fand meine Wohnung zu groß, zu leer und zu still, um sie als angenehm zu empfinden. Ich hasste das Gefühl nach Hause zu kommen und zu wissen, dass einfach niemand da war, der dort auf einen wartete. „Und?“, fragte ich genervt zurück. Ich wüsste sowieso nicht, was ihn das anging. „Nee, find ich cool. Ich würd auch gern von zuhause ausziehen. Ist manchmal schon ätzend sich immer das Gelaber von meinen Alten und so anzuhören.“ Und mit jedem Satz, den er von sich gab, machte er sich bei mir noch unbeliebter. Ich unterließ es, ihm zu sagen, dass ich ganz bestimmt nicht freiwillig alleine lebte und lieber Eltern hätten, die mir manchmal auf den Geist gingen, als eine Mutter, die einfach nach Amerika verschwand und Jahre lang nichts von sich hören ließ. „Dann zieh halt aus.“ Und merke, was für ein Elend das war! „Keine Kohle.“ Er zuckte mit den Schultern. „Naja, ich muss noch ins Sekretariat, wir sehen uns ja dann.“ Er winkte mir noch zu und war dann einfach in einen Gang eingebogen. Weg war er. Sollte mir recht sein. Ich verstand sowieso nicht, warum er mir zur Zeit ständig auf die Pelle rückte. Seit wir beide in Geschichte 4-stündig waren, schien er das immer wieder mal als Entschuldigung zu nehmen, sich mit mir zu unterhalten. Ich hatte ja eigentlich gedacht, dass wir schon in der 10. darüber eingekommen waren, dass wir uns nicht mochten. Der Club war verraucht und mir war eigentlich mehr nach gemütlichen Chillen mit Bier und Pizza bei mir daheim gewesen. Aber Eddy wollte unbedingt weggehen, er hätte es den anderen versprochen. Den Anderen ... Tz! Ich merkte, wie mich Manuel - oder war es Marcel? Ich konnte die beiden nie so ganz unterscheiden. - mit einem missmutigen Blick anstarrte. Ich trank einen großen Schluck von meinem Cocktail, auf den Eddy mich eingeladen hatte und fühlte mich mit etwas mehr Alkohol im Blut Manuels Blicken besser gewachsen. Er konnte mich nicht sonderlich leiden, aus dem ganz offensichtlichen Grund, dass ich bei den Mädchen bedeutend besser ankam, als er. Was kein Kunststück war, da sich keine für ihn interessierte. Er war ja auch langweilig mit seinen schnöden, straßenköterblonden Haaren, den fahlen-blauen Augen mit dem immer etwas notgeilen Schimmern, wenn er Brüste sah und die Klamotten waren zwar in, standen ihm aber nicht wirklich, genau wie seine Frisur. Wäre ich ein Mädchen, ich würde ihm auch keinen zweiten Blick zu werfen. Ich wusste, dass ich objektiv betrachtet kaum spannender aussah, aber ich wirkte wenigstens lässig, cool und war naja ... groß. Mädchen standen auf große Kerle, die sie nicht mit ihren Blicken auszogen. Ich hatte sowas nicht nötig, ich wusste, wie eine Frau nackt aussah und hatte das auch schon oft genug gezeichnet. Es hatte zwar noch irgendwo seinen Reiz, da jedes Mädchen doch noch mal anders aussah, aber war nicht mehr so spannend, wie noch mit fünfzehn. Naja, für Manuel wahrscheinlich schon. Ich war mir recht sicher, dass der noch keinem Mädchen an die Wäsche durfte und vermutlich wurmte ihn deshalb meine Gesellschaft noch mehr. Ich war halt nicht gut für jedermanns Ego. Ich musste ja sagen, dass ich froh war, dass zwischen Eddy und mir niemals sowas gestanden hatte. Naja, wenn man mal von der dummen Sache mit Ekatarina absah, die sich sowieso seit einigen Monaten erledigt hatte, ihm zu Liebe. Wenn ich mich zwischen irgendeinem Mädchen, und war sie noch so atemberaubend schön wie Ekatarina es war, und meinem besten Feund entscheiden müsste, würde meine Wahl immer auf Eddy fallen. Mädchen gab es wie Sand am Meer, hübsche Mädchen immer noch so oft wie Muscheln, aber für jemand wie ihn müsste ich Welten absuchen. „Er hat übrigens schon eine eigene Wohnung!“ Eddys Stimme riss mich aus meinen Gedanken und ich schaute verwirrt zu ihm rüber. Er unterhielt sich gerade mit einem hübschen Mädchen, die jetzt interessiert in meine Richtung sah. Ich lächelte kurz und gesellte mich zu ihnen. „Enno“, stellte ich mich knapp vor und das Mädchen errötete leicht, warum auch immer. Eddy grinste mich breit an und ich verstand ihn nicht. Warum erzählte er von mir, wenn er eigentlich dem Mädchen Komplimente machen sollte?! „Stimmt es, dass du Künstler bist?“, fragte schließlich das Mädchen mit großen Augen und ich schaute kurz zu ihm rüber. Da hatte er wohl etwas dick aufgetragen. Ich wollte ihn allerdings nicht bloß stellen und setzte ein selbstbewusstes Grinsen auf. „Naja, Künstler ist ein weiter Begriff ...“ War kein Nein, kein Ja, klang aber cool. Künstler, was war das schon? Ich mochte aber den Gedanken irgendwie, dass mich Eddy als so jemand sah. Er mochte das was ich machte. Mir war es wichtig, das ich ihm etwas wert war. „Kannst du mich malen?“ Ihre Augen glitzterten aufgeregt und ich zuckte mit den Schultern. Können schon, wollen war eine andere Sache. Sie kam mir irgendwie auch zu jung vor für den ganzen Kram. Immerhin würde ich sie nur zeichnen, wenn wir auch Sex hätten und ich war mir nicht ganz sicher, ob ich mich dann nicht strafbar machen würde. „Kommt drauf an, was du mir zu bieten hast.“ Ich ließ mein Blick über sie gleiten und wusste, dass ich mit diesem Spruch wie ein Schmalspurcasanova klang. Mädchen schien das aber in der Regel nicht zu interessieren, die standen auf seltsame Anmachen, meiner Erfahrung nach. Sie lächelte unsicher und schaute zu Eddy, der etwas besoffen grinste. Wahrscheinlich hatte er uns gar nicht mehr zugehört. Idiot, ich war doch nur wegen ihm hier und jetzt sollte ich mit irgendwelchen Mädchen flirten. „Was machst du so?“, wechselte ich das Gesprächsthema und lehnte mich gegen die Wand, während ich lässig und etwas desinteressiert über die Menschen hier hinweg sah. Sie wollte gar nicht, dass ich ihr meine ganze Aufmerksamkeit schenkte. Sie wollte darum kämpfen müssen, sich für mich interessant machen, um sich dann einbilden zu können, dass ich sie nur wegen ihrem Gerede wieder anschaute. Sie hatte ganz hübsche Brüste, nicht so groß, aber man konnte sehen, dass sie eine schöne Form hatten und passte zu gut ihrem restlichen Körper, war ziemlich zierlich. Ich merkte, wie ich sie unbewusst mit Ekatarina verglich und das das Mädchen vor mir definitiv nicht mithalten konnte. Ekatarina hatte Modelmaße gehabt, groß, schlank und der wilde Ausdruck in ihren Augen, der pure Wahnsinn. Manchmal dachte ich noch an sie, vor allem, wenn ich mir Zeichnungen mit ihr ansah. Ich hatte es geliebt, sie zu zeichnen. Aber wenn dann Eddy seinen Arm um mich legte, so wie jetzt, mich glücklich angrinste und mir dann erzählte, dass ich sein bester Freund war und das Leben mit mir einfach immer nur cool war, dann war mir Ekatarina so scheiß egal. Ich brauchte nur Eddy, dann war die Welt für mich in Ordnung. Ich hatte mich am nächsten Tag tatsächlich dazu aufraffen können, einkaufen zu gehen und schleppte gerad die Einkäufe die Treppen hoch. Mit dem Kram müsste ich jetzt die nächsten zwei Wochen definitiv nicht mehr in einen Supermarkt. Ich hatte mir eine gesunde Zusammenstellung aus Asia-Instant-Suppe, Nudeln, Reis und Tomatensoße gekauft. Davon würde ich die nächsten zwei Wochen leben, dann könnte ich die nächsten Wochen keine Nudeln und Reis mehr sehen und würde das ganze durch Kartoffeln, die leider weniger lang haltbar waren, austauschen. Ja, ja, einseitige Ernährung war ungesund und ich werde sicher bald durch Tod aus Vitaminmangel verenden, aber zumindest wenn ich bei Eddy aß, was auch mindestens einmal die Woche war, würde ich da ein bisschen Abwechslung reinkriegen. Und ich konnte mich einfach nie dazu entschließen, etwas frisches zu kaufen. Das vergammelte bei mir jedes Mal und mir war mein Geld zu schade, als das ich es in meinem Kühlschrank verschimmeln lassen wollte. Zu dem hatte ich diese Ernährung die letzten drei Monate ganz gut überstanden, wie ich fand. Ich schenkte mir etwas von dem kalten Kaffee von heute Morgen ein und brühte mir dann einen neuen auf. Andere fanden kalten Kaffee ja widerlich, aber wenn man Unmengen an Milch reinschüttete, die ich zum Glück heute kaufen konnte, war das sowas wie Milchkaffee und völlig passabel. Die Einkäufe hatte ich einfach auf die Anrichte abgestellt. Ich würde das mal im Laufe der Woche in die Schränke einräumen, jetzt hatte ich nämlich keine Lust und es würde sich hier sowieso niemand an dem Chaos stören. Vielleicht gab es neben den vielen, vielen Nachteilen ein paar Punkte, die am Alleineleben ganz angenehm waren. Da mein Magen knurrte und er offensichtlich nur mit dem Kaffee nicht glücklich war, entschloss ich mir noch eine Instant-Nudelsuppe zu machen, die immerhin den Magen füllte und man musste da wenigstens keine Töpfe dafür dreckig machen. Ich hasste es Töpfe zu spülen ... Mit der heißen Schale voll Suppe in der linken Hand und dem kalten Kaffee in der rechten, balancierte ich in mein Zimmer. Ich hatte es auch schon wundervoll perfektioniert mit meinem Fuss die Tür zu öffnen, nicht das Gleichgewicht zu verlieren und dabei nichts zu verschütten. Vielleicht war ich in Sport auch nicht so ein hoffnungsloser Fall, wie ich meinem Lehrer immer einreden wollte. Allerdings hatte Geschicklichkeit leider nur bedingt mit wirklicher Sportlichkeit zu tun, dafür bräuchte man noch Kraft, Ausdauer, Muskeln, Motivation. Alles Dinge, die ich nicht mal im Ansatz besaß. Dafür konnte ich hübsche Bilder malen, so hatte es meine Mutter immer ausgedrückt. Ich hatte erst relativ spät damit begonnen zu sprechen und zu laufen, zeigte wenig Interesse an meinem Umfeld und anderen Kindern, aber ich hatte schon immer gezeichnet, seit ich einen Stift halten konnte. Ich war mir ziemlich sicher, dass meine Mutter lieber einer aktiveren Sohn gehabt hätte, der mit anderen Kindern Fangen spielte oder zumindest nach draußen gehen wollte. Einer der ersten Dinge, an die ich mich von meiner Mutter erinnern konnte, war wie sie da stand, den Kopf schüttelte und sagte: „Ich weiß wirklich nicht, von wem er das hat.“ und kurz danach war sie weg gewesen. Ich hatte auch keine Ahnung von wem ich das, was auch immer es war, hatte. Wahrscheinlich von meinem Vater, der so schlau war eine Sechzehnjährige zu schwängern und sich dann aus der Affäre gezogen hatte. Der hatte schon bevor ich geboren wurde, gewusst, dass er mit mir nichts anfangen konnte. Aber ihm trauerte ich nicht nach, ich hatte auch keinerlei Bedürfnis ihn kennen zu lernen. Nicht weil ich irgend einen Groll gegen ihn hegte, sondern einfach nur, weil es mich kein Stück interessierte, was mit ihm war. Zu dem war ich mit meiner Mutter schon genug gestraft. Ich hatte das Gefühl, dass ein Vater die ganze Sache noch irgendwie verschlimmern würde. Laut schlürfend sog ich die langen Suppennudeln in meinem Mund und ich merkte, wie sich mein Magen langsam zufrieden fühlte, je mehr ich von der Suppe aß. War auch einer der wenigen Dinge, von denen mir nicht wirklich schlecht wurde. Eddy hatte mir mal empfohlen, zum Arzt zu gehen, aber ich hatte keine Lust. Ich mochte Ärzte nicht und hey, was einen nicht umbrachte, machte einen stärker, oder? Also warum unnötig Zeit bei nem Quacksalber verschwenden ... Gerade, als ich die letzten Reste meiner Suppe auslöffeln wollte, schrillte das Telefon, was mich nach all den Jahren immer noch zusammenzucken ließ. Es gab wohl Dinge, an die ich mich kaum gewöhnen konnte. Ich stellte die Schale beiseite und hastete in den Flur, um abzuheben. Etwas außer Atem meldete ich mich mit einem „Ja?“. Vielleicht sollte ich mir mal ein schnurloses Telefon kaufen ... irgendwann mal, wenn ich zu viel Geld übrig hatte. „Hey, Enni, ich bin´s.“, meldete sich Eddys fröhlich Stimme und ich konnte nicht anders, als zu grinsen. Ich war einfach glücklich, wenn ich seine Stimme hörte, keine Ahnung, wie er das immer anstellte. „Was gibt’s?“ Es kam selten vor, dass er bei mir anrief. Meistens kam er einfach so vorbei, aber es störte mich jetzt auch nicht. Ich freute mich einfach von ihm zu hören. „Du, ich wollte doch heute, bei dir vorbei kommen. Könnten wir das auf morgen verschieben?“, fragte er dann auch direkt. Ich war etwas überrascht, unter der Woche sagte er mir so gut wie nie ab, auch nicht seit er arbeitete. Gab es etwa irgendwas, was ihm wichtiger war, als ich? „Uhm, klar, kein Ding“, gab ich etwas verdattert zurück. „Okay, cool. Du bist super, also bis morgen dann“, kam es enthusiastisch von ihm und ich hatte irgendwie das Gefühl, als würde ich gerade was verpassen. Ich konnte allerdings nicht sagen, was. „Ja, bis dann“, antwortete ich trocken. „Ciao, Enni.“ Mit den Worten hatte er aufgelegt. Ehrlich, langsam entwickelte ich Aversionen gegen das Telefonieren. Ich lauschte noch dem Klang seiner Stimme nach und wünschte mir, dass er heute trotzdem noch vorbei kommen würde. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)