Fremd von abgemeldet ================================================================================ Kapitel 13: Kapitel 13 ---------------------- Hallo! Hier kommt das 13. Kapitel, das wieder von Anni beta gelesen wurde. Danke! 13. Kapitel Widerwillig schüttelte Ray den Kopf. Er durfte sich jetzt nicht von seinen verletzten Gefühlen ablenken lassen. Aber eins stand fest, die Worte hatten ihn verletzt! Er war doch trotz allem noch ein Mensch, er konnte doch nichts für seine Fähigkeiten und er würde auch nie auf die Idee kommen einem anderen Lebewesen in vollem Bewusstsein zu schaden, nur weil er es /konnte/! Aber das verstanden die Menschen scheinbar nicht. Oder sie wollten es nicht verstehen. Ohne noch einmal zur Lagerhalle zu sehen, rannte Ray los. Rannte die Straße hinunter, die er gekommen war, bog ab, schlitterte kurz über den schlammigen und verdreckten Boden, fing sich jedoch und rannte weiter. Seine Ausdauer war gut, er konnte über eine längere Zeit ein relativ hohes Tempo beibehalten, doch als er endlich das Gebäude des Waisenheims vor sich aufragen sah, da ging inzwischen auch sein Atem schneller. Gerade wollte er die letzten hundert Meter zum Heim rennen, als eine Hand seine Schulter griff und ihn gewaltsam in einen Hauseingang zog. Erschrocken fiepte Ray auf, bevor ihm jemand die Hand fest auf den Mund drückte. Hatten sie ihn gefasst? „Schhhh!“, machte eine raue Stimme hinter ihm. „Ich bin’s.“ Augenblicklich entspannte sich der Chinese und stieß die Luft zwischen den Zähnen aus. Er hatte gar nicht gemerkt, dass er den Atem angehalten hatte… „Kai“, flüsterte er, mindestens genauso leise wie der Russe vorher. Ray spürte, wie die Person hinter ihm nickte. Der heiße Atem des Russen streifte seinen Nacken und jagte ihm unwillkürlich warme Schauer über den Rücken. Ray spürte förmlich die Hitze, die in seinen Wangen aufstieg. „Die Lagerhalle, das Hauptquartier, die Jäger, …“, fing Ray stotternd an, doch Kai drückte den leicht aufgelösten Chinesen nur stärker an sich. Ray spürte die warme Brust hinter sich, den muskulösen Oberkörper, die starken Arme, die ihm Halt gaben. Seine Gesichtsfarbe wurde noch dunkler. „Ich weiß. Sie haben uns gefunden, dich wollen sie wahrscheinlich auch.“ „Ja, Azat hat uns damals gefilmt. Sie haben das Video gefunden.“ Kurz schwieg Kai. „Verstehe… Verdammt! Ausgerechnet jetzt! Aber gut, wir müssen hier weg. Hör zu, Spencers Vater ist LKW-Fahrer, wie wir dir sicher erzählt haben. Heute Abend fährt er wieder los, in den asiatischen Teil Russlands. Er überquert das Uralgebirge. Er hat sich bereiterklärt uns mitzunehmen. Spencer und Ian sind nur Esper, sie sind mehr oder weniger sicher, solange sie nicht zugeben, dass sie wussten, dass wir Zeros sind. Und das werden sie sicher nicht zugeben. Tala, du und ich, wir werden heute Abend um acht Uhr mit Spencers Vater die Stadt verlassen, im Laderaum, gut versteckt. Bis dahin müssen wir äußerst vorsichtig sein und sollten uns nicht von den Jägern schnappen lassen. Im Moment ist Biovolt nur beim Lagerhaus, doch bald werden sie das ganze Viertel nach uns absuchen.“ Ray nickte. Er hatte verstanden. Sie sollten so schnell wie möglich zu Spencers Vater und sich in dem LKW verkriechen. „Aber meine Sachen…“, flüsterte Ray und sah zum Waisenhaus. „Ich will sie noch kurz holen.“ Er wartete auf Kais Protest, doch dieser blieb überraschender Weise aus. „Nimm den Weg über den Baum, lass dich von niemandem sehen. Noch war kein Jäger hier, aber es wird nicht mehr lange dauern.“ „Okay. Ich beeil mich.“ Es war überraschend einfach, ungesehen den Baum vor ihrem Fenster zu erklimmen und in ihr Zimmer einzusteigen. Leise schlich Ray durch das Zimmer, holte einen Rucksack unter seinem Bett hervor und öffnete die Schranktür. Als er Schritte aus dem Flur hörte, verharrte er kurz. „Und, schon was passiert?“ Das war Tysons Stimme. „Nö, aber einer der Beiden taucht sicher auf, wenn wir nur lange genug warten.“ Max! Es brauchte nicht viel, um zu schlussfolgern, dass die Beiden vor Kais und seinem Zimmer Wache standen und darauf warteten, dass sie kamen. Die Beiden gehörten also auch zu den Jägern! Ray musste sich auf die Zunge beißen, um nicht zu Fauchen. Sein BitBeast schien auf ihn abzufärben. Schnell räumte er ein paar Kleider, sowie drei Fotos, die er später noch entdeckt hatte, ein Buch, den mp3-Player, die Taschenlampe und einen Anhänger, der eventuell von seinen Eltern sein könnte, in die Tasche. Eben alles, was ihm helfen könnte sich doch noch an seine Vergangenheit zu erinnern. Dann schloss er den Reißverschluss des Rucksacks und schob die Schranktür zu. Es quietschte. Sofort hielt Ray in der Bewegung inne und den Atem an. Von draußen war nichts zu hören. Der Chinese wollte schon erleichtert aus dem Fenster klettern, als plötzlich die Tür unter einem lauten Knall nachgab und ein blonder und ein blauhaariger Junge in das Zimmer stürzten. „Keinen Schritt weiter!“, schrie Tyson aufgebracht. Aber es war bereits zu spät. Der Chinese sprang mit einem gewagten Satz aus dem Fenster, direkt in die unteren Äste und von dort auf den Boden. Mit einer fließenden Handbewegung schloss er das Fenster und verriegelte es von außen mit einem Ast. Sie wussten, dass er ein Zero war, worin läge also der Sinn seine Fähigkeiten weiterhin zu verstecken. Fluchend klopften Max und Tyson von innen gegen die Glasscheibe, versuchten sie zu zerstören, doch Ray hielt gedanklich dagegen. Seinen Fähigkeiten waren sie noch lange nicht gewachsen. „Schnell, komm!“ Überrascht drehte Ray sich um, nur, um Kai am Zaun stehen zu sehen. Ohne noch einen Gedanken an seine zwei ehemaligen Freunde zu verschwenden stürmte er zu dem Russen und gemeinsam rannten sie fort, außer Sichtweite der Anderen. Auf dem Weg zu Spencers Vater liefen sie einige Umwege, versteckte Pfade und überflüssige Kreise, nur, um eventuelle Verfolger zu verwirren. Als sie endlich bei dem blonden Russen angekommen waren, schnappten sie nach Luft. Tala war bereits da und wartete. Als er sie kommen sah, hellte sich seine Mine deutlich auf. „Endlich! Ich dachte schon, sie hätten euch geschnappt!“ Sein Ton klang zwar nicht so, doch aus den Worten konnte man seine Besorgnis entnehmen. „Wo ist der Lastwagen und wann geht es los?“, fragte Kai sofort. „Kommt mit.“ Das war Spencer. Der blonde Hüne führte sie ein paar Straßen weiter, auf einen ausgestorbenen Innenhof. Ein großer Lastwagen mit zwei Anhängern stand darauf. „Oh! Hallo! Da seid ihr ja endlich“, begrüßte sie ein eher schmächtiger blonder Mann. Seinen Körperbau hatte Spencer eindeutig nicht von ihm geerbt. Sorgenfalten zierten sein Gesicht, doch das war kein Wunder, immerhin stand der Mann kurz davor drei gesuchte Flüchtlinge und Schwerverbrecher aus der Stadt zu schmuggeln. Dafür würde er lebenslang in den Knast kommen, sollten sie erwischt werden. „Ich bin Igor, Spencers Vater. Los, ihr steigt in den ersten Anhänger. Spencer und ich stellen noch ein paar Kisten davor, damit man euch nicht sehen kann und dann geht’s los.“ Eile sprach aus seiner Stimme, der Mann wollte diese Sache so schnell wie möglich hinter sich bringen. Desto eher sie die Stadt hinter sich ließen, desto sicherer waren sie. Da sich die drei Zeros dieser Tatsache durchaus bewusst waren, folgte sie der Anweisung ohne zu zögern. Als Igors Blick allerdings auf Ray fiel, runzelte er kurz die Stirn. Der Chinese ignorierte das, er war es gewohnt, dass die Leute ihn wegen seines femininen Aussehens merkwürdig anstarrten. „Lebt wohl“, rief ihnen Spencer noch kurz zu, ehe er eine große Holzkiste hinter ihnen auf den Lastwagen stellte und ihnen damit jedes Licht nahm. „Wir werden uns sicher nie wieder sehen, aber ich wünsche euch viel Glück. Passt auf euch auf! Ian lässt euch grüßen.“ „Keine Sorge, Unkraut vergeht nicht“, rief Tala durch die Kisten zu ihm. Dann spürten sie ein Zittern, das durch den gesamten LKW ging. Der Motor wurde gestartet und mit einem lauten Summen und einem knirschenden Geräusch setzte sich das Monster von Auto in Bewegung. Sie alle atmeten tief durch, verkrochen sich in den Ecken ihres sehr begrenzten, engen Platzes und beteten innerlich, dass niemand sie aufhalten würde und keiner den Inhalt der Anhänger sehen wollte. Mit leerem Blick starrte Ray das Holz der Kiste ihm gegenüber an. Das gleichmäßige Rumpeln des LKWs und das Brummen des Motors hatte ihn in eine Art Trance versetzt. Sie fuhren schon so lange, dass der Langhaarige gar nicht sagen konnte wie lange genau. Vielleicht waren sie erst ein paar Minuten unterwegs, vielleicht schon Stunden oder Tage – er wusste es nicht. Er hatte jegliches Zeitgefühl verloren. Neben sich nahm er den gleichmäßigen Atem seiner Freunde wahr. Seit der LKW gestartet war, hatten sie kein Wort gesagt, aus Angst man könnte sie draußen hören und entdecken. Jedes Mal, wenn der Wagen langsamer wurde, spannten sie sich an, wenn der Wagen jedoch anhielt, hielten sie die Luft an, wagten kaum zu atmen und beteten zu einem unbekannten Gott. Doch jedes Mal fuhr der Wagen nach kurzer Zeit weiter. Wahrscheinlich handelte es sich immer nur um Ampeln oder ähnliches, doch ihr Herzschlag erklomm neue, unbekannte Höhen und die Anspannung war förmlich zu greifen. Angst lag in der Luft. Angst, dass man sie entdecken würde. Angst, dass man sie fangen würde. Angst, dass man sie töten würde. Inzwischen müssten sie Moskau schon längst hinter sich gelassen haben, die größte Gefahr müsste vorüber sein. Dennoch, keiner von ihnen sagte etwas. Was sollte man auch sagen? Was sollte man sagen, wenn man gerade seine einzige Heimat verloren hatte? Was sollte man sagen, wenn man gerade all seine Freunde und die Familie hinter sich lassen musste? Was sollte man sagen, wenn man wie, ein Schwerverbrecher gejagt, in einem LKW flüchtete? Was sollte man sagen, wenn man keine Aussicht auf irgendeine Art von Zukunft hatte? Wenn man nicht wusste, was der nächste Tag, die nächste Stunde bringen würde? Wenn man nichts mehr besaß, nichts hatte, wenn einem nichts weiter gelassen wurde, als das eigene Leben und der eigene Stolz, die man krampfhaft zu retten versuchte? Ray seufzte. Sein Leben war wirklich wunderbar! Er warf einen kurzen Seitenblick zu Kai und Tala. Ein kleines Lächeln schlich sich auf sein Gesicht. Zumindest war er nicht allein. Er hätte nicht gewusst, was er ohne die Beiden gemacht hätte. Und solange sie zusammenblieben, so war Ray überzeugt, gab es noch Hoffnung für sie. Zusammen konnten sie es schaffen: Zusammen konnten sie sich ein neues, friedliches Leben aufbauen! Oh ja, die Beiden waren wirklich wahre Freunde. Nicht so wie Alexey… Ray musste einen tiefen Seufzer unterdrücken. Alexey. Aber wo er gerade an diesen Bastard dachte, da fiel ihm glatt etwas ein. „Kai?“, fragte er leise, nicht sicher, ob der Andere vielleicht schlief, obwohl ihre momentane Lage ziemlich unbequem war und daher weniger zum Schlafen einlud. Aber Tala schien das nicht zu beeindrucken. Er schnarchte sogar leise. Der Rotschopf konnte einfach überall schlafen. „Ja“, antwortete ihm der Graublauhaarige ebenso leise. Vorsichtig rutschte Ray näher an Kai heran, bis sich ihre Schultern berührten, damit sie sich besser unterhalten konnten. „Ich hab an der Lagerhalle Alexey getroffen, er…“ „Verdammter Arsch!“, unterbrach Kai ihn wütend zischend. „Er hat uns das eingebrockt, nicht wahr? Ich hab dir gesagt, er ist gefährlich!“ Leicht zuckte Ray unter der Rüge zusammen. „Ja, aber darum geht es jetzt gar nicht, außerdem hat er mich gehen lassen, ohne mich zu verraten. Aber was ich dir sagen wollte: Er meinte, die Jäger wären in der Lage Zeros zu lokalisieren, wenn diese ihre Kräfte benutzen.“ Kai wurde hellhörig. „Was?“ „Er meinte, Biovolt hat irgendwelche speziellen Satelliten am Himmel. Die können irgendwie die paranormalen Aktivitäten auf der Erde wahrnehmen, sowie die Stärke dieser Aktivitäten. Wenn ein Zero seine Fähigkeiten benutzt, ist die Aktivität wesentlich stärker, als zum Beispiel bei einem Esper und daher können sie wohl ausmachen, wo auf der Erde sich Zeros befinden und wie viele ungefähr.“ „Scheiße!“ „Aber, sie können nicht die genaue Position der Zeros bestimmen, nur die ungefähre… meinte zumindest Alexey….“ „Mmh…“ Ray brauchte Kai nicht anzusehen, um zu wissen, dass dieser Mal wieder die Stirn gerunzelt hatte und scharf nachdachte. „Und das hat dir alles Alexey erzählt, bevor er dich hat laufen lassen…?“ „Ja.“ „Vielleicht ist der Kerl doch gar nicht so übel. Zumindest für einen Jäger.“ Das letzte Wort klang bei Kai wie eine Beleidigung. „Immerhin hat er uns damit gewarnt. Jetzt wissen wir, dass wir unsere BitBeasts nicht nutzen sollten. Damit würde man uns ausfindig machen und unsere Flucht wäre schneller vorbei, als ich Dranzer sagen könnte.“ Leicht nickte Ray. So hatte er das noch gar nicht gesehen! Vielleicht war Alexey doch gar nicht so schlecht… Nein! Der Kerl hatte ihn als Monster bezeichnet! Und das hatte er absolut ernst gemeint! Verräter! „Er hat dir nicht wehgetan, oder?“, fragte da auf einmal Kai, Sorge schwang in seiner Stimme mit. Ray spürte, wie ihm das Blut in die Wangen schoss und mit einem Mal war er für die Finsternis, die in dem Anhänger herrschte, wirklich dankbar. „Also, nein. Nicht körperlich. … Er hat mich, also uns, als Monster und Bestien bezeichnet…“ Kai spannte sich an. „Dieses Arschloch! Vergiss, was ich gerade über ihn gesagt habe, dieser Kerl ist genauso wie die anderen Esper! Ein verräterischer, heuchlerischer Mörder!!!“ Der Hass, der von dem Russen ausging, war fast greifbar. Vorsichtig fasste Ray nach Kais Arm, um ihn zu beruhigen. „Kai…? Kann ich dich mal was fragen?“ „… Klar, warum nicht?“ „Warum hasst du die Esper so?“ Jetzt wandte sich der Ältere vollständig Ray zu. „Was meinst du damit?“, fragte er misstrauisch. Ray schluckte, doch er ließ sich nicht beirren. „Na ja, du hast gesagt, du hasst sie, weil sie angeblich unsere Rasse verraten hätten. Auch Tala hasst sie deswegen. Aber dein Hass ist wesentlich stärker, wesentlich deutlicher. Ich glaube nicht, dass es nur an diesem Verrat liegt. Da steckt doch mehr dahinter…?“ Kai schob den Chinesen etwas von sich weg und starrte ihn nachdenklich an. Ray rutschte unruhig umher, er fühlte sich nicht sonderlich wohl unter dem Blick aus den blutroten Augen, die unheimlich in der Finsternis blitzten. „Brooklyn. Sie haben dir bestimmt von ihm erzählt, oder?“ Erstaunt sah Ray auf. Er hatte nicht mehr mit einer Antwort seines Freundes gerechnet. Brooklin…? Kurz dachte der Schwarzhaarige nach. Ja, der Name sagte ihm was. „Tyson und Max meinten, du und Brooklyn wären beste Freunde gewesen, ihr hättet euch ein Zimmer im Heim geteilt. Aber dann ist Brooklyn plötzlich verstorben.“ „Hmpf. Plötzlich verstorben? Komm schon Ray, sie haben dir erzählt ich hätte ihn umgebracht, stimmt's?“ Rays Wangen färbten sich zartrosa. „Äh… Na ja…“ „Schon okay, mich stört diese Behauptung gar nicht. Immerhin entspricht es ja der Wahrheit.“ „Wa…“ Entgeistert starrte Ray zu dem Russen. Kai hatte Brooklyn getötet? Es klang so irreal, so unwirklich. Der Chinese konnte sich seinen Graublauhaarigen – auch wenn dieser meist etwas reserviert war – nicht als Mörder vorstellen. Vor allem gab dieser es auch so leicht zu. „Schau nicht so geschockt, oder hast du Azat schon wieder vergessen?“, fragte da Kai leicht belustigt. Ertappt zuckte Ray zusammen und starrte zur Seite. Der rothaarige Russe. Talas kleiner Bruder. Ray würde ihn nie vergessen können, auch wenn er es seit damals erfolgreich verdrängte. Doch die Erinnerung lag, nur bedürftig bedeckt, dicht unter der Oberfläche in seinem Kopf, wartete nur darauf heraus zu brechen und ihn zu quälen. Der Langhaarige war in den zwei Wochen nach seiner Entführung öfters nachts hoch geschreckt, schwer atmend und schwitzend. Er hatte oft von Azat geträumt, von dem was dieser getan hatte und von dem, was dieser noch hatte tun wollen. Doch inzwischen waren auch die Träume verschwunden, sehr zu Rays Erleichterung. Aber es stimmte. Der Rothaarige war Kais Wut, Kais Zorn zum Opfer gefallen. Der Graublauhaarige hatte Azat getötet, ohne mit der Wimper zu zucken. Könnte er das Gleiche mit Brooklyn getan haben? „Und warum?“, fragte Ray schließlich, dazu bereit den Gedanken zu akzeptieren, dass Kai ein mehrfacher Mörder war. Azat hatte er schließlich auch nicht grundlos umgebracht, sicher gab es auch bei Brooklyn Gründe, oder? Ray hoffte es, sonst wüsste er nicht, wie er mit Kai zukünftig umgehen sollte. „Vor zweieinhalb Jahren sind meine Eltern gestorben und ich bin in das Heim gekommen. Nur ich. Du musst wissen, ich hatte noch einen Bruder, aber er war schon zu alt, um im Waisenhaus aufgenommen zu werden, aber auch zu jung und mittellos, um mich aufnehmen zu können. Ich habe ihn anfangs ziemlich vermisst. Wir waren immer zusammen gewesen, die Trennung von ihm war fast noch schmerzlicher für mich, als der Tod meiner Eltern. Aber er hat sich eine kleine Wohnung in der Nähe gesucht, daher hab ich ihn oft besuchen können. Damals war ich sechzehn…“ Kais Stimme hatte einen etwas weltfremden Klang angenommen. Ray hörte deutlich, dass der Graublauhaarige in Erinnerungen schwebte, daher schwieg er und wollte ihn nicht stören. Dennoch wartete er gespannt darauf, dass Kai weitererzählte. Schon die Tatsache, dass Kai einen Bruder hatte – oder gehabt hatte – war neu für ihn. Und es interessierte ihn ungemein. „Brooklyn war achtzehn, zwei Jahre älter. Er hat mir anfangs im Heim sehr geholfen, wir haben viel zusammen unternommen. Wir waren in der Stadt, in unserem Trainingswald, den mir Brooklyn erst gezeigt hat und auch sehr häufig bei meinem Bruder. Auf meinen Wunsch hin natürlich. Die Beiden konnten sich nicht leiden, warum hab ich nie verstanden. Damals war ich eindeutig noch zu naiv. Heute weiß ich, dass Brooklyns Aufmerksamkeit mir gegenüber weit mehr als freundschaftlicher Natur war. Es war Besessenheit. Der Kerl war der Meinung, er hätte sich in mich verliebt und deshalb der Ansicht, ich würde nur ihm gehören. Damals hab ich das nicht gesehen. Mein Bruder sah es. Er hat Brooklyn gedroht, ihn gewarnt, mir nicht zu nahe zu kommen. Aber Brooklyn wollte davon nichts wissen. Im Gegenteil, jetzt hat er meinen Bruder als potentielle Gefahr für unsere Beziehung gesehen. Ein Beziehung, die, von meiner Seite aus, nie bestand. Er fing an meinen Bruder zu beobachten, um ihn von mir zu trennen. Und dadurch hat er etwas erfahren, was für immer geheim bleiben sollte…“ Kais Stimme wurde immer leise, verlor sich am Ende ganz. „Was?“, fragte Ray, als er sicher war, dass der Russe von selbst nicht weitererzählen würde. Erschrocken sah Kai auf, starrte Ray an, als wäre dieser eine Erscheinung, als würde Kai ihn erst jetzt bemerken. Kurz räusperte er sich. „Mein Bruder war ebenfalls ein Zero. Ein starker sogar, sein BitBeast hieß Falborg, sein Element war der Wind. Als Brooklyn das sah, ist er sofort zu Biovolt gerannt. Das Schwein hat meinen Bruder verraten.“ Kais Stimme triefte vor Hass, sein Körper zitterte jetzt vor Zorn. „Und Biovolt hat natürlich sofort ein paar Jäger geschickt. Innerhalb von zwei Tagen war mein Bruder tot. Ich habe es erst später von einem Jäger erfahren, der kontrolliert hat, ob ich auch ein Zero bin. Zum Glück konnte ich ihn vom Gegenteil überzeugen. Ich habe nie erfahren, wer genau meinen Bruder auf dem gewissen hat, doch wer auch immer, er wird dafür bezahlen. Irgendwann finde ich den verantwortlichen Jäger und dann wird er zahlen! … Die Leiche meines Bruders, ich werde ihren Anblick nie vergessen. Er lag in einer Lache aus Blut, seinem Blut.“ Kurz rang Kai um Fassung, fing sich aber schnell wieder. „Dass Brooklyn ihn verraten hat, habe ich erst drei Wochen später von ihm persönlich erfahren. Ich glaube nicht, dass er es mir je verraten wollte, aber es ist ihm bei einem unserer Ausflüge irgendwie rausgerutscht. Und ich habe endgültig die Kontrolle verloren. Ich war so voller Hass und Wut, dass ich auf ihn losgegangen bin. Weißt du, es wird gesagt, dass Verrückte manchmal immense Kräfte entwickeln können. Ich glaube, in so einem Zustand befand ich mich damals, sonst hätte ich Brooklyn nie ohne Dranzer töten können. Doch alles, was ich zu jenem Zeitpunkt gefühlt habe, war dieser brennende Rachedurst. Brooklyn wusste wahrscheinlich gar nicht was ihn traf. Als ich gesehen hatte, was ich getan hatte, war ich verzweifelt. Ich wollte die Leiche verbrennen, um sie verschwinden zu lassen und rief Dranzer.“ Kais Blick glitt zu Tala, der noch immer in seiner Ecke leise schnarchte. „Aber Tala hat mich aufgehalten. Ich kannte ihn vorher gar nicht, für mich war er bis dahin nur jemand gewesen, der in meine Klasse ging. Doch Tala hat den Mord beobachtet und auch Dranzer gesehen. Ich wurde panisch. Tala rief Wolborg. Du glaubst gar nicht, wie geschockt ich war, einen anderen Zero zu treffen. Er hielt mich davon ab, Brooklyns Leiche zu verbrennen, da sein Verschwinden mehr Aufmerksamkeit auf sich ziehen würde, als seine Ermordung. Tala gab mir auch ein Alibi, erzählte er Polizei, wir hätten zusammen Hausaufgaben gemacht oder so… Ich weiß nicht, was ich ohne ihn getan hätte…“ Nun sah Kai wieder Ray in die Augen. Er lächelte leicht. „Das war auch der Beginn der Demolitionboys. Ian und Spencer kamen nur wenig später dazu.“ Leicht nickte Ray. Die Geschichte hatte ihn nachdenklich gemacht, ihm gezeigt, wie wenig er doch eigentlich über seine zwei besten und einzigen Freunde wusste. Aber eine Frage hatte er noch. „Wie hieß dein Bruder eigentlich?“ Kai, der sich bereits mit geschlossenen Augen einen halbwegs bequemen Platz gesucht hatte, um scheinbar ein bisschen zu schlafen, murmelte leise: „Bryan.“ „Bryan…“, wiederholte Ray den Namen flüsternd. Eng drückte er seine Tasche an sich. Irgendwie erinnerte ihn der Name an etwas… achat Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)