Fremd von abgemeldet ================================================================================ Kapitel 9: Kapitel 9 -------------------- 9. Kapitel Mit weit aufgerissenen Augen beobachtete Ray, wie Azat einen einfachen aber scharfen Dolch aus seinem Gürtel zog und ihn in seinen Händen drehte. Der Blick des Rothaarigen war nachdenklich auf die Waffe gerichtet, als er erneut sprach. „Weißt du, es war immer unheimlich schwer, Kai zu erreichen. Mit roher Gewalt kommt man nicht gegen diesen beschissenen Esper an, doch auch mental ist Hiwatari so gut wie unangreifbar. Das einzige, was ihm je etwas bedeutet hat, war seine Gang, die Demolitionboys. Doch jeder von ihnen ist ein Esper, daher ist es auch kompliziert, ihn mit ihnen zu verletzen. Und leider sind diese Hexer auch so verdammt loyal!“ Azats Stimme klang aufgebracht, wütend, frustriert. Doch dann lächelte er plötzlich wieder und sein Blick richtete sich auf Ray. „Aber du hast mir ganz neue Möglichkeiten geöffnet… Was meinst du, wird Kai wohl tun, wenn er erfährt, dass dir etwas passiert ist? Und das es seine Schuld ist? Ob es ihn interessiert? Oder ob es ihm egal ist?“ Langsam hob er den Dolch und fuhr mit der Klinge sanft über Rays Wange, doch sie war scharf genug, um einen dünnen Schnitt zu hinterlassen aus welchem einige Tropfen Blut quollen. Ray presste seinen Kiefer fest zusammen, unwillig, ein Geräusch von sich zu geben. „Ich bin mir nicht sicher, aber ich glaube, Hiwatari gehört zu jener Sorte Mensch, die man am ehesten verletzen kann, indem man sie mental fertig macht, ihren Kampfgeist langsam bricht. Dann sind sie am schwächsten und dann kann man sie endgültig platt machen.“ Ich will hier raus, flehte Ray im Stillen. Dieser Kerl war doch irre! Dann akzeptiere mich endlich, sonst kann ich dir nicht helfen! Kurz abgelenkt durch die fremde und doch so bekannte Stimme in seinem Kopf, konnte er auf Azats plötzliche Bewegung nicht reagieren. Ehe sich der Chinese versah, spürte er, wie die Lippen des Rothaarigen brutal auf seine gepresst wurden. Durch den Schwung schlug Rays Kopf heftig gegen die hinter ihm liegende Wand. Für einen kurzen Augenblick wurde ihm Schwarz vor Augen, doch er fing sich glücklicherweise schnell. Gerade wollte er Azuat von sich stoßen, als ein weiterer, diesmal wesentlich heftigerer Schmerz, ihn aufkeuchen ließ. Azat hatte ihm den Dolch in die Seite gerammt. In dem Moment, in dem Ray seine Lippen einen Spalt weit öffnete, drang die Zunge des Rothaarigen in Rays Mündhöhle und erforschte sie rücksichtslos. Dieses Mal konnte Ray ein Wimmern nicht unterdrücken. Der Schmerz ließ ihn Sterne sehen und über diese fremden Lippen wollte er gar nicht nachdenken. Er wusste zwar nicht, ob er schon Mal jemanden geküsst hatte, vielleicht sogar Sex gehabt hatte, doch wenn er nach seinen tatsächlich vorhandenen Erinnerungen ging, dann war das hier sein erster Kuss. Und er entsprach bestimmt nicht seinen Vorstellungen. Endlich, nach Stunden wie es schien, ließ der Russen von ihm ab und schwer atmend und leise wimmernd sank Ray auf die Knie, sich mit einer Hand seine verletzte Seite haltend. Er konnte das Blut zwischen seinen Fingern rinnen spüren. Es war klebrig. Fahrig fuhr er sich mit der Zunge über die Lippen. Er blinzelte, als er auch hier etwas Merkwürdiges schmeckte. Seine andere Hand fuhr zu seinem Mund und berührte ihn, er zuckte zusammen und als er seine Finger betrachtete, sah er noch mehr von der roten Flüssigkeit an ihnen. Der Rothaarige musste seine Lippen aufgebissen haben, doch vom Schmerz in seiner Seite abgelenkt hatte der Langhaarige nichts gespürt. Ängstlich sah er nach oben, zu seinem Peiniger. Azat wirkte sichtlich zufrieden, besonders als er diesen Ausdruck der Angst in den Augen seines Opfers sehen konnte. Er war ihm vollkommen ausgeliefert. „Ach, ich hab glaub ich, vergessen, etwas zu erwähnen. Siehst du die kleine Kamera da? Sie nimmt ganz brav alles auf, was hier passiert. Schließlich wirst du es Kai nicht mehr erzählen können, wenn ich mit dir fertig bin und wir wollen doch, dass dieser Esper trotzdem die Wahrheit erfährt, nicht?“ Ray schauderte bei dem Gedanken, dass Azat wirklich alles filmte, doch noch mehr bei dem Gedanken daran, was der Rothaarige gerade angedeutet hatte. Das brachte den Chinesen dazu, sich schwer atmend wieder zu erheben. Leicht gekrümmt stand er schließlich wieder vor Azat, Schweiß glänzte auf seiner Stirn. Gib nicht auf. Nein, er würde nicht aufgeben und ganz bestimmt auch nicht hier sterben! „Was hast du jetzt vor?“, fragte er mit zittriger Stimme. „Ah, ich bin froh, dass du das fragst“, sagte Azat. „Weißt du, du brauchst keine Angst zu haben. Als die Hure, die du zu sein scheinst, wirst du sicher denken, ich wäre auch nur hinter deinem Körper her, doch da muss ich dich enttäuschen. Ich bin nicht so abartig schwul. Obwohl Hiwatari das sicher noch mehr verletzen würde.“ Hier verzog sich Azats Gesicht angeekelt. Allein der Gedanke an das Thema Homosexualität schien ihm Übelkeit zu bereiten. Doch Ray atmete erleichtert aus. Wenigstens das blieb ihm erspart. „Obwohl der Kuss ja ganz nett war. Aber nein, ich begnüge mich damit, die nur langsam die Haut abzuziehen und dich Stück für Stück auseinander zu nehmen.“ Na gut, das waren auch keine erfreulichen Aussichten. Er musste hier raus, egal wie! Der Chinese beobachtete, die Azat sich in scheinbarer Sicherheit wiegend, die Hand, die den Dolch hielt, neben seinen Körper sinken ließ. Ray spürte das Adrenalin, dass durch seine Adern gepumpt wurde, die Anspannung, die ungewöhnlich gute Konzentration. Das musste er nutzen, jetzt war seine einzige Chance. Ohne Vorwarnung spannte Ray seinen ganzen Körper an, stieß sich von der Wand hinter ihm ab und schoss nach vorne, rammte den Zueva und schleuderte ihn mit Gewalt zu Boden. Der Rothaarige keuchte erschrocken auf und Ray konnte sehen, dass dieser sich ebenfalls den Kopf gestoßen hatte. Gut, das erkaufte ihm vielleicht etwas Zeit. Eilig rappelte er sich wieder auf, den Schmerz ignorierend, und stürmte zur Tür. Doch er war unaufmerksam gewesen. Ein plötzlicher Ruck ging durch seinen Körper, als sein Knöchel festgehalten wurde und der Langhaarige stürzte zu Boden. „Scheiße, du bist ja ein richtiges kleines Biest“, knurrte Azat aufgebracht, während er aufstand. Mit leicht schmerzverzerrtem Gesicht rieb er sich den Hinterkopf. Dann sah er auf Ray hinab. Sein Blick war stechend. Ray dagegen kauerte erschöpft auf dem Boden. Der Adrenalinrausch hatte nachgelassen und seinem ganzen Körper jegliche Kraft geraubt. Sein Atem ging schwer, er keuchte und hechelte, den Blick zu Boden gerichtet. Das Blut rann nun auch über sein Gesicht, er hatte sich bei dem Sturz erfolgreich die Stirn aufgeschürft, außerdem manifestierte sich sein Verdacht, dass auch sein Hinterkopf mehr als nur eine Beule als Schaden aufwies. Das war’s. Er hatte es nicht geschafft. Er hatte versagt. Er würde hier sterben. Langsam hob er den Kopf, sein Blick tastete sich von Azats Füßen seine Beine und seinen Oberkörper entlang, bis er bei seinem Gesicht hängen blieb. Der Blick des Rothaarigen ließ Ray nur noch mehr verzweifeln. Er fühlte sich wie ein Reh, dass gerade von einem Wolf in die Ecke gedrängt würde und nur hoffen konnte, dass der Wolf ihm schnell die Kehle durchbiss, damit es nicht ganz so lange leiden würde. Doch diese Hoffnung hatte Ray nicht. Doch Azat hatte bereits klar gemacht, dass er ihn leiden lassen würde, jetzt wahrscheinlich umso mehr. Ein Teil seines Gehirnes nahm den Lärm wahr, der draußen plötzlich aufgekommen war, doch nur sein Unterbewusstsein registrierte es wirklich. Geschlagen schloss Ray die Augen. Azats Lippen kräuselten sich zu einem zufriedenen Lächeln, als er sah, wie der Widerstand des Chinesen brach. „Du gibst also auf? Das ist gut. Das macht vieles einfacher.“ Ray hörte, wie der Rothaarige den Abstand zwischen ihnen Überwand, konnte den Luftzug der Bewegung spüren. Es ließ das Blut in seinen Adern gefrieren. Das war wohl sein Ende. Bitte! Akzeptiere mich! Lass mich dir helfen! Er hörte diese Stimme in seinem Kopf erneut flehen, doch jetzt störte es Ray nicht mehr, dass er scheinbar verrückt wurde. Es war eh alles egal. Wenn alles egal ist, dann hör auf, dich so gegen mich zu sträuben und lass mich zu! Gut, was konnte es jetzt noch schaden? Also gut, du Stimme in meinem Kopf, dann hilf mir halt, dachte Ray. Mal sehen, was du besser kannst als ich. Und kaum hatte Ray diesen Gedanken zu Ende gedacht, begann sein ganzer Körper zu Kribbeln. Das Gefühl glich dem, dass er bei Azats letztem Angriff verspürt hatte, nur schien es tausendfach stärker. Und plötzlich begriff er, was das bedeutete. Das Kai Recht gehabt hatte. In Allem. „Oh Scheiße“, flüsterte er erstickt. Und der ganze Raum wurde von einem strahlenden Licht erfüllt. „Da ist es! Azats zweites Versteck! Hierhin hat er Kon gebracht, da bin ich mir ganz sicher!“ Leicht außer Puste blieben Michael, Kai und Tala an einer einsamen Kreuzung stehen. Der Blonde zeigte um die Ecke auf eine Reihe alter Häuser, grau, drei Stockwerke hoch und ziemlich verfallen. Eindeutig unbewohnt. „Ich seh schon“, murmelte Kai mit einem Blick auf den Jungen, der scheinbar als Wachposten vor dem noch am besten erhaltenen Haus stand. Gelangweilt lehnte er an der Wand und starrte ins Blaue, eine ziemlich krumme Melodie ziemlich laut summend. Anscheinend rechnete er nicht mit Problemen. Schlecht für ihn, gut für sie. „Was habt ihr jetzt vor? Da drin sind noch mindestens zwei weitere von Azats Leuten. Wollt ihr versuchen, euch von hinten anzuschleichen?“ Kai ignorierte Michael total und konzentrierte sich nur auf das Haus und den Wachposten. Tala dagegen grinste den Blonden breit an. „Uns von hinten anschleichen?“, fragte er belustigt. „Du scheinst uns aber sehr zu unterschätzen. Bleib einfach hier und warte, dann wirst du schon sehen.“ „NEIN!“ Plötzlich sahen sich Michael und Tala einem /sehr/ ernsten Kai Hiwatari gegenüber. Grob packte er Michael an der Schulter und zwang ihn, ihm in die Augen zu sehen. Der Blonde schluckte überrascht. „Du wirst jetzt von hier verschwinden, sofort! Verstanden? Danke, dass du uns hier her gebracht hast, aber jetzt wirst du nicht mehr gebraucht. Glaub mir, es ist wirklich besser für dich. Geh zurück zu deiner Bande und sag ihnen, dass sie einen neuen Anführer brauchen. Das ist für dich jetzt wichtiger, verstanden Parker?“ Hastig nickte Michael. Der Graublauhaarige machte ihm Angst. „Gut“, knurrte Kai zufrieden und beobachtete dann, wie der blonde Russe sich schnellstmöglich aus dem Staub machte. „Wie können hier keine zeugen gebrauchen“, erklärte er dann Tala, welcher ihn fragend ansah. „Oh.“ Verständnis breitete sich auf den Zügen des Rothaarigen aus. „Da hast du natürlich Recht.“ Ohne zu zögern traten sie aus dem Schatten der Gasse, in der sie sich verborgen gehalten hatten und liefen gemächlichen Schrittes auf den armen All Star zu, der noch immer seine krumme Melodie summte. Erst, als die Beiden ihn schon fast erreicht hatten, blickte er auf und bemerkte sie. Seine Augen weiteten sich überrascht, doch es war bereits zu spät. Mit einem schnellen Satz nach vorne erreichte Tala den Wachposten in Sekundenbruchteilen und schickte ihn mit einem gezielten Schlag schlafen. „Das dürfte ne Weile reichen“, bemerkte Kai gefühllos und schob den leblosen Körper mit den Füßen von der Tür weg. „Und jetzt geh aus dem Weg, die Tür übernehme ich.“ Tala trat wie aufgefordert zur Seite. Da wollte er nicht in die Schusslinie kommen. „Aber pass auf, die Tür scheint erstaunlich stabil zu sein“, warnte er noch, doch Kai grinste nur diabolisch. Langsam hob er die Hand. „Kein Problem für uns, oder Dranzer?“ Nein. Die drei All Starz wussten gar nicht, was ihnen geschah, als die Haustür unter einen gewaltigen Explosion zu Bruch ging, begleitet vom lauten Schrei eines unbekannten Vogels. Einige Flammen züngelten noch am Türrahmen hinauf, als Kai dicht gefolgt von Tala hindurch traten. Die roten Augen des Graublauhaarigen leuchteten wie die eines Feuerdämons. „Wo ist Ray?“, fragte er mit schneidender Stimme. Die Anwesenden sahen sich kurz ängstlich an, unsicher, was sie tun sollte. Eigentlich wäre es ihre Aufgabe, solche Eindringlinge abzuhalten, doch wer wollte sich bitte mit den Beiden anlegen. „Wo ist er?“, wiederholte Kai sich noch mal, die Frage kam abgehackt, drohend. Seine Faust hob sich und leuchtete beängstigend, ja, schien fast zu brennen. Zitternd hob einer der All Starz seinen Arm und deutete auf die Kellertür. „Er… er ist da … unten. Mit Azat…“ Bei der Erwähnung des Rothaarigen verdunkelten sich Kais Augen nur noch mehr und auch Tala spannte sich an. Ohne weiter auf die flüchtenden All Starz zu achten, gingen sie die schmale Kellertreppe vorsichtig hinunter. Auch wenn Kai sich beeilen wollte, doch der morsche Zustand der Treppe ließ es nicht zu. Es brachte niemandem etwas, wenn er sich jetzt seine Knochen brach. Ein heiserer Schrei ließ ihn heftig zusammenzucken. Das war Ray! „Verdammt“, fluchte er zwischen zusammengekniffenen Lippen machte einen überhasteten Schritt. Dabei rutsche er in eines der vielen Löcher der Treppe. Erschrocken so er die Luft ein und wartete auf einen heftigen Schmerz, doch Tala reagierte noch rechtzeitig und packte ihn am Oberarm, zog in vorsichtig wieder hoch. „Pass auf du Idiot! Werd jetzt nicht unvorsichtig!“, murmelte er strafend. Kai nickte. Vorsichtig gingen sie weiter, noch einmal um die Ecke, dann konnten sie das Ende der Treppe sehen. Beinahe erleichtert atmete Tala aus. Wie hatten die es nur geschafft, den Chinesen hier runter zu bringen? „Hey, wie kommt ihr hier her?“, rief da jemand von unten. Noch eine Wache. Der große, stämmige Russe stürmte nach vorne, um sie anzugreifen, Kai machte sich gerade zu Verteidigung bereit, als plötzlich ein gleißendes Licht den dunklen Keller erhellte. Kai und Tala kniffen überrascht die Augen zusammen, rührten sich aber geistesgegenwärtig nicht vom Fleck. Der Wachposten dagegen, noch mitten in der Vorwärtsbewegung, stolperte vor Schreck und fiel den Demolitionboys hilflos vor die Füße. Ohne Rücksicht schickte Kai auch ihn ins Reich der Träume. „Das Licht, kann es sein, dass…?“, fragte Tala fassungslos, Kai nickte stumm. „Das ist wirklich eine Überraschung.“ Endlich die gefährliche Treppe überwunden stürmten sie zu der halb offenen Türe, aus der das Licht kam. Was sie sahen, ließ Kai das Blut in den Adern stocken. Leicht blinzelte Ray, ungläubig, was gerade geschah. Das Licht ebbte relativ schnell ab und erlaubte dem Chinesen, wieder etwas zu sehen. Azat war von einer Druckwelle gegen die Wand geschleudert worden, ganz so, wie damals Michael und die anderen zwei Russen, die Ray gestern angegriffen hatten. War das wirklich erst gestern gewesen? Es erschien Ray wie Jahre. Der Rothaarige hatte sich allerdings schnell wieder auf die Beine gekämpft, ebenfalls fassungslos. Jetzt starrte er mit weit aufgerissenen Augen auf die Gestalt, die zwischen Ray und ihm stand. Auch der Chinese war gebannt von ihr. Ein majestätischer Tiger stand stolz und erhobenen Hauptes vor dem Schwarzhaarigen, die Zähne gebleckt, leicht knurrend und die scharfen Krallen ausgefahren. Trotz der Tatsache, dass er fast durchsichtig war, konnte man jedes Detail an ihm, jedes glänzende Haar seines weißen Felles und das stürmische Funkeln in seinen Goldenen Augen, erkennen. Ray verstand nicht, doch auf einmal fühlte er sich besser. Die Schmerzen in seinem Körper erschienen nur noch halb so schlimm und all das Furchtbare, was Azat ihm angetan und angedroht hatte, all der Schrecken, geriet fast in Vergessenheit, schien furchtbar Unwichtig auf einmal. Und vor allem Anderen fühlte Ray sich unverständlich sicher. „So einer bist du also!“, zischte Azat da aufgebracht. Hass glänzte in seinen Augen. „Du bist nicht nur ein gottverdammter Esper, sondern so … /ein Ding/!“ Ray zuckte zusammen. Er verstand die Worte des Rothaarigen nicht, sie machten keinen Sinn für ihn, doch er verstand, dass Azat ihn plötzlich nicht mehr als Mensch ansah. „Ich hätte nicht gedacht, dass es so weit kommt, aber es sieht ganz so aus, als hätte ich keine andere Wahl“, murmelte der Russe zu sich selbst und zog etwas aus seiner hinteren Hosentasche hervor. Ray stockte der Atem, als er die sauber alte, aber mit Sicherheit noch funktionstüchtige Pistole erblickte, die Azat nun auf ihn richtete. Der Tiger knurrte aufgebracht, fletschte die Zähne und spannte die Muskeln an. Er war zum Sprung bereit. Azat löste die Sicherung und zielte nun eindeutig auf die Brust des Chinesen. Ray konnte sich nicht rühren. Er war unfähig, aufzustehen, seine Verletzung schwächte ihn enorm und der Blutverlust machte sich ebenfalls langsam bemerkbar. Sein Kopf fühlte sich ungewöhnlich leicht und schwerelos an. Azats Grinsen wurde breiter, Wut und Hass mischten sich mit Wahnsinn, hinterließen nichts als Zerstörung und Chaos. „Auf Wiedersehen, Ray Kon“, flüsterte er. Plötzlich entspannte sich der weiße Tiger, der bis eben noch eindeutig zum Angriff bereit gewesen war. Ray sah sein letztes Stündchen damit gekommen, seine einzige Hoffnung war dieses Tier gewesen, dessen Herkunft ihm allerdings noch schleierhaft war, genauso wenig, wie das Veretrauen, dass er ihm gegenüber verspürte. Auch Azat war durch diesen plötzlichen Sinneswandel des Tigers kurz abgelenkt, ein paar Millisekunden, doch sie reichten. Plötzlich schrie er los. Mit weit aufgerissenen Augen starrte Ray die Pistole in den Händen des Rothaarigen an. Sie glühte. Nein, sie brannte! Aber sie war aus Metall! Wie zum Teufel konnte Metall brennen? Das ging nicht! So etwas war nicht möglich! Wie vieles von dem, was du in den letzten Tagen erlebt hast, deiner Auffassung nach nicht möglich sein sollte - und doch ist es passiert. Ja, da hast du Recht, dachte Ray. Das brennende Stück Metall - inzwischen war von der einstigen Pistole nichts mehr zu erkennen, es war nur noch ein Klumpen halbflüssigen Eisens – fiel klatschend zu Boden. Das allein gab Ray eine vage Vorstellung davon, wie heiß dieses Feuer sein musste. „Ich habe dich gewarnt, Zueva, und dieses Mal bist du zu weit gegangen!“ Der Rothaarige drehte sich zur Tür um und auch Rays Blick wanderte dorthin. Da stand er. Kai. Eine Hand erhoben. Und irgendwie hatte der Chinese das Gefühl, dass Kai etwas mit dem Feuer zu tun hatte… Doch das machte keinen Sinn! Nirgends in den Büchern, die er zum Thema Esper gelesen hatte, stand etwas von derartigen Fähigkeiten. Wie also konnte das möglich sein? „Du“, presste Azat hervor, sich die verbrannte Hand haltend. „Ja, ich. Aber ich bin nicht allein.“ Tala trat nun aus dem Schatten, schob sich an Kai vorbei und ging, gebührend Abstand haltend, an Azat vorbei. Bei dem weißen Tiger hielt er kurz an, sah ihm fragend in die Augen. Würde Ray es nicht besser wissen, würde er denken, die beide würden sich unterhalten. Aber dann wieder: Wusste er es denn besser? Plötzlich löste sich der Tiger auf, schien in hunderte und tausende kleine Lichtpartikel zu zerfallen, bis nichts mehr von ihm übrig war. Tala trat zu Ray und beugte sich hinunter. Er musterte den noch immer schwer atmenden Chinesen. „Kannst du aufstehen?“, fragte er sachlich. Nein, wollte Ray sagen, doch sein Stolz ließ es nicht zu. Also kämpfte er sich wortlos mühsam hoch, unter dem zweifelnden Blick des Russen. Als er sein Gewicht jedoch auf das Bein verlagerte, auf dessen Seite ihm Azat den Dolch in den Körper gerammt hatte, knickte er mit einem kleinen Aufschrei zusammen. Tala fing ihn ohne Schwierigkeiten. „Lass mal, wie sind nicht zu deiner Rettung gekommen, nur um dich wegen deinem Stolz sterben zu sehen. Es tut nicht weh, Hilfe zur Abwechslung auch einmal anzunehmen.“ Und damit hob Tala den kleineren Langhaarigen auf seine Arme und trat zu Kai. Azat hatte alles schweigend beobachtet. „Und, was habt ihr jetzt vor?“, fragte er leicht kichernd. Tala zog die Stirn kraus, doch Kai hob lediglich erneut seinen Arm. „Weißt du, Azat, seit ich dich kennen gelernt habe, wollte ich dir jemanden vorstellen. Ich denke, jetzt ist endlich der richtige Zeitpunkt gekommen“, sagte er ruhig, doch seine Stimme war voller Hass. „Zeig dich, Dranzer!“ Und Kais Hand, nein, sein ganzer Arm schien in Flammen gehüllt. Ray keuchte erschrocken auf, doch Tala hielt ihn fest. „Keine Sorge“, wisperte er dem Chinesen beruhigend ins Ohr. Das Feuer schien sich um Kais Hand zu konzentrieren und nahm langsam Formen an. Ein Vogel stieg daraus hervor, er wurde größer, sein Körper schien aus Flammen zu bestehen. Schließlich löste er sich ganz von Kais Hand und stieg in die Mitte des Raumes auf. Er sah so aus, wie Ray sich einen der sagenhaften Phönixe vorstellen würde. Ja, so sah er aus, wie ein Phönix. Dranzer stieß einen hohen Schrei aus. Azats Körper begann unkontrolliert zu zittern. Dann brach er in schallendes Gelächter aus. „Ich wusste es! Ich wusste es! Ich wusste es! Von Anfang an! Aber es wollte ja keiner auf mich hören! Aber jetzt hab ich den Beweis, jetzt wird es die ganze Welt erfahren! Hihi…“ Das Kichern des Rothaarigen war krank, der Ausdruck in seinem Gesicht verzerrt zu einer hässlichen Maske. Ray Hände krampften sich in Talas Shirt, aber auch der war angespannt. „Tala?“, fragte Kai. Es klang, als bitte er um Erlaubnis. Tala seufzte schwer und wandte seinen Kopf ab. „Nur zu“, meinte er. Der Schmerz in seiner Stimme war zu hören. „Diese /Person/ hat es nicht anders verdient.“ Der Graublauhaarige nickte. Dann schoss der Feuervogel von der Decke hinab und stürzte sich auf den noch immer lachenden Azat. Das Lachen wurde zu einem Gurgeln, das Gurgeln zu einem Schreien, die Schreie verebbten, bis nur noch das knisternde Geräusch des verbrennenden Körpers zu hören war und der Gestank von verbranntem Fleisch die Luft verpestete. Ray würgte. Er sah zwar nicht, was geschah, denn der Tala drückte sein Gesicht fest gegen seine Brust, doch er hörte es … und er roch es. Die Augen waren vor grauen weit aufgerissen, als er begriff, was hier passierte und auch er zitterte am ganzen Körper. „Auf Wiedersehen, Bruder“, flüsterte Tala und obwohl die Worte ganz leise gesprochen waren, vernahm Ray sie. Und er begriff. Er begriff die Ähnlichkeit in ihrem Aussehen, er begriff, warum Kai Tala um Erlaubnis gebeten hatte und er begriff den Schmerz in Talas Stimme. Tala Ivanov und Azat Zueva waren Brüder gewesen. Und jetzt vermochte Ray nicht mehr, die Tränen zu unterdrücken. Die ganze Zeit hatte er es geschafft, keinen Tropfen des salzigen Wassers zu vergießen, doch jetzt brachen sie in Sturzbächen aus seinen Augen. Mit einem Schluchzer krallte er sich noch fester in Talas Shirt und drückte seinen Kopf fest an die Brust des Rothaarigen. Er wollte nichts mehr sehen, nichts mehr hören. Es war alles zu viel. Der Schmerz in seinem Körper und der Schmerz in seinem Inneren. Kaum nahm Ray wahr, wie Tala ihn zurück ins Freie trug, wie Kai erst den noch immer bewusstlosen Wachposten von der Tür wegschleppte und dann das ganze Haus mit einem Handwedeln in Brand setzte. Ray war nicht bewusst, wie lange die beiden Russen da standen und beobachteten, wie das zweite Versteck Azat Zuevas in Flammen aufging, wie die Asche des Gebäudes sich mit der Asche des Leaders der All Starz mischte und die ausgebrannte Ruine letztendlich zu seinem Grab wurde. Als in der Ferne die ersten Sirenen der Feuerwehr zu hören waren, drehten Tala und Kai zusammen mit Ray dem noch immer brennenden Gebäude den Rücken zu und verschwanden langsam wieder im Gewirr der schmalen Gassen Moskaus. achat Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)