Shadows of the NewMoon von Darklover ================================================================================ Kapitel 51: 52. Kapitel ----------------------- Sein Zeigefinger zog hauchzarte Kreise auf ihrem flachen Bauch. Beinahe hätte man glauben können, die violett-roten Verfärbungen spüren zu können. Doch egal wie schlimm Amandas Bauch auch aussah, er fühlte sich weich, glatt und warm an. Als bräuchte man nur die Augen zu schließen, um all die schlimmen Dinge vergessen zu können, die mit ihrem Körper passiert waren. Nataniel seufzte lautlos. Er hatte nach einer Weile der blutigen Träume nicht mehr schlafen können und so wie es aussah, war er irgendwie auch sein Shirt losgeworden, ohne zu wissen, wie das passiert war. Vermutlich war ihm zu heiß gewesen. Im Gegensatz zu Amanda, die zwar ab und zu unruhig wurde, aber da er sich so unauffällig wie möglich verhielt, nicht aufwachte. Er wollte auch gar nicht, dass sie schon den Schlaf unterbrach. Sie brauchte sicher Ruhe und wenn er es gekonnt hätte, er hätte sie so lange ans Bett gefesselt, bis jede Blessur an ihrem Körper völlig verschwunden war. Stattdessen musste er fürchten, schon bald noch Schlimmeres an ihr zu sehen. „Verdammt, ich halt das nicht aus.“, flüsterte er kaum hörbar und vergrub sein Gesicht in seinem Arm, während sich nun seine flache Hand auf Amandas Bauch legte und er nur noch mit dem Daumen darüber streichelte. Zu wissen, dass das da unter seiner Handfläche nicht nur Amanda, sondern auch ihr gemeinsames Kind war, schmerzte nur noch mehr. Er könnte sie beide verlieren. Noch nie in seinem Leben war Nataniel so verzweifelt gewesen und obwohl er fast daran zu ersticken drohte, konnte er zum ersten Mal nicht einfach seine Gefühle frei heraus lassen und offen zeigen. Er musste sich zusammen reißen. Wie sie alle es mussten, um in diesem Kampf bestehen zu können, aber nie war etwas schwerer für ihn gewesen als das. Langsam hob er seinen Kopf, schmiegte seine Stirn an Amandas Seite, so dass seine Nase tief ihren Duft einsaugen konnte und nahm vorsichtig ihre Hand, um sie auf seinen Kopf zu legen. Auch wenn er es nicht sagen konnte und auch nicht zugeben durfte, er brauchte in diesem Augenblick Trost, obwohl es ihnen beiden im Augenblick daran ziemlich mangelte, wenn man bedachte, dass keiner ein Wunder bewirken konnte und Trost somit lediglich eine Illusion blieb. Aber eine die besser war als überhaupt nichts. Immer wieder schreckte Amanda hoch, riss die Augen weit auf, um dem Horror zu entkommen, der sich in ihrem Hirn so real abgespielt hatte. Aber da war nichts als Dunkelheit, in der sie die Albträume mit Angst und Schrecken zurückließen. Wie sehr Amanda dieses Gefühl doch hasste. Es nicht ganz abschütteln zu können, weil der Geist so viel schwächer schien als der müde Körper, der nichts anderes wollte, als wieder die Augen zu schließen. Auch wenn das hieß in das blutige Massaker zurückzukehren, das Amandas Geist ihr in allen Einzelheiten noch einmal vorspielte. Dabei war es noch nicht einmal nötig, sich Schlimmeres auszumalen. Es reichte, das Erlebte noch einmal abzubilden. Nach einem besonders mitreißenden Stück Horrortraum, in dem es hauptsächlich um den Kerl ging, der sie in die Seite getreten und versucht hatte sie zu erwürgen, war Amanda fast davor gewesen, das Licht anzuschalten, um die Schatten, die ihr Unterbewusstsein mit großer Präzision herauf beschwor, zu vertreiben. Stattdessen wählte Amanda eine andere Variante und drückte sich so nah an Nataniels Körper, wie sie es vermochte. Bei der Hitze, die sein Körper ausstrahlte, würde ihr bestimmt bald der Schweiß ausbrechen, weswegen Amanda sich auch die Decke bis auf die Hüften zog. Dann schloss sie die Augen und versuchte sich mit tiefen, ruhigen Atemzügen für das zu wappnen, was da wohl noch kommen würde. Auch weiterhin war es keine ruhige oder gar erholsame Nacht, aber Amanda hatte das Gefühl, zumindest ihrem Körper ein wenig neue Energie gegeben zu haben, als sie schließlich aufwachte. Das Erwachen ging langsam vor sich, als würde Amanda die Dinge um sich herum nur einzeln nach einander wahrnehmen. Zuerst war da Nataniels Hand auf ihrem Bauch, sein Daumen, der über ihre Haut strich und sie ein wenig kitzelte. Dann sein Geruch in ihrer Nase und dann das Gefühl so nah bei ihm zu liegen, sein Atem an ihrer Seite. Den Rest des Zimmers blendete sie absichtlich noch völlig aus. Das hätte viel zu sehr mit Aufstehen und anderen Aktivitäten zu tun gehabt, als dass Amanda sich jetzt hätte damit beschäftigen wollen. Immer noch mit geschlossenen Augen streichelte sie Nataniels Haar. „Hast du ein wenig schlafen können?“, fragte sie leise. Normalerweise wäre sie davon ausgegangen, dass Nataniel besser schlief als sie selbst, aber in dieser Situation war sie sich absolut nicht sicher, ob er wohl überhaupt zur Ruhe gekommen war. Eigentlich wäre das einem kleinen Wunder gleichgekommen. „Macht es dir was aus, zu warten, bis uns tatsächlich jemand suchen kommt?“ Jetzt aufzustehen, versprach absolut keine angenehmen Folgen. Und doch hatten sie eigentlich schon zu lange im Bett gelegen. Nach dem Angriff der letzten Nacht mussten sie umso schneller handeln. Genau das machte Amanda Angst. Sie waren noch nicht hundert Prozent vorbereitet. Selbst wenn der Sammler etwas ausplauderte – wovon Amanda keinesfalls ausging – konnten sie immer noch in eine Falle laufen. Wieder wurde ihr kalt, was sich in einer Gänsehaut zeigte, die ihren gesamten Körper erfasste. Mit noch ein bisschen benommenen Bewegungen zog Amanda die Decke wieder ein Stück hoch und drückte sich so weit das überhaupt möglich war noch enger an Nataniel. „Nein und nein.“, seufzte er genauso leise. Warum sollte er lügen? Weder hatte er gut geschlafen, noch wollte er sich aus diesem Bett erheben, um dem entgegen zu treten, was da auf sie wartete oder besser gesagt, was da lauerte. Seit gestern schien ziemlich klar zu sein, dass die Moonleague zumindest eine ungefähre Lage vom Untergrund hatte. Oder war das nur ein Trupp von vielen gewesen? Nataniels Bauchgefühl bezweifelte es. Es war also nur noch die Frage, wie die Organisation sie hatte finden können. Schwach schüttelte er seinen Kopf, um diese Gedanken zu vertreiben. Wenigstens ein paar Minuten noch, wollte er davon seine Ruhe haben. Die mussten doch irgendwie drin sein, oder? Als Amandas Körper von einer Gänsehaut bedeckt wurde, sah er zu ihr hoch. Wenn er auch die schlechten Gefühle alle hinter seiner Müdigkeit verstecken konnte, so gelang es ihm nicht vollkommen mit seiner Sorge. „Du frierst.“, stellte er überflüssigerweise fest und zog ihr die Decke noch weiter nach oben, während er selbst wieder darunter schlüpfte und seine Gefährtin an seine Brust schob. Auf seine verletzte Seite achtete er dabei nur deshalb, weil die Fäden ihn auf seiner Haut störten, wenn er mit dem Arm daran kam. Aber spätestens am Abend würde er sie sich wieder ziehen. Schon jetzt sah alles wieder besser aus. Könnte doch auch nur Amanda so schnell heilen. Dann würde ihr Anblick ihn nicht so lange quälen. Am liebsten, würde ich alles hinschmeißen und mit dir an einen sicheren Ort fliehen…, hätte er beinahe gesagt, doch er besann sich eines Besseren. Das half ihnen keinen Moment lang weiter, sondern machte alles nur noch schwerer. Um jedoch die Stimmung nicht noch tiefer sinken zu lassen, streichelte er über Amandas Rücken und schob sich etwas von ihr, um ihr ins Gesicht sehen zu können. Er lächelte schwach, als er ihre Augen sah, die noch immer diesen schönen goldbraunen Farbton hatten. Dann küsste er sie. Sanft. Zärtlich, und innerlich voller Traurigkeit. Aber nach außenhin begann er sich immer mehr zu fassen, bis die Mauer um sein Innerstes so massiv war, dass sie halten würde und sein Lächeln schließlich breiter wurde. „Übrigens, mach dich schon mal auf was gefasst. Ich wollte schon immer ein ganzes Rudel voller Kinder haben.“ Mit diesen Worten biss er ihr neckisch und hauchzart in die Unterlippe. Bevor sich Amanda in die Gefühle stürzen konnte, die diese verzweifelte Situation mit sich brachte, konzentrierte sie sich lieber auf Nataniels Hände, die über ihren Rücken streichelten. Er konnte im Moment nicht gänzlich dafür sorgen, dass die Kälte ihren Körper verließ. Das würde erst wieder der Fall sein, wenn sie alles hinter sich hatten. In einer Zeit, die Nataniel gerade versuchte heraufzubeschwören. „Na, da bin ich ja froh, dass du mir das jetzt schon sagst, anstatt wieder hinterher.“ Ebenso neckend wie sein kleiner Biss, kniff sie ihn mit den Fingern in die Hüfte. Wenn sie jetzt so darüber nachdachte, war sie wirklich ganz schön naiv gewesen zu glauben, dass sie nicht schwanger von ihm werden konnte. Bei dem Gedanken wurde sie sogar ein wenig rot. „Kaum zu glauben, dass ich mir gar nichts gedacht habe, was?“ Immerhin war es nun so, dass sie beide es wollten. Amanda hatte zwar zuvor noch nie über Kinder nachgedacht, aber eine negative Überraschung hätte es nie sein sollen. Schon die Tatsache, dass es der Vater des Kindes der Mutter hatte mitteilen müssen, war eigentlich einen Lacher wert. Vielleicht würden sie das bald nachholen, wenn sich der Rest des Lebens auch wieder nach Lachen anfühlte. Amanda verfluchte sich dafür, aber sie hatte schließlich doch über Nataniels Schulter hinweg auf die Uhr gesehen. Die leuchtenden Zahlen zeigten eine Kombination an, die nur als Nachmittag zu deuten sein konnten. Das schlechte Gewissen traf Amanda wie ein Faustschlag gegen die Schläfe. Sie musste sich aufraffen und mit dem Sammler sprechen. Auch wenn sie viel gegeben hätte, es nicht tun zu müssen, konnte sie Eric und die Anderen damit nicht allein lassen. Gewichte schienen an jeder Faser ihres Körpers zu hängen und sie mit aller Gewalt ans Bett zu fesseln. Aber es half nichts. Mit einem Seufzer setzte sich Amanda zunächst auf und sah Nataniel in die hellblauen Augen. Wie immer war sie fasziniert, dieses stille Flackern dahinter zu sehen. Wenn sie daran dachte, wie es damals im Fluss einfach verschwunden war, verspannte sich irgendetwas in ihr immer noch bis zum Zerreißen. Und auch wenn er ihr versichert hatte, es sei nicht ihre Schuld gewesen, hatte Amanda immer noch das Gefühl, irgendwie für seine Verwandlung damals mit verantwortlich gewesen zu sein. Natürlich war sie das und genau deshalb würde sie es nie wieder so weit kommen lassen. „Vielleicht haben sie ihn schon befragt.“, stellte sie mit wenig Überzeugung in den Raum und sah Nataniel fast gequält an. „Ich habe ehrlich gesagt, nicht das geringste Bedürfnis dem Kerl zu begegnen. Vielleicht gerade auch deshalb, weil wir hier den so viel längeren Hebel in Händen halten.“ Was das bedeutete, ließ Amanda unausgesprochen. Zu sagen, dass sie ihn ohne weiteres töten konnten, war ihnen beiden bewusst. Und dass Amanda das nicht wollte. Der Sammler tat nur das, was ihm aufgetragen worden war. Wahrscheinlich, weil er daran glaubte, das Richtige zu tun. Wie Amanda es auch geglaubt hatte. Das machte die Sache nicht gerade einfacher. Mühsam rappelte sie sich hoch, zog sich an – wobei sich der Stoff ihrer Kleider anfühlte, als wäre er aus Stahlwolle gemacht – und sah noch einmal Nataniel an. „Ich glaube nicht, dass er etwas zu sagen hatte.“, meinte er seufzend, ehe er die Bettdecke ganz von sich schob und ebenfalls aufstand. Auch wenn jeder Muskel und Knochen in seinem Körper protestierte, streckte er sich einen Moment lang, aus alter Katzengewohnheit und begutachtete danach seine Verletzungen. Sie sahen definitiv besser aus. Während er seine Shorts aus und die Jeans anzog, gab er sich seinen eigenen Gedanken hin. Nataniel fragte sich, was wohl aus dem Gefangenen werden würde. Sie konnten ihn nicht einfach wieder gehen lassen und wie wollte man ihn eigentlich zum Reden bringen, selbst wenn er nichts wusste? Die ganzen absolut nicht hilfreichen Ideen, die seine innere Bestie ihm in den Kopf setzte, halfen wirklich nicht weiter. Folglich schwieg er auch vehement darüber. Keiner sollte wissen, wie wild das eigentlich sonst so brave Katerchen im Augenblick war. Er konnte es selbst kaum glauben, aber dafür umso deutlicher spüren. Noch immer schien er den Geschmack von Menschenblut im Mund zu haben. Bis er den wieder loswerden würde, musste wohl noch viel Zeit vergehen und vor allem auch viel passieren. Die momentane Situation ließ ihn nicht gerade zur Ruhe kommen. Alles in ihm war auf Kampf eingestellt. „Und was hast du vor?“, wollte Amanda schließlich wissen. Nachdem er sich ein nachtschwarzes Shirt und Schuhe übergezogen hatte, rubbelte er sich durch die Haare und lächelte sie dann geheimnisvoll an. „Shoppen in der Innenstadt mit einer Eule. Wenn alles gut geht, bringe ich dir sogar was mit.“, beantwortete er ihre Frage, ohne genau zu sagen, was er vorhatte. Sie musste nicht unbedingt gleich wissen, wo er sich herum trieb. Am Ende würde sie ihn noch davon abhalten wollen. Es war vielleicht keine ungefährliche Aktion, aber sicherlich weitaus sicherer, als die gestrige. Sein Lächeln erlosch und er sah sie ernst an. „Es kann spät werden, also mach dir bitte keine Sorgen. Ich hab das Handy immer dabei, falls etwas sein sollte, okay? Und wenn du irgendwelche waghalsigen Vorhaben planst, dann verschieb das bitte. Ich will mir nicht noch mehr…“ Nataniel seufzte fast schon hilflos und starrte zu Boden. „Ich will einfach keine Angst um dich haben müssen, während ich weg bin.“ Seine Stimme war nur noch ein Flüstern. Amanda hatte sich also in ihrer Einschätzung nicht getäuscht. Die Worte, die so leichthin und mit einem Lächeln über Nataniels Lippen kamen, waren diejenigen, die ihn Mühe kosteten. Das sah sie jetzt, wo er zu Boden starrte und nur noch flüsterte, nur allzu deutlich. Sie wusste, was er hatte sagen wollen. Und dass sie ihm die Sorgen in nächster Zukunft noch nicht würde nehmen können, tat ihr selbst in der Seele weh. „In Ordnung.“ Sie trat an ihn heran und nahm seine Hand, während sie mit ihrer anderen seinen Arm streichelte. „Aber ich hoffe, du weißt auch, dass ich immer so gut es geht auf mich aufpasse. Ich will doch genauso sehr wie du, dass das alles hier bald vorbei ist und wir nach Hause können.“ Schon seltsam, dass sie das kleine Haus auf der Farm seiner Eltern nach so wenigen Tagen als Heim bezeichnete. Und es auch als solches ansah. Das lag bestimmt auch an Nataniels Familie, die Amanda so nett aufgenommen hatten. In Zukunft würde sie Marys Angebot sicher oft annehmen und sich Tipps holen, was die Schwangerschaft und später das Aufziehen eines Wandlerbabys anging. Jetzt traf sie die Erkenntnis wie ein Schlag und sie sah Nataniel mit großen Augen an. „Wir sollten es erzählen, glaubst du nicht? Ich meine, deiner Familie. Und Eric. Das mit dem Baby.“ Es war gerade der ungünstigste Zeitpunkt, den man sich denken konnte und alle hatten etwas anderes um die Ohren, als sich für die beiden zu freuen, aber trotzdem hätte Amanda die guten Nachrichten gern geteilt. Vor allem ihre Familien sollten es wissen. Für einen Moment heftete sich nun auch Amandas Blick auf ihre eigenen Fußspitzen. Bevor sie mit diesen Neuigkeiten ankam, sollte sie Eric vielleicht erst einmal erzählen, dass sie jetzt so zu sagen verheiratet war. Schon allein bei dieser Tatsache würde ihr kleiner Bruder vermutlich gut in Szene gesetzt in Ohnmacht fallen. „Ich weiß, dass es noch früh ist, aber in Anbetracht, dass alle etwas Positives brauchen, würde ich es zumindest gern Eric erzählen, wenn das für dich in Ordnung ist.“ Oder war es sogar besser, wenn ihr Bruder es nicht wusste. Dann wäre da nicht noch jemand, der sich doppelt Sorgen um sie machte, wenn sie den Auftrag ausführte, der sie alle entweder retten oder das vollkommene Chaos ausbrechen lassen konnte. Bei diesem Gedanken machte selbst Amanda sich mehr Sorgen darum, dass sie keine Chance bekommen würde ein Kind mit Nataniel zu haben, als die bloße Tatsache, dass sie körperlich verletzt werden könnte. Man konnte es nicht wirklich Erleichterung nennen, die ihn da überfiel, als Amanda ihm mitteilte, sie würde so gut sie konnte auf sich aufpassen. Das erwartete er eigentlich ohnehin. Mit dem Baby nun erst Recht, aber zumindest beruhigte es ihn etwas. Was ihn aber wirklich verdammt glücklich machte und einen Moment wie ein gleißender Lichtstrahl durch den grauen Schleier seiner Gefühle brach, war die Tatsache, dass seine Gefährtin sein Heim als ihr Zuhause ansah. Denn das war es in seinen Augen wirklich und so sollte es auch bleiben, bis sie vielleicht einmal etwas Eigenes suchen konnten. Amanda hatte natürlich auch Recht, was die Nachricht über den Nachwuchs anging. Aber Nataniel wollte eigentlich seiner Familie noch nichts davon sagen. Sie beide waren so überstürzt aufgebrochen, ohne großartig auch nur irgendetwas zu erklären, er hatte somit auch jetzt nicht den Kopf dafür und Fragen würden auf so eine Botschaft auf jeden Fall über ihm zusammen brechen. Außerdem würde er es ihnen lieber persönlich mitteilen. „Natürlich kannst du es deinem Bruder erzählen, wenn du das möchtest.“, meinte er schließlich sanft und zog sie wieder in seine Arme. Er wollte gar nicht daran denken, dass er sie gleich für mehrere Stunden lang nicht mehr bei sich haben würde. Sehr lange Stunden, wenn sich die Aktion als genauso schwierig heraus stellte, wie er annahm. „Ich würde es meiner Familie allerdings gerne persönlich mitteilen. Mit dir an meiner Seite. Meine Mom wird Heulen vor Freude und ich wette mein Dad bekommt das Grinsen nicht mehr aus dem Gesicht. Die Reaktion will ich auf keinen Fall verpassen. Du etwa?“ Nataniel lächelte noch immer sanft. Alleine das Thema war so unglaublich angenehm und vertrieb die finsteren Wolken, die um seinen Verstand kreisten. Aber lange hielt das leider nicht an. Amanda lächelte herzlich bei der Vorstellung, dass die Nachricht von ihrer Schwangerschaft derartige Reaktionen bei Nataniels Eltern hervorrufen würde. Vor allem deshalb, weil es wahrscheinlich genau so ablaufen würde. „Etwas, worauf wir uns freuen können.“ Noch einmal legte Amanda ihren Kopf an Nataniels Brust und atmete tief durch, bevor sie sich endgültig von ihm löste, ihn noch einmal küsste und dann die Türklinke in die Hand nahm. „Ich denke, Aufschieben nützt auch nichts. Wir sehen uns dann später. Wenn irgendwas ist, dann melde dich bitte.“ Vor ihrem Zimmer beschrieb sie Nataniel noch die Richtung, in der er Francy finden würde. Der Uhrzeit nach, würde die Eulendame gerade von einem Sicherheitsrundflug zurückkommen. Dann war sie entweder draußen vor den Containern oder in der Kantine am Ehesten zu erwischen. Amanda selbst machte sich nach dem Abschied von Nataniel auf dem Weg zu Clea. Dort würde sie bestimmt die neuesten Informationen bekommen und hoffentlich auch Eric treffen. Oder Seth. Erst jetzt, wo sie über die diffus beleuchteten Gänge lief und ihre Schritte von den Metallwänden widerhallten, dachte Amanda zum ersten Mal wieder an ihn. Dem Blonden war nichts Lebensgefährliches passiert, da war sich Amanda sicher. Immerhin hatte Nataniel noch von ihm gesprochen und gesagt, dass Seth den letzten Wandler zwar angegriffen, ihn aber nur k.o. geschlagen hatte. So etwas wie Trost legte sich über Amanda, als ihr bewusst wurde, dass ihre Aktion von Erfolg gekrönt und Seth noch am Leben war. Dass sie selbst mehrere Stunden ohne Bewusstsein gewesen war, wog in diesem Moment nicht so viel. Jetzt ging es ihr bis auf ein paar Prellungen und Kopfschmerzen eigentlich gut. Sogar ihr Ohr schien sich bei all den sich überschlagenden Ereignissen zu seiner alten Funktionstüchtigkeit durchgerungen zu haben. Etwas, wofür Amanda sehr dankbar war. „Hey.“ Sie hatte den Computerraum erreicht und blieb kurz in der Tür stehen, um den Personen ihre Anwesenheit ruhig anzukündigen. Eric drehte sich als Erster um, sah aber von allein Dreien noch am wenigsten besorgt drein. Clea war seltsam ruhig für ihre Verhältnisse und Seth sah so aus, als würde er sich in den nächsten Sekunden mit einer Umarmung auf Amanda stürzen wollen. Er tat es aber nicht. „Was ist los? Ihr seid doch sonst nicht so sprachlos.“ Endlich fand die quirlige Clea ein wenig zu ihrem normalen Selbst zurück und lächelte, wenn auch ein wenig matt. Sie stand auf und fiel Amanda um den Hals, bis diese dachte, sie würde zwischen zwei Schraubstöcken stecken. „Süße, ich hab gedacht du schaffst es nicht. Ich hab euch gesehen... Als Nataniel dich hergebracht hat... Das viele Blut...“ Clea wurde blass und legte mit bestürztem Gesichtsausdruck sogar eine Hand auf den Mund. Daran hatte Amanda gar nicht gedacht. Dass sie irgendwie vom Ort des Kampfes hierher gekommen sein musste. Natürlich hatte Nataniel sie hergebracht. Wer sonst? Und noch dazu hatte er sie mit seiner blutenden Seite bestimmt den ganzen Weg getragen. Amandas Mund verzog sich unwillig. Wäre ihr das vorhin schon klar gewesen, hätte er sich auf ein Donnerwetter einstellen können! „Mir geht’s gut, wirklich. Den Umständen entsprechend sogar sehr gut.“ Die beiden Männer nickten nur mit einem Lächeln auf den Lippen und bald nachdem Clea sich wieder gesetzt und sich einigermaßen beruhigt hatte, sprachen sie die Pläne durch. Amanda war mehr als erleichtert zu hören, dass sich Seth und Eric des Sammlers bereits angenommen hatten. Welche Methoden sie angewandt hatten, um Informationen aus ihm heraus zu bekommen, wollte Amanda lieber gar nicht wissen. Aber er hatte geredet. Natürlich. Jeder Mensch hatte seine Grenzen. Aber das, was er Preis gegeben hatte, machte Amanda und auch den anderen Anwesenden keinen neuen Mut. Ganz im Gegenteil. „Es war eine gezielte Aktion. Die Gründer dachten wirklich, dass sie uns mit diesen zwölf Klasse – 5 – Sammlern ausschalten könnten.“ Eric schüttelte ungläubig den Kopf und sah so düster drein, wie Amanda sich fühlte. Seth war nicht besser, als er weitersprach. „Es hat mir noch nie so widerstrebt, Recht zu haben. Aber wenn wir die derzeitige Situation bedenken, sollten wir so schnell wie möglich alle hier wegbringen.“ Er sah Amanda direkt an und sie hatte das Gefühl, dass die schwarzen Augen noch sehr viel mehr enthielten, als bloßen Nachdruck für seine Aussage. „Ich weiß, was du sagen willst. Und wir sind an sich darauf vorbereitet. Die Container können innerhalb von zwei Stunden geräumt werden, wenn es sein muss. Und außerdem heißt das wohl, dass wir so schnell wie möglich einen Schlussstrich ziehen sollten.“ Alle nickten zustimmend und Clea tippte auf ihrer pinken Tastatur, um nach einem alternativen Ort für die Unterbringung der Zentrale zu suchen. Da sie auf die eventuelle Entdeckung durch die Organisation vorbereitet gewesen waren, gab es mehrere Alternativen. Mit vielen Abwägungen, Diskussionen und Nachforschungen auf Cleas Seite, entschieden sie sich schließlich für die Möglichkeit, die allen von Anfang an am besten gefallen hatte. Da inzwischen jeder darüber Bescheid wusste, was er zu tun hatte, würden sie sich für die Nacht, die vor ihnen lag, trennen. In der Zentrale waren lediglich eine Hand voll Menschen und noch einmal die gleiche Anzahl Gestaltwandler untergebracht. Für alle war leicht eine Unterkunft gefunden. „Morgen Nacht werden wir reingehen. Wenn wir versagen, dann ist es sowieso besser und wahrscheinlich sogar unvermeidlich, wenn jeder sich seinen Weg nach draußen sucht. Alle müssen so schnell wie möglich untertauchen.“ „Vielen Dank für diese pessimistische Einschätzung, Seth.“ Amanda funkelte ihn einigermaßen böse an. Wenn sie etwas nicht brauchen konnte, dann waren es derartige Aussagen. Es war doch schon so schwer genug, an das Gelingen zu glauben. „Ich bin nicht pessimistisch, aber es...“ Ein weiterer stechender Blick von Amanda brachte ihn zum Schweigen. Ganz im Gegensatz zu Eric, der genau wusste, dass die Wut seiner Schwester nicht ihm galt. „Wir haben alles geplant, sind alle Eventualitäten hunderte Male durchgegangen... Es wir gut gehen.“ Mit fragendem Blick wendete er sich an Amanda. „Wo ist eigentlich Nataniel? Ich hätte gedacht, dass er mit dir herkommen würde.“ Aus dem Augenwinkel sah Amanda, dass sich Seths Miene verfinsterte. Das ließ sie aber für den Moment außen vor. Dafür hatte sie jetzt wirklich keinen Kopf und außerdem wusste Seth wie Amanda zu ihm stand. Sie konnte ihm bestimmt als Allerletzte dabei helfen, sich aus diesem Gefühlstief herauszuziehen. Denn sie hatte nun einmal nicht vor, ihre Gefühle zu ändern. Also beantwortete sie stattdessen Erics Frage, so gut es ihr mit den wenigen Informationen, die ihr Nataniel gegeben hatte, möglich war. „Er ist mit Francy unterwegs. Ich glaube, dass es etwas damit zu tun hat, dass sie die Wandler zur Mitarbeit überreden wollen. Das ist zumindest meine Vermutung, wenn man seine Worte von der Versammlung bedenkt.“ *** „Ich sagte: Nein! Am Ende bringen sie uns noch um, weil wir euch geholfen haben. Vergiss es!“ „Aber…“ Mit einem lauten Knall schlug die Tür vor seiner Nase zu, woraufhin einen Moment später das Knirschen seiner Zähne zu hören war. Nataniel war Lichtjahre von gewöhnlicher Wut entfernt, das hier grenzte schon an totaler Apokalypse. Nicht länger fähig seinen Frust zurückzuhalten, schlug er mit der Faust gegen das Holz der Tür und hinterließ lange, tiefe Rillen mit seinen Krallen. „Ihr versteht alle absolut gar nichts! Versteckt euch nur, es wird euch auch nicht retten!“, schrie er in dem Wissen, dass der Wandler ihn noch immer hören konnte. Doch der darauf folgende Fluch war so leise, dass ihn wohl nur noch Francys mit bekam, die schon seit einer ganzen Weile genau den gleichen Gesichtsausdruck wie Nataniel vor sich her trug, nur ohne den tiefschürfenden Zorn darin. Bei ihr war es lediglich immer weiter ansteigende Verzweiflung. „Der Wievielte war das jetzt?“, wollte Nataniel knurrend wissen, während er sich umdrehte und mit seiner Begleitung den schmalen Korridor des schäbigen Wohnhauses entlang ging. Es stank nicht nur erbärmlich, sondern sah auch wie das letzte Rattenloch aus. Eigentlich hätte der Wandler ebenfalls eine Ratte sein müssen, um sich hier wohl fühlen zu können, aber für Ungeziefer hätten sie sich nicht die Mühe gemacht, um hierher zu kommen. Obwohl Nataniel inzwischen schon froh gewesen wäre, wenn sie eine Kakerlake an Land gezogen hätten. Das wäre immerhin besser, als gar nichts. „Der zwölfte Wandler und somit der letzte, der mir noch eingefallen ist. Wir können einpacken.“ Francys klang, als hätten sie schon verloren. Auch seine Hoffnung war mit ihrer Antwort schon stark am Wanken, doch das war erst Plan A gewesen. In der Hoffnung, nicht auf Plan B zurückgreifen zu müssen, hatte er sich mit ihr zusammen stundenlang zu Fuß durch dreckige Gassen, zwielichtige Gegenden und herunter gekommenen Vierteln quälen müssen. Alles potentielle Verstecke von verhältnismäßig starken Wandlern, die das ein oder andere Mal mit der Eulenfrau zu tun gehabt hatten. Ein paar von ihnen waren sogar einmal beim Untergrund gewesen, um zu sehen, ob es Sinn hatte, zu kämpfen oder ob sie sich lieber gleich verzogen. Offenbar waren sie zu der Erkenntnis gelangt, dass der Untergrund auf alle Fälle vollkommen ausgelöscht werden würde, weshalb sie das sinkende Schiff schon verlassen hatten, bevor es überhaupt das erste Anzeichen eines Lecks gab. Elende Feiglinge! Auf der Straße und an der frischen Luft angekommen, blickte Nataniel auf eine der billigen Uhren in einem geschlossenen Secondhandshop, ehe er Francys mit einem entschlossenen Seufzen ansah. „Okay. Es ist bald Mitternacht. Zeit für Plan B. Zeig mir alle möglichen Bars, Lokale, Kneipen, Pubs und sonst irgendwelche Spelunken, die du kennst und in denen sich auch die ein oder anderen Wandler herum treiben.“ Francys sah ihn mit ungläubigen Augen an, doch als sie den Mund öffnen wollte, schüttelte er den Kopf. „Keine Fragen. Ich erklär dir alles weitere, wenn wir fündig geworden sind.“ Zwar noch immer mit Zweifel im Gesicht, nickte sie schließlich. „Auf ins Red Dragon.“ Fünf absolut meidenswerte Bars und zwanzig Blocks weiter, war Nataniel kurz davor, völlig durchzudrehen. Bis auf besoffene Penner, herunter gekommene Nutten und den ein oder anderen menschlichen Schläger, waren sie nicht fündig geworden. Inzwischen musste Francys ihn für vollkommen durchgeknallt halten und auch er hegte nun schon mehr als nur große Zweifel an dem, was er noch als eine winzig kleine Chance angesehen hatte. Sie sollten wieder zur Basis zurückkehren. Das alles hatte doch keinen Sinn mehr und trotzdem. Umso hoffnungsloser es wurde, umso mehr trieb etwas Nataniels Beine an. Die Frau an seiner Seite hatte gar keine andere Wahl, als ihm nachzulaufen, wenn sie ihn nicht verlieren wollte. Klugerweise stellte sie auch keine Fragen mehr. Sie musste wohl sehen, dass er kurz vorm Explodieren stand. Schon nach der zweiten Spelunke war ihr Wissen an solchen Ortschaften erschöpft gewesen. Aber irgendwie gelang es Nataniel immer weitere dieser nur allzu irdischen Höllen zu finden. Mochten sie noch so verborgen in verwinkelten Gassen liegen. Man musste im Grunde nur dem Gestank von Ärger folgen. Gerade in einer solchen Gegend trieben sie sich herum. Francys drängte sich inzwischen dicht an seine Seite. Auch ihm waren die nackten Füße nicht entgangen, die da aus einem Müllberg ragten und der Gestank war erst recht nicht zu übersehen. Tod lag wie etwas Greifbares in der Luft, doch es schien hier niemanden zu stören. Weder ließ sich die Nutte ein paar Meter weiter davon abschrecken, noch die beiden jungen Männer, mit denen sie gerade einen Preis aushandelte. Eineiige Zwillinge, wie es schien. Denn sie sahen nicht nur haargleich aus, sondern schienen auch das gleiche lose Mundwerk zu haben. Nataniel ging an ihnen vorbei, ohne sie eines Blickes zu würdigen, bekam aber durchaus mit, dass die Jungs auf eine Gratisnummer aus waren. Die Nutte lächelte daraufhin nur mit einem koketten Lächeln, als hätte sie es hier mit kleinen Kindern zu tun. Was die Jungs noch mehr dazu anstachelte, ihren Charme und Witz spielen zu lassen. Darüber konnte Nataniel in Gedanken nur den Kopf schütteln, weshalb er auch nicht bemerkte, wie die weißblonde Nutte ihm einen langen Blick nach warf. Weder beruflich noch fragend, sondern eher neugierig und scharfsinnig. „Ich halte das hier für keine so gute Idee.“, brachte Francys schließlich hervor, während sie sich immer weiter dem relativ harmlos wirkenden Eingang einer weiteren Bar näherten. Doch selbst Nataniel konnte spüren, dass hier etwas in der Luft lag. Nicht nur der Tod, sondern auch eindeutig etwas Nichtmenschliches. Hoffentlich hatten sie hier endlich einen Volltreffer gelandet. Gerade wollte Nataniel ihr antworten, als die Tür zur Bar aufgestoßen wurde und ein muskulöser Typ mit einem militärischen Haarschnitt heraus gesegelt kam. Im letzten Moment packte er Francys und drängte sich mit ihr zur Seite an eine der schmutzigen Backsteinmauern, um dem lebenden Geschoss auszuweichen. „Wenn du noch eine aufs Maul willst, sag nur Bescheid. Ich hab noch genug für dich.“, brummte eine tiefe Stimme und zog Nataniels Blick von dem Bewusstlosen am Boden zurück zum Eingang der Bar. Darin stand ein Kerl so groß wie ein Bulldozer. Vermutlich mit derselben Wirkung, wenn er einmal voll in Fahrt kam. Er hatte ein leicht ramponiertes Gesicht, einen massigen, wenn auch muskulösen Leib und Hände so groß wie Schaufeln. Der Kerl brauchte keine Waffen, um tödlich zu sein. Nicht mit diesen Pranken. Na, was haben wir denn da? Nataniels Mund verzog sich zu einem verwegenen Lächeln. Wie es schien war die lange Suche doch nicht vergebens gewesen. Einmal tief Luftholen und er fühlte sich bestätigt. Den Wandler würde er nicht mehr vom Haken lassen. Ohne weiter auf Francys zu achten, die seine Reaktion gesehen hatte und nun versuchte, ihn am Arm zurückzuhalten, weil sie Böses ahnte, löste er sich von ihr und stellte sich direkt zwischen dem bewusstlosen Menschen und den Prachtkerl von einem Wandler. „Große Worte. Steckt auch was dahinter?“, fragte er den Typen bewusst provozierend. „Warum findest du es nicht heraus, Jungchen? Khan poliert dir sicher liebend gerne die Fresse. Ich übrigens auch, wenn du vorhast, hier den Eingang zu blockieren.“ Ein belebendes Prickeln streifte seinen Nacken, woraufhin Nataniel leicht den Kopf nach hinten drehte. Da stand noch so ein Kerl. Völlig lautlos hatte er sich an ihn heran geschlichen, wie es nur Wandler konnten. Und genau das musste er sein. Der zweite Typ war zwar um ein paar Jahre älter, als dieser Khan, also so um die fünfzig, aber die silbernen Strähnen in dem schwarzen Haar gaben dem scharf geschnittenen Gesicht nur noch einen verwegeneren Eindruck. Auch die vor der Brust verschränkten Arme schienen so dick wie Baumstämme zu sein. Obwohl er kleiner als Nataniel war, war er doch ein ebenso ernst zu nehmender Gegner, wie es der Bulldozer war. Interessant. War Nataniel hier wirklich auf die Wandlerbar gestoßen, nach der er schon die halbe Nacht gesucht hatte, deren Existenz er jedoch nur vermuten konnte? Es musste so sein und wenn nicht, dann gab es eben doch einen Gott, der sich ausnahmsweise einmal als kein sadistisches Arschloch herausstellte. Sich inzwischen der vollen Aufmerksamkeit aller Anwesenden bewusst, inklusive der Zwillinge, der Nutte und den immer wieder leise stöhnenden Menschen auf dem Boden, wurde Nataniels Lächeln noch etwas breiter. Keiner hier sah so aus, als wäre er ein normaler Durchschnittsbürger. Vielleicht würden sie auch keine normalen Durchschnittsfeiglinge sein, wenn er ihnen erst einmal das Problem schilderte. Doch bis es soweit war, hieß es in den mehr oder weniger sauren Apfel beißen. Er pochte schon die längste Zeit darauf, ein paar Aggressionen los zu werden. Das war der perfekte Zeitpunkt dafür. „Na, worauf wartet ihr dann noch? Auf eine schriftliche Einladung?“, wollte er fast schon gelangweilt wissen, während er jedoch genüsslich langsam seine Krallen ausfuhr. Ein deutlicheres Zeichen hätte er nicht setzen können. Gewisse Dinge konnten Wandler nicht umgehen und wenn sie von so viel geballtem Testosteron und roher Gewalt umgeben waren, erst recht nicht. Die beiden Männer nickten sich leicht zu, ehe sie ohne Umschweife zur Tat übergingen. *** „Was packst du denn bitte alles? Wir müssen los.“ Eric lehnte mit einer Schulter am Türrahmen, konnte seine Ungeduld nicht hinter dieser lässigen Geste verbergen. Wenn man es genau nahm, versuchte er das auch gar nicht. Zum bestimmt hundertsten Mal schob er sich den Riemen seines Rucksacks höher auf die Schulter und folgte mit seinen hellen Augen den Bewegungen von Amanda, die ruhelos im Zimmer herumräumte. „Ich war trotz allem nicht darauf vorbereitet, so schnell zu gehen, ok? Außerdem muss ich nicht nur mein Zeug zusammen suchen.“ „Nataniel kann ja wohl nicht so viel dabei haben.“ Das stimmte auffallend. Amanda konnte sich selbst gar nicht so genau erklären, warum ihr noch so viele Kleinigkeiten in den Sinn kamen, die sie mitnehmen wollte. Nein, eigentlich ging es darum, auf keinen Fall etwas zurücklassen zu wollen. Als die Organisation ihre Wohnung gefilzt hatte, war schon mehr als genug von Amandas Besitztümern für immer verloren gegangen. Das trug anscheinend auffallend dazu bei, dass sie umso mehr an all dem hing, was sie im Moment besaß. Schließlich schaffte sie es doch alles in einem Reiserucksack zu verstauen, in sich überzuwerfen und Nataniels Gepäck in der Hand zu tragen. „Bereit?“ Nickend folgte sie ihrem Bruder in Richtung Ausgang. Nur noch vereinzelt kamen ihnen andere Menschen oder Wandler entgegen. Die Evakuierung hatte schon vor über einer Stunde begonnen. Und die meisten hatte, wie auch Eric und Amanda, nicht viel, das sie mit sich nehmen mussten. Es war mehr oder weniger nur darum gegangen, Clea mitzuteilen, wo die einzelnen Mitglieder des Untergrunds sich ungefähr aufhalten würden. Jeder wollte seinen eigenen Weg gehen, um zu verhindern, dass die Moonleague sie alle auf einmal fand. Das letzte Nacht war einfach zu knapp gewesen. Und selbst wenn so gut wie niemand direkt an dem Kampf beteiligt gewesen war, steckte der Schreck Vielen in den Knochen. Als sie unter freiem Himmel ankamen, stieg Clea gerade zu Seth in einen der dunklen Wagen, die sie zur Verfügung hatten. Amanda hielt sich hinter Eric und sah nicht weiter hin. Auf Abschiedsszenen stand sie nicht besonders. Zwar würde sie Seth Morgen garantiert wieder sehen und mit Clea zumindest am Anfang in Verbindung stehen, aber es fühlte sich trotzdem so an, als würde etwas Neues anbrechen, jetzt, da sie die Zentrale verließen; verlassen mussten. „Hier ist die Adresse.“ Zwischen Zeige- und Mittelfinger geklemmt hielt Eric Amanda eine kleine Visitenkarte unter die Nase, deren Logo schon verriet, dass es sich dabei um das Hotel handelte, in dem er Zimmer für Nataniel, Amanda und sich selbst gebucht hatte. „Ihr checkt auf Nataniels Namen ein. Das ist weniger auffällig. Ich bin Mr. Smith.“ „Wie einfallsreich.“ Amanda konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. „Ok, John, dann sehen wir uns in der Lobby.“ Eric schwang sich auf sein dunkles Motorrad und rauschte davon, während Amanda noch kurz stehen blieb, bis das letzte Mitglied des Untergrunds das Gelände verlassen hatte. Während dieser Wache tippte sie eine SMS an Nataniel. Hi! Mussten umziehen. Neue Adresse ist Mainstreet, Ecke Baker 203. Auf deinen Namen. Krawatte brauchst du keine. X Das mit der Krawatte würde Nataniel spätestens dann verstehen, wenn er das Hotel sah. Immerhin hatte Amanda nicht umsonst ein wenig Make-up aufgelegt und sich noch einmal umgezogen. Sie sah an der beleuchteten Fassade hoch, bis ihr Blick an dem glitzernden Schriftzug des Hotelnamens hängen blieb. Scheiße, die Situation hatte ein bisschen was von Henkersmahlzeit. Noch nie zuvor in ihrem Leben hatte Amanda eine Nacht in einem derart luxuriösen Hotel verbracht. Irgendwie seltsam, es gerade jetzt zu tun. Aber es ging ja hauptsächlich um Tarnung. Und die war hier garantiert gewährt. Der Portier sah sie mit einem freundlichen Lächeln an, als Amanda ihr Gepäck auf die Tür zuschleppen wollte. „Lassen sie das Gepäck beim Motorrad stehen, Miss. Wir werden ihr Gefährt parken und die Sachen in ihr Zimmer bringen lassen.“ Amanda bedankte sich höflich, fühlte sich aber ein wenig ausgeliefert bei diesem vollkommenen Vertrauen in die Angestellten des Hotels. Der helle Marmor, der Springbrunnen mitten in der Eingangshalle und die leise Klaviermusik gaben ihr schon den Rest, bevor sie überhaupt eingecheckt hatte. *** Verdammt. Warum muss es ausgerechnet ein Nobelhotel sein?, fragte sich Nataniel zerknirscht, während er sich ein Taschentuch an die blutende Unterlippe hielt und einen Blick in die Runde warf. Gerade kam ein anderes Taxi hinter dem an, aus dem er gerade gestiegen war. Sie waren also vollzählig. Hätte man Nataniel an diesem Morgen erzählt, wie diese Nacht enden würde, er hätte es für die größte Lüge aller Zeiten gehalten. Doch es entsprach tatsächlich alles der Wahrheit. Nicht nur, dass er vor einem Luxushotel stand und dort bereits auf seinem Namen reserviert war, nein, es kamen auch noch andere unglaubliche Fakten hinzu. Wie zum Beispiel die Tatsache, dass er sich vor knapp drei Stunden mit zwei der größten Gestaltwandler geprügelt hatte, die ihm je begegnet waren. Der Kampf an sich war sehr befriedigend gewesen. Nicht lebensgefährlich, aber auf alle Fälle etwas zum Aggressionsabbau. Schon nach wenigen Faustschlägen hatten sich auch gleich die Zwillinge in die Prügelei mit eingemischt, als wären sie ebenfalls ganz heiß darauf, einmal wieder ordentlich Dampf abzulassen. Wie sich heraus gestellt hatte, waren sie ebenso wenig menschlich, wie Nataniel es war. Die Nutte oder besser gesagt, Delilah hatte bei dem ganzen nur amüsiert zugesehen. Offenbar gefiel es ihr, wenn Männer sich völlig grundlos die Köpfe einschlugen und sie dabei in der ersten Reihe sitzen konnte. Es sprach definitiv ihre animalische Seite an. Nachdem sich die Kämpfenden schließlich genügend ausgelassen hatten und sich darauf einigen konnten, lieber was Trinken zu gehen, als noch mehr Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, hatte sich auch die Atmosphäre schlagartig verändert. Jeder sah ungefähr gleich ramponiert aus und hatte ebenso viel ausgeteilt. In diesem Sinne hatte keiner nachstehen müssen, was sehr zum allgemeinen Wohlbefinden beigetragen hatte. Nach der ersten Runde, während der sich Francys und interessanterweise auch die ‚Nutte‘ zu ihnen gesellt hatte, kam das Gespräch auf den eigentlichen Grund, weshalb Nataniel eine Prügelei vom Zaun gebrochen hatte. Er redete nicht lange um den heißen Brei herum, sondern kam gleich zur Sache, ob jemand denn Lust hätte, der Moonleague – von der hier offenbar jeder schon einmal etwas gehört hatte – in den Arsch zu treten. Natürlich ganz und gar auf eigene Gefahr. Die Zwillinge interessierten sich zunächst mehr für den Ausschnitt der Blondine, schienen aber sofort bei der Aktion dabei zu sein. Für sie zählte nur eines: Delilah machte mit, also würden sie das auch tun. Vermutlich um bei ihr Eindruck zu schinden. Obwohl jede noch so dämliche Anmache an ihr abblitzte. Kein Wunder. Die Jungchen waren sicher gerade erst volljährig geworden und somit noch nicht aus den Kinderschuhen heraus. Aber sofern sie das Risiko einschätzen konnten und sich der Gefahr bewusst waren, würde Nataniel sie nicht davon abhalten. Für jugendlichen Leichtsinn, war er nicht verantwortlich. Für ihn ging es um wesentlich mehr, als nur um eine voll geile Aktion. Wie die beiden das Ablenkungsmanöver bezeichnet hatten. Bruce und Khan der Bulldozer waren nicht so leicht mit einer Antwort zur Hand. Doch Nataniel sah, dass die beiden tiefschürfendere Gründe hatten, um sich die Sache zu überlegen. Im Endeffekt wusste er nicht genau, weshalb die beiden schließlich doch mitmachen wollten. Bei Bruce vermutete er, dass es mit seinem überraschenden Gerechtigkeitssinn zu tun hatte und dass ihm das Schicksal der Wandler nicht egal war. Khan war da eine andere Baustelle. Er hielt sich mit jeder Erklärung zurück, ließ aber vermuten, dass er ohnehin nur zwei Möglichkeiten hatte. Entweder einmal was Gutes für seine Art zu tun, oder weiterhin jeden Tag in dieser schäbigen Bar abzuhängen und die Gesellschaft von mehreren Flaschen Fusel zu genießen. Die Wahl musste trotzdem schwerer gewesen sein, als vermutet. Delilah entschloss sich ganz spontan dafür, mitzumischen. Sie war zurückhaltend in ihren Erklärungen, meinte aber, sie könnte dringend einmal ein bisschen Aufregung gebrauchen. Was auch immer das genau heißen mochte. „Deinem Gesichtsausdruck nach zu urteilen, überrascht dich die Auswahl des neuen Unterschlupfs.“, stellte eine kühle, emotionslose Stimme ganz und gar richtig neben ihm fest. Nataniel blickte zur Seite und hob leicht den Kopf, um in die unheimlichen Augen des letzten Mitglieds der Truppe sehen zu können. Sie waren pechschwarz, mit einem schmalen, goldenen Rand um die Iris herum. Absolut seltsam, genauso wie der Mann zu dem sie gehörten. Ryon war so überraschend neben ihnen in der Bar aufgetaucht, wie es der echte Weihnachtsmann nicht besser geschafft hätte. Noch dazu passte er so wenig in die Umgebung, wie der Rest der Bande mit ihrem Erscheinen hier in dieses Hotel passten. Der große Gestaltwandler trug einen beigefarbenen Anzug, ein weißes Hemd und eine flammend rote Krawatte, die gut zu den rötlichen Strähnen in seinen Haaren passten. Die genauso seltsam waren, wie der Rest von ihm. Von weiß- bis goldblond, von dunkel- bis hellrot, bis hin zu schwarzen Strähnen, war alles dabei. Doch was Nataniel am meisten an diesem Mann einschüchterte, war die absolute Abwesenheit irgendeines Gefühls. Er war nicht nur größer als er selbst, auch seine Ausstrahlung schien komplett über alles hinaus zu gehen, was er je gesehen hatte. Einfach nur unheimlich, genauso wie der Rest. Was Ryon anging, wusste Nataniel überhaupt nichts über ihn. Nur, dass er lediglich das Gespräch über die Moonleague aufgeschnappt haben musste, um sich sofort dazu zu entschließen, mit zu machen. Ohne irgendwelche Bedingungen daran zu hängen. „Es dürfte nur schwierig sein, hier in diesem Aufzug überhaupt rein zu kommen. Dich natürlich ausgeschlossen.“, gab Nataniel ehrlich zu. Vor diesem Mann brauchte man nichts verheimlichen. Es schien ohnehin unmöglich zu sein. „Mit genügend Geld steht einem die Welt offen. Lass mich das regeln.“ Seine Augenbraue hob sich, als er Ryon skeptisch anblickte. Oh ja, der Kerl wurde immer unheimlicher. Doch noch ehe er weitere Fragen stellen konnte, zog der Hüne sein Jackett aus, um es Delilah umzuhängen. Sie schien ebenfalls keine Fragen nötig zu haben, begriff sie doch auch so, dass ihr Nuttenoutfit hier nicht gerade gut ankommen würde. Obwohl ihr kühner Gesichtsausdruck besagte, dass sie auch nackt hinein gegangen wäre, ohne auch nur das kleinste Schamgefühl in sich aufkommen zu lassen. Eine Kämpfernatur. Das musste sie sein. Während ‚D‘ und ‚J‘ – die Zwillinge – den Hammer Schuppen begafften, waren wenigstens Bruce und Khan so klug, ihre zerknitterte Kleidung etwas zu richten und sich noch den ein oder anderen Blutfleck zu entfernen, den sie übersehen hatten. Danach stand ihnen eigentlich nichts mehr im Wege. Wenigstens musste Nataniel sich keine Sorgen um Francys machen. Die hatte offenbar eigene Pläne gehabt und war kurz nach Verlassen der Bar ebenfalls aufgebrochen. Während Nataniel fast alleine im Fahrstuhl stand und der Page ihn nicht anzustarren versuchte, entspannte er sich langsam wieder. Die Truppe war dank Ryons Hilfe in verschiedenen Zimmern untergekommen und da sie ohnehin niemand kannte, war Anonymität absolut kein Gesprächsthema gewesen. Erst jetzt begann er langsam zu begreifen, was das bedeutete. Unglaublich aber wahr, er hatte tatsächlich tatkräftige Unterstützung gefunden. Bis auf Ryon kannte er von jedem das Tier, das in ihnen schlummerte. Zwar waren nicht alle Raubtiere, aber durch und durch brauchbar. Für Ablenkung würde also auf jeden Fall gesorgt sein. Nataniel bekam das Grinsen nicht mehr aus dem Gesicht, obwohl es dank seiner aufgeplatzten Lippe etwas wehtat. Ein paar Schrammen hier und da, inklusive blutiger Knöchel, waren das Ergebnis der Prügelei gewesen. Seine verletzte Seite hatte alles ganz gut überstanden. Er hatte besonders darauf geachtet, sie niemals ungeschützt zu lassen. Außerdem wäre es ihm bei der kleinen Euphorie, die da in ihm keimte, ohnehin egal gewesen. Die Mühe hatte sich auf alle Fälle gelohnt. Schwungvoll sperrte er somit die Tür zu seinem und Amandas Zimmer auf und schloss sie wieder hinter sich. Endlich war er wieder bei ihr. Zumindest sagte ihm das ihr Geruch, noch ehe er hochblickte. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)