Wider Willen und Plan von Sean (Pokémon-Geschichte mit eigenen Charakteren.) ================================================================================ Kapitel 1: Lohgock ------------------ Mikko zog sich die Mütze tiefer ins Gesicht und vergrub die Hände in den Hosentaschen. War aber auch eiskalt. Missmutig trat er eine leere Getränkedose vor sich her, die laut scheppernd über den Asphalt klapperte. Die sonst selbst bei kaltem Winterwetter belebten Straßen Wiesenflurs waren heute fast leer und die wenigen Menschen und Pokémon, die ihm dennoch begegneten, waren schweigsam und hatten es zumeist einfach zu eilig, um zu einem Gespräch irgendwo stehen zu bleiben. Das lag nicht etwa am Winter, der Mikko dieses Jahr viel strenger vorkam als im Vorjahr, sondern daran, dass der Held der Stadt gestorben war, und man um ihn trauerte. Eljas, seines Zeichens Pokémon-Trainer, hatte seine Reise einst hier in Wiesenflur begonnen und hatte ihren Namen berühmt gemacht, als er Champion der Pokémon-Liga wurde. Er war das große Vorbild jedes Kindes gewesen, der liebste potentielle Schwiegersohn aller Eltern und seit kurzem sogar Ehrenbürger. Und heute trug man ihn zu Grabe. Mikko zuckte mit den Schultern. Nicht, dass es ihm nicht leid tat, aber schließlich hatte er den Kerl nicht mal gekannt. Jeden Tag starben Menschen, die er nicht kannte, da konnte er doch nicht jedes mal trauern. Und nur weil einer Pokémon-Meister war, war er doch nicht mehr wert, als andere Menschen. Oder? Außerdem war nun mal nicht jeder total verrückt danach, Pokémon-Trainer zu werden. Mikko zum Beispiel nicht. Er wusste noch überhaupt nicht, was er mal werden wollte. Als er klein war, hatte er ein Astronaut werden wollen, aber das hatte er sich inzwischen aus dem Kopf geschlagen. Vielleicht auch Comic-Zeichner, das wäre richtig cool, auch wenn sein Vater immer sagte, das sei eine brotlose Kunst (womit er meinte, das man damit kein Geld verdienen konnte). Jedenfalls wandte Mikko sich betont in die dem Friedhof entgegengesetzte Richtung, während der Rest der Stadt dem gefallenen Helden ihren Respekt erwies. Sogar schulfrei hatte es dafür gegeben, obwohl sie heute eine Mathe-Arbeit hätten schreiben sollen. Die inzwischen arg lädierte Blechdose prallte laut gegen eine Mülltonne, hinter der mit lautem Fauchen ein schmutzbedecktes Mauzi hervor schnellte, nur um auf flinken Pfoten um die nächste Hausecke zu verschwinden. Er dachte an sein zu Hause, wo es vor Katzen-Pokémon nur so wimmelte, da seine Eltern diese züchteten. Ein edles Snobilikat und Enekoro neben dem anderen, ganz zu schweigen vom überall neugierig herum wuselnden Nachwuchs. Pokémonhaare fanden ihren Weg in Ecken des Hauses, von denen Mikko nicht einmal gewusst hatte, dass es sie gibt (bevor er sie sauber machen musste). Insgeheim mochte Mikko Hunde-Pokémon viel lieber (wenn überhaupt), die waren nicht so stur und eigensinnig, sondern loyal und folgsam. Aber wenn er es ganz genau nahm, kam er auch ohne Pokémon ganz gut zurecht. Klar, im Alltag waren sie durchaus nützlich, keine Frage, aber losziehen und mit ihnen Kämpfe austragen musste er deswegen nicht, und in die Fußstapfen seiner Eltern treten wollte er noch weniger. Ohne es zu merken war er bis zum Ende der breiten Hauptstraße gegangen, die sich von dort aus zu Feld und Wäldern öffnete. Früher hatten ihm seine Eltern stets eingeschärft, bloß nicht allein im hohen Gras zu spielen, da ihn wilde Pokémon angreifen könnten. Aber wie die meisten Jungen waren ihm derlei Warnungen ziemlich egal gewesen, schließlich waren die Spielplätze drinnen in der Stadt schnell langweilig und draußen konnte man Verstecken spielen und Baumhäuser bauen. Eins dieser geheimen Verstecke gab es immer noch, auch wenn er heute nicht mehr so oft dort spielte. Allein machte das einfach nicht so viel Spaß, und nachdem Lasse und Ilari beide vor einem halben Jahr mit ihrem ersten Pokémon losgezogen waren, war er nur noch selten her gekommen. „Wilde Pokémon“, brummte er während er den Waldweg entlang ging und den Schal enger zog, „Als wenn die einen bei jeder Gelegenheit anspringen wür--“ Er brachte den Satz nicht zu Ende denn genau in diesem Moment brach ein Rattfratz aus einem nahen Gebüsch und ihm auf dem Fuß folgten ein Schwalbini und, was die Sache nicht gerade besser machte, ein Schwalboss. Ersterem wich er gerade noch aus, das andere kollidierte laut kreischend mit seiner Schulter. Vom Aufprall zu Boden geworfen konnte er kaum die Arme heben, um sich gegen das ärgerliche Vogel-Pokémon zu wehren, dass nun anstelle des Rattfratz ihn in die Mangel nahm. Wild und unkoordiniert nach dem Angreifer tretend kam es einem Wunder gleich, dass er wieder auf die Beine kam, um die Flucht anzutreten. In der Hoffnung, die Flügelspannweite gegen das Schwalboss einsetzen zu können, stürzte er geradewegs ins nächstbeste Gebüsch und ins dichtere Unterholz, doch die Strategie schlug fehl; den großen Vogel störten die kleineren Äste nicht im Geringsten. Wäre ja auch zu schön gewesen. Da traf man Jahrelang auf nichts gefährlicheres als Raupys und dann so was! Als sich eine widerspenstige Wurzel in seinen Weg stellte und er unsanft erneute Bekanntschaft mit dem Waldboden machte und er gerade dachte, dass er seinem hartnäckigen Verfolger erlegen war, erklang ein lauter, seltsam hohler Schrei und gleich darauf schoss eine Feuerlanze knapp über seinen Kopf und direkt auf das attackierende Schwalboss zu. Mit vor Schreck und Überraschung geweiteten Augen riss er sich die leicht angekokelte Mütze vom Kopf (immerhin waren die ohnehin schon kohlrabenschwarzen Haare verschont geblieben) als der Urheber des Feuers hinter einem Baum hervorschoss. Das Lohgock, denn um ein solches musste es sich handeln, verlor keine Zeit und griff das verletzte Vogel-Pokémon an. Dieses hob nur mühsam und unter lautem Kreischen wieder ab, kreiste kurz über dem aufmerksam aufsehenden Feuer-Pokémon und setzte dann urplötzlich zum Sturzflug an. Zu Mikkos Entsetzen machte das Lohgock keine Anstalten auszuweichen. Stattdessen machte es einen gewaltigen Satz, dem Angreifer entgegen und ein heftiger, gezielter Hieb holte den Vogel aus der Luft, schleuderte ihn zu Boden. Lohgock landete, bedachte seinen Gegner für einen Moment mit einem Prüfenden Blick und entschied dann, dass der Kampf zu Ende sei. In der Tat zuckte das Schwalboss bestenfalls noch, die Schwingen zum Schutz um sich gelegt. Nun richtete sich das Lohgock zu seiner vollen Größe auf, womit es Mikko deutlich überragte; es musste an die zwei Meter groß sein. Mikko rappelte sich ebenfalls auf. „Danke.“, murmelte er, schließlich hatte das Pokémon ihm aus der Patsche geholfen. Aber wo kam es überhaupt her? Mikko sah sich um, konnte aber keinen Trainer entdecken. Trotzdem. Lohgocks liefen nicht einfach wild durch den Wald, also musste es wohl irgendwo hingehören. „Loh, Lohgock!“, gurrte es nun und wies mit einer Krallen besetzten Pranke auf das verletzte Schwalboss. Ja, was sollte er mit ihm tun? Er konnte es schwerlich fangen, denn als überzeugter nicht-Trainer trug er keine Pokébälle mit sich, und selbst wenn, er wollte das Pokémon ja gar nicht haben. „Loh!“, wiederholte das Feuer-Pokémon mit Nachdruck. Zögernd näherte Mikko sich dem Schwalboss. Die dunkelblauen Federn waren matt, staubig und großteilig angesengt, seine Augen waren geschlossen und der mächtige Vogelleib zitterte mit jedem Windzug. Nein, liegen lassen konnte er es kaum. Vorsichtig, schon um nicht gleich wieder den seinen Zorn auf sich zu ziehen, hob er das Pokémon hoch. Es war unhandlich und schwer, wenn auch leichter als er erwartete hatte. Er würde es einfach ins Pokémon-Center schaffen, dann war er das Problem los. Erst als er es durch das Dickicht und zurück auf den Weg geschafft hatte bemerkte er, dass das Lohgock ihm folgte. Ob es sich versichern wollte, dass das Schwalboss versorgt wurde? „Wo ist denn dein Trainer?“, fragte Mikko irritiert, was sofort bewirkte, dass das Pokémon stehen blieb. Er sah sich um, ruckte das nicht leichter werdende Pokémon auf seinem Arm zurecht. Das Lohgock hatte den Blick gesenkt. Es sah... ja, es sah traurig aus. Niedergeschlagen. Ein leises Krächzen seitens des Schwalboss erinnerte ihn daran, dass er gar keine Zeit zu verlieren hatte. Der Trainer des Lohgocks würde sich schon finden, womöglich sogar im Pokémon-Center. Schwester Joy sah ihn tadelnd an, als er ihr das verletzte Pokémon präsentierte. Bevor er auch nur ein Wort einer Erklärung loswerden konnte, hatte sie es ihm schon abgenommen und auf eine Trage gelegt. „Unverantwortlich!“, schimpfte sie, „Wisst ihr Jungs denn nicht, wann Schluss sein muss? Manchmal muss man einen Kampf eben aufgeben, bevor es so weit kommt!“, meinte sie, doch ihr Blick war voll Sorge für das Pokémon, dessen Behandlung sie sofort begann. Die anderen Trainer hatten ihm dagegen kaum Beachtung geschenkt; im Center war ein reges Kommen und Gehen, selbst jetzt da die Stadt in Trauer war. Vielleicht gerade jetzt. „Es ist gar nicht mein Pokémon!“, schaffte er es endlich zu erklären, „Es war im Wald, also, es hat mich angegriffen und...“ „...und du hast gleich dein Feuer-Pokémon zur Verteidigung gerufen.“, beendete Schwester Joy seinen Satz. „Nein! Ich meine, es war nicht mein Lohgock!“, irgendwie wurde die Begründung nicht neuer. „Es ist einfach so aufgetaucht.“ Die Schwester antwortete nicht mehr, sondern schickte ihn einfach aus dem Behandlungszimmer. Großartig. Andererseits konnte er ja genauso gut nach Hause gehen; der Nachmittag war praktisch vorbei und das verletzte Schwalboss war versorgt. Mehr konnte man nun wirklich nicht von ihm verlangen. Aber Mikko hatte nicht mit der Anhänglichkeit des Lohgocks gerechnet, dem er vor dem Pokémon-Center wieder begegnete. Scheinbar hatte es seinen Trainer hier nicht gefunden. Ob das hieß, dass er sich darum auch noch kümmern musste? Er hatte nicht wirklich Lust, sich erneut mit Schwester Joy auseinander zu setzen, aber wo sollte er sonst nachfragen, ob jemand wusste, wo das Lohgock hingehörte? „Schau, ich hab mich um das Schwalboss gekümmert, okay? Und noch mal danke, dass du mir geholfen hast, aber... also, ich geh jetzt nach Hause. Such deinen Trainer, oder was auch immer.“, damit wollte er sich abwenden, doch die Klauen des Lohgocks gruben sich unbarmherzig in den Stoff seiner Jacke und hielten ihn fest. Er konnte nur froh sein, dass die Flammen um sein Handgelenk nicht fröhlich loderten. „Hey--“, setzte er an, doch der Ausdruck im Gesicht des Pokémons ließen ihn inne halten. Wie vorhin, als er nach seinem Trainer gefragt hatte, ließ es auch nun den Kopf hängen, auch wenn seine Schultern ärgerlich bebten. „Tut mir Leid.“, sagte er, hauptsächlich weil er nicht wusste, was er sonst sagen sollte. „Loh...“, gurrte es unglücklich zurück, die tiefe Stimme klang plötzlich ganz anders als zuvor im Kampf. Zögernd ließ es Mikko los und trat einen Schritt zurück. Dann dämmerte es Mikko. Aber das konnte doch nicht sein...! „Bist du... bist du Eljas’ Pokémon?“, fragte er ungläubig, und der Schrei des Lohgocks war Antwort genug. Eljas’ berühmtestes Pokémon war sein Lohgock gewesen, es war immer mit ihm abgebildet worden, in allen Zeitungen, auf der Website der Stadt, auf Postern – und jetzt war er tot, gestorben bei einem Unfall, einem Steinschlag im Gebirge, zusammen mit einem weiteren Trainer, der immer noch bewusstlos im Krankenhaus lag. Mikko hatte es in den Nachrichten gesehen. Und was geschah eigentlich mit Pokémon, wenn ihr Trainer starb? Gerade wenn es so früh war, so unerwartet? Mikko hatte keine Ahnung. „Es tut mir so Leid.“, flüsterte er, und endlich, zu guter letzt, trauerte er doch wie alle anderen in der Stadt, vielleicht sogar noch mehr. Kapitel 2: Schwalboss --------------------- Mikko versuchte den Abend über, möglichst wenig an den vergangenen Nachmittag zu denken. Dass sein kleiner Bruder Oskari, gerade sechs Jahre alt, ein Flemmli-Stofftier mit sich herum trug machte ihm das auch nicht eben leichter. Seine Eltern, die beide auf der Beerdigung gewesen waren, wirkten ebenso bedrückt. Aber sie hatten Wiesenflurs Helden auch genauso verehrt wie alle anderen. „Is’ so schad um den Jung’.“, meinte sein Vater nicht zum ersten Mal, „Hab’ ihn mal getroffen. Höflicher junger Mann, Eljas.“ Seine Mutter bürstete durch das glänzende Fell des Enecos auf ihrem Schoß. Seit ungefähr einer Stunde. Und seufzte. Oskari verstand das alles nicht ganz, aber Mikko wusste, warum Flemmli sein Lieblings-Pokémon war. Es war Eljas’ erstes Pokémon gewesen, das wussten alle Kinder in der Stadt, vor allem die, die selbst Pokémon-Trainer werden wollten. Mikko ging früh schlafen, hauptsächlich um nicht weiter nachdenken zu müssen. Wirklich gut klappte das nicht, vor allem weil ihn früh am nächsten Morgen der laute Schrei eines Vogel-Pokémons aus dem Schlaf riss. Der Moment in dem ihn das Schwalboss im Wald angegriffen hatte stand ihm wieder lebhaft vor Augen und er wollte gerade die zwei Taubogas ihrer Nachbarn verfluchen, als der Schrei erneut ertöhnte, und irgendwie klang es nicht wie ein Tauboga. Mit vom Schlaf verwuschelten Haaren richtete er sich auf und zog den Vorhang seines Schlafzimmerfensters zur Seite. Und prallte erschrocken zurück. Direkt vor seinem Fenster auf einem der Strommasten hatte es sich ein ihm verdächtig bekannt vorkommendes Vogel-Pokémon gemütlich gemacht und holte um – Mikko warf einen Blick auf die Uhr – fünf Uhr in der Früh die halbe Nachbarschaft aus dem Bett. Er stöhnte innerlich auf. Womit hatte er so was eigentlich verdient? Die Versuchung, Unwissen vorzutäuschen und sich wieder im Bett zu verkriechen war groß, aber er hörte schon seine Eltern auf dem Flur und das Miauen eines nervösen Snobilikats, das Nachwuchs erwartete, war ein beinahe so penetranter Wecker wie das Schwalboss draußen. Schließlich raffte er sich doch auf, die warme Bettdecke zurück zu lassen; sich schnell etwas wärmeres anziehend hastete er los um dann draußen Schadensbegrenzung zu betreiben. Seine Eltern warfen ihm zwar fragende Blicke zu, waren aber vorerst mit ihren eigenen Pokémon beschäftigt. Darauf achtend nicht über zwei sich balgende Enecos zu stolpern verließ er das Haus; das Schwalboss hatte seinen Wachtposten auf dem Strommast verlassen und kreiste nun über ihrem Haus in der Luft. Wenn er das richtig erkannte handelte es sich in der Tat um dasselbe Pokémon, die Spitzen seiner Schwungfedern waren immer noch etwas angesengt. Wenn sich dieses Schwalboss als so anhänglich wie Eljas' Lohgock herausstellte, hatte er ein Problem. Er schluckte, unentschlossen was genau er nun tun sollte. „Was...“, er holte tief Luft, „Was machst du hier?“, rief er dem Pokémon entgegen. Ein Fehler, und zwar ein großer, denn nun schoss das Schwalboss vom Himmel auf ihn zu. Mikko hob die Arme in einem sinnlosen Verteidigungsversuch, doch der Vogel bremste kurz vor ihm mit kräftigen Flügelschlägen ab, und landete, still, als sei gar nichts gewesen. So weit so gut. Oder auch nicht. Denn was das Pokémon nun von ihm wollte, dahingehend hatte er immer noch keinen blassen Schimmer. „Warum bist du nicht mehr im Pokémon-Center?“, hakte er nach, „Du siehst nicht wirklich fit aus...“ Diese Aussage beantwortete das Schwalboss mit einem empörten Ausruf, ganz als sei jeder Zweifel an seiner Stärke unbegründet, lächerlich und geradezu anmaßend. Mikko war wenig überzeugt. „Du solltest dich ausruhen.“, befand er, „Und dann... du bist doch wild... oder hast du einen Trainer?“, darauf erhielt er keine Antwort, nur einen ihm nichts sagenden sturen Blick. „Das mit gestern...“, begann er, aber irgendwie sah er nicht ganz ein, sich zu entschuldigen, schließlich war er es gewesen, der zuerst angegriffen worden war. Er zuckte mit den Schultern. „Mikko?“, er drehte sich um; sein Vater war ihm gefolgt, ebenso wie ein winziges Mauzi, das um seine Beine strich. „Weißt du, wo Schwalboss herkommt?“ Mikko hätte diese Frage gerne mit einem entschiedenen 'nein' beantwortet, aber so ganz hätte das wohl nicht der Wahrheit entsprochen. „Ich weiß nicht.“, war sein schwacher Versuch, „Irgendwie... ja.“, murmelte er. Sein Vater nickte und hob das kleine Katzen-Pokémon zu seinen Füßen hoch. „Also kümmerst dich darum.“, stellte er fest. Nur kam das für Mikko aber überhaupt nicht in Frage. „Aber es ist doch nicht mein Pokémon! Ich war nur zufällig im Wald als... also, als es mich angegriffen hat. Und dann ist dieses Lohgock aufgetaucht und sie haben gekämpft, und ich hab Schwalboss ins Pokémon-Center gebracht, aber das war's. Ich weiß nicht, warum es hier ist!“, er klang selbst für seinen eigenen Gescmack etwas zu dramatisch. „Aber nu isses nu mal hier, und es friert einem gleich die Zehen ab. Also schlag ich vor, du holst deine Jacke und bringst's wieder ins Center, hm?“, dann sah er auf, an Mikko vorbei in Richtung Straße. „Oh. Hast noch mehr Gesellschaft, wie's scheint.“ Er hatte so eine Vorahnung was genau ihm das Gesellschaft leisten wollte, und tatsächlich: er hatte sich kaum umgedreht, als er auch schon das inzwischen bekannte, tiefe Gurren des Lohgoks vernahm. Er konnte einen Seufzer nicht unterdrücken. Sein Blick wanderte von Lohgock zurück zu Schwalboss. „Okay. Komm.“, meinte er schließlich, denn sein Vater hatte Recht, das Pokémon gehörte ins Pokémon-Center, wo man es endgültig gesund pflegen konnte. Der große Vogel schüttelte zwar etwas widerwillig den Kopf, folgte Mikko dann aber ums Haus herum; niemand war davon mehr überrascht als Mikko selbst, denn welchen Grund hatte das Pokémon schon, auf ihn zu hören? Vorne erwartete ihn sein Vater mit Schal und Jacke. „Scheint doch 'n lieber Kerl zu sein.“, befand er mit einem Nicken in Richtung Schwalboss. Mikko zuckte mit den Schultern und schlüpfte in seine Winterjacke. „Weiß nicht so wirklich.“, antwortete er unwillig und machte sich auf den Weg, nachdem er sich vergewissert hatte, dass seine Pokémon-Gefolgschaft noch da war. Wie das aussehen musste, dachte er, Lohgock und Schwalboss folgten ihm wie zwei zu groß geratene Hündchen. Er war ganz froh, dass der Weg zum Center nicht weit war – Wiesenflur war eben eine recht kleine Stadt – denn Schwalboss sah mit der Zeit nicht eben besser aus, lediglich seine Sturheit trieb es weiter, so viel war offensichtlich. Ein weiterer kleiner Gefallen den ihm das Schicksal tat war, dass so früh am Morgen noch kaum jemand unterwegs war, der ihn und seine merkwürdige Begleitung hätte sehen können, das war immerhin etwas. Er gähnte und fuhr sich mit den Fingern durch die wilde schwarze Bettfrisur, aber da war nicht viel zu machen, seine Haare sahen ja selbst nach Bürstenbearbeitung noch wie ein Wischmob aus (sagte zumindest seine Mutter). Trotzdem sah er wohl noch besser aus als Schwalboss. Vor dem Center fütterte Schwester Joy eben einen kleinen Schwarm Schwalbinis, doch diese Arbet verlor augenblicklich an Priorität, als sie Schwalboss entdeckte. „Da ist es ja!“, rief sie mit einer Mischung aus Freude und Sorge und die Schwalbinis flatterten zeternd auseinander. Schwester Joys strenger Blick landete auf Mikko. „Ich dachte, es sei nicht dein Pokémon.“, merkte sie kritisch an während sie sich dem verletzten Pokémon widmete und es ins Innere des Centers brachte. Mikko folgte ihr, Lohgock dicht auf den Fersen. „Ist es nicht.“, erkärte er mit fester Stimme und es war Zufall, dass Schwalboss gerade in diesem Moment protestierend kreischte, „Es ist heute morgen bei mir zu Hause aufgetaucht...“ Aber wie schon beim letzten Mal war der Schwester auch dieses Mal die Pflege des Pokémons weit wichtiger als seine Erklärungen und er wurde ignoriert, was vielleicht auch ganz gut so war. Er folgte ihr zwar ins Behandlungszimmer, blieb aber still während sie ein heilendes Spray auftrug. Lohgock machte einen gurrenden Laut, der Mikko beruhigend vorkam. Unwillkürlich lächelte er, als er das Feuer-Pokémon ansah. „Weißt du, warum Schwalboss mir folgt...?“, fragte er leise, nicht wirklich eine Antwort erwartend. Eljas' Pokémon sah erst zu Schwalboss hinüber, dann zurück zu Mikko. Und nickte. Mikkos Augen weiteten sich überrascht. „Aber... hatte Eljas denn ein Schwalboss?“ Sofort bereute er es, den Trainer erwähnt zu haben, denn der Ausdruck von Trauer der sofort in Lohgocks Gesicht trat war zu deutlich, um übersehen zu werden. Schwach schüttelte es den Kopf. „Lohgock, Loooh.“, machte es, doch Mikko hatte keine Ahnung, was es ihm sagen wollte. Dann deutete es auf Mikko, wie schon gestern im Wald. „Loh!“ „Was soll mit mir sein...?“ Doch Lohgock blieb ihm die Antwort schuldig, denn in diesem Moment hatte Schwester Joy die Behandlung beendet und wandte sich an Mikko. „Du solltest wirklich besser auf dein Pokémon acht geben.“, sagte sie, „Am besten du bleibst ein bisschen hier, sonst macht es sich am Ende wieder auf die Suche nach dir.“, und mit einem missbilligenden Blick ließ sie ihn mit den zwei Pokémon allein. Schicksalsergeben ließ er sich auf dem Stuhl neben Schwalboss' Krankenbett nieder und musterte das nun schlafende Pokémon. Es hatte schon etwas erhabenes, selbst jetzt wo es erschöpft schlief, gab er innerlich zu. Die dunkelblauen Federn sahen schon besser aus und der scharfe Schnabel und nicht zuletzt die Krallen wiesen es als ausgezeichneten Kämpfer aus. Vorsichtig streckte er die Hand aus und strich über die dunklen Federn von Schwaboss' angelegtem Flügel. „Und was soll ich mit ihm machen?“, griff er sein Gespräch mit Lohgock, wenn man es denn als solches bezeichnen konnte, wieder auf, „Ich weiß gar nicht, was ich mit so einem Pokémon anfangen soll...“ Lohgock machte eine ruckartige Bewegung mit den Armen, wie eine Reihe von Schlägen. „Kämpfen?“, ein entschiedenes Nicken seitens Lohgock. „Ich bin kein Trainer, und ich will auch keiner sein.“, diesen Satz hatte er schon so oft gesagt, dass er sich wie eine leere Formel anfühlte. „Loh. Looohgock.“, widersprach das Feuer-Pokémon mit fester Stimme. Großartig. Wie kam er eigentlich in solche Situationen? „Tut mir leid. Aber da müsst ihr euch schon jemand anderen suchen.“ Das schien Wirkung zu zeigen, denn Lohgock sagte nichts mehr, sondern verließ das Zimmer. Nun, das war eins; blieb noch die Sache mit Schwalboss, dann war die Angelegenheit geklärt. Aber erst mal blieb ihm wohl nichts anderes übrig als zu warten, bis Schwalboss aufwachte. Er hatte gedankenlos vor sich hingedöst, als ihn Schwalboss' inzwischen vertraute laute Stimme aus seinen inhaltlosen Tagträumen riss. Er schreckte hoch; von draußen fiel kein Licht mehr ins Zimmer, dafür war unter der Tür zum Flur ein schmaler Lichtstreifen zu sehen. Hatte er etwa den ganzen Tag hier gesessen!? Er streckte sich und seine protestierenden Muskeln bestätigten den Verdacht. Die digitale Uhr zeigte ihm an, dass es kurz nach fünf war. Schwalboss sah entscheidend besser aus und betrachtete ihn aus wachen, aufmerksamen Augen. „Es geht dir besser, ja?“, er war ehrlich erleichtert, „Dann magst du doch sicher zurück in den Wald, nicht? Ich meine, jetzt wo du wieder gesund bist...“ Das Pokémon schüttelte mit dem Kopf und schlug zwei mal vehement mit den Flügeln. Ein klares 'nein'. „Aber...“, wie sollte er ihm das nur begreiflich machen?, „Warum ich!?“, entfuhr es ihm schließlich mit all der angesammelten Frustration der letzten zwei Tage. Darauf hatte Schwalboss wohl auch keine Antwort, oder sein Ausruf war einfach keine solche wert. „Ich mein doch nur... wenn du einen Trainer willst, die würden Schlange stehen für dich! Nehm ich an.“ Bevor Schwalboss darauf reagieren konnte öffnete sich erneut die Tür und ein Mikko wohl bekanntes Feuer-Pokémon betrat das Zimmer. Lohgock sagte nichts, hielt Mikko lediglich eine zur Faust geballte Pranke entgegen. Als der Junge es bloß fragend ansah griff Lohgock ungeduldig nach seinem Arm und ließ aus der zuvor geballten Faust ein kleines rundes Objekt in seine Hand fallen. Es war ein Pokéball, wenn auch ein ziemlich lädierter, verkratzt von offensichtlich regem Gebrauch. Mikko war sich nicht sicher, was genau Lohgock ihm damit sagen wollte. Wessen Pokéball war das, und wo hatte das Pokémon ihn aufgetrieben? „Lohgock...“, begann er, doch in diesem Moment ließ es einen letzten Ruf erklingen, bevor es ohne Widerstand in eben jenen Pokéball zurück kehrte, den Mikko in der Hand hielt. Seine Augen weiteten sich, denn niemand außer dem Trainer eines Pokémons sollte es in seinen Ball zurück rufen, und mit diese Erkenntnis machte ihm ein für alle mal klar, was Lohgock von ihm wollte. Und vielleicht auch, was Schwalboss wollte. Aber das konnte er ihnen nicht geben... oder? Kapitel 3: Jaska ---------------- Zumindest nachts war es im Krankenhaus so ruhig, wie der Oberarzt es sich viel öfter für seine Patienten gewünscht hätte. Seit gut einer Woche war es tagtäglich so chaotisch wie sonst nur bei größeren Katastrophen. Er seufzte. Nun ja, es handelte sich wohl durchaus um eine Katastrophe, aber auch der Ansturm von Reportern, Freunden, Bekannten und Verwandten würde nichts an der Situation ändern. Jaska schlief, so sah es zumindest aus. Der junge Mann, der gemeinsam mit Eljas Opfer eines Unfalls in den Bergen gewesen war, lag im Koma. Selbst wenn dies nicht der Fall gewesen wäre, seine Verletzungen hätten es ihm unmöglich gemacht, das Bett zu verlassen. Gebrochene Rippen waren kein Spaß, und ob er seine linke Hand je wieder voll benutzen würde war noch nicht endgültig zu sagen – nur bezweifelte er es stark. Ein Psiana lag auch jetzt zusammen gerollt am Fußende seines Bettes; es wich nicht von seiner Seite. Der Arzt lächelte; treue Pokémon wie diese waren es, die zusammen mit ihren Trainern Höchstleistungen erbrachten; das enge Band zwischen ihnen machte es möglich. Das Psycho-Pokémon sah ebenso friedlich aus wie sein Trainer, doch ob dieser am nächsten Morgen – oder irgendeinem Morgen – erwachen würde stand in den Sternen. Vielleicht träumte er. Hoffentlich. Der Arzt wollte nicht daran glauben, dass der junge Trainer nie wieder die Augen öffnen würde, nicht wo so viele Menschen auf ihn warteten. Jaska hatte geträumt. Wieder und wieder hatte er das unheimliche, unheilverkündende Grollen in der Felswand über ihnen gehört und ein aufs andere Mal waren die schweren Felsen auf ihn zugestürzt. Auf ihn und Eljas. Es war wie die Art Alptraum, aus der man im Moment des Schreckens erwachte, doch stattdessen fand Jaska sich in einer unaufhaltsamen Endlosschleife, die ihm immer wieder den letzten Augenblick vorführte, als Eljas, scheinbar seelenruhig, den Blick gehoben hatte. Er konnte sich nicht erinnern, ob sein Freund geschrien hatte. Der Schrei, der seinen Traum füllte, war sicher sein eigener. Dann, irgendwann, verstummte das Grollen und die Felsen verschwanden. Die melodische Stimme, die er stattdessen hörte, hätte er überll wieder erkannt. 'Psiana', wollte er sagen, aber kein Ton entkam seiner Kehle. Hatte er überhaupt einen Körper? Er kam sich unvollständig vor, schlafend aber bewusst und alles andere als wach. Wie der hilflose Moment zwischen Schlafen und Wachen. Dann erst wusste er, dass er sich in einem Alptraum befunden hatte. Aber nicht warum. Er wusste, dass Psiana ihn schützte; war er schwer verletzt? Wie ging es Eljas? Ob er in einem ähnlichen Traum gefangen war? Er besaß doch kein Psycho-Pokémon, das ihn daraus befreien konnte...! Er wollte sich wehren, sich gegen etwas werfen – die Formlosigkeit machte ihn wahnsinnig. Wie lange war er überhaupt schon... so? Psianas Stimme, wie eine Mischung aus Miauen und Gesang, wollte ihn beruhigen, doch sein Unwissen trieb ihn fast um. Und dann war einfach alles schwarz und er schlief wieder tief ein, traumlos dies mal. Der Oberarzt des Krankenhauses in Seegrasulb City ließ nur noch engste Verwandtschaft zu seinem berühmtesten Patienten vor. Reporter und dergleichen wurden schon am Haupteingang abgewimmelt und das Personal hatte strikte Anweisungen, die Seitenausgänge stets verschlossen zu halten und bei Kündigung war es ihnen untersagt, Unbefugte herein zu lassen. Unbefugt waren dieser Tage eine Menge Leute. Jaskas ältere Schwester kam jeden Tag; von ihr wusste der Arzt, dass ihre Mutter bereits vor Jahren gestorben war und ihr Vater auf einer Pokémon-Reise im Ausland war und niemand wusste wo genau er sich aufhielt, noch wie man ihn erreichen konnte. Seine zwei jüngeren Brüder, Zwillinge, sprachen kein Wort, begleiteten ihre Schwester aber mehrfach in der Woche. Die Familie war klein, aber Jaska konnte ihre Nähe nur helfen. Wenn ihm denn irgendetwas helfen konnte. Heute waren die Zwillinge zum ersten Mal allein zu Besuch, sie hatten Futter für Psiana und einen Schlafkorb für das Pokémon mitgebracht. Laut reden mochten sie zwar weiterhin nicht, aber sie flüsterten pausenlos und vehement auf ihren großen Bruder ein. Ihre Schwester hatte ihnen genau erklärt, warum Jaska nicht aufwachte, und dass er sie vielleicht, ganz vielleicht, hören konnte, und dass es ihm helfen würde, aufzuwachen. Die streng erhobene Stimme einer Schwester riss ihn aus seinen Gedanken. Den Grund sah er gleich, als er den Emfangstisch des dritten Stocks erreichte. Ein Junge von zehn oder elf Jahren stritt unablässig mit den Schwestern. Der Arzt schüttelte unzufrieden den Kopf; wieder ein Fan. Wie er so weit gekommen war war ihm ein Rätsel, die ganzen besorgten Trainer wurden schon seit gestern im Erdgeschoss aufgehalten. „...ich verstehe Sie ja, aber es ist wichtig! Ich will auch nicht selbst, ich kann hier warten...“, argumentierte der Junge. Der Arzt beschloss, einzugreifen. „Junger Mann, das hier ist ein Krankenhaus, kein Spielplatz und ganz sicher keine Arena.“, begann er, „Also nimm dein Pokémon und warte draußen, wie alle anderen.“, überhaupt gehörte das Lohgock in einen Pokéball, hier herrschte schließlich Ordnung. Der Junge wandte sich von der entnervten Schwester ab. „Jaska... Jaska ist doch hier, oder? Eljas' Freund Jaska.“, fragte er vorsichtig nach. Der Arzt rang sich zu einem Nicken durch. „Keine Besucher, das hat man dir sicher schon gesagt.“, sein Ton klang schärfer als sonst, aber die gegenwärtige Situation schlug sich in schlechter Laune nieder. „Ich will auch gar nicht! Aber...“, er sah mit fragendem Blick zu seinem Lohgock, „...das hier, sehen Sie, das ist Eljas' Lohgock, und...“, er suchte nach Worten, „Jetzt wo Eljas... ich meine, da gibt es doch niemanden mehr, außer Jaska...“ Mikko war sich nicht sicher, ob er hier sein sollte. Nein, genau genommen war er sich sogar ziemlich sicher, dass er hier nichts zu suchen hatte. Aber Lohgock war unnachgiebig gewesen. Nicht nur hatte es Mikko gegen dessen Willen zu seinem Trainer erklärt (und wer hatte so was schon mal gehört?), es hatte quasi auch noch Schwalboss mit angeschleppt, und jetzt besaß er zwei offensichtlich kampferprobte Pokémon, ohne auch nur im entferntesten vorzuhaben, jemals einen Kampf zu bestreiten. Wenn ihm diese Entscheidung nicht auch wieder abgenommen werden würde. Jedenfalls hatte er darauf geachtet, bloß niemandem zu erzählen, wo genau seine zwei Pokémon her kamen. Schwalboss' Geschichte ging ja gerade noch, aber Lohgocks Hintergrund würde derzeit eindeutig zu viele Fragen und Probleme mit sich bringen. Es war ja so schon schlimm genug. Jedenfalls hatte Lohgock ihm ziemlich bald zu verstehen gegeben, dass es etwas von Mikko erwartete, und zwar wollte es Jaska sehen, ein Trainer der ihm sicher vertraut sein musste. Also hatte Mikko sich, schicksalsergeben, informiert in welchem Krankenhaus Jaska zu finden war und hatte von seinen Eltern ein Schnellzugticket erbeten. Im Nachhinein hätte er wissen müssen, dass sie etwas zu schnell zugestimmt hatten; am Bahnhof hatte seine Mutter ihm einen Rucksack in die Hand gedrückt, der für einen Tagesausfug eindeutig zu ausreichend gepackt war, und sein Vater hatte ihm einen Glücksbringer mit der Aufschrift 'Pokémon-Trainer' zugesteckt. Sein Versuch, das Missverständnis aufzuklären lief so gut, wie derartige Versuche bei ihm derzeit immer liefen; mit anderen Worten, was seine Eltern anging befand er sich auf einer Pokémon-Reise, begleitet von zwei weit entwickelten Pokémon, wenn schon keinem der typischen Starter. Lohgock zumindest war zufrieden gewesen. Mikko meinte sogar, einen amüsierten Ausdruck von Triumph in seinem Gesicht lesen zu können. Für Schwaloss hatten seine Eltern ihm einen Pokéball gegeben, gefolgt von langatmigen Erläuterungen über verschiedene Modelle von Pokébällen und deren Wirksamkeit ja nach Pokémon, Areal, Tageszeit und diversen anderen Faktoren, die Mikko sich beim besten Willen (und den hatte er dabei nicht wirkich) nicht merken konnte. Jedenfalls sah Schwalboss' Pokéball anders aus als Lohgocks, er war irgendwie blau. Das Krankenhaus war leicht zu finden gewesen, es war das Gebäude mit den Fernsehwagen und der Traube von Reportern davor. Die am Eingang postierten Mitarbeiter des Krankenhauses hatten alle Hände voll zu tun und achteten nicht auf einen einzelnen Jungen, oder vielleicht sah er einfach harmlos aus, jedenfalls gelangte er in all dem Chaos recht leicht ins Innere des Gebäudes. Und nun stand er im Türrahmen zu Jaskas Zimmer und ein Paar Zwillinge funkelte ihn bitterböse an, weil er ihren Bruder beim Gesundwerden störte. Als Lohgock das Zimmer betrat traten sie einen schreckhaften Schritt zurück (es war an die zwei Meter groß, Mikko fand die Reaktion absolut verständlich), doch als ein Psiana vom Bett aufsprang und Lohgock wie einen alten Freund begrüßte entspannten sie sich. Lohgock trat langsam an den wie im Schlaf liegenden jungen Mann heran. Jaska war leichenblass, was die Sommersprossen in seinem Gesicht noch deutlicher hervorstehen ließ. Sein rotes Haar war lang und jemand hatte es zur Seite gebunden, damit es die Ärzte bei den Untersuchungen nicht störte (für Jaska selbst würde es kaum einen Unterschied machen, dachte Mikko). Lohgock gurrte, der tiefe, traurige Laut, den Mikko schon so oft von ihm gehört hatte. Psiana strich Lohgock kurz um die Beine und sprang dann mit einem eleganten Satz hinauf auf das Bett, wo es sein Gesicht behutsam gegen die Wange seines Trainers drückte. Doch Jaska rührte sich nicht, seine Augen blieben geschlossen. Das EKG piepte gleichmäßig durch die Stille, die in dem kleinen Zimmer herrschte. Lohgock blieb lange bei Jaska und dem Psiana, auch nachdem Mikko sich auf dem Flur einen Stuhl gesucht hatte und dort wartete, und auch nachdem die Zwillinge nach Hause gegangen warten, blieb es an seiner Seite. Mikko drehte einen nun leeren Pappbecher zwischen den Händen, den er dem Wasserspender entnommen hatte. Er hoffte so sehr, dass Jaska aufwachen würde. Dann konnte er sich an Mikkos Stelle um Lohgock kümmern. Vermutlich würde er sogar darauf bestehen, schließlich hatte er Eljas gekannt, wohingegen Mikko seine Karriere nicht mal ein bisschen verfolgt hatte. Lohgock hatte nur jemanden gebraucht, der es her brachte, das war alles. Er hatte nicht mit Lohgocks Hand auf seinem Kopf gerechnet, aber irgendwie fühlte sich die raue Haut der kräftigen Pranken, die in spitzen Krallen endeten, schon fast vertraut vor. Er sah auf und wusste, dass Lohgock nicht gefunden hatte was es gesucht hatte. Jaska war nicht aufgewacht. „Wollen wir gehen...?“, fragte er leise und Lohgock nickte. „Okay.“, Mikko stand auf und streckte die angespannten Glieder. Ein Wunder war eben zu viel verlangt gewesen. Der Oberarzt hatte aufgehört ihn wie ein lästiges Insekt anzusehen und verabschiedete ihn und Lohgock mit einem Lächeln. „Vertraute Menschen und Pokémon um ihm können ihm helfen.“, erklärte er, „Komatöse Zustände sind wenig erforscht, aber Menschen die aus ihnen erwacht sind haben berichtet, Dinge, die um sie herum passiert sind teilweise wahr genommen zu haben.“ Mikko nickte sein Verständnis. Sie konnten ja eine Weile in der Stadt bleiben – schließlich war er für längere Reisen ausgestattet – so dass Lohgock Jaska wieder besuchen konnte. Er suchte sich einen Schlafplatz in einer Jugendherberge. Lohgock hatte es ins Pokémon-Center gezogen, wo Trainer umsonst übernachten konnten, aber dazu hätte Mikko sich wohl als solcher registrieren lassen müssen, was er selbstverständlich ablehnte. Auch am folgenden Morgen begleitete Mikko Lohgock ins Krankenhaus, wo man sie dieses Mal ungehindert zu Jaska vorließ. Aber am dritten Tag ließ er das Pokémon allein gehen, nicht geneigt erneut Stunden auf einem harten Plastikstuhl auf dem Flur des Krankenhauses zu verbringen. Stattdessen sah er sich Seegrasulb City an, eine Stadt die durchaus etwas für sich hatte, schon weil sie direkt am Meer lag (obwohl es jetzt im Winter natürlich zu kalt zum Schwimmen war). Er war persönlich stolz auf sich, dass er es fertig brachte sich nur ein oder zwei mal wirklich zu verlaufen; mit Wiesenflur war diese Stadt einfach nicht zu vergleichen. Wo immer sich ein größerer freier Platz auftat, wurde er für einen (oder gleich mehrere) Pokémon-Kämpfe genutzt und einmal wäre er beinahe Opfer einer Aquaknarre geworden, ein anderes Mal zischten die Ranken eines Bisaknosp nur Zentimeter an ihm vorbei. Viel zu oft wurde er als harmloser Zuschauer zu Kämpfen herausgefordert und seine Aussage, kein Trainer zu sein, wurde mit skeptischen bis ungläubigen Blicken quittiert. Aber nicht nur Kämpfe gab es in Seegrasulb City. Tatsächlich fand Mikko, dass es bald mehr Wettbewerbe gab, und warum das so war erklärte man ihm ohne dass er gefragt hatte: Hier in Seegrasulb fanden die Pokémon-Wettbewerbe der Master-Klasse statt, also hielten sich die besten der besten in der Stadt auf. Zu einem Wettbewerb gehörte viel mehr Fingerspitzengefühl als zu einem Kampf, prahte eine junge Frau mit einem Tropius, denn es ging nicht nur darum, den Gegner zu vermöbeln. Mikko war das eigentlich recht egal. An Wettbewerben wollte er ebenso wenig Teil nehmen wie an Kämpfen, sie kamen ihm recht nutzlos vor; wen interessierte es denn, ob das Fell dieses oder jenen Vulnonas besonders glänzte, oder ob das eine oder andere Milotic eine besonders graziöse Hydropumpe vollführen konnte? Da war ja bald das Museum der Stadt spannender, dass Mikko sich am sechsten Tag nach ihrer Ankunft ansah, auch wenn er an Kunst nicht so viel Interesse hatte. Die letzten zwei Tage hatte er in einem Game Center verbracht, das ihn schon eher hatte begeistern können, aber Sonntags war es geschlossen und Lohgock hatte offenbar noch nicht vor, seine täglichen Krankenhausbesuche abzubrechen. Aber am Montag Morgen machte es sich nicht zu Jaska auf, stattdessen begleitete es Mikko durch die Stadt zum Bahnhof. „Nach Hause?“, erkundigte Mikko sich nach den Plänen des Pokémons, und es gurrte bestätigend. Der Schnellzug würde sie in wenigen Stunden zurück nach Wiesenflur bringen. Zur gleichen Zeit als Mikko und Lohgock den Zug bestiegen öffnete Jaska die Augen. Kapitel 4: Irja --------------- „Was machst du denn hier?“, war definitiv nicht auf der Top 10 Liste der Dinge, die Mikko hören wollte, wenn er nach Hause kam. Irgendwie erwartete er von seiner Mutter da mehr als ehrliche Überraschung und Verwunderung. Nach elf Jahren sollte ihr eigentlich klar sein, dass aus ihrem Sohn kein Trainer mehr werden würde, da konnten auch ein penetrantes Lohgock und ein eigensinniges Schwalboss nichts dran ändern. Widerwillig bis zurückhaltend hatten sie ihn dann doch wieder ins Haus gelassen, aber immerhin hatten sie keine Schnäbel, mit denen sie ihm zusetzen könnten; als er Schwalboss auf der Rückfahrt kurz aus dem Pokéball gelassen hatte, und Lohgock es anscheinend über den Stand der Dinge informiert hatte, war es alles andere als einverstanden gewesen. Momente wie diesen ließen ihn die Erfindung des Pokéballs geradezu lobpreisen. Grummelnd ließ er sich auf den Schreibtischstuhl in seinem Zimmer sinken. In der Ecke des Tisches waren seine Schulbücher aufgestapelt, das lädierte Englisch-Buch gleich neben dem wenig geliebten Mathe-Buch und dem praktisch ungenutzten Erdkunde-Buch. Unter letzterem ragte ein Zettel hervor, den Mikko sich nicht erinnern konnte dort zurück gelassen zu haben. Irritiert zog er das, was sich als Formular entpuppte hervor. Und runzelte die Stirn. Es war eine Beantragung auf Beurlaubung vom Unterricht vor dem Hintergrund einer Pokémon-Reise. Seine Eltern, sein Klassenlehrer und der Direktor seiner Schule hatten sie unterschrieben, was er in der Hand hielt war eine Kopie. Er stöhnte gepeinigt auf und ließ den Kopf in den Nacken fallen. An der Zimmerdecke klebten leuchtende Sterndu-Sticker, die er im Kindergarten dort angebracht hatte. Das Hervorziehen des Dokuments hatte ein weiteres Stück Papier zum Vorschein gebracht, was sich als Flyer herausstelte. Die Vorderzeite wurde von einem Foto eingenommen, dass (laut Überschrift) einen Professor Birk mit drei wohl bekannten Pokémon zeigte: Gackarbor, Flemmli und Hydropi. Auf der Rückseite wurden alle beginnenden Trainer aufgefordert, sich bis spätestens Ende des Monats bei Professor Birk zu melden, um von ihm das erste eigene Pokémon zu erhalten. Mikko überprüfte das Datum – die Frist war in einer knappen Woche. Seine Eltern schienen wirklich an alles gedacht zu haben, es war einfach nicht auszuhalten. Aber Mikko dachte, dass er vermutlich ohnehin kein Pokémon erhalten hätte. Er zögerte zwar, von Schwalboss oder gar Lohgock als 'seinen' Pokémon zu denken, aber der Rest der Welt würde es vermutlich so interpretieren. Wie so oft seit seinem ersten Besuch im Krankenhaus musste Mikko an Jaska denken, wie er bewusstlos da gelegen hatte, und daran wie Lohgock ihn mit stiller, bittender Verzweiflung angesehen hatte. Als könne es Jaska durch reine Willenskraft aufwecken. Lohgock musste sich schrecklich einsam fühlen; sein Trainer war tot, sein bester Freund schon mit einem Bein im Grab, und der Trainer den es sich gesucht hatte, um diese Leere zu füllen war keiner. Er war kein Trainer. Er bemerkte erst jetzt, dass er den Flyer in der Hand zu einer kleinen Kugel zerknüllt hatte und faltete ihn vorsichtig wieder auseinander. „Wurzelheim...“, murmelte er und überlegte, was einen Forscher dazu bringen konnte, in so einem Kaff zu leben. Näher als Seegrasulb, aber immer noch recht weit, und in so kleine Dörfer fuhr kein Schnellzug. Aber vielleicht gab es eine Busverbindung. Jaska war außer sich. „Lohgock war hier? Eljas' Lohgock, seid ihr sicher?“, er war we in Rage und die zwei Schwestern sahen einander besorgt an. „Der Junge, der bei ihm war, hat es gesagt.“, antwortete eine von ihnen vorsichtig. „Und da Psiana es zu kennen schien dachten wir...“ Besagtes Psiana lag momentan in jenem Korb, den die Zwillinge für es mitgebracht haben, aber es beobachtete seinen Trainer und die Schwestern aufmerksam. „Was für ein Junge?“, verlangte Jaska zu wissen und ließ kaum zu, dass die zweite Schwester nach seinem Tropf sah; er hatte jetzt ernsthaft andere Sorgen. Sie schob seine unruhigen Hände beiseite um ihre Arbeit zu tun. „Er hat seinen Namen nicht genannt.“, erklärte sie. „Aber ihr müsst ihn doch gekannt haben! Lohgock würde doch nicht mit irgendjemandem mitgehen!“, seine Augen waren feucht von Tränen, die nicht fallen wollten, „Eljas war alles für Lohgock!“ Die zweite Schwester öffnete das Fenster einen Spalt weit; auch wenn es kalt war musste etwas frische Luft herein. „Nun, hier hat ihn niemand erkannt, aber Lohgock schien ihn zu kennen, sie waren recht vertraut miteinander–“ „Blödsinn!“, unterbrach Jaska sie aufgebracht, „Eljas' Freunde waren alles erfolgreiche Trainer, Lohgock kann also unmöglich mit einem dahergelaufenen Niemand hier gewesen sein.“, er schüttelte den Kopf und zuckte, als ihm ein plötzlicher Schmerz den Atem raubte. Sein Rücken und Oberkörper schmerzten wie nichts, was er je zuvor erlebt hatte. „Egal.“, entschied er als die Schwester von seinem Tropf abließ, „Egal wer er ist, viel wichtiger ist: wo ist er? Und wo ist Lohgock?“ Wieder tauschten die Schwestern fragende Blicke aus. Woher sollten sie das denn wieder wissen? Niemand hatte sich viel um den Jungen gekümmert, nachdem Lohgocks Identität offenbar geklärt worden war und der Oberarzt sein Okay gegeben hatte. Dass es Jaska so aufregen würde hatte niemand auch nur geahnt. „Er wird sich schon finden lassen.“, ließ sich die geduldige Stimme des soeben eingetretenen Oberarztes vernehmen. „Nachdem du wieder ganz gesund bist, und nicht eher. Je mehr Ruhe du dir selbst gönnst, desto eher wird das sein.“ Jaska antwortete nicht, sondern wandte den Kopf ab, drückte ihn so weit es ging in das weiße Krankenhauskissen. „Eljas...“, flüsterte er mit unsicherer Stimme und seine Schultern begannen leicht zu beben, als er doch begann um seinen besten Freund zu weinen. Nach einer guten halbe Stunde Busfahrt wünschte Mikko sich bereits, zu Hause geblieben zu sein. Das Mädchen das neben ihm saß (er schätzte sie auf zwölf, höchstens dreizehn Jahre, jedenfalls etwas älter als er) sah schon die ganze Zeit aus dem Augenwinkel zu ihm hinüber, sagte aber nichts. Anscheinend war sie Pokémon-Trainerin, denn auf der Innenseite ihrer Weste waren sechs Pokébälle befestigt (Mikkos zwei Bälle waren in einer an seinem Gürtel befestigten Tasche und generell außer Sicht). Ihr blondes Haar war in zwei Zöpfe gefasst, die ihr bis auf die Schulter hingen. Und sie trug Hydropi-Haarspangen. Mikko konnte das alles feststellen, ohne sie anzusehen, denn er saß am Fenster und ihr Spiegelbild lag quasi unausweichbar zwischen ihm und der spannenden Aussicht nach draußen auf die Straße. Als der Bus an einer kleinen Raststätte hielt, folgte sie ihm zu der nahen Imbissbude (was ja gerade noch Zufall hätte sein können) und einem leeren Tisch (auch noch möglicherweise unbeabsichtigt, aber Mikko kam sich vor als hätte er einen Stalker), wo sie sich ihm gegenüber hinsetzte. Er überlegte ernsthaft, seinen Burger und die Pommes einfach ohne ein Wort zu verzehren, aber schließlich ging ihm dazu doch die Geduld aus. „Okay, was ist?“, fragte er, etwas patziger als er eigentlich beabsichtigt hatte. Sie zuckte mit den Schultern. „Du bist auf dem Weg nach Wuzelheim, oder?“, fragte sie zurück statt ihm eine Antwort zu geben. Er biss in seinen Hamburger um seine eigene Antwort länger hinaus zu zögern. Sie wartete, er schluckte, und wollte eigentlich immer noch nichts sagen. „Ja.“, meinte er schließlich schlicht und konnte beobachten, wie sich ihr Gesicht aufhellte. „Ich wohn da.“, informierte sie ihn, „Du willst dir ein Pokémon bei Professor Birk holen, richtig?“, er nickte, doch für mehr ließ sie ihm gar keine Zeit und fuhr fort, „Hab ich mir gleich gedacht. Und?“, sie sah ihn erwartungsvoll an. Er schluckte einen weiteren Bissen Burger herunter. „'Und' was?“ „Na, welches Pokémon willst du?“, erläuterte sie mit einem Ton von Selbstverständlichkeit. „Oh.“, machte Mikko und sah lieber sein Essen an als sie, „Weiß noch nicht.“ Er erwartete, dass sie ihm daraufhin einen Vortrag halten würde, doch nichts dergleichen erwartete ihn. Sie lächelte. „Ging mir genauso. Ich hab mich im aller letzten Moment entschieden.“, ein Zwinkern, „Für Hydropi, und es ist großartig!“ „Hm-m.“, war Mikkos einzige Antwort als er sich wieder seinem Essen widmete. „Mein Name ist Irja.“, stellte sie sich vor, „Ich bin Trainerin, aber später möchte ich mal Züchterin werden!“ „Mikko.“, entgegnete er knapp, fügte dann aber hinzu: „Meine Eltern züchten Katzen-Pokémon...“, er brach ab; eigentlich wollte er sich doch gar nicht unterhalten. Zu spät, Irjas Augen leuchteten geradezu. „Wirklich? Wow!“, entfuhr es ihr aufgeregt, „Ich liebe Katzen-Pokémon! Ich hab selbst ein Enecoro. Es hat sich erst vor zwei Wochen entwickelt, in einem Arena-Kampf... naja, den hab ich dann letztendlich doch verloren.“, gab sie zu, „Aber Enecoro und ich haben viel dabei gelernt, also war es nicht umsonst.“ Wider eigene Erwartung musste Mikko lächeln. Irjas Begeisterung war ansteckend. „Hydropi, hm?“, meinte er nachdenklich. „Moorabbel.“, korrigierte sie mit einem schelmischen Grinsen und dieses mal erwiederte er es. „Vielleicht nehme ich auch Hydropi.“, überlegte er laut. Irja war mit seiner Entscheidung offensichtlich einverstanden. „Das wirst du nicht bereuen, glaub mir! Feuer-Pokémon sind eine richtige Modeerscheinung, schon weil–“, sie zögerte, fasste sich aber gleich wieder, „Mit Hydropi kannst du anderen Trainern richtig einheizen.“, befand sie voll Überzeugung und Mikko kam nicht umhin ihr zu glauben. Es war seltsam. Bisher war das Trainer-werden gar nicht so schlimm. Vielleicht würde er Lohgock irgendwie doch ein bisschen helfen können. Jaska wälze sich in seinem Bett, unfähig einzuschlafen, auch wenn es schon weit nach Mitternacht war. Psiana hatte seine Schilde von ihm genommen und die Erinnerungen an den Vorfall in den Bergen waren wieder frisch in seinem Kopf. Das Pokémon gab einen besorgten Laut von sich und Jaska versuchte, sich zu beruhigen. „Psiana...“, sprach er in die Dunkelheit und das schlanke Pokémon war im Nu auf seinem Bett wo es sich neben ihm zusammen rollte. Mit der rechten, unverletzten Hand strich er über sein kurzes, glattes Fell. „Ich bin mir sicher, Psiana.“, sagte er leise, kaum hörbar. Doch sein Psycho-Pokémon musste ihn nicht immer hören um zu wissen, was er wollte. „Ganz sicher“, wiederholte er, mit entschlossenem Gesichtsausdruck an die neutrale Krankenhausdecke starrend, „Das war kein Unfall.“ Kapitel 5: Feuer im Innern - Eljas ---------------------------------- Wenn in den Medien später über den Beginn von Eljas' Reise berichtet wurde, klang es immer etwas mysteriös, wie Magie. Er selbst konnte darüber nur lächelnd den Kopf schütteln. Es hatte nichts übernatürliches an sich, wenn ein Junge sich mit seinem ersten Pokémon allein in den Wald aufmachte und wenige Monate später mit einem Lohgock wieder auftauchte. Aber für die meisten war es ein Rätsel. Eljas zuckte, wenn ihn Reporter nach dieser Zeit fragten, etwas hilflos mit den Schultern. „Da ist nichts weiter dabei“, erklärte er dann, „als gesunder Menschenverstand und der Wille, etwas zu erreichen.“ Er war schließlich nicht blind und ohne Plan aufgebrochen. Er hatte die Vorzüge und Eigenschaften aller drei Starter, Geckarbor, Flemmli und Hydropi, früh genaustens studiert und sich dann ganz bewusst für Flemmli entschieden. Dann hatte er, lange bevor er aufgebrochen war, Informationen über die Umgebung eingeholt und einen Trainingsplan für sich und sein Pokémon erstellt. Er wusste was er wollte und wie er es erreichen konnte. Seine Freunde lobten später oft sein unglaubliches Improvisationstalent, doch Eljas hatte dieser Aussage nie zugestimmt. Er plante einfach besser voraus als die meisten, bestrebt auf alle Eventualitäten vorbereitet zu sein. Wie sonst wollte man erfolgreich Kämpfe bestreiten, wenn einen jeder Akt des Gegners überraschte und aus der Bahn warf? „Eljas will kämpfen, und er will gewinnen.“, hatte ein Freund von ihm in einem Interview kurz vor der Meisterschaft gesagt, in der Eljas den Titel eines Pokémon-Meisters erlangen sollte. * Der kampfeslustige Blick in Flemmlis Augen hatte ihm gleich gefallen. Ein mutiges Pokémon, das den nötigen Ehrgeiz mitbrachte passte zu ihm, fand er. Er wollte nicht einfach ein Trainer werden, er wollte an die Spitze. Zunächst konzentrierte er sich auf die simpleren Feuer-Attacken, vor allem aber stärkte er Flemmlis Gefühl für Kampfsituationen, wann ein Angriff geblockt, wann ihm ausgewichen werden musste und wann es vielleicht sogar besser war, ihn einfach hinzunehmen, wenn man dann in einer besseren Position für einen Gegenangriff war. Die aggressiven Schwalbinis, denen sie im Wald begegneten, waren schnelle und unablässige Gegner, die Fehler und Lücken in der Verteidigung sofort ausnutzten. Nach seiner Entwicklung zu Jungglut begann Eljas das Training von Kampf-Attacken. Nicht umsonst hatte er schon zwei Jahre zuvor begonnen, selbst Kampfsport zu betreiben und von diesem Wissen profitierte nun auch sein Pokémon. Er brachte ihm bei, dass ein Sieg im Kopf begann, nicht mit den Fäusten. Jede Attacke hatte neben einem physischen auch einen geistigen Aspekt; erst als Jungglut das verstanden hatte schritt Eljas im Training fort – und sein Pokémon in der Entwicklung. Seine neuen Fähigkeiten erprobte der junge Trainer im Kampf mit wandernen Trainern, die ebenfalls die Tiefen der bergischen Wälder aufgesucht hatten. Oft traf er so auf Gesteins-Pokémon, die für Lohgock in vielerlei Hinsicht ein Problem darstellten. Aber jeder Fels hatte einen Schwachpunkt und auch wenn sie hier selten Siege davon trugen lernten sie doch, mit diesem harten Gegner umzugehen. * Eljas wollte ein Schwalbini. Es waren zähe kleine Pokémon, geschickt und erfinderisch – alles gute Eigenschaften für einen Kämpfer. Er stieß jedoch schnell an die Grenzen dieser Tugenden. Das Schwalbini, das er gefangen hatte, war unwillig sich seinen Trainingsplänen zu unterwerfen und neue Dinge zu lernen, sondern wollte lieber bei den altbewährten Methoden bleiben. Diese mochten zwar für ein wildes Schwalbini ausreichend sein, für Pokémon-Kämpfe aber brauchte es mehr als einen Dickschädel. Schlussendlich musste der junge Trainer das Handtuch werfen. Doch Schwalbini verließ ihn nicht gern. Es schätzte seinen Trainer, es genoss seine Zuwendung, denn wenn sie nicht trainierten ging er durchaus zärtlich und fürsorglich mit ihnen um. Er war streng, aber nicht ungerecht. „Flieg.“, sagte er traurig und ein bisschen resigniert, „Du bist noch nicht soweit, und ich auch nicht.“, es schrie widersprechend und schlug mit den Flügeln gegen seine Beine. Eljas kniete sich hin und strich über den hellen Bauch des Vogel-Pokémons. „Lass uns uns wieder treffen, wenn wir beide etwas gewachsen sind.“ Mitunter dank Eljas' Training entwickelte es sich bald zu Schwalboss weiter und sammelte einen eigenen Schwarm um sich – aber Eljas ist es nie wieder begegnet. * „Ich bin Jaska.“, stellte der Rothaarige sich vor, seine Haltung strotzte vor Selbstbewusstsein und Überlegenheit, obwohl er fast einen Kopf kleiner als Eljas war. Aber das waren die meisten; Eljas kam äußerlich stark nach seinem Vater, der beinahe die zwei Meter Marke erreicht hatte. Trotzdem wirkte er mit seinem hellbrauen bis dunkelblonden Haar und auch ansonsten eher durchschnittlichen Aussehen eher unscheinbar neben Jaska. Er hatte ebenfalls vorgehabt, den Arena-Leiter Malvenfrohs heraus zu fordern, aber Eljas war ihm zuvor gekommen und nach seinem Sieg würde die Arena frühestens morgen wieder für Herausforderungen geöffnet sein. Der Zufall wollte es, dass die beiden den gleichen Schlafsaal im Pokémon-Center belegten; Eljas war dabei gewesen seine Ausrüstung zu sortieren, als Jaska herein gekommen war; nun lehnte er gelassen im Türrahmen und musterte den anderen Trainer. „Ich heiße Eljas.“, stellte er sich ebenfalls vor. Jaska nickte. „Gratulation zu deinem Orden.“ „Danke.“, erwiderte er, auch wenn er Gratulation in diesem Fall unangebracht fand; der Kampf war bei weitem zu einfach gewesen und hatte keinerlei Herausforderung dargestellt. Er war, ehrlich gesagt, etwas enttäuscht. Der Kampf gegen Walter, der Elektro-Pokémon eingesetzt hatte, war am Morgen gewesen und er hatte sich den ganzen Tag über rastlos gefühlt. Jetzt dämmerte es und er überlegte, sich einen anderen Gegner zu suchen. „Lust auf einen Kampf?“, fragte Jaska gerade in diesem Moment und ein Grinsen breitete sich auf Eljas' Gesicht aus. Er hatte ihn gefunden. * Jaska und Eljas beobachteten einen Kampf, der sich interessant zu entwickeln versprach. Ein Trainer mit einem Reptain schien im Vorteil zu sein, hatte er doch soeben das Bisaknosp seines Gegners in den Staub geschickt. Doch der Junge, er mochte um die vierzehn Jahre alt sein, schien davon wenig beunruhigt oder beeindruckt. „Nicht schlecht soweit.“, gab er zu während er einen neuen Pokéball von seinem Gürtel wählte. „Los, Geowaz!“ Die Umstehenden brachen ihn missbilligendes Getuschel bishin zu lauten Kommentaren aus. Wer setzte denn ein Gesteins-Pokémon gegen einen Pflanzen-Typ ein!? Jaska dachte eben das und tat es auch laut kund, aber Eljas schüttelte leicht den Kopf. „Er weiß das auch.“, meinte er, und dann: „Ich denke, er weiß was er tut.“ Das Geowaz hatte eine rabenschwarze, glänzende Gesteinshaut, was das Publikum zu neuen Ausrufen anstachelte. „Was ist mit ihm los?“, überlegte Jaska, „Hast du so was schon mal gesehen?“ Eljas schüttelte den Kopf. „Nicht bei einem Geowaz. Aber bei einem Onix; wenn sie älter und erfahren werden, wird ihre Haut schwarz und so hart wie Diamant. Manchmal.“ Jaskas Augen weiteten sich mit neuem Interesse für den Trainer, der es wagte Gestein gegen Pflanze einzusetzen. „Trotzdem – eine gute Attacke von Reptain und das war's.“, prognostizierte er. „Reptain, Laubklinge!“, befahl der Trainer des Pflanzen-Pokémons siegesgewiss, und wer würde ihm diese Einstellung verübeln? „Walzer!“, kündigte der andere Trainer an, doch sein eher schwerfällig wirkendes Pokémon griff nicht an, sondern warf sich blitzschnell aus der Bahn der gegnerischen Attacke, rollte sich wie zu einer Kugel und umrundete den Kampfzirkel. Bevor sein Gegner viel unternehmen konnte ertönte der nächste Befehl: „Hitzewelle!“, und spätestens jetzt wurde seine Strategie offenbar: Der sich rasend schnell drehende Körper des Geowaz schien wie Lava zu glühen als er das noch unvorbereitete Reptain rammte. Flammen leckten am Körper des Pflanzen-Pokémons empor und es schreckte zurück, bevor es schließlich zusammen brach. Da Bisaknosp zuvor Kecleon besiegt hatte ging der Trainer des Geowaz als Sieger aus ihrem Kampf hervor. „Hm.“, machte Jaska, „Das war unerwartet.“ Für einen Großteil des Publikums mochte dies zutreffen, aber Eljas musterte den Trainer mit einem berechnenden Blick, der von vielem, aber nicht Überraschung sprach. * „Das war unter aller Sau! Ganz ehrlich, den Orden hätte ich dir für die Leistung gleich wieder aberkannt.“, ließ sich Tuomo von einem der anderen Tische im Pokémon-Center vernehmen. Sein kurzes flachsblondes Haar stand in alle Richtungen ab, so oft hatte er es selbst mit den Händen verwuschelt – eine nervöse Geste seinerseits. Eljas lehnte sich in seinem Stuhl zurück um zu Tuomo hinüber sehen zu können. „Ah ja? Immerhin musste ich gegen Letarking kein Unentschieden kassieren, im Gegensatz zu anderen Trainern, die ich kenne.“, konterte er. Sein Kampf gegen Norman, den Arena-Leiter von Blütenburg City, hatte in der Tat länger gedauert, als ihm normalerweise Recht war, aber schlussendlich hatte er gewonnen. Einfach war es nicht gewesen, das bestritt er ja gar nicht... „Besagte andere Trainer haben aber nicht mit mehr Glück als Verstand gewonnen.“, gab der andere zurück, „Hätte Lohgock nicht kurz vorher Hammerarm gelernt–“ „Was ich ihm beigebracht habe!“, unterbrach Eljas Tuomo, „Zufall und Glück haben damit nichts zu tun. Kampf ist nun mal effektiv gegen Normal-Pokémon. Glück ist da schon eher, dass Normal-Attacken gegen Gestein nicht viel ausrichten und Geowaz damit klar im Vorteil war. Wie hast du es nur trotzdem geschafft, Geowaz noch vor Letarking verlieren zu lassen?“ „Da könnte ich auch fragen, wieso dein heiß geliebtes Lohgock gegen eben jenes Letarking so lange gebraucht hat, wenn Kampf-Attacken doch, wie du sagst, so toll sind?“, gab Tuomo sofort zurück. Jaska hatte es aufgegeben, die Antipathie zwischen den zwei Trainern verstehen zu wollen. Obwohl beide, in Abwesenheit des jeweils anderen, offen zugaben, viel von einander zu halten, würden sie sich das wohl nie ins Gesicht sagen. Beide waren unglaublich ehrgeizig und, das war Jaskas Vermutung, kämpften zu gerne miteinander, um sich anzufreunden. Dabei hatten sie nicht einmal direkt gegeneinander gekämpft, in Form eines Pokémon-Kampfes. Sie verglichen stets ihre Leistungen gegen andere Trainer und Arena-Leiter, aber bisher hatten sie einander noch nicht herausgefordert. Warum das so war, darauf konnte Jaska sich auch keinen Reim machen. Über seinen Kopf hinweg ging der Streit weiter. Einzelne Trainer begannen, den Tisch zu wechseln. Jaska wartete nur noch auf den Tag, an dem es endlich zu Handgreiflichkeiten kam. Dabei hätten die zwei sicher gute Freunde abgegeben; Jaska hatte sich nach einem der ersten Streits der beiden am Abend danach abwertend über Tuomo geäußert und war von Eljas scharf zurecht gewiesen worden. „Tuomo ist einer der talentiertesten Trainer, die ich kenne.“, hatte er erklärt, „Und was er sagt hat, in der Quintessenz, Hand und Fuß. Man kann eine Menge lernen, wenn man ihm zuhört.“ Vielleicht musste das zwischen Rivalen so sein; Tuomo und Eljas würden nicht ruhen, bis sie einander übertrumpft hatten. Sie wuchsen aneinander und so wurden sie stärker. Kapitel 6: Zufall ----------------- Wurzelheim war sogar noch kleiner, als Mikko es sich vorgestellt hatte. Das Labor Professor Birks stach aus den kleinen Einfamilienhäusern unübersehbar hervor, was Irjas Wegbeschreibung ziemlich überflüssig machte. Hydropi oder Geckarbor – eigentlich hatte er da gar keine Präferenz. Irjas Begeisterung von ihrem eigenen Pokémon war ansteckend gewesen, aber wenn er so darüber nachdachte war der Enthusiasmus nicht sein eigener. Nur Flemmli wollte er nicht, das kam einfach gar nicht in Frage. Zögernd stand Mikko, endlich allein, vor dem Labor. Die Frist für den Erhalt eines Pokémons lief morgen ab. Eine Nacht konnte er sich sicher durch den Wald schlagen, es wäre so leicht zu spät zu kommen... aber er brachte es nicht über sich, Lohgock und Schwalboss zu enttäuschen, schließlich hatte er ihnen gewissermaßen versprochen, der Trainer-Geschichte zumindest eine Chance zu geben. Also musste er da jetzt erst mal durch. Er atmete einmal tief durch und klingelte. Die Tür wurde hastig geöffnet, und kaum war das geschehen brandete ein Tumult von Stimmen und Geräuschen auf ihn ein – das Labor war verdammt gut isoliert, draußen hatte er nichts gehört. Mikko konnte nicht erkennen, wer ihm die Tür aufgemacht hatte, im Inneren des Labors war der Teufel los, oder besser gesagt ein Haufen Pokémon. Taubsis und Schwalbinis flatterten durch die Gegend, dazwischen hüpften mehrere Flemmlis, Hydropis und Geckarbors umher, jedes verfolgt von jungen Trainern (oder solchen, die es werden wollten) und einem nervösen Mann, den sein weißer Kittel als Professor Birk auszeichnete. Das perfekte Chaos. Mikko presste seinen Rücken gegen die Tür, unsicher wohin er zuerst schauen sollte. Hier verwüstete ein Schwalbini die Frisur eines Mädchens, während sie versuche, Geckarbor hinter einem Schrank hervor zu ziehen; dort wurde ein Junge Opfer einer Blubber-Attacke seitens Hydropi was ihn über zwei Flemmlis stolpern ließ, die sich zwischen seinen Füßen zu verstecken suchten. Der Professor hatte sich gerade ein zappelndes Geckarbor unter den Arm geklemmt und ein Taubsi im Flug erwischt, als ein Junge mit zwei weiteren unruhigen Vogel-Pokémon im Arm gegen ihn stolperte. Überall flogen Federn durch die Gegend und die ausgeführten Wasser-Attacken machten den Boden nur noch rutschiger, was ein weiteres Mädchen bewies, als sie im Versuch dem Professor das Geckarbor abzunehmen unsanft auf dem Hintern landete. Ein laut kreischendes Flemmli flatterte schließlich geradewegs auf Mikko zu und mit mehr Instinkt als Denken fasste er es mit beiden Händen und drückte es an sich. „Ruhig, ganz ruhig...“, versuchte er das kleine Pokémon zu weniger hektischen Bewegungen zu veranlassen. Allmählich begann sich das Durcheinander zu legen; sobald die kreischenden Vogel-Pokémon einmal in ihren Bällen waren, wurden auch die Starter ruhiger und ließen sich leichter einsammeln. Mikko war froh, den kleinen feuerfarbenen Vogel abgeben zu können. „Ah, ja, wunderbar, endlich.“, ließ sich Professor Birk mit einem schweren Seufzer vernehmen. Sein Labor sah aus wie nach einem Erdbeben. Er sah sich unter den fünf jungen Trainern um, sein Blick blieb an Mikko hängen. „Nanu, noch jemand? Dann ist es ja gut, dass man uns aus der Zuchtstation gerade die neuen Pokémon geschickt hat. Das, ja“, er kratzte sich verlegen am Hinterkopf, „das Transportsystem hat wohl eine Macke, oder zwei, werd mir das mal anschaun... ja.“, er nickte vor sich hin, „Ja, also, dann wollen wir mal.“, er wühlte durch die Pokébälle und platzierte sie schließlich in drei dafür vorgesehenen Halterungen, die mit ihren Farben – grün, blau und rot – anzeigten, welches Pokémon die Bälle enthielten. „Nun denn. Habt ihr euch überlegt, welches euer erstes Pokémon werden soll? Jetzt habt ihr sie ja gewissermaßen schon in Aktion erlebt...“, er lachte kurz. Die zwei Mädchen schienen sich zu kennen; sie wechselten einen kurzen Blick und traten dann zusammen vor, um sich dann ohne weitere Absprache beide für Flemmli zu entscheiden. Zusätzlich erhielten sie von Professor Birk je einen Trainer-Pass, den sie noch ausfüllen mussten. Einer der Jungen schien hin und her gerissen zwischen Flemmli und Geckarbor, entschied sich aber schließlich für das Pflanzen-Pokémon. Dann hatte er es so eilig, dass er nicht nur fast seinen Trainer-Pass vergessen hätte, sondern auch noch beinahe auf einer der Wasserlachen ausrutschte. Der andere schien das lustig zu finden – und da konnte Mikko nicht widersprechen, es sah lustig aus – und nahm gerade deshalb Hydropi. Nachdem auch er das Labor verlassen hatte sah sich Mikko erneut mit der Entscheidung konfrontiert, welches Pokémon er denn nun wählen sollte. Nachdenklich stand er vor den Pokébällen, bis sich eine Hand auf seine Schulter legte. Er sah zum Professor auf, der aufmunternd lächelte. „Es ist egal, welches Pokémon du wählst. Es wird dir sicher ein guter Freund und Begleiter sein. Entscheide einfach aus dem Bauch heraus.“ Leichter gesagt als getan. Aber vielleicht... wenn er logisch an die Sache heran ging... Flug-Pokémon waren gegenüber Elektro- und Gesteins-Pokémon im Nachteil, und auch Feuer war gegen Stein-Typen schwach. Da könnten ihm sowohl Wasser als auch Pflanze helfen. Das brachte ihn also nicht weiter. Und da Hydropi nach seiner nächsten Entwicklung ein Hybrid-Typ und Teil Boden sein würde, war auch Elektro dann kein Problem mehr. „Kann ich nicht...“; überlegte er, „...den Zufall entscheiden lassen?“ Professor Birk zog beide Augenbrauen in die Höhe, widersprach aber nicht. „Wenn du meinst...“ Mikko nahm vom grünen und blauen Halter je einen Pokéball und begann, sie mit geschlossenen Augen auf dem Tisch hin und her zu drehen. Dann nahm er einen, öffnete die Augen und atmete aus; er hatte gar nicht gemerkt, dass er die Luft angehalten hatte. Der Professor schien ebenfalls erleichtert. „Eine etwas, nun ja, unkonventionelle Methode.“, merkte er an. Er hatte schon viele junge Trainer in die Welt hinaus ziehen sehen, und vielen war diese Wahl schwer gefallen. Vielleicht war es für diesen jungen Mann am besten, die erste Entscheidung nicht selbst zu treffen. Mikko merkte erst als er am Ortsausgang von Wurzelheim stand, dass ihn eine gewisse Aufregung erfasst hatte. Dies war sein erstes Pokémon. Kein seltsames Ereignis hatte es zu ihm geführt, und es war ungefähr so unerfahren wie er selbst – anders als Lohgock und Schwalboss. Mit diesem konnte er gemeinsam lernen. Unwillkürlich grinste er, den neuen Pokéball fest in der Hand. „Mikko!“, hörte er eine Stimme laut nach ihm rufen, gerade als er sich aufmachen wollte, das Dorf zu verlassen. Er wandte sich um und sah Irja auf ihn zu laufen. Etwas zögernd hob er die Hand, dann winkte er ihr kurz zu. „Hey...“, begrüßte er sie, als sie bei ihm ankam. „Auch hey.“, lachte sie, „Ziehst du los, gleich von hier?“ Er nickte. Erst mit dem Bus zurück nach Wiesenflur zu fahren kam ihm reichlich unsinnig vor. Pokémon gab es überall. „Super. Was dagegen, wenn ich mit komme?“, fragte sie und fügte schnell hinzu, „Keine Sorge, ich fang dir schon nichts vor der Nase weg.“ Er war sich nicht ganz sicher, ob das so eine gute Idee war, aber andererseits konnte er als Total-Anfänger wohl jede Hilfe gebrauchen, und Irja kannte sich zudem in der Gegend aus. Es wäre schon verdammt dumm, wenn er sich gleich zu Beginn seiner Reise verlaufen würde. „Okay.“, stimmte er daher zu. Irja wartete kaum, bis sie das Dorf verlassen hatten, um jene Frage zu stellen, die ihr sicher schon die ganze Zeit auf der Zunge lag. „Also, Hydropi? Oder doch ein anderes?“, erkundigte sie sich mit unverhohlener Neugier. „Ehrlich gesagt...“, murmelte Mikko und holte den in Frage kommenden Pokéball erneut hervor. „Ich weiß nicht. Ich konnte mich einfach nicht zwischen Hydropi und Geckarbor entscheiden, also hab ich, naja, zufällig eins gegriffen. Und ich hab noch nicht nachgeschaut.“ „Was?“, hakte Irja mit scheinbarem Entsetzen nach, „Wie hältst du das nur aus? Willst du nicht wissen, was es ist?“, sie schüttelte offensichtlich frustriert den Kopf, „Das könnte ich nicht aushalten. Genau genommen kann ich das auch so nicht, lass es doch mal raus!“ Irgendwie war Mikko unwillig, die Entscheidung endgültig zu machen. Solange er sich selbst im Ungewissen hielt, hatte die ganze Angelegenheit etwas unwirkliches an sich. „Sobald wir ein wildes Pokémon treffen, probier ich es aus, okay?“, schlug er einen Kompromiss vor, den Irja, wenn auch unwillig, abnickte. „Dann schau aber nicht nur, hör genau hin, ob sich was im Gebüsch versteckt.“, riet sie mit deutlicher Ungeduld. Wo waren diese ganzen Zigzachs, wenn man mal eins brauchte? Mikko hatte das Gefühl, sich unfreiwillig eine eigene Trainerin angelacht zu haben, oder eine über-motivierte selbst ernannte große Schwester, etwas in der Art. „Es ist ja nicht so, als ob ich es eilig hätte, mit dieser ganzen Trainer-Geschichte–“, er brachte den Satz nicht zu Ende als ein lautes Knacken und Rascheln aus dem zuvor von Irja beschworenen Gebüsch ertönte, ganz als bräche etwas oder jemand sehr hastig durch das Unterholz, ohne auf Hindernisse zu achten. Während Mikko noch zwischen Schreck und Sorge haderte, hatte Irja schon mit triumphalem Grinsen nach einem Pokéball gegriffen. „Okay, hier ist deine Chance.“, verkündete sie, „Keine Sorge, wenn du nicht zurecht kommst, greif ich ein.“ So wehrlos fand Mikko sich dann doch wieder nicht, aber ehe er Irja darauf hinweisen konnte, dass er kein Kindermädchen brauchte, stürzte ein Geradachs aus den Büschen auf den Weg, dessen Fell ungefähr so durcheinander war wie das des kleineren Zigzachs, das ihm folgte. Als die Pokémon die zwei Trainer erblickten, hielten sie ruckartig inne und nahmen knurrend eine Abwehrhaltung ein. „Alles oder nichts.“, meinte Mikko und warf den Pokéball, der sein erstes eigenes Pokémon enthielt. Das vertraute rötliche Licht kündete es an, doch der helle Ausruf ließ Mikko leichenblass werden. „Flemmli!“, zirpte das kleine Pokémon mit vergnügter Stimme, bar jeder Ahnung, was seinem Trainer gerade durch den Kopf ging. Mikko hätte selbst ein Waumpel lieber gehabt, als das kleine, seltsam gelbe Flemmli, das den zwei wilden Pokémon lebhaft entgegen hüpfte. 'Oh nein, bitte...', Mikko wollte etwas sagen, aber sein Hals war wie zugeschnürt und er bekam keinen Laut heraus. 'Alles, nur das nicht...!' Kapitel 7: Liekki ----------------- „Mikko!?“, allmählich machte Irja sich doch etwas Sorgen um den anderen Trainer. Anfänger waren ja schon mal was entscheidungsschwach, aber gleich zur Salzsäure zu erstarren nur weil man zum ersten Mal ein Pokémon gerufen hat, war nun echt etwas übertrieben. „Mikko, befiehl ihm eine Attacke!“, rief sie erneut, aber er starrte einfach nur sein Pokémon an, ohne auch nur den Ansatz zu machen, den Kampf zu bestreiten. Und ja, Flemmli sah seltsam aus, gelb wo es hätte orange sein sollen und umgekehrt, aber das kam eben schon mal vor. „Verdammt.“, fluchte sie und warf ihren eigenen Pokéball. „Los, Irrlicht!“ Sicher, Irjas Starter war Moorabbel, aber kurz bevor sie nach Wurzelheim zurück gekehrt war hatte sie ein Zwirrlicht gefangen und ihm den Spitznamen 'Irrlicht' gegeben; hier in der Gegend gab es keine allzu starken wilden Pokémon, das war eine gute Gelegenheit, ihren neuen Fang zu testen. Das Zigzachs wich vor diesem neuen Gegner zurück, aber das ältere Geradachs war von dem kleinen Geist wenig eingeschüchtert. Es fauchte und sprang auf Zwirrlicht zu, anscheinend versuchte es eine Kratzer-Attacke. Irja grinste selbstbewusst und tatsächlich: das angreifende Pokémon fiel geradezu durch Zwirrlicht hindurch und stolperte unsicher zurück auf die Pfoten. „So leicht sind Geister nicht zu besiegen!“, verkündete sie, „Irrlich, setz Nachtnebel ein!“ „Zwirrrrr!“, erklang eine hohle Stimme, die Irja einen angenehm vertrauten Schauer über den Rücken laufen ließ, und ein dunkler, violett schimmernder Nebel hüllte Geradachs ein und entlockte ihm ein erschrockenes Winseln. Irja stieß Mikko gegen die Schulter. „Wachst du jetzt mal auf? Du hast da ein Feuer-Pokémon, da wird dir ja wohl was zu einfallen!“ „Flemm...?“, ließ sich Flemmlis Zirpen unsicher vernehmen, als es sich nach seinem Trainer umsah. Mikko sah sein Pokémon unsicher an. „Flemmli...“, flüsterte er. Geradachs erholte sich inzwischen von der Geist-Attacke. Unwillig schüttelte es den Kopf und sträubte das Fell. „Mikko... jetzt, oder–“, beschwor Irja ihn und plötzlich schien es klick gemacht zu haben. „Flemmli, Glut!“, rief Mikko und sein Pokémon ließ einen aufgeregten Kampfschrei erklingen – der ob seiner Größe und Stimmlage allerdings eher niedlich als bedrohlich wirkte – und führte die befohlene Attacke aus, gerade als Geradachs zu einem neuen Angriff ansetzte. Das kleine Feuer war ein Volltreffer und ließ das wilde Pokémon zurück weichen. „Geht doch!“, jubelte Irja, „Endlich aufgewacht?“ Aber Mikko schenkte ihr keine Aufmerksamkeit. „Setz nach mit Kratzer!“, befahl er und das gelbe Flemmli zögerte nicht, dem nachzukommen. Geradachs wich nur knapp aus und schien für einen Augenblick erneut angreifen wollen, doch dann warf es sich herum und floh zurück in die Büsche, gefolgt von dem kleinen Zigzachs. Irja war etwas enttäuscht von Mikkos Reaktion; man sollte doch meinen, dass ihn sein erster bestandener Kampf etwas mehr freute, stattdessen entfuhr ihm nur ein erleichterter Seufzer. Er hockte sich hin und sein Flemmli hüpfte ihm fröhlich zwitschernd entgegen. Zumindest einer der beiden brachte den nötigen Enthusiasmus mit. Er hob das Pokémon in einer Hand hoch. „Es ist schon was klein, nicht?“, merkte Irja nachdenklich an. Mikko zupfte an einer der längeren Kopffedern des Pokémons. „Das macht mir weniger Sorgen als die Farbe.“, überlegte er, „Es ist gelb wie ein Kanarienvogel!“ Diese Bemerkung quittierte Flemmli mit einem Ascheklumpen, den es seinem Trainer ins Gesicht spuckte, woraufhin Mikko nur noch husten konnte. Irja lachte während sie ihr Pokémon zurück rief. „Ich an deiner Stelle würde aufpassen, was ich sage.“, warnte sie ihn, „Dein Flemmli hat Temperament.“ Flemmlis Zirpen war fraglos als kichern zu interpretieren. „Großartig, genau das was ich brauche: ein eigensinniges Pokémon, das nur Flausen im Kopf hat und macht, was es will.“, brummte er. Irja verschränkte die Arme vor der Brust. „Ist vielleicht ganz gut so; wenn du dich weiter so anstellst wie gerade, muss dein Pokémon ja für dich mitdenken.“ Das schien Mikko nachdenklich zu stimmen. Mit der freien Hand begann er, sich die Asche aus dem Gesicht zu wischen, auch wenn sich das schwarze Zeug als hartnäckig erwies. „Okay, kleines Kerlchen, wenn du Asche und Flammen so gern magst, nenne ich dich Liekki. Verstanden? Liekki.“, er sah zu Irja hinüber, der die Frage ins Gesicht geschrieben stand. „Das heißt 'Flamme'.“ Der Weg von Wurzelheim nach Rosaltstadt war ebenso kurz wie eintönig. Irja hetzte Mikko und Liekki noch auf das eine oder andere Zigzachs und nachdem das kleine Pokémon mehrfach seine Treffergenauigkeit unter Beweis gestellt hatte waren beide Trainer zufrieden und Mikko rußverschmiert. „Hättest du halt mal bewusst zum Wasser-Pokémon gegriffen, da hättest du solche Probleme nicht.“, predigte Irja nicht zum ersten mal, als sie die kleine Stadt betraten, die zwar etwas größer als Wurzelheim war, aber in etwa genauso verschlafen. „Und dafür wäre ich dann permanent klitschnass. Und mit einem Pflanzen-Pokémon hingen mir ständig Pollen und Sporen in den Haaren.“, gab Mikko zurück während er nach dem Pokémon-Center Ausschau hielt. Liekki hatte noch lange nicht die Ausdauer von Irjas Irrlicht und konnte etwas Ruhe gut gebrauchen. Irja verdrehte die Augen. „Du hast auch an jedem Pokémon was auszusetzen.“, entgegnete sie und bog zielsicher die Straße zum Pokémon-Supermarkt ein. „Und bevor wir ins Center gehen, kaufst du dir erst mal ein paar Pokébälle und eventuell ein, zwei Tränke und etwas Gegengift ist immer gut dabei zu haben–“ Mikko war rechtschaffen müde, als er endlich im Pokémon-Center ankam – Irja hatte Verwandte in der Stadt, bei denen sie übernachtete – und sich, nachdem er Liekki bei Schwester Joy abgegeben hatte, auf eine der einladend aussehenden Bänke sinken ließ. Er musste sich dringend was in Sachen Transportmöglichkeiten überlegen, so lief man sich ja die Füße ab. Ohne rechtes Interesse sah er zu dem Fernseher auf, der als Unterhaltung für die Trainer in der Sitzecke stand. Es schien eine Art Reportage zu laufen; gezeigt wurden ein Zirkuszelt und Pokémon, die mit Artisten zusammen auftraten. Dazu lief ein Interview, wobei die Sprecher nicht im Bild waren. „...nein, das Training für Kämpfe, also aktive Arena-Kämpfe, habe ich aufgegeben. Neben den Auftritten ist dazu gar keine Zeit mehr.“, erklang eine junge Männerstimme. „Das wird deine Fans aber doch sicher enttäuschen?“, hakte die Reporterin nach, „Immerhin bist du ein Titelträger, Vize-Meister.“ Die Stimme des Mannes klang amüsiert. „Wer mich und meine Pokémon sehen will, braucht nur zu unseren Vorstellungen kommen.“, erklärte er, „Wir zeigen diese Saison unter anderem den Feuersturm, eine klassische Gallopa-Nummer...“ Das Bild schwenkte hinüber zu einer Frau mit Mikrofon, neben ihr stand ein junger Mann mit einem Gallopa, das nervös den Kopf herum warf, als die Kamera ihm etwas zu nah kam. Sein Trainer, dessen rechte Gesichtshälfte hinter einer weißen Clownsmaske versteckt war, griff rasch nach dem Halfter, um es zu beruhigen. „Welche Städte werdet ihr demnächst besuchen?“, fragte die Reporterin nun, darauf achtend dem unruhigen Pokémon nicht zu nahe zu kommen. „Ah...“, überlegte der Trainer kurz und fuhr sich mit der freien Hand durch das helle blonde Haar, das wie bei einem richtigen Clown in alle Richtungen abstand. „Wir touren die Winter- und Frühlingssaison über durch Hoenn; jetzt sind wir erst mal in Malvenfroh, dann geht es weiter nach Blütenburg und Metarost, anschließend nach Laubwechselfeld und Bad Lavastadt, und das große Finale ist dann in Seegrasulb.“ „Vielen Dank für die Information!“, die Reporterin wandte sich wieder der Kamera zu, „Verpasst also nicht, wenn der Gala Pokémon-Zirkus in eure Nähe kommt – zurück ins Studio!“ Mikko gähnte. In ein paar Minuten konnte er Liekki abholen, und dann stand vor allem Schlafen auf seinem Programm. Aber gute Pläne hatten bei ihm in letzter Zeit die Angewohnheit, sich nur in gegenteiliger Form umsetzen zu lassen. Naja. Man gewöhnte sich an alles. In Malvenfroh City ging derweil eben jener Artist, den Mikko nur Minuten zuvor im Interview gesehen hatte, ein letztes Mal den Ablauf seiner Show durch. Der Abschluss der Nummer gefiel ihm am besten; er liebte den schnellen Galopp, den unmöglich weit wirkenden Sprung seines Pokémons und den Salto rückwärts, der in der letzten Verbeugung vor dem Publikum endete. Jetzt in diesem Moment war er selbst allerdings der einzige Zuschauer. Lobend strich er Gallopa über den Rücken, was das Pokémon mit einem Schnauben quittierte. Er hätte gleich im Zirkus bleiben sollen, dachte er nicht zum ersten mal in der letzten Zeit, das hätte ihm einiges erspart. Aber wie immer bereute er den Gedanken beinahe sofort. Hätte er sich nicht mit seinen Eltern zerstritten und den Zirkus verlassen, und wäre er kein Trainer geworden, dann hätte er auch auf viele gute Erfahrungen verzichten müssen. Und auch wenn Eljas jetzt tot war, Tuomo wollte die Erinnerung an ihn nicht missen. Kapitel 8: Lenja ---------------- Das kleine Pokémon-Center in Rosaltstadt hatte nur wenige Räume, um Trainer für die Nacht unterzubringen, also hätte Mikko wohl einfach froh sein sollen, überhaupt ein Bett bekommen zu haben, aber morgens um – ein Blick auf seine Armbanduhr entlockte ihm ein unwilliges Stöhnen – fünf Uhr war einfach keine solche Dankbarkeit zu erwarten, wenn seine Zimmergenossen ihn mit einem lauten Streit aus dem Schlaf rissen. „Ich hätte den Kampf problemlos allein gewinnen können!“, ließ sich ein Junge, den Mikko etwas älter einschätzte als sich selbst, nicht zum ersten mal vernehmen, „Nur weil du dich eingemischt hast, hab ich verloren!“ „Ah ja? Wer war denn schon nach der ersten Runde am jammern?“, ereiferte sich der andere mit schriller Stimme, die auf den Stimmbruch schließen ließ, „Überhaupt, gegen ein Mädchen zu verlieren, das ist ja wohl so was von peinlich!“ „Du hast ja selbst verloren!“, gab der erste zurück, „Und zwar spektakulär! Und für so was sind wir dann extra früh aufgestanden...“ Mikko gab den Versuch auf, seinen Kopf unter dem Kissen zu verstecken. Grummelnd grub er sich unter der Bettdecke hervor (er hatte verpuppt wie ein Panekon geschlafen), warf den beiden Streithähnen einen finsteren Blick zu – den die beiden nicht einmal wahr nahmen – und stiefelte ins Bad. Wenn der Großteil aller Pokémon-Trainer so drauf war, musste er seine neusten Pläne in dieser Richtung dringend noch mal überdenken. Als er gerade das Center verlassen wollte, wurde er von niemand anderem als Irja fast über den Haufen gerannt und zurück nach drinnen gezerrt. „Irja, was–“, begann er, doch sie hastete wortlos weiter, einen mehr als nur ein bisschen besorgten Ausdruck im Gesicht. „Schwester Joy!“, die ewig präsente Schwester nahm sofort Irjas Pokébälle entgegen, ohne sich von der Aufregung der Trainerin anstecken zu lassen. „Mach dir keine Sorgen. In ein, zwei Stunden sind deine Pokémon wieder fit.“, versprach sie lächelnd, geübt im Umgang mit Trainern aller Hysterie-Grade. Definitiv kein Job, um den Mikko sie beneidete. Erst als sie sich draußen hinsetzten wurde Irja ruhig genug, um zu erzählen was passiert war. „Da ist diese Trainerin, weißt du, mit Unlicht-Pokémon. Sie tritt nur nachts oder ganz früh morgens zu Kämpfen an, ganz komische Type. Die Trainer in Rosaltstadt loben sie in den Himmel, also hab ich gedacht, ich trete auch mal gegen sie an.“, Irja sah angestrengt auf ihre Fußspitzen, „Die ist nicht normal, echt, so ein verflucht schnelles Sniebel hab ich noch nicht gesehn. Seine Schlitzer-Attacke hat Moorabbel schlimm zugesetzt, und ich weiß nicht mal mit was genau sie Irrlicht attackiert hat...“ Irja sah irgendwie total niedergeschlagen aus, fand Mikko, was ihm etwas seltsam vorkam. Moorabbel und Irrlicht würden ja wieder gesund werden, und nur wegen einem verlorenen Kampf gleich depressiv werden... oder aggressiv, im Fall der zwei Trainer, mit denen er das Zimmer geteilt hatte. Mikko konnte sich nicht vorstellen, so extrem auf verlorene – oder gewonnene – Kämpfe zu reagieren. „Ich geh drinnen auf Irrlicht und die anderen warten.“, verkündete Irja und ließ Mikko mit seinen Gedanken allein. Vielleicht brauchte sie ein bisschen Zeit für sich. Na gut, wenn sie ohnehin noch eine Weile hier sein würden konnte er sich auch etwas umsehen. Nicht, dass es in Rosaltstadt viel Sehenswertes gab, die Stadt war kleiner als Wiesenflur, was schon was heißen wollte. Aber immerhin kannte man ihn hier nicht, also konnte er die Gelegenheit nutzen und Lohgock und Schwalboss eine Weile aus ihren Pokébällen lassen. „Loh!“, erklang die tiefe Stimme des Feuer-Pokémons, als es die Glieder streckte und den Kopf der Morgensonne entgegen streckte. Schwalboss war weniger laut und begann sofort, in der Luft seine Kreise zu ziehen. Mikko blinzelte als er seinem Flug mit Blicken folgte. Da konnte man sagen was man wollte, Schwalboss hatte etwas Erhabenes. Wenn er so darüber nachdachte, das galt eigentlich auch für Lohgock. Die beiden Pokémon strahlten Erfahrung und Überlegenheit aus. „Lohgock... das mit meinem ersten Pokémon...“, begann er, dem plötzlichen Gefühl nachgebend, Lohgock erklären zu müssen, warum er nun ein Flemmli hatte, „Ich wollte nicht versuchen, wie Eljas zu sein. Im Gegenteil. Ich mein, du bist ein großartiges Pokémon, aber ich wollte kein... kein Flemmli.“, er sah in das raubvogelartige Gesicht und meinte, dort Verständnis zu finden. „Das war bloß Zufall.“, fügte er leise hinzu. Lohgock gab ein Geräusch von sich, das eine Mischung aus Gurren und vogelhaftem Schrei war und zupfte ein bisschen an Mikkos ungekämmtem schwarzen Haar herum. Er lachte und schob die klauenbesetzte Hand des Pokémons beiseite, wobei er zum ersten Mal feststellte, wie warm das Feuer-Pokémon war. Genau genommen war es wohl nicht weiter überraschend, dass es eine höhere Körpertemperatur als er hatte, aber es überraschte ihn trotzdem irgendwie. „Hey, du!“ Mikko fuhr herum, nicht nur ein bisschen erschrocken. Er hatte nicht erwartet auf den am frühen Morgen stillen und verlassenen Straßen jemanden zu treffen. Ein paar Meter entfernt stand ein dunkelhaariges Mädchen in einem langen schwarzen Mantel, die ihn herausfordernd ansah. Ihr kurzes, schwarzes Haar war ordentlich frisiert und wehte leicht in einer morgendlichen Brise. Mikko hatte das unangenehme und beharrliche Gefühl, dass was auch immer sie von ihm wollte, ihm nicht gefallen würde. „Dein Pokémon sieht stark aus. Lass uns kämpfen!“, verkündete sie, mit einem Ton der nicht daran zweifeln ließ, dass sie vorhatte den Kampf zu gewinnen. Mikko wünschte sich nichts sehnlicher, als sich auf der Stelle in ein Abra zu verwandeln und sich zurück nach Hause zu teleportieren. Doch ehe er die Herausforderung ablehnen konnte war Lohgock auch schon hinter ihm hervor getreten. „Loh!“, Mikko seufzte ergeben. So viel dazu. Aber immerhin, es war immer noch verdammt früh – mit etwas Glück würde niemand den Kampf mitbekommen. Was ihn zu einem ganz anderen Problem brachte: er hatte keine Ahnung, welche Attacken Lohgock beherrschte. Eljas hatte ihm sicher alles mögliche beigebracht, was sein Gegner nicht erwarten und Mikko unmöglich erraten konnte. Doch die fremde Trainerin ließ Mikko keine Zeit, lange über dergleichen nachzusinnen. „Du bist dran, Nachtara!“, rief sie und warf ihren Pokéball, der irgendwie auch nicht ganz normal aussah, sondern schwarz und dunkelgrün. Ihr Pokémon sprang Lohgock mit dem gleichen Selbstbewusstsein entgegen, das auch seine Trainerin an den Tag legte. Mikko wurde etwas flau im Magen, das ganze überstieg ganz plötzlich seine Fähigkeiten. „Lohgock...“, murmelte er mit fast schon bittendem Ton, doch das Pokémon sah sich nur kurz über die Schulter um, und Mikko hätte schwören können, dass es grinste. „Looooh.“, machte es, und irgendwie klang es ermutigend. Mikko zwang sich zu einem unfertigen Lächeln. „Okay...“ Die fremde Trainerin hatte ihrer Ansicht nach wohl lang genug gewartet. „Nachtara, Angriff!“, mit diesen Worten schickte sie ihr Pokémon in den Kampf und Mikko hatte keine Ahnung mit welcher Attacke es beginnen würde. Das flinke schwarze Pokémon raste mit einigen raschen Sätzen auf Lohgock zu, das automatisch eine Abwehrhaltung einnahm, doch der erwartete Angriff kam nicht, denn kurz bevor die beiden Pokémon aufeinander treffen konnten sprang Nachtara unerwartet zur Seite – eine Finte! - und kam nun von hinten. Mikko hatte dies kaum erkannt, da hatte Lohgock schon reagiert: bevor Nachtara zu dem offensichtlich beabsichtigen Biss ansetzen konnte erwischten Lohgocks Krallen es mit voller Kraft – es erinnerte Mikko an eine Schlitzer-Attacke, sah aber wesentlich aufwendiger in seinen Bewegungen aus und war eindeutig kraftvoller. Nachtara schrie auf und landete nur knapp auf den Pfoten. „Tara!“, die Stimme des Pokémons war unerwartet tief, aber trotzdem seltsam melodisch. „Lohgock–“, begann Mikko, doch das Pokémon hatte seine Anweisungen weder nötig noch wartete es auf sie. Es nutzte den Moment, in dem Nachtara noch seine Kräfte sammelte; das Feuer um seine Hände begann heller und heller zu lodern und sein feuerrotes Gefieder schien geradezu zu glühen. „Looh!“, rief es laut grollend und das Glühen wurde zu Flammen, die auf Nachtara zu schossen, schnell und alles verbrennend und unmöglich auszuweichen, bedachte man den Zustand in dem sich das Unlicht-Pokémon befand. Die Flammen fanden ihr Ziel fast ohne Gegenwehr. Mikkos starrte mit weiten Augen auf die zwei Pokémon, als sich der Rauch aufzulösen begann. Nachtara rührte sich nicht und Lohgock war nicht einmal außer Atem. Wie der Triumphierende nach einer Schlacht sah es auf das besiegte Pokémon hinab, die Hände zu Fäusten geballt, an denen die unerbittlichen Flammen leckten. Eine ruckartige Geste mit den Armen ließ sie erlischen. „Nachtara, zurück!“, die helle Stimme der Trainerin riss Mikko aus seiner Starre. Er sah zu, wie das gewohnte rötliche Licht das Pokémon in seinen Pokéball zurück begleitete. Er setzte mehrfach dazu an etwas zu sagen, fand aber nicht die richtigen Worte. Er schluckte. „Tut mir Leid!“, platze er schließlich heraus, unfähig das Mädchen direkt anzusehen. Er hatte noch nie so einen heftigen Kampf gesehen und war sich nicht sicher, ob er die Erfahrung wiederholen wollte. „Was tut dir Leid?“, fragte sie, jetzt weit ruhiger als zuvor und ohne den emotionalen Aufruhr den Mikko fühlte, und den er auch von ihr erwartet hatte. Er sah auf. „Dein... dein Pokémon... Nachtara, es sah schlimm aus...“, erklärte er unsicher. Sie nickte nur und blickte zärtlich auf Nachtaras Pokéball. „Ja, stimmt. Aber das ist nicht deine Schuld. Pokémon kämpfen, und manchmal verlieren sie. Ich bin für Nachtara verantwortlich – dafür, dass es wieder gesund wird und dass wir beide aus jedem Kampf lernen.“, sie war ernst und, wie Mikko fand, sehr erwachsen und professionell. „Du könntest mir aber eine Frage beantworten.“, fuhr sie fort. Er zuckte mit den Schultern. „Klar. Was denn?“ Sie warf Lohgock einen scharfen Blick zu. „Wem gehört dieses Pokémon?“ Kapitel 9: Im Dunkeln und im Regen ---------------------------------- Mikko wurde mit einem Schlag kreidebleich. „Lohgock... Lohgock ist... also...“, er hätte sich vielleicht bei Zeiten eine Ausrede zurecht legen sollen, aber am liebsten wäre es ihm gewesen, wenn vorerst niemand etwas von Lohgock erfahren hätte. Die Trainerin war mit seiner Antwort offenbar alles andere als zufrieden. „Wenn du es gestohlen hast, solltest du es besser sofort zugeben!“ merkte sie streng an. „Nein!“, Mikko schüttelte den Kopf, „Es ist freiwillig zu mir gekommen, wirklich!“ Sie sah wenig überzeugt aus. „Willst du mir erzählen, dass irgendein Trainer so ein starkes Pokémon einfach laufen lässt? Oder ist es abgehaun?“ Lohgock ließ einen lauten, protestierenden Schrei ertönen. Ärgerlich sah Mikko die fremde Trainerin an. „Nein. Und genau genommen geht es dich auch nichts an. Lohgock kann selbst entscheiden, was es tun will.“ Doch das Mädchen war wenig beeindruckt, wenn überhaupt fühlte sie sich herausgefordert. „Aber es gehört dir nicht, oder? Dann solltest du es auch nicht in Kämpfen einsetzen.“, kritisierte sie. „Aber...“, das war so ein Punkt, wo sie genau genommen nicht ganz Unrecht hatte, aber... „Lohgock will doch kämpfen!“, erklärte er, „Dass ich ihm nicht gewachsen bin weiß ich selbst.“ „Da gibt’s kein 'aber'–“, begann sie erneut, doch die Predigt blieb ihr offenbar im Hals stecken als Mikko plötzlich etwas warmes an seinem Rücken spürte und sich die kräftigen Arme Lohgocks von hinten um ihn legten. Das Pokémon ließ ein tiefes Gurren erklingen, das Mikko eher an ein Knurren denken ließ, und drückte den Schnabel gegen seine Wange. Zuerst zaghaft, dann aber bestimmt strich er mit der Hand über Lohgocks Kopf. „Doch.“, sagte er schließlich, „Lohgock ist mein Pokémon. Weil es sich nun mal so entschieden hat.“ Lohgocks Griff um ihn wurde für einen Moment fester, bevor es ihn losließ. Und plötzlich wurde ihm klar, dass die Kommunikation zwischen Trainern und ihren Pokémon gar kein so großes Geheimnis war. Es war nicht schwer zu verstehen, was Lohgock ihm sagen wollte. Oder Schwalboss, was das anging. Der Raubvogelschrei vom Himmel erinnerte ihn an sein anderes 'Geheimnis', das eben zum Sturzflug ansetzte und erst knapp über ihm abbremste, bevor es landete. Der Trainerin entwich ein kurzer, erschrockener Laut, doch sie fasste sich schnell. „Ich nehme an, dieses Pokémon ist genauso freiwillig bei dir aufgetaucht?“, fragte sie, doch ohne die vorherige Schärfe und mit einem Hauch von Humor. Mikko nickte, während er die beiden Pokémon in ihre Pokébälle zurück rief. Ein Schmunzeln. „Wer bist du eigentlich?“ Er zuckte mit den Schultern. „Mikko. Und du?“ „Lenja.“ Tuomo hatte das Handy zwischen Kopf und Schulter geklemmt, während er auf einem umgedrehten Eimer vor einem bunten Zirkuswagen saß und das farbenfrohe und mit Glocken besetzte Geschirr eines Tropius, das neben ihm schlummerte, mit einem Lappen bearbeitete. Eine ganze Weile hörte er nur zu und seine Aufmerksamkeit schien mehr seiner Arbeit als dem Gespräch gewidmet zu sein; der Eindruck täuschte. „Ich werd die Augen offen halten, aber versprechen kann ich dir nichts. Ich mein... nein, Jaska...“, er runzelte die Stirn, „Jaska, ich hab's verstanden, okay?“, versuchte er es mit mehr Nachdruck, „Aber der Junge könnte sonst wo sein, du hast keine Ahnung wie er aussieht... ja, verdammt noch mal.“, die Glocken des Geschirrs klirrten als Tuomo seiner Frustration mit rigorosem Schrubben freien Lauf ließ. „Seh ich ja alles ein“, fuhr er fort, „aber Hoenn ist groß und die Wahrscheinlichkeit, dass er...“, ein zunehmend entnervter Seufzer, „Okay, okay!“, der Lappen wurde in eine beliebige Ecke gefeuert. „Versprochen.“, murmelte Tuomo bevor er auflegte. „Himmel Herr Gott!“, fluchte er, woraufhin das verschlafene Pflanzen-Pokémon neben ihm fragend den Kopf hob und den Artisten aufmunternd anstubste. Lächelnd kraulte Tuomo den Kopf des Tropius. „Nah, du kannst nix dafür.“, erklärte er dem Pokémon, das scheinbar nie begriffen hatte, dass es – ausgewachsen wie es war – gut zwei Meter groß und an die hundert Kilo schwer war und so rannte es Artisten mit seiner Schmusebedürftigkeit regelmäßig über den Haufen. „Jaska nutzt einfach seine Krankenbettschonzeit. Wer geht schon hin und scheißt einen zusammen, der gerade aus'm Koma aufgewacht ist?“ Aber wie er sich das vorstellte, den jungen Trainer zu finden, der mit Lohgock abgehauen war, das konnte Tuomo nicht ganz nachvollziehen. Andererseits kannte Jaska eine Menge Leute, und sicher war er nicht der erste gewesen, den der andere angerufen hatte. Ein Pokémon wie Lohgock konnte man nur schwer verstecken, früher oder später würde er damit auffallen. Lenja war nicht mit Mikko zum Pokémon-Center zurück gegangen – obwohl sie schon wegen Nachtara einen Besuch nicht aufschieben konnte – mit der Begründung, dass es schon Tag sei. Kein Fakt, den Mikko als Teil einer Kausalkette in Erwägung gezogen hätte, aber wer war er, mit Lenja darüber zu diskutieren; je weniger Leute um ihn herum waren, die von Lohgock wussten, desto besser. Irja war inzwischen wieder besserer Laune, was angesichts ihrer nun wieder gesunden Pokémon nachvollziehbar war. Mikko für seinen Teil war einfach froh, dass er Irja nicht die Anwesenheit zweier hoch entwickelter Pokémon erklären musste, diese Entspannung hatte er nach Lohgocks Kampf dringend nötig. „Okay, wenn du auch nichts mehr zu tun hast“, begann sie, „können wir ja los nach Metarost City, durch den Blütenburgwald.“ Mikko rief sich eine Karte der Region ins Gedächtnis. Wiesenflur lag nördlich von Rosaltstadt – aber seine Eltern wähnten in ja auf Pokémon-Reise, da konnte er sich also nicht blicken lassen – und nordöstlich war Malvenfroh City, quasi das Zentrum Hoenns. „Warum gerade nach Metarost?“, hakte er nach, „Ist da irgendwas los?“ Irja warf ihm den inzwischen vertrauten das-musst-du-doch-wissen Blick zu. „Alle Trainer ziehen von hier aus durch den Blütenburgwald.“, erklärte sie ihm, „Da kannst du dich an nicht zu starken Pokémon austoben, trainieren, und in Metarost gibt es sogar eine Arena!“ Mikko fand die Argumentation wenig überzeugend. „Nur weil's alle machen, muss man ihnen ja nicht nachlaufen.“, befand er, „Malvenfroh liegt viel günstiger, von da aus kann man sich immer noch überlegen, wo man hin will.“, was eine beschönigende Beschreibung war; Mikko hatte einfach keine Ahnung, was genau er jetzt anstellen sollte. „Du bist seltsam. Aber von mir aus.“, entgegnete Irja, „Dann also erst mal nach Norden.“ Ein schnelles Geigenstück kündigte Lenja einen Anruf auf ihrem Handy an. Müde und nicht wirklich gut gelaunt, da sie sich gerade hingelegt hatte, meldete sie sich. „Ja?“, die Müdigkeit wich Überraschung, „Hi! Nein, ist okay, ich hab Zeit.“, dann hörte sie eine ganze Weile nur zu. „Oh... wirklich... Moment, warte mal.“, sie setzte sich im Bett auf und strich sich die etwas verwuschelten schwarzen Haare aus dem Gesicht. „Ein Junge mit einem Lohgock, das eindeutig stärker ist als er, ja?“, sie lächelte während ihr Gesprächspartner antwortete, „Uhun, kann man so sagen.“, sie nickte, obwohl das beim Telefonieren reichlich sinnlos war, „Ja, alles klar. Mach ich.“, dann legte sie auf. Sie hatte es ja gewusst, dass da mit Mikko und seinem Lohgock was nicht stimmte, aber das war schon heftig. „Wenn du schon das Ziel aussuchst, kann ich zumindest die Route bestimmen!“, erklärte Irja unbeirrt, als Mikko die von ihr geplante Route anzweifelte. „Vertrau mir, ich weiß was ich tu!“ Schlussendlich konnte es ihm vermutlich egal sein, und wenn seine ungebetene Reisebegleitung etwas Ahnung von der Umgebung hatte, konnte ihm das nur helfen. Also gab er am Ende doch wieder nach, ein Trend der sich in seinem Leben breit gemacht hatte. Und so fand er sich wenig später bei unangenehm kalten Nieselregen auf dem Weg gen Norden. „Weißt du, wenn die anderen davon erzählt haben, wie toll es ist, Pokémon-Trainer zu sein, haben sie diesen Teil irgendwie ausgelassen.“, beklagte er sich, als eine weitere Windböe ihm eine Ladung Regen ins Gesicht wehte. „Welchen Teil?“, fragte Irja, die ein paar Schritte vor Mikko unbeirrt neben ihrem Moorabbel her stapfte, das das Wetter offenbar genoss. „Na das hier! Regen!“, er unterstrich seine Aussage mit einer alles umfassenden Geste, „Wer macht so was freiwillig!?“ Sie grinste und sah sich über die Schulter nach ihm um. „Du.“, antwortete sie schlicht. Und das schlimmste war, sie hatte Recht. Genau genommen konnte kein noch so stures Pokémon ihn dazu zwingen, irgendwo im nirgendwo durch den Regen zu laufen. Lohgock hätte vermutlich nichts dagegen gehabt, das ganze in einem trockenen Pokémon-Center auszusitzen, hätte es sich nicht in seinem Pokéball befunden. „Wir sind ja bald am Fluss, da gibt es eine Fähre...“, meinte Irja schließlich. Mikko war skeptisch. „Hast du so was nicht schon vor ner Stunde oder so gesagt?“ Sie wurde rot und wandte sich wieder nach vorne. „Wir müssten wirklich bald da sein. Bei dem Wetter kommt es einem viel weiter vor, als es ist.“ Gut zwei Stunden später hatte der Regen an Intensität zugenommen und schlussendlich war nicht mehr zu leugnen, dass weder Mikko noch Irja genau wussten, wo sie waren. Am Nachmittag hätte es eigentlich noch gut hell sein sollen, aber das aufziehende Gewitter verdunkelte den Himmel jetzt schon und allmählich wurde es schwer den angelegten Weg vom Unterholz zu unterscheiden. „Erfrieren eigentlich viele Trainer vor Erreichen der ersten Pokémon-Arena?“, fragte Mikko mit ihn selbst überraschendem Humor in die schon länger an herrschende Stille hinein. Die Winter in Hoenn wurden ja nicht so kalt wie in anderen Regionen, aber kombiniert mit anhaltendem Regen fühlte er sich doch gut durch gefroren. „Hey, immerhin ist es nicht mehr so windig!“, bemerkte sie optimistisch, „Jetzt ein Vogel-Pokémon...“ Mikko blieb wie angewurzelt stehen. Er war aber auch selten dämlich. „Natürlich! Dann könnte es uns in ein paar Minuten sagen, wo der verdammte Fluss ist!“ Irja seufzte. „Ja, könnte es, aber so toll kann dein Liekki nun echt nicht flattern und wenn du nicht gerade was größeres aus deinen Pokébällen zaubern kannst, hilft uns der Plan auch nicht weiter.“ Mikko ballte in seiner Tasche die Hand um Schwalboss' Pokéball. Er könnte genau das tun. Er sah zum Himmel auf, wo sich rabenschwarze Wolken auftürmten. Noch war das Gewitter weit weg; wenn es einmal über ihnen war, war ein Flug keinem Pokémon mehr zuzumuten. Er schluckte. „Ich kann.“, erklärte er entschlossen und warf den Pokéball. Schwalboss ließ seinen Ruf ertönen und breitete die Schwingen aus, gerade als Irja sich erschrocken umdrehte, die Augen geweitet. „Was zur Hölle–“ Das Vogel-Pokémon zeterte unzufrieden ob er Wetterumstände, in die Mikko es gerufen hatte. „Ja, tut mir Leid, Schwalboss.“, entschuldigte er sich, „Aber kannst du uns helfen, den Fluss zu finden?“ Es schüttelte das feuchte Gefieder, nickte, und schlug mit den Flügeln, woraufhin es sich sekundenschnell in den Himmel erhob. Mikko folgte ihm mit Blicken, doch Schwalboss war bald im Regen verschwunden. Irja starrte ihn fassungslos und vorwurfsvoll an. „Wann hast du das denn bitte gefangen? Ich mein, nicht dass ich nicht froh bin, dass du es hast, aber...“ Mikko zuckte verlegen mit den Schultern. Vielleicht hätte er doch noch ein paar Minuten warten und sich eine passende Erklärung überlegen sollen; wann würde er das endlich lernen? „'Gefangen' ist nicht ganz das richtige Wort...“, begann er, „Es ist irgendwie ziemlich anhänglich, und nachdem es bei mir zu Hause aufgetaucht war, haben meine Eltern geradezu darauf bestanden, dass ich Trainer werde... gewissermaßen. Und darum... darum halt...“ „Oh. Okay. Das erklärt das.“, sie rückte ihre Tasche zurück und streichelte Moorabbels Kopf. „Ich hab gleich gedacht, Trainer die gerade anfangen, also besonders die, sind sonst eigentlich, also normalerweise, etwas enthusiastischer. Aber du wolltest gar nicht richtig, oder?“, sie klang enttäuscht. Aber leider hatte sie absolut recht. „Ja.“, gab er zu, „Ich hatte nie wirklich vor, Trainer zu werden.“, aber es tat so unglaublich gut, die Wahrheit zu sagen. Oder zumindest einen Teil davon. „Dann solltest du es auch sein lassen!“, jetzt schien Irja erst recht ärgerlich, „So halbherzig erreichst du eh nichts, da kannst du auch gleich wieder nach Hause gehn.“ „Ich kann nicht!“, gab er laut zurück, „Wenn ich es einfach hätte bleiben lassen können, hätte ich genau das getan!“ Irja sagte nichts, sondern wandte ihm den Rücken zu. „Da kommt dein Pokémon.“, bemerkte sie kühl. Mit Schwalboss Hilfe fanden sie den Weg zum Fluss problemlos; sie waren etwas zu weit nördlich gelaufen und konnten nun eine Station später in die Fähre einsteigen, die zu ihrem Glück sehr regelmäßig verkehrte. Als Mikko Schwalboss in den Pokéball zurück rief grollte über ihnen der erste Donner. Jaska ließ sein Handy mit einem grimmigen Lächeln zuschnappen. Er schaltete das Gerät aus und machte sich auf den Weg zurück in sein Zimmer, das er zum Telefonieren verlassen hatte. Der Junge hatte doch tatsächlich die Dreistigkeit besessen, Eljas' Lohgock in einem Kampf einzusetzen, wahrscheinlich froh in dem Glauben, das habe keinerlei Konsequenzen. Aber jetzt wusste er, wo er war, und noch besser, wohin er auf dem Weg war. Sein Timing könnte gar nicht besser sein; in Malvenfroh würde Tuomo auf ihn warten, und er mochte von dem anderen Trainer nicht immer nur gutes gedacht haben, aber wenn es um Eljas ging würde er keine halben Sachen machen. Kapitel 10: Feuer im Innern - Tuomo ----------------------------------- Die ruhigste Zeit in einem Zirkus war die Zeit zwischen Nacht und Morgen, wenn es noch dunkel war und man die Dämmerung gerade so erahnen konnte. Die letzte Vorstellung war beendet, die Pokémon und ihre Athleten versorgt, und Stille lag über den Zelten und Wagen. Es war nicht so, als fiele Tuomo die Ausführung seines Plans nicht schwer, im Gegenteil. Er wusste, dass er seine Familie – womit alle Mitglieder des Zirkus' gemeint waren – vermissen würde. Auch die Arbeit mit den Pokémon würde ihm fehlen, das stand außer Frage. Aber er war sich sicher, dass er das durchziehen musste. Er wollte mehr sein, als ein Zirkusartist: ein Trainer! Bisasam war für die Ausbildung im Zirkus immer schon zu ehrgeizig gewesen, im Sinne dass es die anderen Pokémon übertreffen wollte, stärker sein wollte. Das Training für Kämpfe lag ihm eher, das hatten Tuomo und sein Pokémon gemein. Und von seiner neusten Errungenschaft hatte Tuomo noch nicht einmal berichtet: er hatte ein Pokémon gefangen, dass für den Zirkus vermutlich gänzlich ungeeignet war – ein Larvitar. Pokémon und das Potential ihrer Fähigkeiten genau einzuschätzen, um es kreativ und neuartig einzusetzen war etwas, worauf im Zirkus großer Wert gelegt wurde, aber auch für einen Trainer war es ein nützliches Talent. Tuomo war überzeugt aus Larvitar eines der stärksten Pokémon überhaupt machen zu können. Und so kam es, dass er in einer kalten Februarnacht den Zirkusplatz schleichend verließ, ohne die Absicht in näherer Zukunft zurück zu kehren. Der Vollmond erhellte seinen Weg, und seine beabsichtigt dunkle Kleidung schützte ihn davor, entdeckt zu werden; das fehlte ihm gerade noch, dass sein helles blondes Haar jemandem auffiel, der zufällig aus dem Fenster sah. Er meinte, seinen eigenen Herzschlag laut hören zu können, als er de schwarze Mütze zurecht rückte und sich ins nächste Gebüsch schlug. Er hatte es geschafft. Er war frei zu tun, was immer er sich vornahm! * Tuomo war selten so stolz gewesen wie in diesem Moment, als das grelle weiße Leuchten die Entwicklung seines Pokémons ankündigte. Und gab es etwas erhabeneres und furchteinflößenderes als ein sich brüllend aufrichtendes Despotar? Die Frage war leicht zu beantworten, wenn er sich das schockierte Gesicht seines Gegners so ansah. „Das war's.“, kündigte Tuomo leise an, „Hyperstrahl.“ Und damit fegte Despoar Lunastein vom Feld. Der Kampf war entschieden. Tuomo konnte sich ein überlegenes Grinsen nicht verkneifen. Er war gut, verdammt gut. Oder seine Gegner waren einfach richtig schlecht. Dieser zumindest war letztendlich keine wirkliche Herausforderung gewesen, das war ja kaum ein paar abschließende Worte wert. Trotzdem, es gab ja auch stärkere Trainer da draußen, und was wenn er plötzlich auf jemanden traf, dessen Pokémon seinen schon vom Typ her überlegen waren? Da konnte sein Bisasam noch so stark sein, gegen Feuer- oder Flug-Pokémon würde es vermutlich immer den Kürzeren ziehen. Es sei denn, er ließ sich was einfallen. * Guten Kämpfen zuzusehen war fast so gut, wie gute Kämpfe auszutragen. Leider waren diese wirklich unterhaltsamen Kämpfe so selten wie die intelligenten Trainer, die es dazu brauchte. Aber heute hatte er Glück, denn hier hatte es mal jemanden, der wusste, was er tat. Der Platz unweit des Pokémon-Centers war beliebt bei Trainern und wer Kämpfe sehen wollte, war hier immer richtig. Ein Unlicht- gegen ein Psycho-Pokémon, eigentlich sollte der Ausgang des Kampfes klar sein, was auch die generelle Meinung der Schaulustigen zu sein schien. Aber der Trainer des Kirlias hatte die Ruhe weg, was Tuomo in der Vermutung bestätigte, dass er noch irgendein Ass im Ärmel hatte. Nur was, das war Tuomo nicht ganz klar, denn nach den ersten paar Attacken zu urteilen, die Kirlia gerade so hatte abwehren können, hatten sie es mit einem Kramshef hohen Levels zu tun. Noch dazu waren Flug-Pokémon immer etwas kritisch, wenn das eigene Pokémon sich am Boden befand. Und der Trainer des Kramshefs schien nicht vor zu haben, seinem Gegner Gelegenheit zu geben sich neu zu sammeln, als er lautstark eine Nachtnebel-Attacke befahl. Warum also war der Kerl so gelassen? „Kirlia, Teleport!“, rief der junge Mann, der selbst einen Schritt zurück treten musste, um nicht dem gegnerischen Angriff zum Opfer zu fallen – und sein Pokémon war verschwunden. „Psychoklinge!“, erst als sein Trainer dies befahl tauchte Kirlia sprichwörtlich aus dem Nichts hinter Kramshef auf. Doch damit schien der andere Trainer gerechnet zu haben. „Tiefschlag!“ – „Teleport!“, Kirlias Trainer reagiert blitzschnell. Ob er mit Tiefschlag gerechnet hatte? Gegen physische Angriffe war dies eine der besten Attacken, die Unlicht-Pokémon zu bieten hatten. Erneut verschwand das Kirlia, bevor sein Gegner ihm Schaden zufügen konnte, doch dieses Mal wartete es nicht, bevor es seinen Gegenangriff startete. Und das war... „Trumpfkarte.“, kommentierte Kirlias Trainer noch, als sein Pokémon Kramshef mit einem hellen Leuchten und ohne es zu berühren zu Boden schleuderte, wo es nach einem kurzen Flattern regungslos liegen blieb. Keine Attacke, die man häufig sah, und entsprechend unerwartet kam sie meist. Tuomo grinste; dieser Kampf war keine Enttäuschung gewesen. Der siegreiche Trainer rief sein Pokémon zurück und ließ seinen Blick über das inzwischen zahlreiche Publikum wandern. Bildete Tuomo es sich nur ein, oder hatte er ihm gerade kurz zugenickt...? * Eljas war ein interessanter Trainer, ohne Zweifel absolut fähig, aber darüber hinaus konnte Tuomo nicht viel gutes über ihn sagen. Er war selbstbewusst und arrogant für zwei, ein elender Besserwisser. Er wusste mit seinen Pokémon umzugehen, aber das war's eben auch schon. Gut, in Eljas' Fall war es eine ganze Menge, aber trotzdem. Er ging Tuomo auf die Nerven. Zu seiner Genugtuung schien dies auf Gegenseitigkeit zu beruhen, immerhin etwas. Eljas war jederzeit bereit, ihrer beidseitigen Antipathie Luft zu machen; wobei die meisten Außenstehenden dann ihm, Tuomo, die Schuld dafür gaben den ansonsten so ruhigen Eljas provoziert zu haben. Er meinte zwar, dass Eljas mindestens genau so viele Streits anzettelte wie er, aber vielleicht kam ihm das auch nur so vor, denn während er sich gelegentlich auch mit anderen in die Haare bekam, war Eljas ansonsten ausnahmslos verträglich. Tuomo beobachtete den anderen Trainer etwas mürrisch; dieser war mit seinem besten Freund unterwegs (Tuomo hatte seinen Namen vergessen) und nahm gerade seine geheilten Pokémon von Schwester Joy entgegen, während Tuomo noch warten musste. Wie immer hatte er die Jacke nur locker um die Schultern gelegt, ganz als sei immer noch Sommer. War dem Jungen eigentlich nie kalt? Eljas hielt inne und sah zu Tuomo hinüber, als hätte er dessen Blicke gespürt. Er grinste. „Hast dir ne Niederlage eingefangen, was?“, neckte er. Nein, wie alle davon ausgehen konnten, Eljas sei das Unschuldslamm was ihre Streits anging war Tuomo dann doch unbegreiflich, er war keinen Deut besser! „Nein, hab ich nicht.“, gab er zurück, „Aber mit zwei Pokémon gleichzeitig anzutreten ist eben ein bisschen anspruchsvoller.“ Zu seiner Enttäuschung wirkte Eljas überhaupt nicht überrascht. „Jep, hab ich auch schon ausprobiert.“, erklärte er mit froher Mine, „Aber wenn man einmal den Dreh raus hat, ist es nur noch eine Frage geschickter Koordination. Aber das liegt nun mal nicht jedem...“ „Ach, aber gerade dir, wie?“, spottete Tuomo, „Du verkomplizierst ja schon normale Kämpfe, mit zwei Pokémon versinkst du garantiert im Chaos!“ „Es kann ja nicht jeder einfach sinnlos vorpreschen, manche von uns denken lieber nach bevor sie handeln.“, konterte Eljas. Tuomo sah seinen Freund mit den Augen rollen. „Wenn ihr's unbedingt wissen wollt, warum tretet ihr nicht einfach gegeneinander an?“, warf er mit leicht genervtem Ton ein. Ganz Unrecht hatte er nicht; sie hatten noch nie gegeneinander gekämpft, wenn man von Wortgefechten mal absah. Eljas hob eine Augenbraue und grinste Tuomo an. „Wenn er sich traut...?“ Tuomo verschränkte die Arme vor der Brust. „Jederzeit.“ * „So. Das war schlecht.“, stellte Eljas fest. „Das war ne Katastrophe!“, korrigierte Tuomo. „Milde ausgedrückt, ja.“, kam die Bestätigung. Aus ihrem Kampf war nichts geworden. Bei ihrer Ankunft am Kampfplatz waren sie von zwei Trainern herausgefordert worden, die im Team mit je einem Pokémon antraten. Der Aussage, dass sie diesem Kampfformat nicht gewachsen seien, hatten weder Eljas noch Tuomo widerstehen können. Und dann hatten sie zerknirscht feststellen müssen, dass zu einem Partnerkampf mehr gehörte, als seine eigenen Pokémon zu kennen, und dass konstante Rivalität eher hinderlich war. „Was musstest du auch Lohgock wählen? Du hättest dir denken können, dass ich Bisaknosp einsetze.“, knurrte Tuomo auf dem Weg zurück ins Pokémon-Center. Eljas warf ihm einen finsteren Blick zu. „Den geb ich zurück, du hättest ja Despotar wählen können, dann wär das kein Problem gewesen.“ „Ich heb mir meinen Trumpf halt gern für's Ende auf.“ „Ja, den Trumpf hab ich gesehn, ganz toll.“, winkte Eljas ab. „Nie wieder!“ Tuomo nickte. „Kannst du laut sagen.“ Ein paar Minuten liefen sie schweigend, dann sahen sie fast gleichzeitig auf. „Nächstes Mal machen wir sie fertig.“, entschied Eljas, einer Aussage, der Tuomo nur zustimmen konnte. Kapitel 11: Konfrontation ------------------------- Jaskas linke Hand zuckte hilflos und krampfte sich schließlich unkontrolliert zusammen. Erschöpft und enttäuscht ließ er den Arm zurück aufs Bettlaken sinken. Der Arzt hatte es ihm ja schon angekündigt: selbst mit langer, ausgiebiger Therapie würde er vermutlich nie wieder die gleiche Kontrolle über seine Hand haben, wie vorher. Mit der rechten massierte er die verkrampften Muskeln. Es war alles noch harmlos. Immerhin war er am Leben. Und er würde es nutzen um zu verhindern, dass jemand Eljas' Erbe derart beschmutzte, indem er sich seines Pokémons bemächtigte, wie auch immer er es angestellt hatte. Die Welt sollte sich an Eljas so erinnern, wie er gewesen war. Er merkte kaum, dass nicht nur seine linke Hand zitterte. Irja und Mikko verbrachten die Nacht auf der Fähre; Irja sprach während der Fahrt nach Malvenfroh City so wenig wie möglich mit ihm, all seinen Versuchen, ihr die Lage zu erklären zum Trotz; zugegeben, es waren keine sonderlich guten Versuche. In der Stadt angekommen verließ sie die Fähre und Mikkos Gesellschaft mit einem knappen Gruß ohne ihn ein letztes Mal anzusehen. Mikko sah ihr nach, die blonden Zöpfe folgten ihren offensichtlich ärgerlichen, ruckartigen Bewegungen, und wollte sie aufhalten, irgendetwas sagen, aber ihm fiel absolut nichts ein, was nicht absolut sinnlos gewesen wäre. Er verließ die Fähre und verlor die Trainerin schnell aus den Augen, denn am Anlegeplatz der Fähre waren bereits am frühen Morgen viele Menschen unterwegs. Er hätte ihr die Wahrheit sagen können, dachte er schließlich, nachdem sie ihm immer nur hatte helfen wollten hätte sie das vielleicht verdient gehabt. Aber das hätte er sich eher überlegen müssen. Auf einem erneuten Tiefpunkt in Sachen Motivation angekommen, fragte er sich zum örtlichen Pokémon-Supermarkt durch, um Verpflegung für seine Pokémon zu besorgen. Seine Eltern, gewissenhafte Züchter die sie waren, hatten die Nahrung für ihre Katzen-Pokémon stets selbst hergestellt, keine Dose mit industriellen Produkten hatte je den Weg in ihren Haushalt gefunden. Seine drei Pokémon waren zwar eher Vögel als Katzen, aber das Prinzip war das gleiche und mit Hilfe eines entsprechenden Rezeptheftes fand er schnell, was er brauchte. Im Pokémon-Center fand er die nötigen Gerätschaften und die Schwester hier hatte ihm gegenüber auch mehr als nur Missbilligung übrig – aber bei ihr war er ja auch nicht mit einem schwer verletzten Pokémon aufgetaucht. Obwohl der Abschied von Irja im Streit unangenehm auf ihm lastete fand er, dass das Leben als Trainer gar nicht so schlecht war. Nach dem gestrigen Unwetter sah es heute schon weit besser aus, und Liekki war ein aufgewecktes Kerlchen, das man einfach gern haben musste. Nachdem er Lohgock und Schwalboss in aller Heimlichkeit versorgt hatte, ließ er Liekki alle Zeit der Welt, seinen Napf zu leeren; die Füße auf dem Rand der Schüssel fiepte und piepte es vergnügt. Malvenfroh hatte einen kleinen Park, in dem Mikko es sich gemütlich gemacht hatte. Es war ein ruhiger Vormittag und fast schon herbstlich warm in der strahlenden Wintersonne. Plötzlich schrie Liekki schrill auf und als Mikko herum fuhr sah er nur noch eine kleine, weiße Gestalt von Liekkis inzwischen leerem Napf fort springen und zwischen den nahen Büschen verschwinden. „Was–“, doch ehe er wirklich begriffen hatte, was genau passiert war, hatte sein kleines Feuer-Pokémon auch schon die Verfolgung des Futterdiebes aufgenommen; wer hätte gedacht, dass es so schnell sein konnte? „Liekki!“, rief Mikko ihm hinterher, doch der gelbe Vogel kannte kein Halten. Hastig griff Mikko seinen Rucksack und stürzte hinter den zwei Pokémon her, mitten durch den Park. Äste schlugen ihm ins Gesicht und er wäre mehrfach fast gestürzt, denn in seiner Eile achtete er kaum auf den Weg. „Liekki...!“, aber sein Pokémon, dessen helles Gefieder er immer wieder vor sich aufleuchten sah, hatte gerade ganz andere Sorgen als die verzweifelten Rufe seines Trainers. Tuomo stand selten lange nach Sonnenaufgang auf; nicht, dass er nicht gern ausschlief, aber zum einen gab es mehr als genug Arbeit, die schon früh morgens erledigt sein wollte, und zum anderen hatte ein hyperaktives Ambidiffel es sich zur Aufgabe gemacht, ihm den Wecker zu ersetzen. Es hatte außerdem schnell herausgefunden, wie schrecklich kitzelig er war, und darunter hatte er nun fast jeden Morgen zu leiden. Er trug es mit Gelassenheit und immerhin erwischte er das vorwitzige Pokémon zumindest bei einem von drei Versuchen mit einem Eimer eiskalten Wassers, den er zu diesem Zweck bereit stellte. Ihm fiel nicht viel ein, was an Komik an ein sich zitternd schüttelndes und aufgebracht zeterndes Affen-Pokémon heran reichte. Und je eher er morgens von Schlaf auf Arbeit umschaltete, desto besser. Es war die Zeit zwischen wach-sein und schlafen, die ihn am meisten nachdenken ließ – und danach war ihm derzeit absolut nicht zumute. Inzwischen hatte er die kleine Herde Ponitas und Gallopas versorgt, mit denen er auch heute wieder arbeiten würde. Die Leitstute, ein elegantes Gallopa, war hochschwanger und würde in den nächsten Tagen fohlen, sie brauchte jetzt vor allem Ruhe, aber die anderen waren umso aufgewühlter. Auf einem unbenutzten Feld, das an den Zirkusplatz angrenzte, hatten sie für ihre Pokémon eine Koppel abgegrenzt, auf der diese nun friedlich grasten. Tuomo lehnte sich an den Zaun, den Kopf auf die Arme gelegt. Er blinzelte gegen die Sonne, auf die vertrauten Geräusche der Pokémon lauschend. Schnauben, scharrende Hufe, Ausrupfen von Grasbüscheln, gelegentliches Wälzen. Ein sanfter Wind wehte ihm durch die kurzen, flachsblonden Haare. Ein plötzliches lautes Wiehern zerriss die morgendliche Stille. Tuomo brauchte nicht lang zu suchen, um den Verursache der Unruhe zu entdecken: ein Junge lief Mitten über die kleine Koppel, offenbar hinter zwei Pokémon herjagend, einem Flemmli und – Tuomo stutzte, was war das denn? Es war klein, hauptsächlich weiß und definitiv ein Pokémon, aber keins, dass für die Hoenn-Region typisch gewesen wäre. Wie dem auch sei. Von seinen zwei Verfolgern sichtlich wenig angetan und in seiner Panik achtete es kaum darauf, wie vielen Ponitas es zwischen die Beine sprang und wohin es lief, nämlich geradewegs auf Tuomo zu. Es schlüpfte zwischen den untersten Latten des Zauns hindurch und erkannte seinen Fehler zu spät, als er es blitzschnell im Nacken packte und hoch hob, allem Zappeln zum Trotz. „Pa! Parisu!“, protestierte es mit heller, aufgeregter Stimme, doch in Tuomos Griff hatte es keine Gelegenheit, seine Krallen oder Zähne zum Einsatz zu bringen. Amüsiert grinsend wartete Tuomo, bis der junge Trainer – vollkommen außer Atem – zusammen mit seinem Flemmli bei ihm ankam. „Keine Sorge, ich hab deinen kleinen Ausbrecher, der kommt dir jetzt nicht noch mal aus.“, beruhigte er den Jungen, dessen schwarzes Haar ungefähr so ordentlich in alle Himmelsrichtungen abstand wie sein eigenes. Der Trainer rief sein Flemmli zurück, gerade als dieses sich, warum auch immer, auf das eingefangene Pachirisu (denn um ein solches handelte es sich) stürzen wollte und ließ sich erschöpft ins Gras sinken. „Das...“, er zögerte und begann zu kichern, „Das ist nicht mein Pokémon.“, und dann bekam er vor lauter Lachen kein Wort mehr heraus. Tuomo hob irritiert eine Augenbraue. Was war das denn für ein seltsamer Geselle? Mikko war über mehrere Dinge erleichtert, um nicht so sagen froh. Zum einen, dass er keinen Ärger dafür bekam, ohne zu Fragen auf das Zirkusgelände gestolpert zu sein und auch noch die Pokémon aufgeregt zu haben. Zum anderen dafür, dass der Zirkusartist, der sich als Tuomo vorgestellt hatte, das freche kleine Pokémon eingefangen hatte, dass Liekki zu dieser halsbrecherischen Verfolgungsjagd angestachelt hatte. Und zuletzt dafür, dass er sich endlich ausruhen konnte. Sie saßen zusammen vor einem der kunterbunten Wagen, während Mikko das Pachirisu mit seiner selbst hergestellten Pokémon-Nahrung fütterte, auch wenn diese eher auf die Bedürfnisse eines Feuer- oder Vogel-Pokémons abgestimmt war. Den kleinen Frechdachs schien das nicht zu stören; jetzt wo es hatte, was es wollte, war es verträglich, anhänglich und nicht geneigt seiner Nahrungsquelle – Mikko – auch nur für eine Sekunde von der Seite zu weichen. Es plapperte vergnügt vor sich hin, knusperte sein Futter und kletterte auf ihm herum, während Mikko versuchte es zu ignorieren und eine Unterhaltung zu führen. „...aber was ich jetzt mit ihm anfangen soll – keine Ahnung.“, beendete er den Bericht, wie es zu ihrer frühmorgendlichen Hatz gekommen war mit einem Seufzer. Tuomo musterte ihn schmunzelnd. „Behalt es doch einfach. Scheint dich zu mögen.“, stellte er fest. Mikko runzelte dir Stirn, mehr als nur ein bisschen skeptisch. „Ich weiß nicht ob Liekki da so begeistert von wär.“, warf er ein. „Dein Flemmli, was? Na, sobald Pachirisu ihm nicht mehr das Essen klaut, wird es sich das schon noch mal überlegen.“, vermutete er, das kleine Elektro-Pokémon zwischen den spitzen Ohren kraulend. „Auch wenn es dir in der Arena kaum helfen wird, Walters Elektro-Pokémon sind ein anderes Kaliber.“ „Walter?“, fragte Mikko etwas verwirrt, „Ah, der Arena-Leiter? Ich... ich glaube nicht, dass ich schon so weit bin...“, murmelte er. Tuomo klopfte ihm auf die Schulter. „Trainier lieber noch was, wenn du nicht sicher bist. Fang dir ein Boden- oder Gesteins-Pokémon, wenn du noch keins hast.“ „Hm-m.“, machte Mikko ohne rechte Überzeugung. Er war sich nicht sicher, ob er überhaupt gegen irgendeinen Arena-Leiter antreten wollte. Es schien ihm keine sonderlich gute Idee zu sein. Aber Tuomo schien entschlossen, ihm unter die Arme zu greifen. „Was hast du denn bisher in deinem Team, neben Flemmli?“ Da war sie wieder, die kritische Frage nach seinen Pokémon. Mikko vermied es, Tuomo direkt anzusehen, betrachtete stattdessen angestrengt seine Fußspitzen, während Pachirisu begann, die Krallen an seinem Schal zu wetzen. „Ich... also ich hab... im Wald ein Schwalboss gefunden...“, was nicht ganz der Wahrheit entsprach, ihr aber schon entfernt nahe kam. „Wie 'findet' man denn ein Schwalboss?“, hakte Tuomo dann auch gleich nach, ein entferntes Lachen in der Stimme, aber mit Mikkos Erklärung offenbar nicht zufrieden. Nervös grub Mikko seine Finger in den Stoff seiner Jeans, unsicher ob er Tuomo überhaupt irgendwas erzählen sollte, schließlich kannte er ihn überhaupt nicht. Was andererseits auch ein Argument dafür sein konnte. Bei jemand wildfremdem, der mit ihm und der Situation nichts zu tun hatte, was sollte da schon passieren? „Ich hab ein Lohgock.“, platzte es schließlich aus ihm heraus und er sah unsicher zu Tuomo auf, ungewiss wie dieser reagieren würde. Doch mit dem was er sah hatte er nun wirklich nicht gerechnet. Für einen Moment schien Tuomo fassungslos, dann verfinsterte sich sein Blick. „Du bist das?“ Hatte er was falsches gesagt? „Was... was soll ich sein?“ Er hätte schwören können, dass Tuomos Stimme zu einem regelrechten Grollen geworden war. „Du hast Eljas' Lohgock!“ So schnell war Mikko noch nie auf die Beine gekommen; Pachirisu purzelte überrascht und unter Quieken zu Boden, doch keiner der beiden Jungen beachtete es. „Woher–?“ Tuomo ließ ihn nicht ausreden. „Ist dir klar, dass Jaska ganz Hoenn nach dir absuchen lässt?“, er war ebenfalls aufgestanden und Mikko wurde unangenehm bewusst, dass der andere ein ganzes Stück größer war als er. Mikko machte einen zögernden Schritt zurück. „Jaska ist aufgewacht?“ „Kannst du dir vorstellen was er gedacht hat, als er gehört hat, dass jemand das Pokémon seines besten Freundes im Kampf einsetzt?“, Tuomo schien ihm gar nicht zuzuhören; zielsicher griff er einen Pokéball von einem Gürtel, der fast augenblicklich seine volle Größe annahm. „Los doch, ruf Lohgock, wenn du dich traust!“, forderte er ihn heraus. Mikko schluckte. Er war sich ziemlich sicher, dass ein Kampf gegen Tuomo ganz oben auf der Liste dummer Ideen stand, aber gleichzeitig erinnerte er sich an Lohgocks Kampfschrei, als es gegen Lenja angetreten war. Es hatte keinen Zweifel daran gelassen, dass es den Kampf liebte und die Konfrontation suchte. „Worauf wartest du?“, rief Tuomo, der inzwischen einige Schritte Abstand zwischen ihnen geschaffen hatte. Mikko atmete einmal tief durch und griff nach Lohgocks Pokéball. „Lohgock...!“ Kapitel 12: Kampf ----------------- „Los, Despotar!“, rief Tuomo und sein Pokémon erschien unter markerschütterndem Brüllen. Jetzt war es zu spät um zurück zu schrecken, der Pokéball war geworfen und Lohgock wirkte mindestens so kampflustig wie Tuomos Despotar. Den Kopf stolz erhoben nahm es augenblicklich seine Kampfposition ein. Die beiden Pokémon schienen weiter kein Signal zu benötigen, der Kampf begann, ohne dass Mikko ein Startzeichen erkennen konnte und ohne dass die Kontrahenten sich auch nur einen Augenblick gemustert hätten, um die gegenseitige Stärke einzuschätzen. Sie stürmten aufeinander zu, Despotar anscheinend in dem Versuch, einen Kopfstoß durchzuführen – hatte Tuomo die Attacke befohlen? Mikko war sich nicht sicher – und Lohgock schien diesem nicht einmal ausweichen zu wollen, stattdessen ballte es eine Hand zur Faust um Despotars Angriff mit seinem eigenen zu kontern. Es gab einen lauten Knall und eine regelrechte Stoßwelle, als die zwei Pokémon aufeinander trafen und für den Bruchteil einer Sekunde standen sie still, dann gingen sie zeitgleich zum nächsten Angriff über, so schnell und laut – die Luft war erfüllt von den Kampfschreien der Pokémon und ihren aufeinander krachenden Körpern – dass Mikko dem Kampf kaum folgen konnte. Er hätte gedacht, dass Despotars Gewicht allein seinen Attacken mehr Kraft geben würde, oder das Lohgocks Geschwindigkeit ihm den entscheidenden Vorteil gäbe, aber er konnte beim besten Willen nicht sagen, wer bei dieser Konfrontation als Sieger hervor gehen würde. Immer wieder fing er Wortfetzen von Tuomo auf, wenn er Despotar neue Anweisungen gab, während er selbst nicht einmal erkannte, welche Attacken Lohgock einsetze. Eins war ihm klar: obwohl die Funken um seine Handgelenke nur so flogen verzichtete es vollständig auf Feuer-Attacken und setzte allein auf eine rasche Abfolge von physischen Angriffen, wie Mikko sie noch nie bei einem Kampf-Pokémon gesehen hatte. Die Übergänge zwischen einzelnen Attacken waren fließend; die Hilfe eines Trainers schien es nicht im geringsten zu benötigen. Er war überflüssig. „Siehst du das?“, rief Tuomo ihm laut über das Kampffeld zu, „Siehst du, was es tut?“ Mikko sah von den kämpfenden Pokémon auf. Tuomo schien sich beruhigt zu haben, so seltsam das auch war. „Es... es kämpft!“, gab er zurück, unsicher worauf Tuomo hinaus wollte. „Aber wie! Sieh genau hin.“, gab Tuomo zurück und wies auf Lohgock, „'Nahkampf' ist nicht umsonst eine der mächtigsten Kampfattacken, und wenn du wissen willst was dahinter steckt, musst du dir Lohgock nur mal richtig ansehen. Da stecken Elemente verschiedener Kampfsportarten drin, von einem weiten Arsenal an Pokémon-Attacken ganz zu schweigen. Siehst du das da?“ Lohgock führte eine Reihe komplizierter Schläge aus, die Abstand zwischen es und Despotar brachten, so dass es sich sammeln und erneut angreifen konnte. „Kreuzhieb und Wuchtschlag, in einem Angriff.“ Mikko folgte den beiden Pokémon mit Blicken und begann ganz allmählich zumindest eine Sache zu begreifen: Eljas war ein Genie gewesen, es war kein Wunder, dass jemand wie er es zum Pokémon-Meister gebracht hatte. „Aber...“, fuhr Tuomo mit todernster Stimme fort, „...das allein ist nicht genug! Despotar!“ Sein Pokémon antwortete lautstark und warf seinen massigen Körper herum, so dass Lohgock einem Hieb mit seinem Schwanz ausweichen musste. Und darauf schien Despotar gewartet zu haben. Lohgock machte einen Satz zurück und in dem Moment löste Despotar mit einem heftigen Stampfen ein gewaltiges Erdbeben aus; Lohgock konnte so schnell weder die Richtung wechseln noch erneut ausweichen und bekam die ganze Wucht der Attacke zu spüren. „Lohgock!“, entfuhr es Mikko als er den letzten, fast schon klagenden Ruf des Feuer-Pokémons vernahm. Deutlich geschwächt sank dieses auf die Knie, sein ganzer Körper bebte. Doch die Flammen um seine Hände waren erloschen. Tuomo rief Despotar zurück und schritt über den Platz, auf dem der Kampf ihrer Pokémon deutliche Spuren hinterlassen hatte; die Erde war stellenweise tief aufgerissen. „Lohgock ist stark,“ erklärte er, „Aber das allein reicht nicht. Pokémon brauchen ihre Trainer. Und Lohgock braucht...“, er ließ den Satz ins Nichts verlaufen, aber Lohgocks tiefes, trauerndes Gurren war verständlich genug. Mikko konnte sich irren, aber waren das Tränen in Tuomos Augen? Der blonde Trainer streckte die Hand nach Lohgock aus, hielt aber kurz vorher inne. Er flüsterte etwas, doch Mikko war zu weit entfernt um ihn zu verstehen, und so oder so wusste er nicht, was er sagen sollte. Er hatte ja keinen Menschen verloren, der ihm nahe stand; was verstand er schon von Trauer? Tuomo bestand darauf, zusammen mit Mikko das örtliche Pokémon-Center aufzusuchen. Nachdem sie Lohgock und Despotar bei Schwester Joy abgegeben hatten ließ Tuomo Mikko zumindest so lange ausreden, dass dieser den Ansatz einer Erklärung für seine Situation formulieren konnte. Die ganze Zeit über strich er mit leicht zitternden Händen über Pachirisus weiches Fell; das kleine Eichhörnchen-artige Pokémon hatte es sich in seiner daher zwangsweise offenen Jacke gemütlich gemacht, doch kalt war ihm nicht wirklich. Vielleicht merkte er es auch einfach nicht. Pachirisu machte keine Anstalten, seiner Wege zu gehen, und Mikko hatte nicht die Energie, sich mit ihm auseinander zu setzen. Als er seinen Bericht beendet hatte waren sie wieder beim Zirkus angekommen und Tuomo schien erheblich ruhiger. „Ich weiß nicht warum,“ begann er schließlich nach einigen Minuten des Schweigens, „aber vielleicht braucht Lohgock dich.“ Mikko konnte mit dieser Aussage herzlich wenig anfangen und sah den anderen Trainer fragend an. „Klar, irgendwie braucht jedes Pokémon seinen Trainer... und umgekehrt. Aber wenn Eljas gesagt hat, dass er und Lohgock einander brauchen, dann hat er irgendwie mehr gemeint.“, er zuckte mit den Schultern und musterte Mikko genau, der sich unter seinem forschenden Blick sichtlich unwohl fühlte. „Ich kann es dir nicht besser erklären. Du solltest es besser wissen als ich.“ Mikko schüttelte nur den Kopf. „Wie auch immer.“, wechselte Tuomo das Thema, „Wir sollten Jaska besuchen.“ Das zumindest brachte ihm eine prompte Reaktion ein. „Jaska?“, nach allem was Mikko bisher erfahren hatte, schien Eljas' bester Freund ihm alles andere als wohl gesonnen zu sein. „Ganz genau.“, bestätigte Tuomo, mit einer Hand durch die unordentlichen blonden Haare fahrend, die ohnehin schon in alle Himmelsrichtungen abstanden. Zumindest mit dem Problem war Mikko vertraut. „Und zwar so bald wie möglich.“, er schien kurz nachzudenken, ohne zu beachten wie offensichtlich wenig begeistert Mikko von dieser Aussicht war. „Heute ist es zu spät und morgen abend haben wir eine Vorstellung... übermorgen also, und zwar so früh wie möglich.“ „Du... das kannst du doch nicht einfach so entscheiden!“, begann Mikko endlich zu protestieren, nervös und etwas ärgerlich, dass alle Welt permanent meinte, Dinge für ihn bestimmen zu müssen. Tuomo war unbeeindruckt. „Kann ich nicht?“, jede Spur von Verständnis und Mitgefühl verließ sein Gesicht und machte absolutem Ernst Platz. „Glaub mir, Mikko, ich kann, und ich werde. Ich verrate dir etwas, unter uns: Jaska ist überzeugt, dass Eljas' Tod kein Unfall war.“ Mikko wurde blass, seine Gedanken rasten. 'Kein Unfall? ...Mord?' Tuomo fuhr unbeirrt fort. „Lohgock hat dich da rein gezogen, daran ist nun einmal nichts zu ändern. Aber wenn ich mich nicht ganz irre hat es sich etwas dabei gedacht, und was auch immer das ist...“, die Härte verließ ihn ebenso plötzlich wie sie gekommen war, „...wir werden es für Eljas heraus finden. Und bei Jaska fangen wir an.“ Eines wurde Mikko in diesem Moment klar: sollte wirklich mehr als ein schreckliches Unglück hinter Eljas' Tod stecken, würden weder Tuomo noch Jaska den Verantwortlichen je vergeben. Und das Werkzeug ihrer Jagd und Rache würden er und Lohgock sein. Er schluckte. Ihm war alles andere als wohl bei der Sache. Das war zu groß für ihn, ganz eindeutig – was hatte jemand wie er in mitten von Pokémon-Meistern und Mordkomplotts zu suchen? „Okay.“, hörte er sich selbst sagen bevor er sich aufhalten konnte, doch er war sich nicht sicher zu was genau er da gerade seine Zustimmung gab. Lange hielt Mikko es nicht bei Tuomo aus, und so bald er konnte verließ er das Zirkusgelände, jedoch nicht bevor dieser ihm das ausdrückliche Versprechen abgerungen hatte, ihn zu Jaska zu begleiten. „Ich hab so keine Lust...“, meinte er, mehr zu sich als zu Pachirisu, „Von 'keine Ahnung' ganz zu schweigen, und...“, er seufzte. Das kleine Pokémon hatte sich bequem in seine Jacke gekuschelt und zirpte ein „Parisu!“ als Antwort auf Mikkos Selbstgespräche. Auf einer Bank vor dem Pokémon-Center ließ er sich nieder und legte den Kopf in den Nacken. Nicht eine Wolke am Himmel – kein Wunder, dass es nachts so kalt wurde. Aber in der Sonne war es immer noch wirklich angenehm. Er musste eingenickt sein, denn als ihn ein beständiges Ziepen an den Haaren weckte, dämmerte es bereits. Gähnend fischte er Pachirisu von seinem Kopf, auf dem es vergnügt umher geklettert war. Seltsam, er war doch sonst nicht so verschlafen. Aber wenn er darüber nachdachte... er war auch im Pokémon-Center, als Schwalboss verletzt gewesen war, einfach eingeschlafen. Und nicht mal das Schwanken der Fähre auf dem Weg nach Malvenfroh City hatte ihn wach gehalten, dabei war er sonst ein sehr leichter Schläfer, den selbst das kleinste Geräusch weckte. „Parisu!“, lenkte das Pokémon seine Gedanken wieder auf das Hier und Jetzt, und durchstöberte dabei seine Jackentaschen. „Hast du schon wieder Hunger?“, neckte Mikko, seine Müdigkeit vorerst darauf schiebend, dass in letzter Zeit einfach viel zu viel los gewesen war, „Kannst nicht mal deinen Namen ganz aussprechen. Pa-chi-ri-su.“, sprach er vor, doch sein hungriger Begleiter durchsuchte lieber Mikkos Rucksack, als sich um linguistische Feinheiten zu kümmern. „Parisu!“, beschwerte es sich, als es das Fach, in dem sich das Futter befand, nicht auf bekam. Mikko lachte und fasste das kleine Pokémon am Nackenfell, um es von den verlockenden Düften weg zu setzen. „Okay, okay. Aber du bist nicht das einzige Pokémon, das gefüttert werden will, verstanden? Streitende Pokémon sind das letzte, was ich brauche.“, mit diesen Worten hob er seinen Rucksack auf, was Pachirisu als Einladung interpretierte, sich ebenfalls tragen zu lassen. Naja, es wog ja so gut wie nichts. „Mal schaun, ob sie im Center ein Zimmer für uns haben...“ Sie hatten, denn als Pokémon-Center einer so großen Stadt wie Malvenfroh war es auf den Besuch vieler Trainer eingestellt. Die Anwesenheit des Zirkus' sorgte für besonders regen Betrieb und Mikko hatte absolut nichts dagegen, selbst mit auffälligeren Pokémon einfach in der Masse der Trainer unterzugehen. Seine vier Begleiter waren kaum versorgt – Liekki und Pachirisu vertrugen sich bei abnehmendem Futterneid erstaunlich gut – als Mikko sich auch schon müde auf sein Bett sinken ließ. Draußen war es bereits dunkel, was im Winter aber nichts heißen wollte, es war wirklich nicht spät. „Hey, Parisu,“ murmelte er müde, „Wär ein Pokéball für dich okay? Die Zimmer sind einfach nicht so groß, dass alle ihre Pokémon frei rumlaufen lassen können...“, darauf hatte ihn Schwester Joy zuvor hingewiesen. Er schlief ein, den neuen, nun nicht mehr leeren Pokéball noch in der Hand. Kapitel 13: Geheimnisse ----------------------- Tuomo schätzte die Arbeit mit den Pokémon, die seine Aufmerksamkeit erforderte und alles andere in den Hintergrund drängte. Normalerweise. Er hatte sich des Kampfes wegen – zurecht – eine Standpauke eingefangen, denn auch wenn die meisten Zirkus-Pokémon Aufregung gewohnt waren, die Art Kampf wie Despotar und Lohgock ihn hingelegt hatten hatte unweigerlich für Unruhe gesorgt. Die Ränge, die in wenigen Stunden das Publikum beherbergen würden, waren jetzt noch leer und Tuomo war allein in der Manage, mit Ausnahme seines älteren Cousins Isko, der sein Training überwachte. Hier und da machte der erfahrene Artist Anmerkung zu Tuomos Leistung, aber die meiste Zeit schwieg er. Er trieb sein Gallopa zu einem leichten Galopp bevor er zur nächsten Figur über ging, die den Beginn des von ihm so geliebten Feuersturms darstellte. Für die ganze Nummer brauchte er einen Partner, und genau das war Isko, weshalb er ihn jetzt umso genauer beobachtete. Isko war gegen Tuomos Rückkehr zum Zirkus gewesen, das war diesem durchaus klar. Die jahrelange Abwesenheit, während der er eine Karriere als Trainer verfolgt hatte, hatten seiner Form sicher nicht geholfen und er wusste, dass er die Trapez-Nummer, die die anderen mit ihren Bisasam vorführten, frühestens in einem Jahr wieder in Perfektion beherrschen würde. Er bereute seine Entscheidung nicht. Die Erfahrungen, die er gemacht hatte, waren jede Missbilligung wert, die man ihm entgegen bringen konnte. Und jetzt, in diesem Moment, gab es nur ihn und sein Pokémon, das sich kraftvoll und kontrolliert unter ihm bewegte, den feinen Staub der Manage, der sich auf seine vom Schweiß leicht feuchte Haut legte, das Schnauben Gallopas und seinen eigenen Atem. Er musste nicht denken, einfach nur seinen Körper arbeiten lassen. Alles andere wäre unerträglich gewesen. Als Tuomo am nächsten Morgen am Bahnhof von Malvenfroh City ankam, sah er Mikko bereits auf ihn warten. Es war ein kalter Wintermorgen und der junge Trainer hatte seinen Schal bis über das Kinn hochgezogen, um nicht den eisigen Windböen ausgesetzt zu sein. Seine Hände waren in den Jackentaschen vergraben und er schien vor sich hin zu dösen – Tuomo konnte es ihm nachfühlen, er war selbst noch recht müde nach der gestrigen Vorstellung. Es hatte gerade erst begonnen zu dämmern; nur wenige Menschen waren bereits unterwegs und die meisten hatten es angesichts der frostigen Temperaturen eilig, ihr angestrebtes Ziel zu erreichen. Und genau genommen ging es ihnen ja nicht anders. „Mikko.“, grüßte er und der andere zuckte merklich zusammen bevor er aufsah. Er unterdrückte ein Gähnen. „Morgen.“, murmelte er, „Zug kommt in fünfzehn Minuten.“ Tuomo nickte und entschied sich, angesichts der Wartezeit, doch die zu diesem Zweck mitgebrachten Handschuhe anzuziehen. Hoenn war für sein warmes Klima bekannt, kalte Winter wie dieser waren eher ungewöhnlich. „Verdammt kalt.“, brummte er. Er erinnerte sich, dass Eljas ob solcher Aussagen stets nur hatte lachen können. Dem verdammten Kerl war nie, aber auch wirklich nie kalt gewesen. Bis auf einmal. Sie warteten schweigend; Tuomo hing seinen eigenen Gedanken nach und Mikko schien noch nicht vollständig aufgewacht. Irgendwie tat er Tuomo ja Leid, er war wirklich ohne eigenes Verschulden in die Sache mit rein gezogen worden. Aber jetzt musste er eben mit dem Blatt spielen, das man ihm zugeteilt hatte. Wie sie alle. Im Zug wurde Mikko klar, dass der fröhliche Tuomo, den er zu Anfang kennen gelernt hatte, in Malvenfroh geblieben zu sein schien; an seine Stelle war ein ernster, stiller junger Mann getreten, der nicht eben zu einer Unterhaltung einlud. Aber wer konnte es jemandem verübeln, der einen engen Freund verloren hatte? Trotzdem weigerte Mikko sich, die Zugfahrt in regelrechter Depression zu verbringen. Liekki und Parisu waren weit bessere Gesellschaft, und wenn sie auch nicht reden konnten hatte Mikko doch keine Probleme zu verstehen, was sie ihm mitteilen wollten. Er hatte die Müdigkeit, die ihn den gestrigen Tag über begleitet hatte, inzwischen vollständig überwunden und auch Lohgock war wieder auf der Höhe seiner Kraft. Im Zug war es warm, und nach einiger Zeit machte die Dämmerung einem neuen Tag Platz. Mit der Sonne stieg auch Mikkos Laune und Zuversicht. Es war seltsam, aber allmählich machte sich in ihm das Gefühl breit, dass alles schon irgendwie klappen würde. Es musste einfach. Es war noch gar nicht so lange her, dass Mikko das letzte Mal in Seegrasulb City gewesen war, und damals wie heute führte sein erster Weg zum Krankenhaus. Inzwischen hatte der Andrang durch Reporter und Schaulustige nachgelassen und war wieder dem alltäglichen Krankenhausbetrieb gewichen. Es half auch, dass Tuomo auf der – immer noch überaus kurzen – Liste autorisierter Besucher stand. Lohgock folgte den beiden Trainern mit sichtlicher Ungeduld. Sie fanden Jaska in seinem Zimmer, beschäftigt mit Dehn- und Muskelübungen seiner linken Hand, die mit einem Geflecht von Narben überzogen war. Er war längst nicht mehr so blass wie bei Mikkos letztem Besuch und sein langes, rotes Haar war ordentlich im Nacken zusammen gebunden. Er saß aufrecht in seinem Bett und sah auf, als sie an die halb offen stehende Tür klopften. Er brauchte keinen Moment, um die Verbindung zwischen Lohgock und Mikko herzustellen. Augenblicklich verfinsterte sich sein Blick. „Du...!“, entfuhr es ihm und Mikko machte einen instinktiven Schritt zurück, nur um gegen Lohgock zu stolpern. Das Pokémon hielt ihn sanft an der Schulter fest und trat dann um ihn herum auf Jaska zu. Ihm gegenüber war Jaska ganz anders – beinahe sprachlos zum einen, von offensichtlicher Trauer ergriffen zum anderen. „Lohgock... es tut mir so...“ Das Pokémon gurrte mitfühlend, und Mikko war es als könnte er seine Stimme nicht nur hören, sondern fühlen, wie ein wummernder Bass irgendwo in seinem Körper. Mit einer klauenartigen Hand wies Lohgock auf Jaskas Brust, begleitet von einem fragenden Geräusch. Jaska schien genau zu wissen worauf Lohgock hinaus wollte, und tatsächlich zog er nur einen Augenblick später einen Anhänger an einem dünnen, ledernen Band hervor. Lohgock ergriff es und wandte sich ohne zu zögern Mikko zu, um den Anhänger einladend direkt vor seinem Gesicht baumeln zu lassen. „Lohgock!“, erklangen im gleichen Moment zwei Stimmen, eine erschrocken, eine wütend und beide voll Unverständnis. Es handelte sich um einen kaum Handteller-großen Ring aus einem matten, schwarzen Material, irgendwas zwischen Kohle und Glas, der weder Schatten noch Reflektion zu haben schien. Vorsichtig griff Mikko nach dem seltsamen Artefakt, doch Jaska war schneller als er und hastete aus dem Bett, die gesunde Hand nach dem schwarzen Ring ausgestreckt. „Wie kannst du es einfach so weg geben?“, verlangte er zu wissen, „Eljas hat es nie jemandem gegeben! Er hat es kaum abgelegt!“, er war außer Atem, vor Aufregung und der plötzlichen, ungewohnter Anstrengung. Tuomo schien diesen Moment für geeignet zu halten, um sich einzuschalten. „Solltest du nicht auch mal darüber nachdenken, was Lohgock will, und nicht nur was dir in den Kram passt?“, warf er ein, ohne Bemühen die Schärfe in seiner Stimme zu kaschieren. „Vielleicht solltest du dir lieber Gedanken machen, was Eljas gewollt hätte!“, fuhr Jaska ihn an, „Hast du eine Ahnung was er sagen würde, wenn er wüsste dass jemand seine Sachen einem Wildfremden gibt?“ „Nicht einfach 'jemand', sondern Lohgock!“, gab Tuomo mit erhobener Stimme zurück, ungeachtet der Tatsache, dass sie sich immer noch in einem Krankenhaus befanden. „Und Eljas hat Lohgock immer vertraut.“ „Mir hat er auch vertraut!“, rief Jaska, Tränen der Wut in den Augen, „Versuch mir nicht einzureden, du wüsstest so genau was Eljas tun würde!“ Tuomo war inzwischen mindestens so aufgebracht wie Jaska. „Ich war sein Freund, Jaska, ich glaube ich kannte ihn besser als jeder andere!“ „Loooh!“, unterbrach Lohgocks lauter Schrei den Streit. Tuomo und Jaska hielten inne, beide unangenehm berührt. Ruckartig nahm Lohgock den Anhänger erneut an sich und dieses Mal ging Jaska nicht dazwischen, als es ihn Mikko präsentierte. Wie ein Pendel schwang er leise hin und her. Es war seltsam still. Absolut still. Kein Geräusch war zu hören, nicht ein einziges, als befände er sich in einem vollkommenen Vakuum. Lohgocks Entschlossenheit und Schmerz waren ein einziges Gefühl, keine zwei Einheiten, das wurde Mikko plötzlich klar, obwohl er sich nicht erinnern konnte, vorher darüber nachgedacht zu haben. Es hatte noch etwas zu erledigen. Aber es konnte es nicht allein tun. Der Ring lag warm in seiner Hand; wie Lohgock selbst schien er über eine eigene, ihm inne wohnende Wärmequelle zu verfügen. Er schüttelte den Kopf und das seltsame Gefühl absoluter Tonlosigkeit schwand. Der Ring war kalt. Natürlich, was sollte er sonst sein? „Vielleicht wäre es jetzt Zeit für ein paar Erklärungen.“, befand Tuomo, Jaska einen warnenden Blick zuwerfend. Ihm schien nichts ungewöhnliches aufgefallen zu sein, sicherlich keine merkwürdige Stille. „Ich denke, wir haben da alle unseren Teil beizutragen, und Lohgock wäre es sicher Recht, wenn es das nicht auch noch allein tun muss.“ * Dieselbe Sonne, die an diesem frühen Nachmittag Jaskas Krankenzimmer in ein warmes, goldenes Licht tauchte, strahlte auch auf den Ozean, der sich östlich von Seegrasulb City erstreckte. Endlos brach sich das Licht auf den Wellen, unterbrochen nur in den Tälern zwischen den Wellen und durch die Wingull, die über dem Wasser ihre Kreise zogen. Die Pokémon folgten den Fischerboten, von denen sie sich stets leichte Beute zu versprechen hatten. Doch das Boot, auf dessen Deck Ahto in der Sonne lag war mit den Kuttern der Fischer nicht zu vergleichen; es handelte sich um eine schnittige kleine Yacht, gerade groß genug für eine Familie und einige Pokémon – doch der junge Mann war allein, und das war ihm durchaus recht so. Sein nasses dunkelbraunes Haar wirkte schwarz, mit Ausnahme der Spitzen. Er trug nichts als eine kurze Hose und seine braun gebrannte Haut war eben erst getrocknet, nachdem er aus dem Wasser zurück an Bord gestiegen war. Sein Atem hatte sich beruhigt und die nicht zu leugnende Erschöpfung konnte sich nicht gegen ein breites Grinsen durchsetzen, das von Stolz und Selbstzufriedenheit zeugte. Seine linke Hand war fest um jeden Gegenstand geschlossen, der ihn zuvor in die Tiefen des Meeres gezogen hatte. Er öffnete die Augen und blinzelte gegen das gleißende Sonnenlicht. Er hob die Linke und betrachtete das Ziel seiner Mühen: ein blauer, glasähnlicher Stein von der Größe einer Walnuss, der das Licht, das auf ihn fiel, in unendlich viele Farben aufspaltete. Um seinen Hals hing eine in Silber gefasste weiße Scheibe, die im Vergleich mit dem blauen Stein in Ahtos Hand unscheinbar und schlicht erschien, doch als er seine Hand sinken ließ und beide Gegenstände in einer Hand hielt war klar, dass sie für ihn von gleichem Wert waren. Mit einer Ausnahme. „Ich weiß nicht, wie du es geschafft hast.“, murmelte er amüsiert vor sich hin, „Wirklich, es muss dein größter Trick sein. Aber das macht nichts.“, er richtete sich auf und schüttelte das Wasser aus seinem Haar. „Dies mal hast du keine Chance.“ Das bunte Licht, das der blaue Stein reflektierte, schimmerte unheilverkündend in seinen merkwürdig hellen, brauen Augen. Kapitel 14: Offenbarungen ------------------------- Weder Tuomo noch Jaska waren begeisterte Frühaufsteher, und so waren beide recht überrascht, einander früh am nächsten Morgen auf den Beinen zu sehen. Jaska stand an die Wand neben dem Fenster gelehnt und sah auf den Hinterhof des Krankenhauses hinaus. Er lächelte – und schon das hatte Tuomo nicht erwartet – und wies mit seiner gesunden Hand nach draußen. Tuomo folgte seinem Blick und wurde gleich mit der nächsten Überraschung des Tages konfrontiert. Mikko und Lohgock standen nebeneinander und das Feuer-Pokémon schien seinen jungen Trainer zu unterrichten. Die gleichen Übungen, die Lohgock so oft mit Eljas durchgegangen war, gab es nun an Mikko weiter. Es handelte sich um Grundlagen des Kampfsports, die Eljas verwendet hatte um Lohgock einen Vorteil im Kampf zu verschaffen, und nur ein Trainer der selbst wusste was er tat, konnte dieses Wissen und Selbstvertrauen an sein Pokémon weiter geben. „Er wirkt richtig konzentriert.“, merkte Tuomo nach einigen Minuten an. Jaska nickte. „Sie arbeiten seit mindestens einer Stunde, wenn nicht länger.“, er klang mehr als nur versöhnlich, geradezu verständnisvoll. Der Ärger und die Wut vom Tag zuvor schienen vergessen als er seinen Blick Tuomo zuwandte. „Etwas an Eljas... er hat es nie zugegeben, nicht? Aber er hatte etwas, irgendetwas, das man nicht lernen kann. Und was das auch ist, Mikko hat es auch.“ „Vielleicht. Aber müsste er das nicht wissen?“, wandte Tuomo ein. „Ich weiß nicht.“, erwiderte Jaska mit einem Schulterzucken, was ihn leicht das Gesicht verzerren ließ. Unzufrieden mit seinem langsamen Heilungsprozess ließ er sich wieder auf sein Bett sinken und begann geistesabwesend seine linke Hand zu massieren. „Vielleicht reicht es, dass Lohgock es weiß.“ Die beiden schwiegen eine Weile während Tuomo weiterhin das Vorgehen im Hof beobachtete. „Jaska...?“, fragte er schließlich ohne den anderen anzusehen, „Kannst du... kannst du schlafen?“ Er antwortete nicht sofort. „Sie geben mir Medikamente dafür.“, antwortete er schließlich leise. „Ich liege wach, jede Nacht, weil ich an ihn denke. Darum... darum arbeite ich tagsüber mit den Pokémon, bis zur Erschöpfung, damit ich abends wie tot ins Bett falle und zu müde bin zum denken.“, den Kopf an die Scheibe gelegt starrte er geradeaus, ohne wirklich etwas zu sehen. „Manchmal meine ich, ich müsste verrückt werden. Es gab noch so viel zu tun...“ „Wie viel weißt du?“ Endlich sah Tuomo ihn an. „Was meinst du?“ „Von dem, was Eljas zu tun hatte.“, erklärte Jaska ungeduldig. Tuomo schüttelte den Kopf. „Ich weiß, dass er gesagt hat, dass wir nie auch nur ein Wort darüber verlieren sollen, egal wie unwichtig es uns vorkommt.“ „Und egal ob wir uns unbeobachtet fühlen, ich weiß, aber wenn der Kleine– wenn Mikko da weiter machen soll, wo Eljas aufgehört hat, dann muss ihm jemand sagen, wo das ist.“ Tuomo und Jaska hatten vorgehabt zu warten, bis Mikko und Lohgock ihrem Training ein Ende gesetzt hatten, doch als der Mittag dem Nachmittag wich und die beiden keine derartigen Anstalten machten, machte sich Tuomo schließlich selbst daran, die beiden zu unterbrechen. Mikko schien Tuomo nicht zu bemerken, bis dieser sich vom Rande des kleinen Platzes aus lautstark räusperte. Der Schwarzhaarige erwachte wie aus einer Trance, und obwohl er vorher kaum Anzeichen von Erschöpfung gezeigt hatte, war er plötzlich außer Atem und seine Beine gaben nach. Er sank erst auf die Knie, dann auf alle Viere, hastig atmend und mit zitternden Gliedern. „Mikko?“, er eilte zu dem kraftlosen Trainer, doch Lohgock trat sofort zwischen sie, um sich dann selbst zu Mikko hinab zu beugen. Stützend legte es seine raubvogelartigen Hände auf die Schultern des Jungen und half ihm, sich hinzusetzen. Mikko lehnte sich merkbar gegen das Feuer-Pokémon, seine Augen waren geschlossen und die Wangen vor Anstrengung gerötet. Tuomo konnte sich nicht erinnern, Eljas je so erlebt zu haben, nachdem er mit Lohgock trainiert hatte, aber Mikko war ein derartiges Programm ja auch nicht mal annähernd gewöhnt. Wenn Lohgock das nicht weiter bedacht hatte, war es ein Wunder, dass er überhaupt so lange durchgehalten hatte. „Alles okay, Mikko?“, erkundigte Tuomo sich schließlich, allmählich ernsthaft besorgt, da der andere immer noch nicht auf die Beine gekommen war oder auch nur ein einziges Wort von sich gegeben hatte. Mikko antwortete nicht, aber Lohgock gab ein beruhigendes Gurren von sich, während es seinem selbst gewählten Trainer die schweißnassen schwarzen Haare aus der Stirn strich. Geradezu fürsorglich. Tuomo hatte das Gefühl, dass ihm nichts anderes übrig blieb als zu warten, bis Mikko die Auswirkungen des offenbar rigorosen Trainings verarbeitet hatte. Allmählich normalisierte sich sein Atem und die unnatürliche Röte wich aus seinem Gesicht. Nach einer Weile öffnete er die Augen, offenbar überrascht, Tuomo zu sehen. „Wann... wie viel Uhr... wo...?“, er schien sich nicht entscheiden zu können, welche Frage für ihn Priorität hatte, und erst als sein Blick auf Lohgock landete beruhigte er sich. „Lohgock...“, murmelte er, woraufhin das Pokémon ihm half, aufzustehen. Er stützte sich auf die dargebotenen Arme, und als klar wurde, dass er alleine nicht wirklich laufen konnte, hob Lohgock ihn kurzerhand hoch. „Mikko?“, Tuomo hatte das Gefühl, dass der Junge einen langen Moment brauchte, um seine Aufmerksamkeit von Lohgock ab- und ihm zuzuwenden. „Jaska und ich wollen mit dir reden und ein paar Sachen erklären.“ Mikko nickte, den Kopf an Lohgocks Brust gelehnt. „Später.“, entschied er bevor ihm die Augen zu fielen. Er war binnen weniger Augenblicke eingeschlafen. Jaska hatte nie Probleme gehabt, sich mit seinen Pokémon zu verständigen. Oft hatte er das Gefühl, dass es zwischen ihm und Psiana einfach keine Worte brauchte – sie verstanden einander auch so, durch Blicke und Gesten und einer aus gemeinsamen Erfahrungen gewachsenen Verbindung, die er so noch mit keinem Menschen erlebt hatte. Aber manchmal wünschte er, Pokémon beherrschten die menschliche Sprache. Wenn er Lohgock und Mikko zusammen sah, wollte er eine Erklärung verlangen, doch der Junge hatte genauso wenig Ahnung, warum Lohgock gerade ihn ausgewählt hatte wie er selbst, und Lohgock konnte es ihm nicht sagen. Er war sich nicht sicher, wie Lohgock den schlafenden Mikko an den Ärzten und Schwestern vorbei geschmuggelt hatte – denn hätte man den scheinbar bewusstlosen Jungen gesehen wäre es zum Problem geworden, dass Lohgock niemanden an seinen Trainer heran ließ – doch vorerst schien niemand etwas dagegen einzuwenden zu haben, dass er Jaskas Bett belegte. Jaska konnte sich nicht erinnern, dass Lohgock um Eljas herum so besitzergreifend gewesen war. Der Gedanke verwirrte und ärgerte ihn gleichermaßen, aber er zwang sich, seine Gefühle vorerst in den Hintergrund zu stellen. Sie hatten jetzt wichtigeres zu tun. Lohgock stand beinahe regungslos an Mikkos Seite Wache, bis dieser gut zwei Stunden später unter Gähnen erwachte. Es war später Nachmittag und die letzten Strahlen der im Winter früh untergehenden Sonne erhellten das Krankenzimmer nur noch ungenügend. Als Tuomo, nicht zum ersten Mal, die Tür zu Jaskas Zimmer einen Spalt weit öffnete, sah er Mikko aufrecht im Bett sitzen, beide Arme um Lohgock gelegt, das die Umarmung erwiderte, während die Schultern des Jungen verdächtig bebten. Er wandte den Blick ab und sah den Flur hinunter, wo Jaska ihn ungeduldig ansah. Seufzend klopfte er an die bereits leicht offen stehende Tür, bevor er eintrat. „Mikko?“ Mikko ließ Lohgock los und versuchte erfolglos, die bereits fallenden Tränen fort zu blinzeln. „Ist schon gut. Mit geht’s besser.“, meinte er schnell, „Tut mir Leid wegen vorhin, ich wollte euch keinen Schreck einjagen.“ Hinter Tuomo betrat Jaska sein Zimmer und ließ sich auf einem der Stühle nieder. „Also.“, sagte er, ohne den Satz zu Ende zu führen. „Also?“, hakte Tuomo nach. Jaska zuckte mit den Schultern. „Fang du an.“ Tuomo verschränkte die Arme und lehnte sich gegen die geschlossene Tür. „Eljas...“, begann er nachdenklich, „war ein genialer Stratege. Er hatte immer eine Vorstellung, wie ein Kampf verlaufen würde – vielfache, detailliert ausgearbeitete Szenarien – und er lag selten daneben. Ein Teil davon, von dem was ihn so erfolgreich gemacht hat, war schlicht und einfach Talent, aber ein sehr viel größerer Teil war Entschlossenheit, Intelligenz und Erfahrung, verdammt viel Erfahrung.“, er sah kurz zu Jaska, der zustimmend nickte, woraufhin Tuomo fortfuhr. „Und was meinst du, wie er diese Erfahrung bekommen hat? Die meisten Leute haben immer nur die Ergebnisse seiner harten Arbeit gesehen, nicht den langen Weg den er bis dahin gegangen war. Er ist gegen eine Unzahl von Trainern angetreten, aber diese Kämpfe sind niemals aufgezeichnet worden, und um einige ist es echt schade.“ „Es stellt sich also die Frage, wer diese Gegner von ihm waren, von denen nie jemand erfahren hat.“, fügte Jaska hinzu. Die beiden schwiegen einen Moment, bevor Tuomo leise weiter sprach. „Sie sind nicht wirklich eine Organisation, sie haben keinen Namen, keinen Anführer, kein Hauptquartier, nichts dergleichen. Aber Eljas wusste immer, wie er sie finden konnte – oder sie haben ihn gefunden, da bin ich nicht ganz sicher. In jedem Fall hatte er einen guten Grund, gegen sie zu kämpfen, nur mit dem Ruhm der Pokémon-Liga war es sicher nicht vergleichbar.“ Mikko sah geduldig von Tuomo zu Jaska, hörte den beiden scheinbar ohne Hast und Eile zu, das neue Wissen in sich aufnehmend. „Ich weiß nicht wer sie waren – sind – aber Eljas war ihnen ein Dorn im Auge.“, seine linke Hand verkrampfte sich und zuckte wild bevor er sie mit der Rechten griff und ruhig stellte. „Es hat etwas mit seinem Anhänger zu tun.“, er wies auf den tiefschwarzen Ring, der friedlich an seiner Schnur um Mikkos Hals hing. „Und ich sag euch noch was: niemand sonst hätte die Fähigkeit oder die Absicht gehabt... niemand sonst könnte für Eljas' Tod verantwortlich sein.“ Tuomos Gesicht spiegelte offene Trauer wider; Jaska schien dies vor allem durch Wut zu kaschieren. Mikko nickte verstehend, seine Hand ließ den Anhänger los, den er ohne es zu merken fest umklammert gehalten hatte. Ein tiefer, langer Ton entwich Lohgocks Kehle. „Ich weiß.“, sagte er langsam. „Ich erinnere mich.“ Kapitel 15: Feuer im Innern - Tau und Asche - Mikko --------------------------------------------------- Kapitel 15, Teil 1: Feuer im Innern - Tau und Asche Eljas rannte wie er noch nie in seinem Leben gerannt war. Seine Beine fühlten sich so unendlich schwer an, sein Herz schlug so schnell und laut, seine Lungen brannten. Bäume und Büsche schienen sich ihm aus purer Boshaftigkeit in den Weg zu stellen, das Dickicht war ihm noch nie so undurchdringlich dicht vorgekommen. Aber vielleicht lag das auch nur an der Dämmerung und seiner Erschöpfung. Dunkle, angesengte Strähnen seines sonst hellbraunen Haares hingen ihm schweißnass ins Gesicht, alles an ihm roch verbrannt. Er hustete, stolperte, drohte zu fallen – doch der Gedanke war erst halb gedacht, da hörte und spürte er die raschen Schritte Lohgocks hinter sich und zwei unfassbar starke Hände griffen nach ihm und hielten ihn aufrecht. Dabei musste das Pokémon selbst am Ende seiner Kraft sein. Mit Lohgocks Hilfe schafften sie es bis an die Grenze des Waldes, wo das Blattwerk lichter wurde. Heller war es hier aber auch nicht, denn die Abenddämmerung war ein trügerischer, vergänglicher Moment, der nur allzu schnell der Nacht wich. Die klare, kühle Luft war Balsam für Eljas, dessen Mund zu lange nichts als Asche geschmeckt hatte. Er ließ sich ins hohe Gras fallen, nicht in der Lage sich nur einen Moment länger auf den Beinen zu halten, so dass er aus der Ferne vollständig von den langen Grashalmen verborgen war. Seine Augen brannten noch vom Rauch und er blinzelte zu Lohgock auf, dem es auch nicht viel besser ging. Wer hätte aber auch ahnen können, dass es mitten in der Wildnis so unglaublich starke Trainer geben könnte! Und so rücksichtslose. Er hatte es nicht gern eingesehen, aber der andere war ihm mit seinem Glurak haushoch überlegen gewesen. Also hatte er aufgegeben, als absolut klar war, dass Lohgock keine Chance hatte, den Kampf zu gewinnen. Dummerweise hatte den anderen seine Kapitulation nicht ein Stück interessiert. Er hatte sein Glurak hemmungslos weiter angreifen lassen, bis Eljas und Lohgock nur noch die Flucht als einziger Ausweg geblieben war. Wie Eljas es hasste wegzulaufen! Mit zwölf Jahren war er alles andere als unbesiegbar, aber strategische Aufgabe und Flucht waren einfach nicht das gleiche. Trotzdem, er wusste, dass es die richtige Entscheidung gewesen war, ein Blick auf Lohgock bestätigte ihm das. Die feuerroten Federn seines Pokémon waren an vielen Stellen schwarz wie Kohle, vor allen an Armen und Beinen, ganz zu schweigen von einer bösen Wunde am Rücken. Er setzt sich auf, woraufhin Lohgock sich neben ihn hockte. Der Trainer sah nur unwesentlich besser aus, manchmal hatte er das Gefühl gehabt, dem Glurak sei es recht egal gewesen, welchen der beiden es mit seinen Attacken traf. Aber Haare würden nachwachsen und er war sich relativ sicher, keine ernsthaften Brandverletzungen davon getragen zu haben, auch wenn ihm im Moment alles weh tat. Er musste Lohgock in ein Pokémon-Center bringen. Mühsam rappelte er sich auf, bis er schließlich auf schwankenden Beinen stand. „Gott, Lohgock...“, murmelte er. Ihm war noch nie so schwindelig gewesen. Und er war so müde. „Lohgock?“, ihm wurde schwarz vor Augen und dann spürte er einfach nur gar nichts. Er wusste nicht wie lange er geschlafen hatte, als er das nächste Mal aufwachte. Sein Gesicht war feucht und seine Kleidung klamm, aber nicht wirklich nass. Er wischte sich über die Wangen und seine Hände kamen schwärzlich verschmiert zurück. Tau und Asche. Er musste sich nicht weit umsehen um Lohgock neben sich zu entdecken. Das Pokémon blickte geduldig auf seinen jungen Trainer hinab, ruhig, traurig und... reumütig? Schuldbewusst? Er konnte sich nicht erklären, was diese Gefühle bei Lohgock hätte auslösen können – sicher war es nicht des verlorenen Kampfes wegen, das war schwerlich auf einen Fehler des Pokémons zurück zu führen – aber gleichzeitig war er sich sicher, dass es genau das war. Und plötzlich wurde ihm auch klar warum. Da war eine Verbindung zwischen ihnen, die vorher nicht da gewesen war, nicht so stark und klar. Doch es war mehr als eine bloße Synthese auf emotionaler Ebene, viel mehr. Lohgocks Feuer hatte sich wie eine Flammenwalze durch diesen Kanal zwischen ihnen gefressen und ihn so weit geöffnet wie nie zuvor. Und wenn sein Pokémon schwach war, dann zehrte es aus seinen, Eljas', Kraftreserven, deswegen fühlte er sich so schlapp und müde. Es herrschte ein seltsames absolutes Verständnis zwischen ihnen, dass Worte jeder Art gänzlich überflüssig machte. Er wusste, dass ihre Verbindung etwas ungewöhnliches, aber nichts einzigartiges war. Der Trainer des Gluraks verfügte ebenfalls über diese Fähigkeit, die er auch noch weit geschickter zu kontrollieren verstand, was Glurak natürlich umso stärker machte. Ihm schien es, als wüsste Lohgock, dass es zwischen ihren beiden Gegnern noch einen anderen Faktor gab, und was einer von ihnen wusste, teilte der andere sofort. Eljas hatte sich noch nie einem anderen Wesen so nahe gefühlt. Es war bizarr, aber nicht unangenehm. Das vom Tau feuchte Gras hatte seine Kleidung durchnässt und die Sonne hatte sie getrocknet. Er hatte den gesamten Morgen und Vormittag nichts weiter getan als da zu liegen, in stillem Gedankenaustausch mit Lohgock. Erst als die Sonne ihren Höchststand erreicht hatte war seine innere Rastlosigkeit so weit gediehen, dass sie ihn unweigerlich weiter trieb. Zunächst in ein Pokémon-Center, dann zum Training und schließlich, unweigerlich und so unvermeidlich wie der Gang der Sonne, zurück zu jenem Gegner, der sie dieses Mal in die Flucht geschlagen hatte. * Manchmal war Eljas sich nicht sicher, ob seine Fähigkeit ihm gegenüber anderen Trainern nicht einen geradezu unfairen Vorteil gab. Denn obwohl seine Verbindung zu Lohgock bei weitem die stärkste war, war sie nicht auf es allein beschränkt. Je mehr er sich darauf konzentrierte und einließ, desto mehr schienen seine Gedanken und die seines Pokémons zeitweise zu verschmelzen, und wenn eines am Ende seiner Kräfte war konnte Eljas es mit mehr als nur Worten unterstützen. Das allerdings hatte seinen Preis, denn sobald das Adrenalin des Kampfes nachließ wurde er unglaublich müde. Obwohl er in all seinen Gegnern danach suchte begegnete er nie wieder jemandem wie dem Trainer des Gluraks, der seine Fähigkeit teilte. Hätte er nicht diesen Beweis, dass es andere wie ihn gab, er wäre versucht zu glauben, dass er und Lohgock einzigartig waren. Und je stärker seine Verbindung zu den Pokémon wurde, je besser er lernte sie zu nutzen und je mehr Kämpfe sie gewannen, desto einsamer fühlte er sich. Nicht immer – sie waren ihm gute, treue Freunde – aber manchmal. Und so schätzte er seine Freundschaft mit Jaska umso mehr. Aus irgendeinem Grund war er nie längere Zeit in Gesellschaft anderer Trainer geblieben, aber Jaska war auch kein gewöhnlicher Trainer. Er war talentiert und leidenschaftlich, so dass er Eljas' Training, das vielen zu extrem erschien, achtete und selbst daran wuchs. Er besaß vor allem Psycho-Pokémon, das allein sagte etwas über ihn aus: kaum eine andere Gattung verlangte ihrem Trainer schon für Übungen niedrigen Levels dieses Maß an Konzentration ab. * Eljas war froh, nicht mehr alleine zu reisen, daher irritierte es ihn, als er eines Morgens mit dem sicheren Gefühl erwachte, dass ihm ein Kampf bevorstand, den er alleine bestreiten würde müssen. Nun, nicht ganz alleine – er hatte immer noch seine Pokémon – aber Jaska würde kein Teil davon sein. Noch vor Sonnenaufgang schlich Eljas aus dem Zimmer und verließ das Pokémon-Center, in dem sie die Nacht verbracht hatten. Er fühlte sich nicht wirklich wohl dabei, Jaska einfach so zurück zu lassen, aber genauso wie es ihn in die Kampfarena zog und wie er mit seinen Pokémon im Kampf verbunden war wusste er, dass es so sein musste. Die kleine Stadt war im Wald gelegen, doch die ersten Ausleger des Gebirges waren nicht weit und bald erreichte er den Waldrand, wo die gemischten Laubbäume der felsigeren Landschaft und anspruchsloseren Gewächsen Platz machten. Inzwischen war es hell, aber der Himmel war grau und mit Wolken verhangen. Ein kräftiger Wind war aufgekommen und blies den Geruch von Regen und Gewitter vor sich her. Für einen Apriltag war es ungewöhnlich kühl, doch Eljas hatte sich schon lange nicht mehr kalt gefühlt. Die dünne rote Jacke hing locker um seine Schultern, ungeachtet der Temperaturen. Seit seinem Kampf mit dem Trainer des Gluraks waren knapp zwei Jahre vergangen, und er hatte den anderen damals nicht wirklich genau angesehen, aber er hätte ihn trotzdem jederzeit wieder erkannt. Der junge Mann mochte um die sechzehn sein, schätzte Eljas als er ihn nun sah, seelenruhig auf einem der zahllosen Felsen sitzend. Als hätte er auf ihn gewartet. „Du hast ja ewig gebraucht.“, begrüßte er Eljas spöttisch. Gut, das beantwortete die Frage. Er hatte schlichtes, braunes Haar in einem militärisch kurzen Schnitt, trug eine Hose in Tarnfarben die ihm zu groß zu sein schien und ein ärmelloses weißes Shirt mit auffälligen schwarzen Rußflecken, die Eljas von seiner eigenen Kleidung kannte. Arbeit mit Feuer-Pokémon hatte ihre Auswirkungen auf Kleidung. Er hatte einen Haufen Fragen, die der andere Trainer womöglich beantworten konnte, aber es war unwahrscheinlich, dass er Eljas diesen Gefallen tun würde. „Weißt du, was das hier ist?“, erklang die verächtliche Stimme des anderen erneut, Eljas' Schweigen einfach übergehend. Erst jetzt fiel ihm das etwa Handtellergroße Objekt auf, das der andere in der Hand hielt, aber er konnte es nicht genau erkennen. „Ich nenne es 'Holzkohle', in Ermanglung eines besseren Namens.“, erklärte er, wieder ohne auf eine Antwort zu warten. „Aber es ist nicht annähernd so natürlich entstanden...“, bei diesen Worten stand er auf und griff mit der freien Hand nach einem Pokéball an seinem Gürtel, „...es ist pure Wissenschaft. So wie du und ich.“, und bevor Eljas darauf reagieren konnte hatte er sein Glurak gerufen und der markerschütternde Schrei zerriss die Stille, die bis dahin auf der Ebene geherrscht hatte. Kapitel 15, Teil 2: Feuer im Innern - Mikko Der Zweijährige quiekte vergnügt, als das Enekoro seiner Mutter ihn mit der Nase anstubste und liebevoll seinen Kopf gegen seine Stirn drückte. Er saß auf dem Schoß seines Vaters, der mit der einen Hand seinen Sohn hielt und mit der anderen sein Snobilikat hinter den Ohren kraulte, was das Pokémon mit lautem Schnurren quittierte. Der kleine Oskari liebte Picknicks, vor allem wenn sie dazu seine Großeltern besuchten und zusammen unter den blühenden Kirschbäumen saßen. Eben öffnete seine Großmutter den mitgebrachten Picknickkorb, der das gemeinsam vorbereitete Essen enthielt. Es war noch früh am Vormittag und die Familie hatte den ganzen Tag Zeit, es zu genießen – wenn denn das Wetter mitspielte. Besorgt sah Oskaris Mutter zum Himmel auf. Es war bewölkt, aber laut Wetterbericht sollte es nachmittags aufklaren. Ihr Vater, Oskaris Großvater, angelte sich ein Sandwich und sah sich suchend um. „Wo steckt denn Mikko schon wieder...?“, erkundigte er sich streng, woraufhin seine Frau ihn tadelnd ansah. „Wo soll er schon sein? Er wird im Wald spielen.“ „Ich hab ihm gesagt, er soll nicht zu weit gehen.“, warf die Mutter beruhigend ein, „Hier sind doch so viele Leute unterwegs, da wird es kaum aggressive, wilde Pokémon geben.“, erklärte sie und ihr Mann nickte zustimmend. Ganz Unrecht hatte sie nicht. Der lichte Wald um die Stadt herum war ein beliebtes Ausflugsziel und Mikko begegnete keinen Pokémon, außer einigen scheuen Waumpel und rasch flüchtenden Trasla. Trotzdem machte es ihm Spaß den Wald zu erkunden, unter Büschen hindurch zu krabbeln und auf Bäume zu klettern. Picknick mit seinen Großeltern war eine unglaublich langweilige Prozedur, da gab es wirklich interessanteres. Was genau, das wusste er auch nicht. Aber da war etwas, wie wenn man nach einem spannenden Traum aufwachte und sich nicht an ihn erinnern konnte – nur umgekehrt. Dieses Gefühl trieb ihn an, so dass er nicht einmal merkte wie die Zeit verging und dass er schon mehrere Stunden durch das zunehmend dichte Unterholz wanderte. Die Bäume standen jetzt weit näher beieinander und einen richtigen Weg gab es schon seit längerem nicht mehr. Die Waumpel waren ihren weiter entwickelten Verwandten gewichen und er war so leise er konnte durch eine Kolonie von Panekon geschlichen. Erst, als er diese hinter sich gelassen hatte und sich mit klopfendem Herzen umsah, bemerkte er das Trasla, dass ihm vom Waldrand aus gefolgt sein musste. So plötzlich entdeckt schreckte es mit einem wenig eleganten Satz zurück und purzelte geradewegs in ein stachliges Gestrüpp. Es zappelte und fiepte so unglücklich, dass Mikko es unmöglich als Bedrohung ansehen konnte. „Armes Kleines...“, murmelte er und begann, sich dem Pokémon langsam zu nähern, darauf bedacht es nicht noch weiter einzuschüchtern. „Alles okay, ganz ruhig.“, flüsterte er. Erst als das Trasla sich beruhigt hatte ergriff Mikko den kleinen, weißen Körper, um es aus den Dornen zu befreien. „Trassss!“, erklang die helle Stimme des Pokémons erneut, begleitet von einem rötlichen Leuchten. Mikkos Augen weiteten sich, doch er schien nicht in der Lage zu sein, das Pokémon los zu lassen. Mit einem Mal sah er zwei Dinge gleichzeitig! Eine zweite Szene schien sich transparent über sein Sichtfeld zulegen. Überall waren Feuer und schwarzer Rauch und ihm war heiß, so unglaublich heiß. Die Luft in seinen Lungen schien zu brennen und seine Hände standen in Flammen, sein Gegner schoss aus der Luft auf ihn nieder...! Nein, er stand daneben, getrennt von seinem Pokémon durch eine Wand aus Feuer! Sie waren nicht stark genug, immer noch nicht, genau wie beim letzten mal! Ruckartig verschwand die seltsame Vision und er kehrte wieder in die Realität zurück. Es war ruhig um sie herum, es roch nach Gras und Bäumen und feuchter Erde. Er atmete tief ein und aus. Was auch immer das gewesen war, es war nicht real. „Tras...?“ Mikko lächelte auf das kleine Pokémon in seinem Arm hinab und strich beruhigend über seinen grünen Kopf. „Keine Sorge, alles in Ordnung.“ Dann erfasste sie ein Windstoß und von einem Moment auf den anderen war die Luft erfüllt vom Geruch nach Rauch und Asche. Mikko rannte. Nicht in die Richtung, aus der er gekommen war, sondern gegen den Wind, der das Feuer mit sich brachte. Das kleine Psycho-Pokémon presste sich an ihn, ängstlich aber offenbar entschlossen, ihn zu begleiten. Auch gut, schließlich waren es seine komischen Bilder in Mikkos Kopf gewesen. Mit jedem Meter schien der Rauchgeruch stärker zu werden und es wurde wärmer, richtig heiß. Er sah immer mehr kleinere Bäume, immer öfter konnte er schon die Berge zwischen ihnen erkennen. Irgendwo in seinem Kopf war der panische Gedanke, dass er sich vollkommen verlaufen hatte, aber er konnte sich nicht bis in Mikkos Bewusstsein vor kämpfen. Dort herrschte ein ganz anderer Kampf. Es musste jetzt ganz in der Nähe sein– Und dann waren sie da, erschienen aus Wind und Feuer: mächtige Schwingen trugen ein Glurak durch die Luft, das feurigen Atem auf ein Lohgock nieder spie, das dem Angriff seinen eigenen lodernden Flammenstrahl entgegen warf. Mikko stand wie erstarrt, konfrontiert mit derartigen Gewalten. Die letzten Bäume lagen hinter ihm und nun war er den beiden Pokémon plötzlich viel zu nah. Er schluckte. Das Feuer war überall. Die dürren Büsche, die auch zwischen den kahlen Felsen noch Halt fanden, waren längst bis auf Stümpfe nieder gebrannt. Das Gestein selbst war an vielen Stellen schwarz wie Kohle, und als wäre das noch nicht genug prallten die zwei Kontrahenten Mal um Mal aufeinander, keiner bereit nachzugeben, obwohl sie beide am Ende ihrer Kraft waren. Aber woher wusste er das...? Eine kräftige Hand fiel plötzlich auf seine Schulter und riss ihn herum. Ein kurzer, erschrockener Schrei entwich ihm, bevor er hinter einen schützenden Felsen gezerrt wurde, nur Momente bevor das Inferno auch dort herrschte, wo er eben noch gestanden hatte. Die Hitze drückte wie einen Wand gegen ihn. Derjenige, der ihn da gerade noch aus dem Weg gezogen hatte, war ein Junge mit hellen, braunen Haaren, die Spitzen angesengt, dessen Körper vor lauter Asche stellenweise rabenschwarz war. Er war älter als Mikko und hielt ihn und das kleine Trasla hinter sich gepresst, seine Aufmerksamkeit allein auf den Kampf der zwei Pokémon gerichtet. Er war Lohgocks Trainer, das wusste Mikko mit Sicherheit, und er war im Begriff zu verlieren. So wie beim letzten Mal. Sein Kopf tat weh und das Atmen fiel ihm schwer. Seine Hände brannten. Nein, nicht seine, Lohgocks Hände! Es schien alles so verschwommen, als wäre der Unterschied gar nicht so groß. Eljas, der Trainer hieß Eljas! Obwohl Eljas versuchte, ihn von dem Kampf fernzuhalten, schien Lohgock die Verbindung zu Mikko zu suchen. Es brauchte ihn. Das Trasla zitterte wie trockenes Laub im Wind und krallte sich in Mikkos Jacke als dieser die Hand nach Eljas ausstreckte. Er hörte wie der ältere Junge Lohgock etwas zu rief, doch in dem Moment als er den nackten Unterarm des anderen berührte – er trug lediglich ein T-Shirt – verstummte die Welt um ihn herum. Eljas' Kopf fuhr herum und zum ersten Mal sah er Mikko direkt an, aus fassungslosen, hellgrauen Augen, die erst in diesem Augenblick begriffen, warum Mikko gerade jetzt hier war. Dann brachte Lohgocks gellender Schrei sie zurück in die Wirklichkeit. Die Blicke der beiden suchten ihr Pokémon. Glurak hatte es an den Schultern gepackt und die Luft gehoben, wo es Lohgock überlegen war. „Lohgock!“, riefen sie gemeinsam und Eljas ergriff mit Entschlossenheit Mikkos Hand, bevor er den Befehl beendete: „Himmelsfeger!“ Mikko meinte später, sich dunkel an den Ausgang des Kampfes zu erinnern. Noch im Flug hatte Lohgock sich aus Gluraks Griff entwunden – die relativ kleinen Arme waren nicht eben seine Stärke – und mit einem letzten, kraftvollen Tritt hatte es seinen Gegner aus der Luft geholt. Glurak war auf den Felsen aufgeschlagen und nicht wieder aufgestanden. Doch von da an war seine Erinnerung lückenhaft. Da waren Momente, in denen er von jemandem getragen wurde, doch er konnte nicht sagen, ob es sich um Eljas oder Lohgock handelte. Er hatte Schwierigkeiten, die beiden auseinander zu halten, sie waren beide so unglaublich allgegenwärtig in seinem Kopf. Und da war noch ein anderer Junge, dachte Mikko zumindest, aber als er später aufwachte, war niemand außer ihnen zu sehen. Sie hatten den Kampfplatz verlassen und jemand flößte angenehm kühles Wasser in seinen Mund. Aber er war so müde, dass er kaum die Augen offen halten konnte. Später meinte er, Regen zu spüren, aber das konnte ja nicht sein. Es war viel zu heiß für Regen, alles Wasser musste verbrennen, meinte er, so heiß war es. Einmal wachte er auf, und es war einfach nur angenehm warm. Jemand hielt ihn im Arm, dass er sich einfach nur sicher und geborgen fühlen konnte. Schlaf war zu verführerisch um ihm zu widerstehen. Es war dunkel, als er endlich wirklich aufwachte. Er war im Wald, das Blätterdach zu dicht um den Himmel durch das Geäst sehen zu können. Die vollständige Dunkelheit hätte ihm unter anderen Umständen vielleicht Angst gemacht, aber er wusste sofort, dass er nicht allein war. Eljas saß neben ihm, und Lohgock schlief nicht weit von ihnen entfernt. Es hatte sich so sehr verausgabt wie noch nie zuvor, sie mussten es in ein Pokémon-Center bringen. „Hey Mikko.“, hörte er Eljas' heisere Stimme, „Alles in Ordnung bei dir?“, er klang ausdruckslos, wie leer gebrannt. Er nickte, auch wenn Eljas das in der Dunkelheit gar nicht sehen konnte. „Geht schon.“, wollte er sagen, brachte es aber nur zu einem müden Flüstern, begleitet von krächzendem Husten. Ein ebenso erschöpftes Lachen kam aus Eljas' Richtung, dann ein tiefes Seufzen. „Du hast uns gerettet, weißt du das?“, Mikko wusste es nicht und schwieg, geduldig auf eine Erklärung wartend. „Valto hätte uns heute besiegt. Genau wie...“ „So wie beim letzten Mal.“, das Gefühl, das dies nicht der erste Kampf zwischen Lohgock und Glurak gewesen war, stimmte also. „Ja, genau so.“, Eljas schien einen Moment zu brauchen, um seine Gedanken zu ordnen, bevor er fort fuhr, „Du, ich und Valto – Gluraks Trainer – wir haben diese... Fähigkeit, eine Verbindung mit unseren Pokémon. Das hast du gemerkt, oder?“ Das war es also gewesen, dieses verwirrende Gefühl, bei dem er nicht wusste wo er aufhörte und Lohgock anfing. „Hab ich.“, antwortete er. Sein Hals tat ihm weh, wenn er sprach. Eljas tastete im Dunkeln nach Mikkos Hand und legte einen flachen, glatten Gegenstand hinein. Es war ein großer Ring oder ein kleines Rad, so viel konnte er mit Sicherheit sagen, und er war warm, als hätte Eljas ihn schon länger fest in der Hand gehalten. „Valto hat das Teil 'Holzkohle' genannt. Soweit ich das sagen kann, verstärkt es die Verbindung zwischen einem Trainer und seinem Pokémon. Nicht irgendeinem, es funktioniert nur bei Feuer-Pokémon. Valto hatte es, darum war er uns immer überlegen.“ „Und jetzt hast du es?“, Mikko gab Eljas den Ring zurück. Im Augenblick fühlte es sich nach nichts Besonderem an. „Hm.“, machte Eljas nachdenklich, „Schätze schon. Wüsste nur gern, wer das Ding gemacht hat. Und ob...“, er brach ab. „Egal. Wie geht’s deinem Trasla?“ Erst jetzt fiel Mikko das kleine Pokémon ein, das immer noch bei ihm war, die winzigen Hände in sein Hemd gegraben, das Gesicht von der Welt abgewandt. „Es ist nicht so wirklich mein Pokémon.“, warf Mikko ein, strich Trasla aber nichtsdestotrotz sanft über den Kopf. „T-Tras... la.“, wimmerte es, scheinbar noch immer im Schock nach dem Kampf, den es mit angesehen hatte. „Sssch, hey, ist ja gut...“, wisperte Mikko, über das Pokémon gebeugt. „Mikko?“, Eljas klang so ernst, dass Mikko für einen Moment von dem Psycho-Pokémon abließ. „Deine Fähigkeit... du hättest sie nicht so früh entdecken sollen. Es ist körperlich anstrengend, und in deinem Alter womöglich eher schädlich als hilfreich...“ „Ich bin schon sieben!“, protestierte Mikko sofort, „Und ich bin richtig gut im Sport! Ich spiel im Baseball-Verein!“, und überhaupt, vielleicht wollte er ja gar kein Trainer werden, dann war das doch eh egal. „Tras!“, unterbrach das Pokémon das Gespräch der beiden. Die Dämmerung musste bereits angebrochen haben, denn Mikkos an die Dunkelheit gewöhnten Augen begannen langsam, den weißen Körper zu erkennen. Zum ersten Mal seit dem Kampf ließ Trasla ihn los und tapste ein paar Schritte, bevor es einen weißen Gegenstand unter seinem Kleid-artigen Fell hervor zog. Es war eine simple, runde weiße Scheibe. „Ah.“, Eljas schien zu wissen, worum es sich handelte. „Du musst mir jetzt einfach mal vertrauen, Mikko, okay?“, bat er mit einem Ansatz von Trauer. „Trasla wird auf dich warten, und wenn du soweit bist, finde ich dich. Versprochen.“ „Aber–“ „Vertrau mir.“, sagte er mit mehr Nachdruck. Dann nahm er die weiße Scheibe aus Traslas Hand und legte seine eigene Hand auf den Kopf des Pokémons. „Du weißt, dass es so am besten ist, nicht?“, fragte er das Pokémon, das daraufhin unglücklich aber zustimmend fiepte. „Ja. Es ist nicht für immer, keine Sorge.“ „Wovon redest du!?“, entfuhr es Mikko mit zunehmendem Unverständnis und gleichzeitig wachsender Verzweiflung. „Du hast dich im Wald verlaufen, Mikko.“, erklärte Eljas und Trasla begann ein weiteres Mal rötlich zu schimmern. „Was? Nein! Ich...“ „Du hast dich verlaufen“, wiederholte Eljas, „und bist eingeschlafen. Glücklicherweise warst du gar nicht so weit vom Waldrand weg, wie du dachtest.“ Mikko schloss die Augen und schüttelte vehement den Kopf, doch Traslas rotes Licht konnte er immer noch sehen. „Schlaf, Mikko. Und vergiss alles, was du gesehen hast. Wenn du soweit bist, gebe ich dir deine Erinnerung zurück.“ So sehr Mikko auch dagegen ankämpfte, der Schlaf legte sich wie eine unbarmherzige, schwarze Decke über sein Bewusstsein. Das letzte was er hörte waren Eljas' Worte: „Es tut mir Leid.“, bevor er einschlief, und vergaß. Kapitel 16: Galagladi --------------------- „Niemand sonst hätte die Fähigkeit oder die Absicht gehabt... niemand sonst könnte für Eljas' Tod verantwortlich sein.“, Jaskas Stimme bebte mit Wut und Trauer. Ein tiefer, langer Ton entwich Lohgocks Kehle. „Ich weiß.“, sagte Mikko langsam. „Ich erinnere mich.“ * Bruchstücke von Erinnerungen liefen vor Mikkos innerem Auge vorbei, wie ein zufällig zusammen geschnittener Film, dem die entscheidende Hälfte fehlte. Die einzige Konstante waren ein alles verzehrendes Feuer und ein merkwürdiges, rotes Leuchten. Eljas war nicht zurück gekehrt, um ihm die verlorene Erinnerung zurück zu geben. Frustriert fuhr er sich mit den Fingern durch die ohnehin schon wilden schwarzen Haare. Die Gedanken waren wie Wasser, das ihm durch die Finger glitt. Je mehr er versuchte, sich zu erinnern, desto schwerer wurde es. „Ich brauche Trasla...“, murmelte er. Und dann durch fuhr es ihn wie ein elektrischer Schlag. „Eljas hatte ein Trasla, oder?“ Er sah Tuomo und Jaska erwartungsvoll an, doch was auch immer er an Reaktionen erwartet hatte, das war es nicht. Tuomo wich seinem Blick aus und Jaska schüttelte nur den Kopf. „Er war kein Fan von Psycho-Pokémon. Im Gegenteil... ich hatte immer das Gefühl, dass sie ihm unheimlich waren.“ Mikko ließ die Schultern hängen. Einen Moment lang war er sich so sicher gewesen! Aber wenn Eljas kein Trasla gehabt hatte... woher kam dann dieser Schatten einer Erinnerung? Nein, es war mehr, er war sich so sicher gewesen...! Tuomo riss ihn aus seinen Gedanken. „Schätze, wir sollten dann mal zurück. Ich werd im Zirkus gebraucht und Jaska braucht das Bett mehr als du.“, sein Versuch, das ganze humorvoll klingen zu lassen, scheiterte kläglich. Dennoch nickte er und stand auf, einfach liegen bleiben hatte ja auch keinen Sinn. „Okay.“, stimmte er mit wenig Enthusiasmus zu, hauptsächlich weil er einfach nicht wusste, was er sonst tun sollte. Etwas in ihm beharrte darauf, Trasla zu brauchen, aber wenn weder Jaska noch Tuomo von einem solchen Pokémon in Eljas' Besitz wussten, wo sollte er mit der Suche anfangen? Er verließ das Krankenhaus in bisher ungekannter hoffnungsloser Stimmung, was vielleicht der Grund dafür war, dass ihm die wissenden Blicke, die Lohgock und Tuomo austauschten, gänzlich entgingen. Erst im Zug und nach über einer Stunde Fahrt griff Tuomo das Thema wieder auf. „Jaska hatte nicht ganz Unrecht, weißt du?“, begann er und Mikko sah von seiner angestrengten Arbeit, die vorbeiziehende Landschaft anzustarren, auf. „Eljas und Psycho-Pokémon... ich meine, Kampf-Pokémon lagen ihm offensichtlich mehr, aber auch so, mit dem Psycho-Typ wollte er nichts zu tun haben.“ Mikko war nicht ganz klar, wie ihm diese zusätzliche Ausführung helfen sollte und wollte das auch gerade sagen, also Tuomo ungerührt fort fuhr. „Darum hat hat er sein Kirlia zu einem Galagladi entwickelt.“ Mikkos Augen wurden groß und er saß urplötzlich gerader. „Also hatte er doch ein Trasla!“, aber warum hatte Jaska nichts davon gewusst? Tuomo schien mit dem Thema ihrer Unterhaltung alles andere als glücklich zu sein, doch obwohl es ihm offensichtlich unangenehm war, sprach er weiter. „Er hat es selten in Kämpfen eingesetzt, und... ich mein das todernst, okay?“, Mikko nickte, unsicher was genau Tuomo ihm sagen wollte, „Er hatte Alpträume danach. Und nicht die sanftere Sorte.“ Mikko runzelte die Stirn. „Alpträume? Nach Pokémon-Kämpfen?“ Tuomo nickte nur abrupt. „Er hat mir nie gesagt, was es damit auf sich hatte, und ich glaube, er hat mir eine Menge erzählt, was sonst niemand von ihm wusste.“ Ein tiefes Gurren Lohgocks ließ den blonden Jungen traurig lächeln. „Natürlich, außer dir, verzeih.“ Mikko fuhr sich über die Arme; ihm war gleichzeitig warm und kalt. „Wo sind Eljas' Pokémon jetzt?“, fragte er mit dem Wunsch, diese merkwürdige Unterhaltung hinter sich zu bringen. Bis vor einer Sekunde hätte er nicht gedacht, dass sich Tuomos Mine noch weiter verfinstern konnte. „Bei seinem Vater.“, erklärte er mit unverhohlener Missbilligung, „In Wiesenflur.“ Wie es sich herausstellte, hatte Tuomo über Eljas' Vater nicht viel gutes zu sagen. In seiner Jugend war er ein erfolgreicher Koordinator gewesen, heute gab er Unterricht. Von Pokémon-Kämpfen hielt er nicht viel, weshalb er die Karrierewahl seines Sohnes nie unterstützt hatte, und auch sonst war er mit einigen von Eljas' Entscheidungen alles andere als einverstanden gewesen. „...aber er ist nun mal Eljas' Vater, also hat man alles was ihm gehört hat da abgeladen, inklusive der Aufsicht über seine Pokémon.“, eine Tatsache, die Tuomo nach wie vor zur Weißglut treiben konnte. Mikko konnte nicht sagen, in wie weit das gerechtfertig war, aber er war vollkommen ergriffen von einem seltsamen Gefühl des Antriebs, dem unbestimmten Wissen, dass er dieses eine Pokémon treffen musste. Warum auch immer. Trasla, oder Galagladi – Tuomos Worten zum Trotz hatte Mikko fortwährend das Bild eines Traslas im Kopf, doch es war wie die Erinnerung an einen Traum: wage und unbeständig. „Dann gehe ich nach Wiesenflur.“, erklärte Mikko, selbst etwas überrascht von der Entschlossenheit in seiner Stimme. Tuomo hatte keine Einwände, im Gegenteil. Er wirkte erleichtert. „Gut. Tu was du kannst. Wenn du Hilfe brauchst, dann meld dich bei mir.“ Es war Abend als der Zug in Malvenfroh ankam. Mikko wollte keine Zeit verlieren, und brach früh am nächsten Morgen nach Wiesenflur auf. Es schien, als wollte seine seltsame Reise ihn immer wieder dort hin zurück führen, was ja auch passend war. Es war ja auch Eljas' Stadt gewesen. Herauszufinden wo Eljas' Vater wohnte war gar nicht so schwierig; die Tatsache, dass Eljas in Wiesenflur eine Berühmtheit war, kam ihm hier zu Hilfe. Es schadete auch nicht, dass das Haus eher die Bezeichnung 'Anwesen' verdiente und in der Nachbarschaft hervor stach. Unsicher betrachtete er das imposante Gebäude durch die Gitterstäbe des Eingangstores; der Rest des Geländes war von einer Mauer umgeben. Was er davon sehen konnte war eine gepflegte Gartenanlage, wenn auch eher schlicht gehalten, die von dunklen Tannen umrandet war. Wirklich einladend wirkte es nicht, aber da konnte man wohl nichts machen. Mikko sah zu Lohgock auf, doch der Blick des Pokémons war fest auf den Garten und das dahinter liegende Haus gerichtet. Er seufzte und betätigte schicksalsergeben die Türglocke. Es dauerte einen Moment, dann knackte es kurz in der Gegensprechanlage. „Ja?“, erklang eine monotone Männerstimme. „Ich... ähm...“, er hätte sich vielleicht vorher ein paar Worte zurecht legen sollen. „Sie haben ein Pokémon, das mir gehört.“, erklärte er schließlich hastig, aber mit fester Stimme. Wenn Eljas' Vater dachte, dass er nur irgendein Fan war, würde er ihn sicher gar nicht erst herein lassen. „Wie sollte ich an eins deiner Pokémon kommen, Junge?“, kam es nach einer kurzen Pause. Mikko schluckte. „Eljas hatte es für mich aufbewahrt.“ Stille am anderen Ende der Leitung. Zweifelnd blickte Mikko zu Lohgock, das aber weiterhin nur das Haus vor ihnen fixierte. Es dauerte. Gerade wollte Mikko ein weiteres mal klingeln, als das Tor sich wie von alleine vor ihm öffnete. Damit gab es dann wohl wirklich kein Zurück mehr. Er war froh, Lohgock bei sich zu haben, als er die Auffahrt zum Haus hinauf ging. Nicht nur, weil es ihm irgendwie das Recht gab, hier zu sein, sondern einfach weil er sich besser fühlte, wenn er das Pokémon an seiner Seite wusste. An der Tür erwartete ihn ein hochgewachsener Mann, den Mikko grob auf Anfang vierzig schätzte. Er hatte kurze, dunkelbraune Haare, die an den Schläfen deutliche graue Strähnen aufwiesen, und war schlicht bis konservativ gekleidet. Mit den vor der Brust verschränkten Armen wirkte er alles andere als einladend. „Du hast genau eine Gelegenheit mir glaubhaft zu machen, dass du nicht bloß einer der vielen Fans meines Sohnes bist.“, erklärte er mit einem derart ablehnendem Tonfall, dass es nicht erst das Knurren eines gerade hinter ihm aufgetauchten Magnayens brauchte um Mikko einen unbeabsichtigten Schritt zurück machen zu lassen. Lohgocks Kehle entwich der vertraute, raubvogelartige Schrei und Mikko konnte gerade noch einen Arm ausstrecken um es zurück zu halten. „Ich bin kein Fan.“, erklärte er rasch, „Das hier, das ist doch Eljas' Lohgock-“, ein zustimmendes Gurren, „-und Eljas' Freunde haben mir erzählt, dass Sie sich um seine anderen Pokémon kümmern.“ Eljas' Vater sah ihn und Lohgock weiterhin grimmig an während er sein Pokémon mit einer kraulenden Hand in dessen Nacken beruhigte. Er seufzte hörbar. „Gut. Komm rein.“, sagte er schließlich nachdem er Lohgock einem prüfenden Blick unterzogen hatte. Mikko folgte Eljas' Vater durch einen langen Flur, der mit Portraits von verschiedenen Pokémon geschmückt war, offenbar vor dem Hintergrund verschiedener Wettbewerbe. Er erinnerte sich, dass Tuomo ihm erzählt hatte, Eljas' Vater sein ein Koordinator gewesen. Viele der Bilder zierten Bänder, wie sie an Wettbewerbssieger vergeben wurden. Drinnen war es wärmer und Mikko zögerte nicht, die dicke Winterjacke abzustreifen. Ihm war in letzter Zeit trotz der winterlichen Jahreszeit oft warm gewesen, woran auch der frostige Empfang nichts ändern konnte. Lohgock wich nicht von seiner Seite und seine Federn fühlten sich inzwischen vertraut und angenehm an, trotz der spürbar höheren Körpertemperatur des Feuer-Pokémons. „Ich denke, wir werden sehr leicht feststellen, ob deine Behauptung wahr ist.“, befand Eljas' Vater und öffnete eine Gkasvitrine am Ende des Gangs. In ihrem Inneren befanden sich eine nicht unwesentliche Abnzahl Pokébälle, die unmögliche alle Eljas gehört haben konnten. „Denn wenn mein Sohn tatsächlich eines deiner Pokémon besessen hat, wird es sich wohl an dich erinnern.“ Mikko hoffte, dass man ihm seine Nervosität nicht ansah. Würde Galagladi ihn erkennen? Trotzdem nickte er, entschlossen es zumindest zu versuchen. „Nun. Welches Pokémon ist es?“, fragte Eljas' Vater mit einem Blick über seine Schulter. Es grenzte an ein Wunder, dass der Mann seinen Herzschlag nicht mit bloßen Ohren hören konnte, dachte Mikko als er mit bebender Stimme antwortete. „Galagladi.“ „Hm.“, war die einzige Antwort, die er bekam, und selbst in dieser einen Silbe klang etwas mit, das Mikko vorsichtig als Arroganz und mehr treffend als Verachtung bezeichnen würde. Ob es schlicht und ergreifend daran lag, dass Galagladi ein Kampf-Pokémon war? Eljas' vater wählte mit sicherer Hand einen der Pokébälle aus und legte ihn vor Mikko auf den Tisch. Die kleine rot-weiße Kugel rollte ein Stück, bevor sie nach leichten hin und her wackeln zur Ruhe kam – wie das Fangen eines Pokémons in Zeitlupe. „Nun?“, der Mann klang ungeduldig, und sein Magnayen legte in gleicher Stimmung die Ohren an. Mikkos Erinnerung an ein Trasla war gleichermaßen schwammig (hatte er es jemals auch nur in Ruhe angesehn?) und exakt (das Gefühl seines geradezu winzigen, zierlichen Körpers, das seltsame Gefühl von Vertrauen und... etwas anderem). Aber er hatte keine Zeit, länger darüber nachzudenken, ob es ihm nun helfen würde oder nicht. Mit dem beruhigenden Wissen, dass Lohgock ihm in jedem Fall beistehen würde, griff er nach dem Pokéball und ließ ihn mit einem Knopfdruck seine volle Größe annehmen. Er öffnete den Mund und konnte sich gerade noch davon abhalten, 'Trasla' zu sagen. „Galagladi!“, rief er und vor ihm erschien in einem roten Licht ein schlankes, hochgewachsenes grün-weißes Pokémon. Für einen Moment nur hörte Mikko den angriffslustigen Schrei des Pokémons, dann trafen sich ihre Blicke und ihm war, als stünde die Zeit still als Galagladi galant vor ihm nieder kniete. „Ich hab es nicht.“, flüsterte Mikko und hatte keine Ahnung wovon er sprach, „Es tut mir leid.“, aber dann wagte er es endlich seine Hand nach der seines Pokémons auszustrecken und er war sich sicher, zum ersten mal, dass er auf dem richtigen Weg war. Dies war sein Trasla, daran bestand kein Zweifel, und sie wussten es beide. Kapitel 17: Ahto ---------------- Mikkos Hand ruhte sicher und still auf dem Kopf des vor ihm knienden Pokémons. Sie sahen einander an und mit jedem Moment erinnerte sich Mikko mehr an den Tag im Wald, an dem er und Trasla sich begegnet waren. Es war der selbe Tag, an dem er Eljas und Lohgock im Kampf beigestanden hatte, und die Luft erfüllt gewesen war von Asche und den Stimmen zweier kämpfender Pokémon. Aber wer war Lohgocks Gegner gewesen? Mikko runzelte die Stirn und zog seine Hand zurück. Es quälte ihn, dass seine Erinnerung selbst jetzt noch lückenhaft zu sein schien. Galagladi richtete sich zu seiner vollen Größe auf; es war kleiner als Lohgock, aber beide Pokémon überragten Mikko mit Leichtigkeit. Sie sahen einander an wie alte Freunde und, dachte Mikko, ein wenig wie Rivalen, die keine sein wollten. Denn Lohgock war Eljas' Partner, nicht Mikkos, aber jetzt hatte es ihn gewählt, und Galagladi hatte Mikko noch vor ihnen entdeckt, auch wenn Lohgock ihn zuerst beansprucht hatte. Mikko war sich nicht sicher, ob er das alles verstand. Allein darüber nachzudenken bereitete ihm Kopfschmerzen. Er zuckte sichtbar zusammen, als Eljas' Vater sich neben ihm räusperte. „Nimm dein Pokémon. Es gehört offensichtlich dir.“, sagte er mit knappen Worten, doch er klang nicht mehr so ablehnend wie zu Anfang. „Vielen Dank.“, brachte Mikko hervor. Angesichts der Tatsache, dass er sich in den letzten Tagen so viel mit Eljas beschäftigt hatte, hatte er das Gefühl, mehr sagen zu sollen, aber ihm fiel einfach nichts ein. „Auf Wiedersehen.“ Eljas' Vater brachte ihn zur Tür, doch sein Blick folgte Lohgock mehr als Mikko. Es mochte nur Mikkos Eindruck sein, dass Lohgock den Mann absichtlich ignorierte, aber er war inzwischen so eng mit dem Pokémon verbunden, dass er seine Reaktionen gut einschätzen konnte. „Pass auf dich auf.“, hörte er noch bevor die Tür hinter ihm geschlossen wurde. Bevor Mikko auch nur erleichtert ausatmen konnte spürte er eine harte, unbekannte Hand auf seiner Schulter: Galagladi schob ihn mit einem heftigen Ruck beiseite, gerade als Lohgock einen lauten Schrei ausstieß und das Feuer an seinen Handgelenken wild zu lodern begann. „Lohgock!“, Mikko konnte das Feuer beinahe an seinen eigenen Händen spüren, obwohl Galagladi sicher stellte, dass Abstand zwischen ihm und dem offensichtlich aufgeregten Feuer-Pokémon war. Der schwarze Ring, unscheinbar wie eh und je an seiner Schnur um Mikkos Hals, war plötzlich so heiß, dass Mikko es durch den Stoff seines Shirts spüren konnte. Lohgocks Körper bebte geradezu, das äußere Anzeichen für all die Kraft und Emotionen, die das Pokémon nur mühsam im Zaum hielt. Galagladi schien an Lohgocks Kontrolle zu zweifeln, schützend wie es sich zwischen ihm und Mikko platzierte, doch Mikko selbst hatte keine derartigen Sorgen. Er musste Galagladi nur ansehen, ein kurzes Kopfschütteln war genug, damit es seine defensive Haltung aufgab. Dann trat er zu Lohgock, selbst ein wenig verwundert, dass ihm die Flammen, die an den Armen des Pokémons empor leckten, keinerlei Angst machten. Er streckte beide Hände aus und war erleichtert, als Lohgock den Kopf zu ihm herab senkte. Er strich über den raubvogelartigen Schnabel, das Gesicht, das Mikko besser lesen konnte als sein eigenes – so viel Schmerz – und die hellen Federn, die Kopf und Hals bedeckten. Langsam verebbte das Feuer, und Lohgocks tiefe Stimme gurrte ruhig, als das Pokémon seinen Kopf gegen Mikkos drückte. „Ich versteh es noch nicht ganz...“, murmelte er, „Aber ich komm dahinter. Versprochen.“ Die Sonne stand hoch am Himmel, doch jetzt im Winter spendete sie den Bewohnern Hoenns wenig Wärme. Nicht, dass man Mikko die niedrigen Temperaturen angesehen hätte: ihm war warm genug, die Jacke hatte er lose um die Schultern gelegt. In ihren Taschen trug er drei Pokébälle mit sich, in denen sich Schwalboss, Liekki und Parisu befanden. Fünf Pokémon, dachte Mikko, während sein Blick zwischen Lohgock und Galagladi hin und her wanderte. Sie flankierten ihn wie Leibwächter, und da er sich inzwischen mehr oder weniger mit seiner Mission – was auch immer das genau war – abgefunden hatte, konnte er sie wohl genauso gut gewähren lassen. Aber erst einmal wollte er nach Hause. Seine Eltern würden sich wahrscheinlich ziemlich wundern, ihn schon wieder bei sich anzutreffen, aber seine Pokémon-Reise verlief nun mal ein bisschen anders als die der meisten Trainer. Nicht zum ersten Mal versuchte er jene Erinnerung in sich wach zu rufen, die seit seinem letzten Besuch bei Jaska ständig bruchstückhaft in seinen Gedanken auftauchte. Manchmal reichte es, Lohgock anzusehen, und Bilder von einem Kampf, den Mikko nicht wirklich einordnen konnte, spielten sich blitzschnell vor seinem inneren Auge ab, aber sie verschwanden so schnell wie sie kamen. Doch Galagladi war der Schlüssel zu dieser Erinnerung, da war Mikko sich absolut sicher. Er runzelte die Stirn. Es war gar nicht spät, es sollte eigentlich noch nicht so schnell dunkel werden. Er sah auf: es war früher Nachmittag und trotzdem hatte er den deutlichen Eindruck, dass es dämmerte, als schöben sich dunkle Wolken vor die Sonne. Er blinzelte gegen das schwächer werdende Licht. Merkwürdig. „Lohgock–“, begann er alarmiert, als es vor seinen Augen zunehmend schwarz wurde, doch er hörte nur noch die Kampfschreie seiner beiden Pokémon bevor seinen Körper alle Kraft verließ und er geschwächt in sich zusammen sank. Der Boden vibrierte unter ihm, und ganz entfernt konnte er Lohgock und Galagladi hören. Er versuchte die Augen offen zu halten, doch es war dunkel und er so unendlich müde. Er wusste, es war wichtig, dass er bei Bewusstsein blieb und mit letzter Kraft stützte er sich auf seine Hände, auch wenn seine Beine weiterhin schwer und unbeweglich wie Blei blieben. Es war warm. Nein, nicht warm, heiß, wie Lohgocks Feuer, und das beruhigte ihn. Wenn Lohgock kämpfen konnte war alles in Ordnung. Er spürte ein Ziehen in seiner Brust und für einen Moment standen seine Hände in Flammen... nein, das waren Lohgocks Hände. Er erinnerte sich dunkel, dass der Übergang nicht zum ersten mal so schwammig war. Er wollte sein Pokémon rufen, es unterstützen, doch er hatte kaum Luft dazu geholt als ein vertrautes rotes Leuchten sein Blickfeld einnahm und er endgültig das Bewusstsein verlor. Er hörte Stimmen. Eine davon – die Mädchenstimme – kannte er, und die Dunkelheit ergab plötzlich Sinn. Lenjas Unlicht-Pokémon mussten dafür verantwortlich gewesen sein. Sein Körper war immer noch seltsam träge, seine Augen zu öffnen war ein Kampf den er scheinbar nicht gewinnen konnte, aber wenigstens etwas sagen musste er. Er musste wissen, wie es Lohgock und Galagladi ging, was geschehen war, und warum Lenja sie angegriffen hatte. Für einen Moment war er wach genug um zu sehen. Ja, da war Lenja mit ihrem Nachtara. Sie sah ärgerlich aus, doch ihre Worte konnte Mikko nicht ausmachen, auch wenn sie offensichtlich aufgeregt redete. Er blinzelte. Da war noch jemand. Die tiefe Stimme eines jungen Mannes drang an sein Ohr; später würde er sich fragen, woher genau die Erinnerung an beunruhigend helle blaue Augen stammte. Dann sah er es: weiß, schlicht, schmucklos: Traslas weiße Scheibe. Plötzlich war Mikko erfüllt von einem unbestimmten aber nichtsdestotrotz starken Verlangen nach dem Anhänger und er begann erneut gegen den Bann auf seinem Körper anzukämpfen. Doch davon wollte der Besitzer der blauen Augen wohl nichts wissen, denn als seine Hand Mikkos Stirn berührte wurde er erneut schläfrig, und das letzte was er hörte war das unwirkliche glockenartige Klingen eines Palimpalims. In seiner Ohnmacht war sich Mikko nur zweier Dinge bewusst, die ihn in ständigem Wechsel plagten: Hitze, die ihn von innen heraus zu verbrennen schien, und Kälte, die seinen Körper von einem Schüttelanfall in den nächsten jagte. Er hatte jedgliches Zeitgefühl verloren, als sein Körper ihm neben Hitze und Kälte einen weiteren Sinneseindruck vermittelte: er war an ein Bett gefesselt, mit festen Bandagen, die seine Hände rechts und links von seinem Körper fixierten. Mal brannten sich die Fesseln heiß in seine Haut, mal war ihm, als bestünden sie aus nichts als Eis. Mikko wusste weder wo er war, noch warum man ihn dort fest hielt oder was seinen Körper von einem Temperaturextrem ins nächste stürzte, sein Verstand war nicht einmal bereit, diese elementaren Fragen zu stellen, vom Beantworten ganz abgesehen. Ob andere Menschen um ihn herum waren hätte er nicht zu sagen vermocht. Er war allein in seiner Qual, und erst als ihm das bewusst wurde, begann er zu verstehen. Mikkos Körper war schweißnass und nur ein dünnes Laken bedeckte ihn und trennte ihn von der vermeintlich kühleren Luft des Raumes, in dem er gefangen gehalten wurde. Ihm war unerträglich heiß, doch diese Momente waren zu den einzigen von relativer Klarheit geworden. Er spürte den Schmerz in seinen wund gescheuerten Handgelenken, doch er konnte seine verkrampfen Muskeln nicht dazu bringen, sich zu entspannen. Ihm war heiß weil Lohgock kämpfte und nach ihm rief, und ihm würde kalt sein, wenn das Pokémon sich – und damit Mikko – vollkommen verausgabt hatte. Eljas hätte einen Weg gekannt, das zu vermeiden, aber Mikko verstand ja kaum, dass eine Verbindung zwischen ihm und dem Feuer-Pokémon bestand, von ihrer genauen Natur hatte er keinerlei Ahnung. Er hatte nur wenig Zeit. Wenn seine Energie verbraucht war und er vor Kälte zitterte würde er zu keinem klaren Gedanken mehr fähig sein, und er musste diesen Kreislauf durchbrechen bevor er sich und Lohgock gänzlich ausbrannte. Mikko hatte das Gefühl, dass es ewig dauerte, bis er sich genug entspannte um die Zähne nicht mehr krampfhaft aufeinander zu beißen. Er entspannte seine Hände und streckte die Finger aus, langsam, so weit es ging, und versuchte sie nicht erneut zu Fäusten zu ballen. Schweiß rann über seine Stirn, das Laken unter ihm war mehr als nur feucht. Er atmete tief ein und aus, lauschte auf das Echo seines Atems in dem ansonsten leeren Raum. Hellgraue Wände. Zehn Quadratmeter, schätzte Mikko, und frei von Möblierung, von seinem Bett einmal abgesehen. Feuchte Haarsträhnen klebten an seiner Stirn und hingen ihm in die Augen. Er schüttelte den Kopf, ohne befriedigendes Ergebnis. Wenn er den Kopf so weit es ging in den Nacken legte, konnte er eine Tür erkennen. In der oberen Zimmerecke, schräg gegenüber seines Bettes, war eine Kamera angebracht, er konnte also davon ausgehen, dass er beobachtet wurde. Die Hitze in seinem Körper stieg weiter an, so sehr, dass ihm schwindelig wurde. Er versuchte, seinen Blick auf die Kamera zu konzentrieren, doch es fiel ihm zunehmend schwer. Er wusste inzwischen was passieren würde: von einem Moment auf den anderen würde ihm fürchterlich kalt sein, und in seinem Verstand würde für nichts mehr Platz sein außer der Kälte. Mikko hasste Kälte und sehnte sich nach der Wärme, die Lohgocks Körper stets austrahlte. Er wollte das Pokémon sehen und es beruhigen. Er öffnete den Mund um etwas zu sagen, doch bevor er auch nur ein Wort hervor brachte verließ ihn das Feuer, das eben noch in ihm gebrannt hatte und seine Zähne schlugen klappernd aufeinander. Ihm war kalt, so furchtbar kalt, und nichts anderes war von Bedeutung. Lenja bereute es, Mikko ausgeliefert zu haben. Es war zwar nicht so, als hätte sie eine Wahl gehabt, aber gern hatte sie es dennoch nicht getan. Ihr Gefühl der Reue – das sie am liebsten gänzlich verdrängt hätte – hatte nichts damit zu tun, dass sie gesehen hatte, wie Mikko von einer Qual in die nächste geworfen wurde. Das passierte nun einmal, wenn ein Trainer seine Verbindung zu den Pokémon nicht unter Kontrolle hatte. Ob es ihm leichter oder schwerer gefallen wäre, wenn man ihm die Holzkohle gelassen hätte, vermochte sie nicht zu sagen; sie hatte nie einen Verstärker für ihren Typ besessen. Nein, Lenja hatte es trotz allem Gehorsam gefallen, dass Mikko Eljas' Werk fortsetzen würde. Die Vorstellung, dass wenigstens ein Trainer einfach machte was er wollte, und sich nichts vorschreiben ließ, hatte ihr Mut gemacht, auch wenn sie selbst nicht dieser Trainer war. Aber wenn sie an ihren Kampf gegen Mikko zurück dachte, ergab es durchaus Sinn: Eljas' Lohgock mochte sich Mikko angeschlossen haben, aber er war kein zweiter Eljas, er war einfach nur ein kleiner Junge, der zufällig ebenfalls eine Verbindung zu Feuer-Pokémon hatte. Fast machte sie das ein bisschen ärgerlich, aber letztendlich konnte Mikko ja nichts dafür. In jedem Fall musste sie sich das Schauspiel nicht auch noch auf den Überwachungsmonitoren ansehen, im Gegensatz zu Ahto, der daran offensichtlich äußerst interessiert war. Sie machte keinen Hehl daraus, dass sie ihn vom anderen Ende des Raumes aus beobachtete. Er wusste es, und es war ihm egal. Ahto war schmal gebaut und groß. Lenja kam sich neben ihm immer wahnsinnig klein vor, dabei war sie für ihre dreizehn Jahre wirklich nicht winzig. Ahtos Haare waren dunkelbraun, aber wenn es nicht gerade sehr hell war, konnte man sie für schwarz halten, hatte man nicht gerade Lenjas Haare zum Vergleich daneben. Fast alles an ihm wirkte düster: die dichten Augenbrauen, die braun gebrannte Haut – nur seine Augen waren merkwürdig hell und einfach auffällig blau. Sie waren allein im Aufenthaltsraum. Kein Wunder, dachte Lenja, wirklich anziehend war er nicht gestaltet, es sei denn man fand die Aufnahmen anderer Trainer, die sich in verschiedenen Stadien meist wenig angenehmer Zustände befanden unterhaltsam. Für den Mangel an Ton war sie geradezu dankbar. Ahto lehnte an der Wand neben den Monitoren und seit einer guten halben Stunde hatte er den Blick nicht mehr abgewandt. Die im Raum verteilten Stühle, die dem ganzen die Atmosphäre eines Wartezimmers verliehen, ignorierte er. Lenja hatte ihre Füße auf die Sitzfläche ihres Stuhls gezogen und das Kinn auf die Knie gestützt. Sie war sich nicht sicher, warum sie überhaupt noch hier war, obwohl sie bereits jetzt feststellen konnte, dass Mikkos Verbindung zu Feuer-Pokémon stärker war als ihre zu Unlicht-Pokémon. Sie war nicht annähernd so interessant wie er, war es nie gewesen. Und darüber konnte sie nur froh sein, wenn sie auf den Bildschirmen sah, wie Mikko sich scheinbar blind und ohne Verstand gegen die Fesseln an seinem Bett warf. „Du verstehst nicht, warum ich ihn mir ansehe, oder?“, fragte Ahto und unterbrach damit eine lange Stille, was Lenja aus ihren Gedanken aufschrecken ließ. Sie zuckte mit den Schultern. „Keine Ahnung, was du dir davon versprichst.“ Er lächelte, ohne dass es seine Augen erreichte. „Er hat es auf meine Tafel abgesehn.“, erklärte er und Lenjas Blick huschte unwillkürlich zu der weißen Scheibe, die in Silber gefasst an einem Band um Ahtos Hals hing. An einer dünnen Kette hing ein etwa augapfelgroßer blauer Kristall, gerade so, dass sich die beiden Gegenstände nicht berührten. „Die Hirntafel?“, hakte sie sicherheitshalber nach, auch wenn Ahto kaum etwas anderes als seinen Psycho-Typverstärker meinen konnte. Aber konnte Mikko denn ebenfalls eine Verbindung zu Psycho-Pokémon haben? Ahto nickte. „Es würde erklären, warum er ein Galagladi bei sich hatte.“ „Und was ist mit diesem Galagladi? Ich meine, Lohgock versucht die ganze Zeit sich zu befreien, darum geht es Mikko ja so schlecht...“ Lenja meinte, dass die weiße Scheibe für einen Moment hell schimmerte, bevor Ahto sie mit seiner Hand umschloss. War es nur eine Reflektion der Bildschirme gewesen? „Es ist zu früh. Ich will nicht, dass er seine Verbindung zu Galagladi jetzt findet.“, sagte er, und das rötliche Glimmen in seinen Augen war ganz sicher kein Trick des Lichts. Kapitel 18: Valto ----------------- Lohgocks Arme waren nahezu rabenschwarz von den Handgelenken aufwärts, Haut und Federn trugen die Spuren zahlloser Kämpfe und hell auflodernder Flammen. Das Pokémon stand allein in der Mitte der abgeriegelten Arena und ein letzter heiserer Schrei entwich seiner trockenen Kehle. Es war geschwächt, doch zu stolz und verzweifelt um aufzugeben. Ein Zittern ging durch seinen Körper und die letzten Flammen an seinen Händen erloschen. Lohgock war sichtbar erschöpft, absolut verausgabt und am Ende seiner Kraft. Einen Gegner nach dem anderen hatte es in den Staub der Arena geschickt, Befehlen folgend die es in der Vergangenheit so oft gehört hatte. Doch dieses Mal führte ihn kein Trainer in den Kampf, und der Verlust war ein nicht unwesentlicher Nachteil für Lohgock. Es war ein Wunder, dass es sich noch aufrecht halten konnte, was nicht zuletzt damit zu tun hatte, dass Lohgock instinktiv auf die Kraftreserven seines jungen Trainers zurück griff. Der Kanal zwischen ihnen war weit offen und weder Mikko noch Lohgock konnten etwas dagegen tun. Mit einem dumpfen Knarren öffneten sich zum wiederholten Male die Tore am gegenüber liegenden Ende des Kampffeldes und Lohgock hob trotzig den Kopf um sich auch diesem Gegner zu stellen. Und dann nahm es unwillkürlich einen Schritt zurück, als es erkannte wer ihm da entgegen trat. Den Trainer hätte es vielleicht nicht erkannt. Seit ihrer letzten Begegnung waren Jahre vergangen und Valto hatte sich verändert, war erwachsen geworden. Die militärische Austrahlung hätte ihn vielleicht verraten können, doch Lohgocks Aufmerksamkeit galt allein seinem Pokémon, einem Glurak, das ihm auf unangenehmste Weise vertraut war. Es war kaum in der Arena erschienen als es sich auch schon vom Boden abstieß und in die Luft erhob, kraftvoll und ungebremst, ungeduldig darauf wartend seinen Vorteil gegen Lohgock auszuspielen. Und als wenn all das nicht gereicht hätte, hing um Valtos Hals eine Kette mit eben jenem schwarzen Ring, den Eljas so lange mit sich getragen hatte, und den Lohgock selbst an Mikko weiter gegeben hatte. Lohgock musste wissen, dass es gegen Glurak und Valto keine Chance hatte, nicht allein und gezeichnet von den gerade erst bestandenen Kämpfen, und trotzdem nahm es die Herausforderung an, denn ein Rückzug war keine Option. Valto hätte es niemals zugelassen. Valto hatte die Kampfsituation sofort erfasst und selbst ein Trainer ohne seine Erfahrung hätte keine Probleme gehabt zu erkennen, dass Lohgock keinen ernst zu nehmenden Gegner mehr darstellte. Aber entweder hatte er trotzdem nicht vor, das Pokémon zu unterschätzen, oder der Grad seiner Überlegenheit war ihm gleichgültig. In jedem Fall zögerte er nicht, und seine Stimme erklang deutlich über den Kampfschrei seines Gluraks hinweg. Valto hatte die Kampfsituation sofort erfasst und selbst ein Trainer ohne seine Erfahrung hätte keine Probleme gehabt zu erkennen, dass Lohgock keinen ernst zu nehmenden Gegner mehr darstellte. Aber entweder hatte er trotzdem nicht vor, das Pokémon zu unterschätzen, oder der Grad seiner Überlegenheit war ihm gleichgültig. In jedem Fall zögerte er nicht, und seine Stimme erklang deutlich über den Kampfschrei seines Gluraks hinweg. In dem Moment in dem Gluraks feuriger Atem erlosch richtete sich das Pokémon wieder auf, denn es wusste genau, dass es keine Zeit zu verlieren hatte. Wenn es einen Gegenangriff starten wollte, musste es sofort handeln. Doch Valto war nicht nur ein erfahrener Trainer, sondern hatte Lohgocks Kämpfe lange in dem Wissen studiert, dass sie sich früher oder später wieder im Kampf begegnen würden, und er hatte den Himmelhieb kommen sehen bevor Lohgock ihn ausführen konnte. Siegesgewissheit stand in sein Gesicht geschrieben als er seinen finalen Befehl gab: „Flügelschlag!“ Es war ihr dritter Kampf und der zweite aus dem Valto als Sieger hervor ging. Doch es war ein unvollkommener Sieg, dachte er noch während Gluraks Schwingen Lohgock zu Boden schmetterten, wo es regungslos liegen blieb. Ein Pokémon-Kampf fand nicht nur zwischen Pokémon, sondern auch zwischen ihren Trainern statt, und die Revanche gegen Eljas würde ihm für immer verwehrt bleiben. Glurak landete neben ihm und Valto strich ihm kurz anerkennend über den Kopf, bevor er es in seinen Pokéball zurück rief. Binnen Sekunden waren uniformierte Helfer in der Arena, die Lohgock auf eine Trage hoben und fort trugen, höchstwahrscheinlich um seine Verletzungen zu behandeln. Die Männer – oder Frauen, es war nicht deutlich zu erkennen – trugen schwarze Anzüge mit blauen Markierungen, jedoch weder Rangabzeichen noch Namensschilder. Sie wurden von zwei flinken Geradachs begleitet, die Valto misstrauisch beäugten, ihn aber ansonsten in Ruhe ließen. Eine Stimme hallte über die Lautsprecheranlage durch die Arena, kaum dass Lohgock sie verlassen hatte: „Du kannst gehen.“ Valto sah auf zu einer Reihe verspiegelter Glasscheiben kurz unter der Decke der Arena. „Kann ich den Jungen sehen?“ Eine kurze Pause, dann kam die knappe Antwort: „Ja.“ Er nickte in Richtung der Spiegel, die sicher mehr als einen Beobachter hinter sich verbargen, und verließ die Arena durch das gleiche Tor, durch das er sie betreten hatte. Zeit für einen Krankenbesuch. Mikko erwachte und war zum ersten Mal nicht allein. Er lag immer noch im Bett und musste, als er versuchte sich auf zu setzen, feststellen, dass er zwar bei Bewusstsein, ansonsten aber noch nicht so wirklich auf der Höhe war. Er sackte fast sofort wieder zurück in eine liegende Position, doch immerhin war sein Wächter auf ihn aufmerksam geworden. 'Wächter' war die einzig zutreffende Beschreibung: die schwarze Uniform wirkte formell und insgesamt eher abschreckend. Obendrein schien er nicht geneigt, von sich aus irgendeine Erklärung für Mikkos Situation abgeben zu wollen. Aber immerhin war er nicht mehr gefesselt (auch wenn seine Handgelenke von den Fesseln wund gescheuert waren), und seine Körpertemperatur schwankte nicht mehr zwischen kochend und eisig, was schon mal ein Fortschritt war. Das Zimmer schien jedoch das selbe zu sein und die Einrichtung war seit seiner letzten wachen Phase nicht weniger spartanisch geworden. Gerade wollte Mikko Antworten auf einige zunehmend dringende Fragen verlangen ('wo' und 'warum' standen ganz oben auf der Liste), als es an der Tür klopfte und ein junger Mann ohne länger zu warten eintrat. „Ich hab Erlaubnis.“, erklärte er dem uniformierten Mann, der die Aussage anscheinend erst validieren musste – er betätigte ein kleines Funkgerät an seinem Ohr – bevor er den Raum wortlos verließ. Das erste was Mikko auffiel, war der Geruch von Rauch und Asche, den der Neuankömmling mit sich brachte: ein Feuer-Pokémon-Trainer! Er war nicht sehr groß, aber ein gutes Stück älter als Mikko, bestimmt an die zwanzig oder so. Er trug uniform-ähnliche Kleidung in oliv und Tarnfarben, sein braunes Haar war kurz und unauffällig. „Hey Mikko. Ich bin Valto. Und nur damit wir uns gleich richtig verstehn...“, er öffnete den Reisverschluss seiner Jacke und Mikko sah mit Schrecken was er um seinen Hals trug: den schwarzen Anhänger, den Lohgock ihm gegeben hatte. Eljas' Anhänger! „Das ist meine, klar? Ich nehme mal an, dass du nicht mal genau weißt, was das ist, oder?“ Mikko schluckte, sein Hals fühlte sich trocken an. „Das ist–“, er hustete und Valto rollte mit den Augen. „Idioten...“, murmelte er und zog aus den Tiefen seiner offenbar geräumigen Hosentaschen eine Wasserflasche, die er Mikko reichte. „Hier. Trink.“, ordnete er an und Mikko war durstig genug, die Umstände zu ignorieren und das Angebot anzunehmen. Er versuchte erneut sich aufzurichten, und dies mal gelang es ihm. „Es hat Eljas gehört.“, antwortete er endlich. Valto lächelte grimmig. „Es gehört mir. Eljas hat es mir abgenommen, aber es war nie für ihn bestimmt. Und für dich auch nicht.“ Mikko fühlte sich nicht stark genug um mit Valto darüber zu streiten, auch wenn er es gern getan hätte. Der Anhänger war wichtig für Lohgock, darum konnte Mikko ihn unmöglich aufgeben. Valto zumindest schien für den Moment zufrieden mit Mikkos Reaktion. Der düstere Ausdruck wich aus seinem Gesicht und er trat näher ans Bett und streckte Mikko seine Hand entgegen. Der folgende Händedruck war nicht nur plötzlicher und fester als von Mikko erwartet, er kam mit einer ganzen Reihe von Sinneseindrücken – Hitze, Kampf, das Gefühl zu fliegen – die ihn seine Hand erschrocken zurück ziehen ließen, doch Valtos Griff war fest und alles was er erreichte war, dass der ältere Trainer sich ein Stück über ihn beugte. Valto hielt ihn einen Augenblick länger fest, lang genug, dass Mikko das Bild eines Gluraks vor Augen hatte, das er mit Stärke und Überlegenheit assoziierte, dann erst ließ Valto ihn los und ein kaltes Zittern ging durch Mikkos Körper. Im ersten Moment sehnte er sich beinahe nach der vertrauten Wärme zurück, bevor er sich wieder unter Kontrolle hatte. „Was war das?“, fragte er noch während er die dünne Decke enger um sich zog. Valto sah nicht so aus, als hätte er viel Lust Mikkos fraglos zahlreiche Fragen zu beantworten, aber zumindest für den Moment tat er ihm den Gefallen. „Deine... unsere Typverbindung.“ Mikko hatte das dumpfe Gefühl, dass ihm das schon einmal jemand erklärt hatte. Genau genommen kam ihm auch der Name Valto seltsam bekannt vor. Der nächste Gedanke kam plötzlich und verdrängte alle anderen Fragen. Galagladi und Lohgock! „Wo sind meine Pokémon?“ Als hätten sie den kurzen Austausch zwischen Valto und Mikko belauscht und nur auf ein Signal gewartet, stürmten zwei uniformierte Männer das Zimmer und Valto konnte gerade noch zur Seite treten, als sie Mikko gewaltsam auf sein Bett drückten und begannen, ihn erneut in Fesseln zu legen. Dieses Mal war er bei Bewusstsein und kämpfte so gut er konnte dagegen an, doch die beiden hatten nicht nur den Überraschungsmoment, sondern auch schiere Körperkraft auf ihrer Seite. „Lasst mich los!“, rief er ohne ernsthafte Hoffnungen in der Richtung, „Galgladi! Lohgock!“, sein immer noch heiserer Hals machte sich bemerkbar und seine Stimme verstummte mit einem jämmerlichen Krächzen. Die beiden Uniformierten sahen ausdruckslos auf ihn herab bis er sich beruhigt hatte. Valto hatte dem Ganzen zugesehen, anscheinend ohne ein Eingreifen auch nur in Betracht zu ziehen. Für Mikko war damit klar, dass er zu den schwarz gekleideten Männern gehörte und auf keinen Fall auf Mikkos Seite stand. „Geht es ihnen gut?“, fragte er schließlich, wobei jedes Wort in seiner Kehle schmerzte. Sein Blick suchte Valtos, denn sonst hatte bisher niemand mit ihm gesprochen. Valto zögerte einen Moment bevor er antwortete: „Nein.“, sagte er und verließ das Zimmer ohne eine weitere Erklärung. Der Raum, in dem Galagladi und Guardevoir sich gegenüber saßen, war gänzlich leer. Die Wände waren weiß gestrichen und absolut schmucklos, es gab keinerlei Fenster und die einzige Tür war kaum mehr als eine Vertiefung in der Wand, denn sie besaß auf der Innenseite nicht einmal eine Türklinke. Ahto stand außerhalb dieser Tür. Er musste nicht sehen können, was im Inneren des Zimmers geschah, um darüber informiert zu sein. Seine Verbindung zu Guardevoir war absolut ausreichend. Sie war außerdem notwendig, und der Grund für seine zunehmend starken Kopfschmerzen, denn allein hätte Guardevoir Mikkos Galagladi wohl nicht so lange in Schach halten können. Äußerlich mochten die Pokémon sich nicht rühren, doch ihre Psychen bekriegten sich unablässig. In einer physischen Konfrontation hätte Ahto Galagladis Überlegenheit gefürchtet, aber auf rein geistiger Ebene waren sie stärker. Das ganze erforderte allerdings ein hohes Maß an Konzentration und Ahto war alles andere als geneigt, diese für Valto zu unterbrechen. Ahtos Augen waren geschlossen, doch er hatte die Schritte des anderen gehört und den vertraut verbrannten Geruch bemerkt, den der Feuer-Pokémon-Trainer stets mit sich brachte. „Was willst du?“, fragte er trotzdem und ohne auch nur zu versuchen, den genervten Ton in seiner Stimme zu unterdrücken. „Du weißt, dass sie ihm Galagladi zurück geben werden. Früher oder später.“ Ahto schwieg für einen Moment bevor er Valto ansah. „Lohgock ist außer Gefecht gesetzt?“ Valto nickte und kam nicht umhin dabei ausgesprochen zufrieden mit sich auszusehen. „Für eine Weile auf jeden Fall.“ „Und Mikko?“ „Hat keine Ahnung von gar nichts. Noch weniger, als ich dachte. Und, ich weiß nicht, aber...“, Valto warf der verschlossenen Tür zum Psy-Raum einen viel sagenden Blick zu, „Der Status Quo ist nicht akzeptabel, und das weißt du auch.“ „Willst du einen Kampf, Valto?“, fragte Ahto mit kaum zurück gehaltener Rage. Valto schüttelte den Kopf und hob abwehrend die Hände. „Lass deinen Frust nicht an mir aus!“, gab er neckend lächelnd zurück. „Hm.“, machte Ahto und schloss erneut die Augen. Die Spannung begann langsam aus seinen Schultern zu weichen, auch wenn sie ihn nicht gänzlich verließ. „Ich werde ihn mir ansehen.“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)