Jeder für sich von -Sanna- ================================================================================ Kapitel 3: Ich Will Ausbrechen ------------------------------ Müde streckte ich meine Glieder aus. Es war gerade mal drei Uhr und am letzten Tag hatten wir einen kraftraubenden Auftritt in Hongkong hinter uns. Heute sollte es weiter gehen, nach Australien. Ich rappelte mich so schnell es die Müdigkeit erlaubte auf, wenn ich trödelte würde ich nur einen weiteren Streit provozieren und von Streitereien hatte ich gestrichen die Nase voll. Erst vorgestern hatte ich mich wieder gestritten – mit meinem Bruder. Wieder einmal war es um das leidige Thema gegangen. Er war vollkommen abgehoben und hatte sich selbst vergessen. War zu einer oberflächlichen Marionette unseres Managements geworden. Genau das, was er vorher so sehr gehasst hatte. Ich seufzte und begab mich in mein Bad, machte mich fertig. Als wir angefangen hatten, auf Touren zu gehen, hatte ich mir immer mit Bill ein Zimmer geteilt. Wir hätten uns ohnehin die ganze Zeit auf der Pelle gehockt, so war es für alle einfacher gewesen. Aber das war lange nicht mehr so. Schon seit geraumer Zeit hielt ich mich auf Abstand von meinem Bruder, den ich mehr und mehr nicht mehr wieder erkannte. Es tat weh, zu sehen wie er sich so veränderte. Und nicht nur Bill tat das. Wir hatten uns alle verändert, und das nicht gerade zum Guten. Gustav war mehr und mehr eingegangen, je größer unser Erfolg geworden war und jeglicher Versuch, ihn hinter seiner Mauer rauszuholen war fehlgeschlagen. Was mit Georg vor sich ging wusste ich nicht einmal und das machte mir große Angst. Ich wusste sehr genau, dass er ein Mensch war, der zu einer Menge fähig war. Und dass er irgendetwas tat, was ihm schadete, war kaum zu übersehen. Als ich mich einmal mit ihm darüber unterhalten wollte, wurde er richtig wütend. Ich war davon überzeugt, wenn David Jost nicht hereingekommen wäre um mit uns die Termine für die folgende Woche zu besprechen – er wäre auf mich losgegangen. Ich spürte einen Stich im Herzen. Tokio Hotel war keine Band mehr. Und wir waren keine Freunde mehr. Was wir waren – das wagte ich nicht zu denken. Still ging ich hinunter und nahm mein Frühstück zu mir, Gustav saß mir schweigend gegenüber, den Blick starr auf einen Punkt im Nirgendwo gerichtet und mit den Gedanken anscheinend weit weg. „Morgen Gustav.“, sagte ich zu ihm und sein Blick wanderte zu mir. Ein wenig erschrocken blickten die Augen mich an, dann lächelte er. Wieder tat mein Herz weh. Wusste er, wie falsch sein Lächeln aussah? „Hi.“, antwortete er, „Gut geschlafen?“ Ich nickte. „Und du?“ „Klar doch.“ Eine Lüge. Ich seufzte leise und biss in mein Toast. So konnte das nicht weitergehen. Ich musste unbedingt etwas gegen seine Abschottung tun. Sonst würde er daran zu Bruch gehen – wenn er das nicht schon längst war. „Gustav, Tom!“, Bill kam herein gelaufen, wie immer im Stress, „Seid ihr etwa immer noch hier? Unser Flugzeug geht in weniger als zwei Stunden, beeilt euch gefälligst! Sonst kommen wir zu spät!“ Sofort stand der Schlagzeuger auf und verzog sich. Ich jedoch funkelte meinen Bruder böse an. „Dir auch einen wunderschönen guten Morgen.“, zischte ich. Bill seufzte erschöpft. „Jetzt mach hier nicht einen auf beleidigt.“ meinte er, „Wir müssen uns beeilen. Pünktlichkeit ist bei unserem Leben wichtig, das weißt du genau, Tom!“ Ich verkniff mir eine weitere Antwort, jetzt brachte eine Auseinandersetzung ohnehin nicht. Mein Bruder war sowieso schon zur Hälfte in Australien. Es vergingen einige Tage, in denen sich nicht wirklich etwas Spannendes abspielte, abgesehen von dem Alltäglichen. Streitereien zwischen mir, meinem Bruder und Georg, verzweifelte Versuche, zu Gustav durchzudringen und Interviews über Interviews in denen wir dem Rest der Welt unsere heile Welt verkauften. Wie heil sie doch war wurde mir wieder bewusst gemacht, als wir einen Tag Auszeit in Texas hatten. Ich stand relativ spät auf, hatte es wirklich genossen einmal wieder lang schlafen zu können. Auf dem Weg hinunter zum Frühstückssaal kam ich an Bills Zimmer vorbei und hielt inne. Bildete ich mir das ein oder... Ich klopfte gegen die Tür. „Bill?“, fragte ich, „Alles in Ordnung?“ Keine Antwort. Dann hörte ich es wieder. Ein Würgegeräusch, was mir einen Schauder über den Rücken laufen ließ. „Hey!“, rief ich, dieses Mal ernsthaft besorgt, „Mach die Tür auf!“ Trotz vehementem Klopfen tat sich nichts. Ich griff schnell in meine Hosentasche und zog den Schlüssel zu Bill Zimmertür heraus. Ein Glück hatten wir wenigstens mit der Tradition, zu dem Zimmer des jeweils anderen Zwillings einen Schlüssel zu besitzen, noch nicht gebrochen. Hastig schloss ich auf und lief in das Bad. Was sich mir dort offenbarte, war ein Bild was ich nie vergessen würde. Bill kniete vor der Toilette, vollkommen am Ende und erbrach sein wohl gerade zu sich genommenes Frühstück. „Bill, verdammt noch mal!“, rief ich und zerrte meinen Bruder von der Toilettenschüssel weg, „Was machst du da für eine Scheiße!“ Mein Zwilling sah mich erst erschrocken an, dann lächelte er matt. „Was wohl?“, antwortete er mit kratziger Stimme, „Ich kotze.“ „Du Idiot!“, schnauzte ich ihn an und nahm ihn auf den Arm. Behutsam legte ich ihn auf das Bett. Ich legte eine Hand auf seine Stirn, konnte jedoch keine besonders hohe Temperatur feststellen. „Ich bin nicht krank.“, sagte Bill. „Das sehe ich aber ganz anders.“, meinte ich und überlegte. Vielleicht hatte er was Schlechtes gegessen, oder etwas was er nicht vertrug. Doch mein Zwilling lachte nur leicht und richtete sich auf. „Ich bin nicht krank.“, wiederholte er und sah mir in die Augen. „Verarschen kann ich mich selbst!“, sagte ich laut, „Erzähl mir nicht du würdest...“ Meine Stimme versagte, als mir bewusst wurde, was sich mir hier gerade offenbarte. „Du tust es mit Absicht.“ „Natürlich, Tom.“, antwortete Bill mir, „Das muss ich. Oder glaubst du die Öffentlichkeit liebt eine singende Schwabbelschwarte?“ Wut keimte in mir auf. „Hör auf so einen Schwachsinn zu reden!“, rief ich, „Du bist verdammt noch mal nicht dick!“ Der Schwarzhaarige gab keine Antwort. Ich seufzte und schwieg ebenfalls einen Moment, um mich zu beruhigen. „Wie lange tust du das schon?“, fragte ich dann. „Keine Ahnung. Vielleicht ein paar Wochen.“ Ein paar Wochen. Vielleicht. Oder doch schon ein paar Monate? Mein Herz fühlte sich an, als ob es jeden Moment zerbrechen würde. Ich glaubte zu verstehen, was in meinem Zwilling vor sich ging. Dieses Getue, nur noch auf Äußerlichkeiten Wert zu legen und vollkommen abgehoben zu sein war nur ein Mittel gewesen um zu vertuschen, was wirklich mit ihm los war. Er legte keinen Wert darauf, andere zu betrügen, nein – vor allem versuchte er, sich selbst zu betrügen. Mein Bruder war auch gefallen, ebenso tief wie Gustav und Georg. Ich hatte noch lange mit Bill geredet – ohne Erfolg. Er hatte nicht einsehen wollen, dass er sich damit nur mehr zerstörte. Mittlerweile war es Nacht, das Ende unseres freien Tages. Ich saß vor dem Fenster meines Hotelzimmers. Was passierte nur mit uns? Wir zerbrachen, einer nach dem anderen. Doch keiner wollte es sehen, keiner hatte die Kraft, die Wahrheit zu sehen. Ich sah sie. Und ich wollte sie bekämpfen. Ich wollte wieder zurück. Zurück zu dem Leben, in dem wir unseren Traum lebten, nicht unseren Albtraum. Doch immer wieder merkte ich, dass mir die Kraft fehlte, um dahin zurück zu kommen. Ich konnte nicht mehr, meine Zweifel holten mich ein. Und was mir nachts blieb waren die Fragen. Was ging nur mit uns vor? Warum haben wir nicht aufgehört? Werden wir je wieder uns gegenüberstehen und uns als Freunde sehen? Oder haben wir keine Zukunft mehr? † Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)