Anfang und Ende von Mebell (Oder: blessed_mistress und Mebell) ================================================================================ Kapitel 3: Red Book ------------------- Red Book So ist er also wieder auf Tour. Zwar ohne Zahnbürste oder Niveau, dafür aber mit Rod und Farin. Bela reißt seinen Blick vom Fenster los, lässt ihn durch den gesamten Bus schweifen und bleibt schließlich bei dem blonden Gitarristen hängen. Zwar ist der auch nicht wesentlich interessanter als die vorbeiziehende Landschaft, aber… immer noch besser als Grünzeug. Farin schreibt emsig in sein kleines rotes Buch. Bela kennt es schon so lange wie den Blonden selbst. Zerfleddert und eselsohrig, wie es ist, hat es anscheinend sogar die Bandtrennung überlebt. Jene mehr oder weniger wilden Zeiten von King Kong. Allein von dem Inhalt hat Bela noch keinen einzigen Buchstaben gesehen. Mutiert Farin doch schon zur zickigen Göre, wenn man es nur wagt, das Buch länger als fünf Sekunden anzusehen. Im geschlossenen Zustand, wohlbemerkt. Dann vergisst der lebende Musterknabe und Pazifist auch mal seine gute Kinderstube, wirft mit Giftpfeilen um sich. Und nicht nur das. Es kam sogar schon vor, dass Bela Tee im Gesicht hatte oder mit Kugelschreibern attackiert wurde. Belas höchst persönliche Theorie ist, dass es sich um Songtexte und Gedichte wirklich privater Natur handelt. Wahlweise vielleicht auch Weltherrschaftspläne oder physikalischen Berechnungen zur ersten Zeitmaschine. Ganz sicher ist er sich da nicht. - - - Farin lag bäuchlings auf dem Boden, vor sich das aufgeschlagene Buch, als Bela das Zimmer betrat. Er lehnte sich in den Türrahmen und sah grinsend zu, wie Farin es zuschlug und ihn mit einem bitterbösen Blick bedachte, von dem Bela dachte, es gäbe ihn nur bei kleinen Mädchen, die Angst haben, man könnte in ihrem Tagebuch lesen. Einen Versuch war es wert, dachte Bela sich. „Was ist das?“, fragte er neugierig, „Darf ich es lesen?“ Die Reaktion war so eindeutig wie heftig, das Bela verwirrt nach hinten stolperte, beinah rückwärts gefallen wäre. „Nach was sieht es den aus, Herr Oberschlau? Und nein, du darfst es nicht lesen. Wenn du also bitte wieder gehen würdest. Nicht alle Leute haben das Glück, soviel Zeit zu haben, dumm in der Gegend herumstehen zu können.“ - - - Haargenau so hatte Belas erste Begegnung mit dem ominösen Buch ausgesehen. Er braucht nur kurz die Augen zu schließen, schon sieht er die Szene detailreich vor seinen Augen ablaufen. Mittlerweile hat Bela akzeptiert, dass er niemals in das Geheimnis des kleinen roten Büchleins eingeweiht wird. Es ist ein unantastbares Stück im Leben von Farin, etwas was ganz allein ihm gehört. Sein Heiligtum. Der manisch vor sich Hinschreibende hat jedoch mittlerweile den Blick von Bela regelrecht auf sich gespürt und schaut von den Seiten auf. Rasch sieht Bela dann doch lieber wieder in die vorbeiziehende Landschaft und lässt die Grüntöne vor seinen halbgeschlossenen Augen verschwimmen. Einen dieser so tiefschürfenden, mahnenden und ganz und gar bösartigen Blicke möchte er gerade nicht riskieren. Würde er doch nur die Vorfreude auf das Eröffnungskonzert trüben und die Stimmung dämpfen. Tatsächlich reicht bei Farin ein einziger Blick dieser Sorte. * Farin grinst. Es ist nicht irgendein Grinsen – Es ist sein Bühnengrinsen. Jenes, was die Person Farin Urlaub so unverkennbar auszeichnet. Doch heute, nach einem gelungenen Tourauftakt, verschwindet es nicht mit dem endgültigen Abgang von der Bühne. Es bleibt einfach an Farin haften, die ganze Euphorie entlädt sich in seinen Mundwinkeln. Er kennt keinen besseren Zustand. Wenn er sich unbesiegbar, unerreichbar und schlicht unglaublich fühlt, ist ihm der Rest der Welt egal. In diesem Zustand traut Farin sich außerdem Dinge, die er sonst nur in Gedanken zurechtspinnt. Andere Leute trinken sich Mut an, Farin stellt sich auf die Bühne und nutzt seine darauffolgende Euphorie. Auch heute. Als er immer noch manisch grinsend durch den Backstagebereich schlendert, entdeckt er seinen Schlagzeuger auf einem Stuhl. Die letzten Sticks ungewöhnlicherweise noch in der Hand haltend, nippt er leicht abwesend an einem Bier. „Hab ich irgendwas verpasst? Keine laute Musik? Kein Alkohol, der in Strömen fließt? Keine minderjährigen Mädchen? Wirst du krank, Felse?“ Vergnügt sucht sich Farin einen Platz auf der breiten Fläche des Schminkspiegels, registriert trauerlos den klirrenden Tod diverser Flaschen und Gläser, die er mit seiner Aktion herunterstößt. Wie ein kleiner Schuljunge lässt er die Beine baumeln, übersieht in der Euphorie (oder seiner natürlich angeborenen Ignoranz gegenüber Stimmungen Anderer) die offensichtliche schlechte Laune des Schlagzeugers. „Farin, wenn du nur da bist um nervzutöten, da“, ein Fingerzeig in besagte Richtung, „hat der Maurer die Tür gelassen.“ Ein kurzes Stirnrunzeln, von Bela ungesehen, da der nicht nur seinen Verstand, sondern auch seinen Blick im Bier ertränkt, dann reißt die gute Laune auch schon wieder Farin mit, lässt ihn reden und reden und irgendwann solche Sätze sagen, die sonst nie über seine Lippen kommen. Aber Kinder und Betrunken sagen ja bekanntlich stets die Wahrheit. Und wenn das Trunkensein nur vom Konzert kommt. „Das war gar kein Maurer, sondern die Crew, weil unsere Räume nur mit mobilen Wänden abgetrennt sind, weshalb es eigentlich heißen müsste: da hat der Roadie die Tür gelassen. Aber ist ja auch egal. Lust heute Abend noch irgendwo hin zu gehen? So tanzen oder so? Also nicht das ich tanzen würde, eher eine Lokalität wo andere tanzen, die man dann bestaunen oder angraben kann oder wo man einfach nur sitzt und sich unterhält. Gut da müsste man dann gegen die Musik anbrüllen und zu trinken gibt’s ja auch nichts für mich. Aber für dich! Und-“ „Wenn du mir versprichst für die nächste Viertelstunde deine Klappe zu halten, sage ich gerne Rod Bescheid und ich gucke, was sich machen lässt.“ Farin grinst. * Sie sitzen wie die Hühner auf der Stange an irgendeiner Bar, in irgendeinem Club, dessen Namen Farin schon beim Hineingehen wieder vergessen hat. Das Bild muss zu komisch aussehen, sitzen sie doch der Größe nach nebeneinander, was aber weniger ein Gag ist, sondern viel eher bittere Notwendigkeit. Aus Gründen, die sich Farin entziehen, und wahrscheinlich auch nicht nur ihm, sondern auch jeder Logik, scheint Bela sauer auf ihn zu sein. Und zwar nicht nur Gurkensauer, sondern richtiggehend Essigsauer. Die ganze Zeit über, die sie nun schon unterwegs sind, straft der Ältere ihn entweder mit Missachtung oder Spitzen, so schlimm, das Farins Lächeln dahin geschmolzen ist, wie Schnee in der Sonne. Nichts weiter zurückgeblieben ist, als eine steinerne Miene und eine Stimmung, die ihre Jugendzeit wohl als Kellerkind verbracht hat. Rod als lebender Puffer kann daran nicht mehr wirklich viel kitten und nach dem dritten Wodka der beiden und seiner zweiten Cola beschließt Farin, dass er für diesen Abend genug hat. Relativ wortkarg packt er seine Jacke, verabschiedet sich eher nuschelnd als redend von seinen Bandkollegen und bittet den Wirt, ihm ein Taxi zu bestellen. * Auch Bela hat mittlerweile wieder das Hotel erreicht. Genauer gesagt sein Bett. Nachdem Rod und er sich noch einen Absacker gegönnt hatten, waren auch sie aufgebrochen. Eigentlich hätten sie auch mit Farin fahren können. Jedoch ist für Bela aktuell jede Minute ohne den Blonden kostbares Gut. Momentan kann er nicht auf ihn. Auf seine ganze Art. Auf sein Auftreten. Auf seine komplette Person. Seltsamerweise äußert sich dies erst seit vorhin heftiger. Normalerweise steckt ihn die Freude aufgrund des gelungen Tourauftaktes immer an. Heute hätte er den kindlich glücklichen Farin einfach nur erschlagen können. Warum, weiß Bela nicht wirklich. Was er weiß, ist, dass all das nicht sehr förderlich für das Klima in der Band ist. Seine vom Alkohol geringfügig benebelten Gedanken schweifen umher, bis sie irgendwann an dem Kultgegenstand des Farin U. hängen bleiben. Vielleicht steht die Antwort auf alle Fragen die durch Belas Kopf kreisen in diesem kleinen roten Heiligtum? Gedanklich ermahnt sich Bela selbst. Das kleine Büchlein ist doch sicherlich im Endeffekt nichts anderes als ein Tagebuch. Die privatesten Gedanken Farins auf Papier gebannt. Das geht ihn nunmal einen feuchten Dreck an. Zufrieden über seine Konsequenz zieht Bela die Decke über sich und dreht sich auf die Seite. Dass er noch Jeans und ein verschwitztes T-Shirt anhat, interessiert ihn gerade herzlich wenig. Jedoch lassen sich Gedanken nicht einfach aus dem Kopf scheuchen und aussperren. Sobald Bela die Augen schließt, huschen Schemen an seinem inneren Auge vorbei. Hört er schier seine eigenen Gedanken unnachgiebig in seinem Inneren sprechen. Am meisten verflucht er gerade, dass er nicht konkretisieren kann, was ihn so beschäftigt. Viel zu viele Gedanken und Erinnerungen, die wie unscharfe Fotos an seinem inneren Auge vorbeiziehen. Nichts, was er genau erkennt oder gedanklich greifen kann. Es treibt ihn in den Wahnsinn. Wobei: Vielleicht ist er ja schon wahnsinnig. Seine akuten Stimmungschwankungen gehörten sicher zu den ersten Anzeichen der Manie. Genervt, frustriert und auch seltsam antriebslos strampelt Bela die Bettdecke wieder von sich. Er hat keine Lust, die halbe Nacht Löcher in die Luft zu starren. Dann irrt er lieber ziellos umher. Hauptsache, er kann irgendetwas tun. Mit diesem Entschluss steht Bela auf, stößt vorsichtig seine Zimmertüre auf und starrt in den stockdusteren Flur. Noch nicht einmal mehr Schemen sind in dem mit Türen gesäumten Korridor zu erkennen. Der Architekt war wohl eher Minimalist und hatte an den Fenstern gespart. Wahlweise auch Vampir mit chronischer Angst vor Licht. Bela kneift die Augen zusammen, um sich wenigstens ansatzweise zu orientieren. Blinzelnd starrt er an das Ende des Hotelflures. Ein ganz schwacher Strahl Licht erhellt ein winziges Stück der Umgebung. Es ist aber kein unnatürliches Licht einer Glühlampe, sondern der schwache Schein des Mondes. Das geweckte Interesse lässt Bela in Richtung Lichtquelle schlendern. Nach wenigen Metern wird ihm klar, dass der Schein aus Farins Zimmer dringt. Seufzend will er schon wieder umkehren, ist Farin doch die Person, an die er gerade am wenigstens denken will. Dummerweise hat er aber schon das Hotelzimmer erreicht und automatisch einen Blick hinein gewagt. Farin musste vergessen haben die Türe richtig zu schließen, deshalb steht die Zimmertüre ein Stück weit offen und gewährt genug Einblick in sein Reich auf Zeit. Das Fenster war ebenso geöffnet, der pralle Vollmond scheint in eben dieses und beleuchtet die Szene mit angenehmen, weichen Licht. Unbewusst huscht ein Lächeln über Belas Lippen. Farin schläft mit ausgebreiteten Extremitäten und ohne wärmende Decke, der blonde Haarschopf ist komplett verwuschelt. Das Ganze wird durch das leise, gleichmäßige Atmen unterstrichen. Bela schüttelt den Kopf, als wenn er eine lästige Fliege loswerden wollte, und schaut auf. Sein Blick gefriert. Auf dem kleinen Nachttisch liegt es. Das zerfledderte, heilige, rote Buch. Er wendet seine Aufmerksamkeit wieder auf Farin. Dieser scheint in der schönsten Tiefschlafphase zu stecken. Die Chance des Moments ist eigentlich viel zu wunderbar, um sie ungenutzt zu lassen. Trotzdem besitzt Bela noch so etwas wie ein Gewissen und erinnert sich an seine Gedankengänge von vorhin. Das privatesten Gedanken Farins auf Papier gebannt. Das geht ihn absolut nichts an. Dieses Buch war ein stetiger Begleiter und wusste sicher alles und noch etwas mehr über die schlafende Person vor ihm. Wahrheiten, die Bela eventuell eisige Stiche versetzen würden. Nein. Er würde sich jetzt leise zurück in sein Zimmer begeben und versuchen zu schlafen. Er würde nicht die Seele aus Papier entweihen. Trotz seiner gedanklichen Ermahnung hat Bela sich dem Nachtschränkchen genähert. Er kann nichts gegen die magische Anziehungskraft von geheimen Dingen tun und streckt seinen Arm aus, mit einem letzten bangen Blick auf Farin. Dieser schläft immer noch selig. Farin ist ja selber schuld, wenn er so ein Geheimnis aus diesem Ding macht. Das verführt ja regelrecht. Er würde dieses Buch nun mitnehmen, einmal kurz in die sicherlich albernen Tagebuchgeheimnisse schauen und es wieder haargenau an Ort und Stelle zurückbringen. Niemand würde etwas bemerken und seine Gedanken würden sich vielleicht etwas beruhigen. Fast gierig umkrallt Bela nun das Büchlein und verschwindet lautlos aus Farins Zimmer. Triumphierend tapst er den Korridor zurück, öffnet ebenso leise seine Türe und setzt sich auf das Bett. Für Schuldgefühle oder Gewissensbisse hat er gerade leider keine Zeit. Zu groß ist die Freude, endlich Gewissheit zu bekommen. Den Atem anhaltend bindet Bela das kleine schwarze Lederband, was das Büchlein sicher zusammenhält, auf und lüftet die erste Seite. Sie muss wirklich verdammt alt sein, die Tinte darauf ist nachtschwarz, das Papier leicht vergilbt und an einer Ecke eingerissen: 'Lieder, die das Leben schrieb – Oder: Gedanken und Erinnerungen.' Bela muss zwanghaft grinsen. Typischer hätte es nicht beginnen können. Ein klangvoller Titel, der die Erwartungen schürt. Es passt zu Farin. Die darauffolgenden Blätter sind mit Farins kleiner, leicht schräger Handschrift randvoll beschrieben. Wenn er all das lesen wollte, würde er ein paar mehr Tournächte brauchen. Daher beschränkt Bela sich jetzt auf die Suche nach seinem Namen. Vielleicht tut er dieses nicht unbewusst, vielleicht ist es ein sanfter Anstoß seines Gewissens. So würde er wenigstens nicht die Privatsphäre anderer Personen mitverletzen. Für Bela war es jedoch im Moment nur eine effiziente Methode, sich geeigneten Lesestoff zu wählen. Er beginnt, das rote Büchlein von hinten durchzublättern, da ihn die Gegenwart schon immer mehr interessierte, und bleibt bei einem scheinbar gar nicht so alten Eintrag hängen. Sein Künstlername fällt ihm auf der Seite sofort ins Auge, ohne schon näheres über den Inhalt zu wissen. Wie aktuell der Eintrag ist kann er nicht genau sagen, denn merkwürdigerweise ist nichts datiert. Dies passt so gar nicht auf den Ordnungsfreak. Bela atmet ein letztes Mal durch und liest den kurzen Abschnitt: „Ich hasse ihn. Ich hasse ihn. Ich hasse ihn. Wahrscheinlich drückt diese Wortwiederholungen nicht mal ansatzweise mein wirkliches Empfinden aus. Eigentlich möchte ich auch keinen Buchstaben mehr für diesen Menschen verschwenden, der mich so leiden lässt. Eigentlich. Denn ich tue es ja trotzdem. Weil ich immer schreibe, um meine Gefühle zu kompensieren. Damit die Anderen niemals etwas anderes als den stets grinsenden Blonden sehen. Aber das ist eine andere Geschichte. Bela ist so anders geworden. (Und unterbewusst benutze ich nur noch seinen Künstlernamen, diese abartige Verfremdung der eigentlichen Person...) Vielleicht liegt es aber auch nur daran, dass ich mir zu viel aus ihm mache. Dass ich ihm viel zu viele Fehler verziehen habe, immer nur seine guten Charaktereigenschaften sehe, viel zu hohe Erwartungen habe, und in diesem Fall naiv bin wie ein Kleinkind. Und mich jedes mal wieder um ihn bemühe - Nur um wieder ohne Sturzhelm auf den harten Boden der Realität zu knallen. Vielleicht bin ich auch nur Masochist, der Spaß an der Sache hat.“ Zu perplex um irgendwie zu reagieren gleitet Belas Blick über einen kurzen, blütenweißen und freien Abschnitt, bis der Textfluss wieder aufgenommen wird. „Bela ist halt nur eine billige, klischeehafte Drei-Akkorde-Punk Nummer. Die man einfach lieblos auf der Gitarre herunterschrammelt. So ein Song wäre maßgeschneidert für Belas Charakter.“ Mit dem aufgeschlagenen Buch in den Händen lässt Bela sich auf sein Kopfkissen sinken. Er fühlt sich, als wenn ihn gerade irgendetwas unsichtbares zu Tode quetscht. Für Gewissensfragen aufgrund der Entweihung von Farins Heiligtum hat er jedoch immer noch keine Gedanken übrig. Eigentlich hat er aktuell gar keine Gedanken. Er starrt einfach nur auf die hier königsblaue Tinte, lässt die Buchstaben so zu einem blauen Schleier verschwimmen und wiederholt immer und immer wieder die ersten drei Sätze. Es ist, als wenn die Buchseiten mit Kontaktgift getränkt worden sind, das Bela absolut handlungsunfähig macht. * "Dirk Albert Felsenheimer." Es ist kein wirklicher Satz. Noch nicht einmal ein Flüstern. Viel mehr ist es ein eisiger Hauch, von dem Bela sich noch nicht mal sicher ist, ob er wirklich seinen Namen beinhaltet oder ob ihm seine schlaftrunkenen Sinne nicht nur einen Streich spielen. Nur ganz langsam bekommt er seine Motorik dazu, die Lider zu heben, sich der kalten und vor allen Dingen grellen Realität zu stellen. Die sich im Augenblick als zwei grün- braune Augen herausstellt, die jegliche Emotionen entbehren. Wäre Belas Körper schon dazu in der Lage, er würde einen weiten Satz nach hinten machen, den niedrigsten Trieben folgend, sein Heil in der Flucht suchen. Doch da die lähmenden Finger des Schlafes ihn immer noch halb in ihrem Griff halten, bleibt ihm nichts anderes übrig, als das Kaninchen vor der Schlange zu mimen. Farins Blick hilflos ausgeliefert. "In all den Jahren die wir uns kennen, hast du dir schon eine Menge geleistet. Du hast mir Freundinnen ausgespannt, Schlaf gekostet, Nerven geraubt. Du hast mich im wahrsten Sinne des Wortes angekotzt, bist auf meinen Gefühlen rumgetrampelt und es gab Zeiten, in denen du mich ausgenommen hast wie die gottverdammte Weihnachtsgans. Aber das", ein heftiger Ruck mit den Kopf gen Nirgendwo, der allein beim Zusehen schmerzt, "ist das wohl Niederträchtigste, was du dir je geleistet hast. Hast du denn gar keine Scham? Nicht einen Funken Anstand? Ist dir diese Freundschaft wirklich sowas von egal, dass du nicht einmal, nicht ein einziges Mal, Grenzen als solche erkennen und akzeptieren kannst?" Etwas regt sich in Bela. Er könnte es nicht genau beschreiben, wenn man ihn fragen würde. Es hat etwas von einem Stich. Einem nagendes kleines Insekt, dass es sich dort gemütlich gemacht hat, wo jenes Gefühl sitzt, das man weitläufig unter Gewissen kennt. Dann ist es auch schon vor bei. Und in einem Sturm der Selbstgerechtigkeit taucht auch die Erinnerung an gestern Abend auf. An all die Wörter, so sauber geschrieben und böse. An den Verrat in königsblau. Und Bela denkt nicht einmal, sondern er redet nur. Ob vom Herzen freiweg oder von der Leber in der sich immer noch Restalkohol befindet, weiß er selbst nicht so genau. "Tja... wahrscheinlich ist das eben nun mal so bei- wie hast du es so schön ausgedrückt?- Drei-Akkorde-Punk Nummern. Die haben eben kein Feingefühl und schrammeln sich so durchs Leben. Sollte dir doch nur mehr als bekannt sein. Also brauchst du dich gar nicht so aufzuspielen." Für einen kurzen Moment meint Bela, alles, aber auch wirklich alles in Farin erstarren zu sehen. Die Mimik, seine Muskeln, das Atmen und vielleicht auch sogar sein Herz. Dann, wie auf einen unsichtbaren Befehl hin, als hätte jemand einen Schalter umgelegt, sackt die große Gestalt über ihn zusammen, werden ein Meter und vierundneunzig Zentimeter so klein, wie der Drummer es noch nie erlebt hat. "Das ist alles was du dazu zu sagen hast?" "Gibt es denn mehr?" Das Zucken eines Mundwinkels. Grausame Karikatur eines Lächeln. "Fein." Das Ende einer Freundschaft? "Fein." Das Ende einer Freundschaft. * Das Leben ist eine Bühne. Und egal was sich hinter dem Vorhang abspielt, ob sich dort geliebt oder gehasst, geschlagen oder geherzt wird, die Show muss weiter gehen. Das hat selbst Bela schon vor langer Zeit begriffen. Und so ist es beinah schon zur Routine geworden, dass er, sobald es On Stage geht, jeglichen Groll gegen Farin ablegt. Mit ihm scherzt und lacht, als wäre nie etwas gewesen, ganz der Profi eben, nur um, sobald es von den Bretter geht die angeblich die Welt bedeuten, soweit wie möglich Abstand von dem Gitarristen nehmen zu können. Was tourbedingt natürlich nicht immer gelingt und schon zu manch unschöner Szene geführt hat. Ob es nun ein direkt zugeschlagene Tür vor Farins Nase war, das Übergangenwerden seiner Person bei der Zimmeraufteilung, oder so etwas profanes wie das Wegessen des einzigen vegetarischen Gerichtes am Büffett, Bela versucht alles, um Farin zu schneiden. Wenigstens so einen winzig kleinen Teil der Rache zu bekommen, die ihm seiner Meinung nach zusteht. Natürlich bleiben diese Aktionen nicht unbemerkt. Bela musste schon den ein oder anderen dummen Spruch der Crew ertragen, die so rein gar nichts verstanden und natürlich die mehr oder minder mahnenden Blicke von Rod. Der zwar durchaus von der eisigen Stimmungen zwischen seinen beiden Bandkollegen in Kenntnis war, woher der Chilene auch immer diese Empathie nehmen mochte, jedoch aber auch nicht alles wusste. Was sich aber anscheinend gleich ändern soll. Bela sitzt am Frühstückstisch, Farin am anderen Ende mit Nichtachtung strafend, als Rod mit jenem Gesichtsausdruck auf sie zu kommt, denn Bela so gar nichts abgewinnen kann. Es ist das patentierte Rodrigo-González-Wir-Müssen-Reden-Gesicht. „Könntet ihr beiden mir eventuell erklären, warum die Stimmung zwischen euch kälter als die Antarktis ist?“ Farin sieht nicht einmal ansatzweise von seinem Brötchen mit Käse auf: „Ach, ist sie das wirklich?“ Belas leises Lachen dringt gehässig vom anderen Ende des Tisches zu Farin hinüber. Er ignoriert dies geflissentlich und beißt wieder teilnahmslos in sein Frühstück. „Könntet ihr bitte eure Probleme miteinander klären und nicht totschweigen?“ In Rods Stimme schwingt schon fast etwas Aggression mit. „Es gibt keine Probleme.“ Mit diesen Worten steht Farin auf, schiebt sich den Rest seines Brötchens in den Mund und verlässt den Raum. Einige Sekunde lang starrt ihm Bela nach, dann springt er reflexartig auf. Sein Stuhl poltert fast zu Boden, als er mit schnellen Schritten Farin folgt. Rod seufzt und verbucht das Ergebnis trotzdem als Erfolg. Immerhin zeigt Bela wieder Interesse und nicht diese anwidernde Gleichgültigkeit. Er betrachtet noch eine Weile Belas halbgegessene Cornflakes und hofft weiter auf einen Rest Vernunft seiner Freunde. * Bela weiß nicht, warum er ausgerechnet jetzt seine Position verlässt und vor Farins geschlossener Zimmertür ausharrt. Hatte er sich doch still geschworen, einfach nur noch in kleinem Maße seine Rache zu üben und ihn komplett zu ignorieren. Er weiß, dass er im Unrecht liegt. Dass er es war, der die intimste Stelle seines Freundes verletzt hat. Aber Farin hat noch viel mehr verletzt. Auch wenn Bela es nie zu geben würde. Die königsblauen Buchstaben hatten sich wie Giftpfeile in seine Seele gebohrt. „Komm da jetzt raus, verdammt!“, ruft Bela halbherzig gegen die verschlossene Türe. Als Antwort erhält er nur ein Rascheln. Scheinbar sucht Farin irgendetwas. Kurz darauf wird es wieder still. Gerade als Bela sich Worte zurecht gelegt hat, um Farin aus der Reserve zu locken, wird die Tür abrupt aufgerissen. Nur dank seiner guten Reflexe wird er von ebendieser nicht halb erschlagen und schafft es einen Ausfallschritt nach hinten zu machen. Nachdem Bela sich wieder halbwegs gefasst hat schaut er auf. Vor seinen Augen sieht er beschriebenes Papier und verschwommene Buchstaben tanzen. Ein langer Finger deutet auf die Mitte des Buches, was ihm so aufdringlich unter die Nase gehalten wird. Angestrengt starrt Bela auf die gezeigte Stelle und erkennt mal kleinere, mal größere weiße Fetzen des Papiers. Ein unregelmäßig gezackter Rand. Reste von scheinbar toten Seiten. Noch einmal versucht Bela seinen Gegenüber direkt in die Augen zu sehen, doch auch dieser Versuch wird erfolgreich vereitelt. Einige Blätter werden ihm grob in die Hand gedrückt, dann hört er nur noch das leise Schlagen der Zimmertür. Perplex begutachtet er das Papier in seinen Händen und identifiziert es als Teil des Gegenstücks zu dem gezackten Rand. Bela streicht die erste, noch sehr neu wirkende Seite, glatt. Die Schrift wirkt gehetzt, eine Schmiererei mit Kugelschreiber. Als hätte Farin den inneren Zwang gehabt, dies jetzt irgendwie,irgendwo niederzuschreiben. „Schon wieder. Schon wieder weist er mich ab. Schon wieder drängt er mich zurück. Ist er denn wirklich so blind? Was zur Hölle soll ich noch tun, damit er mich überhaupt einmal richtig wahrnimmt? Ich hasse diese Welle aus Emotionen in mir. Nur er kann sie beschwören. Ich glaube, er ist der einzige Mensch, der es schaffen würde, dass ich mich wie ein Kind schützend in eine Decke kuschele und hemmungslos weine. Gut, dass ich noch ein kleines bisschen Würde besitze. Das nimmt nicht mal er mir.“ Er hebt eine Augenbraue. Aha, die Mitleidstour. Das nächste Blatt fällt fast auseinander, weil es scheinbar ziemlich oft zerknüllt und wieder glatt gestrichen wurde. Schwarze,blasse Tinte sticht auf dem gelblichen Papier hervor. Wahrscheinlich würde kein Mensch die kryptische Schrift Farins auf diesem eh sehr demolierten Blatt entziffern können – Aber Bela kennt ihn so lange, dass diese Aufgabe für ihn keine Kunst ist: „Das Leben ist schön. Wie oft ich diese Erkenntnis in den letzten Wochen hatte. Und alles nur wegen ihm. ER, der mein Leben um 180 Grad gedreht hat. Irgendwie. Jede Sekunde mit ihm ist schöner als eine ganze Stunde ohne ihn. Mir macht es fast ein bisschen Angst, wie sehr mich dieser kleine Möchtegernvampir beeinflusst. Aber von ihm werde ich gerne beeinflusst. Auch wenn ich mittlerweile regelrecht abhängig bin, genieße ich es trotzdem. Was hat er nur aus mir gemacht... Einen kleinen Rebell, der die Welt nun mit anderen Augen sieht? Vielleicht. Auf jeden Fall hat er aus mir auch einen verdammt glücklichen und zufriedenen Menschen gemacht. Er ist wie das letzte Puzzleteil, was hinter dem Sofa lag. Und jetzt endlich passgenau sitzt und das Bild komplettiert.“ Belas Miene zeigt keine Regung. Langsam entfaltet er das letzte Stück Papier. Auch hier sticht die schwarze Tinte hervor, aber auch noch etwas anderes. Er kann förmlich die Mühe und Emotionen sehen, die in jeden einzelnen Buchstaben gesteckt wurden. Die Wörter strahlen etwas Vertrautes aus. „Wenn man Dirk mit einem Lied vergleichen sollte, würde ich die 'Bohemian Rhapsody' wählen. Nur sie ist ansatzweise vielfältig genug für Dirks so wunderbar facettenreichen Charakter.“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)