Nur ein Stückchen Papier... von DJ-chan ================================================================================ Kapitel 13: Lernen ------------------ Kapitel 13 – LERNEN Der nächste Schultag war unerträglich. Kaum dass ich das Klassenzimmer betrat schwiegen alle und keiner sprach mich diesen Tag an. Nicht dass es vorher nicht genau so gewesen war, aber diesmal hatte das Ganze etwas Unheilvolles und mir wurde erst bewusst, wie ausgegrenzt ich wirklich war. Ticky war auch schon wieder in der Schule, aber immer wenn ich ihn von der Ferne sah, wich ich so weit wie möglich aus. Nicht einmal mein Lieblingsplatz konnte mir meine innere Ruhe wiedergeben, es war als hätte ein Wirbelsturm in meinem Inneren gewütet und keiner konnte sich aufraffen, die Schäden zu beheben. Unbewusst warf ich einen Blick auf die altgewohnte Spalte zwischen den groben Steinen. Doch sie war leer und ob ich es wollte oder nicht, es stimmte mich traurig. Nach der Schule setzte ich mich unmotiviert an meinen Schreibtisch und begann Mathe wenigstens noch mal durchzulesen. Ein Klingeln unterbrach die angenehme Stille. Ding-Dong. Mutter war heute in der Arbeit. Vater auch. Beide kamen wie so gerne spät und beide hatten einen Schlüssel. Ding-Dong. Wer also war das? Ich erhob mich und ging zur Tür. Der Schemen, den ich durch die Glasscheibe erkennen konnte, ließ mich zurückschrecken. Wuschelkopf? Er hatte mich schon bemerkt und klopfte gegen das Glas. Also öffnete ich widerwillig die Tür. „Ticky Mick?“, raunte ich ihn missmutig an und hoffte, dass ihn das abschrecken würde. Er jedoch grinste mich an und mit diesem Nasen-Pflaster-Ding im Gesicht wirkte er wie ein dressierter Seeelefant. „Was machst du hier?“ Der Kerl rückte einfach nicht mit dem wesentlichen heraus! „Onkelchen hat mich zu dir geschickt, damit ich etwas lerne…für Mathe…“, seine Stimme wurde etwas ernster, wenn auch sein Lächeln nicht ganz verschwand. „Lernen? Mit…mir?“, perplex starrte ich ihn an. „Ja, ich habe auch alles dabei…“, er hielt seinen Ranzen hoch. Was blieb mir jetzt schon anderes übrig, als ihn hereinzulassen? Ohne große Erklärungen ließ ich ihn herein. Plötzlich blieb Ticky stehen. „Warum gehen wir nicht hinaus?“ Na ja, warum nicht. Wir hatten immerhin einen sehr angenehmen Garten. „Die Sonne scheint so herrlich!“, setzte Ticky nach, als befürchtete er, mein Schweigen könnte eine Ablehnung bedeuten. „Wir setzen uns natürlich in den Schatten und der Wind geht auch ein bisschen…“ Er hatte sich also alles gemerkt, was ich geschrieben hatte… „Schon gut…“, ich machte mich auf den Weg in den Garten, wo wir uns unter einen großen, dichten Kirschbaum setzten. „Es ist sehr schön hier“, meinte Ticky als er sich umsah und dabei sein Zeug aus dem Rucksack klaubte. Sein Blick streifte die sauber geschnittene Rasenfläche, die perfekt gezogenen Rosenbüsche, die ordentlichen Nebengebäude, die hohe, blickdichte Hecke, die das Grundstück einrahmte und natürlich den Pool, der einen Teil des Geländes einnahm. „Ja…“, würgte ich hervor, denn eigentlich hatte ich keine Lust ein Gespräch mit ihm zu führen und überhaupt war er zum Lernen und nicht zum Reden hier, also fuhr ich fort: „was genau verstehst du bei Mathe nicht?“ Ticky sah für einen Moment sogar etwas verlegen aus, eine erschreckende Tatsache, aber dann zog er ein maskenhaftes Grinsen, fuhr sich mit der Hand in seine Haare und verkündete leichtherzig: „Alles!“ „Alles?!“ Das Grinsen verschwand und er murmelte kaum hörbar und mit gesenkten Augen: „wegen Mathe bin ich immer durchgefallen…“ Das war das erste Mal, dass ich ihn dermaßen betreten und hilflos sah. In diesem Moment fasste ich den Entschluss, ihm Mathe beizubringen. Ich musste verrückt geworden sein, aber ich nahm mir viel Zeit, so viel, wie ich noch nie für jemanden investiert hatte und erklärte ihm alles, was er wissen wollte. Er stellte viele Fragen und mit jeder Antwort, die ich ihm gab, schien er mehr zu verstehen. Wenn ich ehrlich war, machte es mir mit der Zeit sogar Spaß mit ihm im Schatten zu sitzen und sich auf etwas zu konzentrieren. Deswegen bemerkte ich gar nicht, wie die Zeit verrann. „Die Sonne geht schon unter“, bemerkte Ticky so beiläufig, dass ich im ersten Moment nicht reagierte. Erst als er das Buch zuklappte bemerkte ich den vom Abendlicht geröteten Himmel. „So spät schon?“ Ticky lächelte. „Ja. Du hast mir heute SEHR viel erklärt, ich danke dir!“ Einen Dank, und noch dazu aus dieser Quelle, hatte ich nicht erwartet. „Ist schon okay“, murmelte ich vor mich hin. Ticky richtete seinen Blick auf ein kleines Nebengebäude, ein überdachter Raum, in dem ich immer trainierte. „Übst du da drin mit dem Schwert?“ Ich nickte. „Darf ich mal sehen?“ Einen Moment hielt ich inne und rang mit mir. Dann erhob ich mich und nickte. Es klang zwar irgendwie gruselig, aber mittlerweile schien ich mich an Ticky gewöhnt zu haben. Und das komischste daran war: Er nervte mich nicht mehr! Nachdem ich das Katana aus dem Haus geholt hatte lotste ich Wuschelkopf in den Trainingsraum. Er war groß genug um darin ungestört zu üben. Auf dem Boden waren Tatami-Matten ausgelegt, Möbel gab es hier drin bis auf eine kleine, halbhohe Schrankwand nicht. Lediglich ein paar Stoffbahnen mit Kanji-Zeichen hingen an den Wänden, die mit schwungvollen Strichen geschrieben einzelne Schlüsselwörter darstellten. Nachdem Ticky seine Aufmerksamkeit wieder auf mich gerichtet hatte zog ich voller Stolz mein Schwert. Es war ein wunderbares Familienerbstück aus dem besten Stahl, den es gab. Ich vollführte ein paar Schwertstreiche und sirrend zog das Katana silberne Bögen. Wuschelkopf beobachtete mich dabei schweigend, doch ich bemerkte sehr wohl, dass seine Augen interessiert der Klinge folgten. Dass er ihr offensichtlich folgen konnte beeindruckte mich schon. Immerhin gab ich mir sehr viel Mühe sie präzise und vor allem sehr schnell zu führen. Nach einer Weile fragte er plötzlich: „Kannst du mir das auch beibringen?“ Ich stoppte in der Bewegung. Hatte ich mir das gerade eingebildet? Ticky wollte, dass ich ihm Schwertfiguren beibrachte? Er bemerkte meine Unentschlossenheit zwar, drängte aber nicht nach einer Antwort. Stattdessen faltete er die Hände hinter dem Nacken zusammen und wartete. Wenn man jemanden zumindest die Grundbegriffe des Schwertkampfs beibringen wollte, benötigte man Zeit, viel Zeit und das würde zwangsläufig bedeuten, dass er hier öfters aufkreuzen müsste. Sehr oft. Ich überlegte, ob mich das denn stören würde. Vor ein paar Wochen hätte ich ihn wohl sofort von unserem Grundstück gejagt. Jetzt aber konnte ich nichts Negatives an der Sache finden, nicht einmal ein schlechtes Gefühl hatte ich dabei. Irgendwie freute es mich sogar, dass Ticky auch an meinem Hobby interessiert war. Deswegen verstaute ich das Katana und holte zwei Bambusschwerter aus dem Wandschrank. Mit ernstem Blick drehte ich mich zu dem Wuschelkopf um und warf ihm eines der Schwerter zu. Er fing es gar nicht mal so ungeschickt auf und blickte mich erwartungsvoll an. Mit gewichtiger Tonlage meinte ich zu ihm: „Du willst also den Schwertkampf erlernen?“ Ticky ging darauf ein und nickte, wobei ihm ein typisches Grinsen entwischte. „Dann greif mich gefälligst an“, meinte ich herausfordernd, hob das Holzschwert hoch und richtete es auf meinen Gegner. Erst tat er es mir gleich, nur um ein paar Augenblicke später los zu preschen um den Abstand zu überwinden und einen Hieb von rechts anzusetzen. Viel zu offensichtlich. Mühelos wich ich dem Anfängerversuch aus und platzierte einen Treffer auf seiner rechten Schulter. Obwohl das kein allzu sachter Schlag war murrte er nicht, sondern versuchte sofort erneut sein Glück. Der zweite Anlauf hatte jedoch dasselbe Ergebnis, genau wie sein dritter, vierter und fünfter. Ein bisschen außer Atem fragte er mich nun um ein paar Tricks. „Bis jetzt hab ich doch noch gar keinen ‚Trick‘ gebraucht…“ „Wie?“ „Na, bis jetzt bist du immer schnurgerade auf mich zugelaufen und hast dein Handgelenk so gedreht, dass man schon meilenweit vorher sagen konnte, wo du hinfuchtelst…“ Erstaunt blickte er mich an. „Ach so…!“ Sein Griff um das Stück Holz wurde fester und ein amüsiertes Grinsen breitete sich in seinem Gesicht aus. „Dann hast du es bis jetzt noch leicht gehabt, aber ich werde schon noch besser!“ Seine weiteren Attacken wurden schon um einiges koordinierter und so langsam fand auch ich Gefallen daran, mit ihm zu trainieren. Immer häufiger musste ich mich richtig konzentrieren, um nicht doch von ihm getroffen zu werden. Es war geradezu erstaunlich wie schnell er sein Können vor meinen Augen verbesserte. Vielleicht war er ja gar nicht so dumm, wie er sich immer nach außen hin gab, viel zu gerissen waren einige seiner Manöver. Um seinem Schlag zu entkommen musste ich schlussendlich sogar durch die offene Schiebetür nach draußen hechten. Es war schon recht dunkel, doch der Himmel lag strahlend klar über uns und der Mond spendete ausreichend Licht. Ticky folgte mir mit einem mühelosen Sprung über die drei flachen Stufen, die der Trainingsraum höher lag und setzte einen weiteren Angriffsversuch nach. Mit einem Grinsen beobachtete er, wie ich ihm gerade noch ausweichen konnte. Aber jetzt war ich an der Reihe und scheuchte ihn mit einer Kombination durch die Gegend. Er duckte sich um wieder die Kontrolle zu erlangen, schon ziemlich geschickt und es gelang ihm sogar. Zwei, drei Schläge wich ich aus, bemerkte eine Lücke und wollte ihn nun von links überraschen, als plötzlich mein Fuß abrutschte. Meine Sicht kippte auf einmal und ich merkte, dass ich fiel. Ticky griff noch nach meinem Arm, wurde jedoch mitgerissen. Platschend landeten wir beide im Wasser. Verdammt, der Pool… Ein paar Sekunden lang war ich ganz vom Wasser umgeben, eine dumpfe Welt, in der alle Töne irgendwie unnatürlich klangen. Dann kam wieder Leben ich mich, ich stieß mich vom Boden ab und durchbrach die Wasseroberfläche. Wie konnte mir nur passieren, dass ich meine Umgebung völlig vergessen hatte? Hatte ich mich so sehr auf Ticky konzentrieren müssen, dass ich nicht registriert hatte, dass wir viel zu nah am Wasser gewesen waren? Wuschelkopf tauchte prustend ebenfalls auf und schüttelte voller Elan den Kopf. Tröpfchen lösten sich aus seinen nassen Haaren und spritzten mir ins Gesicht. Mürrisch starrte ich ihn an. Er wandte sich mir zu und betrachtete mich kurz. Seine Mundwinkel begannen zu zucken und laut begann er zu lachen. „Weswegen, verdammt noch mal, lachst du bitte?!“, fuhr ich ihn an. „Du blickst drein wie eine wasserscheue Katze, die gerade zu einem Bad gezwungen wird“, presste er irgendwo zwischen seinem Gelächter hervor. Er lachte mich also aus, dachte ich bitter. Na toll. „Und du siehst aus wie ein begossener Pudel“, erwiderte ich beleidigt. Seine nassen Strähnen hingen ihm auch wie Seetang ins Gesicht. Nach meiner Aussage begann er noch heftiger zu lachen. Meine Lippen kräuselten sich ein bisschen. „…wie ein begossener Pudel…“, wiederholte er prustend. „Ja, genau so!“, betonte ich kräftig, um meinem entglittenen Gesichtsausdruck Einhalt zu gebieten. Doch Ticky dachte nicht daran, sich zu beruhigen, wie blöd lachte er vor sich hin und auf einmal formten meine Lippen ein Lächeln, und ein Prusten entwich mir. Noch bevor ich darüber nachdenken konnte begann mein Bauch zu kribbeln, ein komisches Gefühl, meine Blockade bröckelte und ein Lachen erklang, mein Lachen. Laut und deutlich erschallte es, vermischte sich mit Tickys und ich hatte plötzlich das Verlangen, dass dieser Moment nicht mehr aufhören sollte, so bizarr diese Situation auch war. Viel zu wohl fühlte ich mich gerade jetzt, viel zu frei und unbeschwert um irgendwelche mürrische Gedanken zu haben. Und das war wohl der Augenblick, an dem ich das Lachen lernte… ... ENDE Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)