Das Kaisersiegel von Sahva ================================================================================ Kapitel 4: 4. Die Prophezeihung ------------------------------- Liliana saß in ihrer Bibliothek und legte den Stift, den sie soeben noch in ihrer Hand gehalten hatte zur Seite. Sie runzelte ihre Stirn, da es ihr an diesem Tag nicht sonderlich gut ging. Ihre Haut war überempfindlich, seit sie am Morgen aufgewacht war, und sie tippte darauf, dass sie sich in der herbstlichen Kühle, die aufgezogen war, eine Infektion zugezogen hatte. Ihre Hand zitterte leicht, als sie sich eine Strähne ihres hellen Haares zurückstrich. „Ich sollte mich besser etwas hinlegen:“, dachte sie bei sich und erhob sich mühsam. Mit jeder Minute, die nun verstrich, schien es, als würde ihre Kraft weiter entweichen. Langsam und mit einem Gefühl, als wäre sie eine alte Frau, verließ sie die Bibliothek und erklomm langsam die Haupttreppe ins Erdgeschoss. Sie war kaum dort angelangt, als eine Gruppe Kinder aus dem Garten herein gelaufen kam. Lautes Gelächter erfüllte das Haus und auch Liliana konnte trotz ihres körperlichen Unwohlseins nicht anders, als über die Ausgelassenheit der Kinder zu schmunzeln. „Hallo, Liliana.“ „Hallo, Herrin.“ „Hallo, Tante.“, grüßten sie die Kinder und liefen lachend um sie herum. Es waren auch Selens Kinder darunter, die sie als einzige Tante nannten. Liliana blieb stehen, damit die Kinder an ihr vorbei laufen konnten. Eines der kleineren, ein Mädchen, nahm bei dem Versuch, einem seiner Spielkameraden auszuweichen, den Bogen um Liliana allerdings zu eng und stieß aus Versehen mit Lilianas Hüfte zusammen. Es war eine eigentlich harmlose Berührung, wie sie bei einer Schar Kinder immer wieder passieren konnte, doch kaum, das ihr Körper den Schlag registrierte, schoss eine Welle puren Schmerz Lilianas Rücken hinauf. Sie hatte das Gefühl, ein heißer Blitz kroch ihre Wirbelsäule hinauf und setzte anscheinend alle Nerven, die alle Nerven zum Brennen brachten. Nur mühsam konnte sie ein schmerzhaftes Aufkeuchen unterbinden, dennoch bemerkten die Kinder, dass es ihr nach dem Zusammenstoß nicht gut ging. Das kleine Mädchen sah sie erschrocken an. „Habe ich dir wehgetan?“, fragte sie verstört. Trotz des Schmerzes brachte Liliana ein Lächeln zustande. „Das war nicht schlimm. Kleines. Passt aber dennoch etwas besser auf, wo ihr herumtobt.“, schlug sie den Kindern vor. Diese stimmten alle zu, dann drehten sie sich um und liefen in Richtung des großen Saals, um dort weiterzutoben. Liliana hielt solange ihr freundlichen Lächeln und ihre aufrechte Körperhaltung inne, bis die Kinder außer Sicht waren, erst dann streckte sie ihre Hand aus und stützte sich mit einem schmerzhaften Zischen am Handlauf der Treppe ab. Nun brannte ihr ganzer Körper vor Schmerz, der auch nicht wirklich abflauen wollte. Sie biss ihre Zähne zusammen und setzte nun noch langsamer ihren Weg zu ihrem Schlafzimmer fort. Dort angekommen zog sie sich mühsam ihre Kleidung aus. Sie machte sich gar nicht erst die Mühe, sich ein Nachthemd überzuziehen, sondern legte sich mit nacktem Oberkörper auf ihr Bett. Es erschien ihr, als würde sich ihr Rücken etwas entspannen, als sie sich auf ihrem Bauch legte und sie seufzte leise und erleichtert auf, auch wenn der eigentliche Schmerz nicht verging. Ihr Atem ging leicht keuchend, doch sie zwang sich, sich weiter zu beruhigen. Sie versuchte sich zu erinnern, wo sie sich verletzt haben konnte, denn der Schmerz ließ auf eine Verletzung schließen. Doch es war in den vergangenen Tagen nichts gewesen, was diese Schmerzen gerechtfertigt hätte. So horchte sie einfach in sich hinein. Dies stellte sich als ungewöhnlich schwierig heraus, denn sie hatte das Gefühl, dass sie nicht wirklich auf ihre heilerischen Fähigkeiten zurückgreifen konnte. Und gleich als sie es versuchte stellte sie erschrocken fest, dass die Schmerzen stärker wurden. Sie unterließ weitere Versuche, doch sie konnte für einen kurzen Augenblick die eigentliche Quelle des Schmerzes erkennen. Das Siegel, welches die vergangenen Jahre vollkommen harmlos in ihr geruht hatte, schien nun hell in ihrem Innern zu brennen und verletzte mit diesem Brennen ihre Nerven. Sie versuchte nachzuvollziehen, wie viel Zeit mittlerweile vergangen war, seit sie das Siegel von seinem alten Wächter übernommen hatte. Je mehr sie darüber nachdachte, umso mehr wurde ihr klar, dass es sich bei diesem Brennen anscheinend um das zyklische Erwachen des Siegels handeln musste, von dem der alte Hüter gesprochen hatte. Ihr blieb also nichts anderes übrig, als den Schmerz zu erdulden. Sie lag schon einige Zeit vollkommen regungslos auf ihrem Bett, als jemand an ihrer Zimmertür klopfte. “Ja bitte.“, rief Liliana leise. Die Tür wurde geöffnet und Selen trat ein. „Hier bist du, ich suche dich schon die ganze Zeit.“, tadelte Lilianas Freundin ernst, bevor sie ihre Freundin erst richtig betrachtete. Sie erschrak, als sie sah, dass ihrer Freundin Schweiß auf der Stirn stand. „Was ist los, bist du krank?“ „Es wäre schön, wenn es einfach nur eine Grippe wäre.“, murmelte Liliana mit einem leichten Schmunzeln. Selen trat an ihr Bett und setzte sich zu ihr auf die Matratze. Doch kaum, dass sich diese neigte, schoss erneut eine Welle des Schmerzes durch Lilianas Körper und ließ sie gepeinigt aufstöhnen „Nicht, steh auf!“, keuchte Liliana auf, was bewirkte, dass ihre Freundin sofort aufsprang. „Was hast du“, fragte diese entsetzt und schlug die leichte Decke, die ihre Freundin sich mühsam übergeworfen hatte, zurück. Sie entdeckte darunter, dass die Haut ihrer Freundin gerötet war und sich der schmale Streifen mit dem Mal des Siegels leicht am bluten war. Außerdem erschien es ihr, als wäre dieser um ein gutes Stück größer geworden. Neben der Rötung konnte sie auch die Verfärbungen eines starken Blutergusses an Lilianas Hüfte erkennen, neben einigen weiteren, leichteren Schattierungen, die anscheinend von der Bettdecke verursacht worden war. „Gütiges Schicksal, Lilly. Dein Rücken sieht schlimm aus. Was hast du gemacht?“, keuchte Lilianas beste Freundin auf. „Ich? Gar nichts. Ich hatte doch erzählt, dass der alte Hüter etwas von einem zyklischen Erwachen des Siegels erzählt hat. Anscheinend ist das jetzt auch bei mir der Fall.“, erklärte Liliana durch ihre zusammengebissenen Zähne hindurch. „Wie sieht es denn aus?“ „Du hast etliche blaue Flecken auf dem Rücken. Anscheinend solltest du dich nicht bedecken. Dazu kommt ein schlimmer Erguss auf der Hüfte. Und ich habe das ungute Gefühl, dass das Mal auf deiner Wirbelsäule gewachsen ist. Außerdem sind die feinen Linien stark gerötet und bluten etwas. Bei allen Göttern, so etwas habe ich noch nie gesehen.“, erklärte Selen keuchend. Liliana drehte ihren Kopf wieder in ihr Kissen, als ihr Rücken nach der Erschütterung eine neue Welle des Schmerzes aufbaute. „Das glaube ich gerne.“, erklärte sie mit schmerzbelegter Stimme. „Wie schlimm ist es denn?“, fragte Selen besorgt. „Nicht so schlimm wie bei der Übernahme. Das wird schon wieder, Sel. Ich werde wohl nur eine Weile das Bett hüten müssen.“ Liliana drehte sich wieder leicht zu ihrer Freundin und bemühte sich um ein aufmunterndes Lächeln. „Wie kannst du bei so etwas nur so optimistisch sein?“, fragte Selen erschüttert. „Was bleibt mir denn anderes übrig? Es hilft auch nichts, wenn ich mit dem jammern beginne. Ich muss jetzt solange damit leben, bis ich das Siegel an den neuen dunklen Wächter übergeben kann. Und da ich das Ganze ja anscheinend nur alle fünf Jahre durchstehen muss, bin ich doch ganz zuversichtlich, dass ich das gut durchstehen werde.“, meinte Liliana nur. Selen sah ihre Freundin nachdenklich an. „Das du trotz allem, was du für den neuen dunklen Wächter bereits auf dich genommen hast, noch so optimistisch bist, ist mir ein gänzliches Wunder.“ Liliana seufzte leise und zeigte ihrer Freundin so mehr, als sie aussprach. „Das Siegel durfte nicht verloren gehen, Sel. Jetzt muss ich mit der ganzen Situation leben.“ „Für dieses Siegel verzichtest du auf eine eigene Familie und soweit ich dich verstanden habe, weißt du nicht, ob du es überleben wirst, wenn das Siegel übergeben wird. Ich an deiner Stelle würde verzweifeln.“, meinte Selen traurig. Liliana zitterte etwas, als eine neue Schmerzwelle ihren Körper erfasste, entspannte sich aber schnell wieder. „Ich habe in den vergangenen fünf Jahren so manche Stunde nachts wach gelegen und habe mit dem Schicksal gehadert, Sel, doch was bringt es? Ich muss damit leben, ob ich will oder nicht.“, gestand sie ihrer Freundin die bislang geheim gehaltene Tatsache. Sie hatte bislang noch niemandem gestanden, dass sie Angst vor ihrer Zukunft hatte. „Vielleicht kann dir der neue Kaiser ja helfen, wenn du das Siegel abgibst.“, hoffte Selen vorsichtig. „Ja, vielleicht.“, meinte Liliana wehmütig. „Aber darüber brauchen wir uns derzeit noch keine Gedanken machen, Sel. Zuerst müssen wir ihn finden. Und wir haben noch nicht einmal einen Hinweis darauf, worauf wir achten müssen, um ihn zu finden.“ Sie zitterte wieder vor Schmerz. Behutsam legte Selen ihrer Freundin die Decke auf ihre Beine und zog sie bis unter deren Gesäß hinauf. „Ich weiß, dass klingt jetzt abgedroschen, aber versuch dich trotz aller Schmerzen auszuruhen. Sorg dich nicht um das Haus oder uns. Wir achten auf alles.“ Liliana schenkte ihrer Freundin ein wehmütiges Lächeln. „Mache ich. Tut mir leid, dass ich dir immer solche Sorgen bereite, Sel.“ Nun musste auch Selen lächeln. „Wo machst du mir denn Sorgen, Liebes? Wir wussten doch von Anfang an, dass du eine schwere Aufgabe zu bewältigen haben wirst und dafür schlägst du dich doch sehr gut. Du schulterst all die Sorgen und Nöte der Bewohner auf deinen Schultern und nimmst uns so viel ab. Da ist es nur Recht, wenn wir dich an Tagen wie diesem auch einmal unterstützen. Ruh dich aus. Ich sehe zwischendurch immer mal wieder nach dir.“ Sie beugte sich zu ihrer Freundin herunter und küsste sie behutsam auf die Stirn, dann verließ sie das Zimmer. Liliana lag wach auf ihrem Bett und versuchte, die stillen Nachtstunden so gut wie möglich vorbeiziehen zu lassen. Seit Beginn der Schmerzen waren schon über zwei Tage vergangen und sie fühlte sich vollkommen zerschlagen. An ihrem Bett standen viele Vasen mit schönen Herbstblumen und eine große Auswahl an Kinderzeichnungen lag auf ihrem Nachttisch. Die Bewohner bemühten sich redlich, ihr eine Freude zu machen und kamen immer wieder in ihr Zimmer, um sie mit Gesprächen von ihren Schmerzen abzulenken. Doch nun, da alle Bewohner sich zur Ruhe gelegt hatten, lastete die Stille des Hauses schwer auf ihrem Gemüt. Seufzend versuchte sie ihren Kopf zu drehen, damit sie wenigstens den Nachthimmel betrachten konnte. Die Stunden zogen weiter voran und langsam legte sich eine bleierne Schwere auf ihre Gedanken. In Erwartung, nun doch etwas schlafen zu können, seufzte sie erleichtert auf und schloss ihre Augen. Sie erwachte in einem Bett, welches ihr vollkommen unbekannt war. Mühelos hob sie ihren Kopf und sah sich verwirrt um. Der Raum, der sie umgab, war kostbar eingerichtet. Ihr Blick fiel auf kunstvoll geschnitzte Möbel und viele weiche Kissen, die vor ihrem Lager auf dem Boden lagen. Verwundert erhob sie sich und stellte fest, dass sie in ein langes weißes Kleid gehüllt war. Ihr kam es so vor, als würde sie schweben, als sie sich bewegte. Ihr Blickfeld war seltsam in weißen Nebel gehüllt und gab nicht viel von dem preis, was sich vor ihr befand. Zielstrebig verließ sie den Raum, in dem sie aufgewacht war und sah sich neugierig um. Viele Personen, die sie nur als flüchtige Schatten an sich vorbeiziehen sah, traf sie auf dem Flur vor dem Raum. Sie alle drehten sich zu ihr um, als sie sie bemerkten. Zuerst war sie ängstlich, weil sie sowenig erkennen konnte, doch die Personen um sie herum schienen ihr allesamt freundlich gesinnt, denn sie grüßten sie und gaben ihr den Weg frei. Unbehaglich folgte sie dem Gang, bei dem sie seltsamerweise den Weg kannte und versuchte ihre Umgebung weiter zu erkennen. Doch es gelang ihr nicht wirklich. Das Schweigen, welches ihr während ihres Weges entgegen schlug war ihr unheimlich, doch sie konnte ihre aufkommende Angst unterdrücken. Sie bog um eine Ecke und stieß auf eine große, doppelflüglige Tür, an der zwei Wachen standen. Beide verneigten sich vor ihr, als sie sie erblickten und öffneten ihr sofort die Tür. Sie dankte ihnen mit einem freundlichen Nicken und durchschritt die Tür. Der Raum hinter der Tür war ebenso kunstvoll ausgestattet wie der Raum, in dem sie aufgewacht war. Sie konnte verschwommen einen großen Brunnen erkennen, der mit blühenden Pflanzen geschmückt war. Soweit sie erkennen konnte standen Pflanzen im Innern dieses Raumes. Diese Vermutung bestätigte sich auch, als sie auf den Boden sah, über den sie barfuss lief. Ihre nackten Füße sanken in weiches Moos ein, der den Boden bedeckte. Verwundert hob sie wieder ihren Kopf und berührte flüchtig die Blätter eines Baumes, unter dem sie entlang ging. Ihr Weg führte sie in die Mitte des Raumes, wo sich ein großes, steinernes Becken befand. Hier erkannte sie, dass jemand stand, eine recht große Person mit dunklen Haaren, die auf die Oberfläche des Beckens sah. Als sie auf fast fünf Meter an diese Person herangetreten war, hob die Person ihren Kopf und sah sie direkt an. Es war ein Mann mit langem, glatten, schwarzen Haar und heller Haut. Sein Gesicht war so ebenmäßig wie sie es nur sehr selten bei sehr schönen Frauen gesehen hatte, doch obwohl er viel Ähnlichkeit mit einer Frau hatte wusste sie mit Sicherheit, dass er ein Mann war. „Ah, endlich seid ihr erschienen.“, bestätigte seine angenehm dunkle Stimme, die sie in ihrem Kopf hörte. Verwundert sah sie ihn an. „Ihr erwartet mich?“, fragte sie zur Sicherheit nach. Er lächelte und nickte. Liliana fiel auf, dass er wundervolle, silberne Augen hatte. „Schon seid geraumer Zeit. Doch ich weiß, dass euer Weg hierher weit gewesen ist. Kommt, legt eure Hände auf das Becken. Dann werdet ihr euch wohler fühlen und ich kann euch besser sehen.“, bat er sie sanft. Gehorsam tat sie, wie ihr geheißen wurde und konnte sofort, als sie dies getan hatte, den kühlen Stein unter ihren Fingerspitzen spüren. Sie betrachtete das Becken, welches jetzt viel klarer zu erkennen war, dann sah sie überrascht auf. Auch der Mann, der vor ihr stand, war nun ganz klar zu erkennen. Er war in eine Art Anzug gekleidet, der farblich zu seinem Haar passte und er trug einen silbernen Halsreif mit einem runden Medaillon, in dessen Mitte ein dunkelblauer Stein befestigt war, der geheimnisvoll schimmerte. „Jetzt besser?“, fragte er sanft telepatisch. Sie nickte verwirrt. „Hab keine Angst, junge Wächterin. Es geschieht euch nichts.“, versuchte er sie zu beruhigen. „Wer seit ihr?“, fragte sie dennoch beunruhigt. „Das werdet ihr noch herausfinden. Doch seit beruhigt, ich möchte euch nur etwas helfen, damit ihr eure Aufgabe leichter angehen könnt. Ich kann spüren, dass die Aussicht auf eure Zukunft und die Aufgabe, die ihr zu bewältigen habt, schwer auf euch liegt.“, antwortete er ihr mit einem sanften Lächeln. „Ihr kennt meine Aufgabe?“, fragte sie vorsichtig nach. Er lachte leise. „Aber natürlich. Ihr sollt den neuen dunklen Wächter erwählen und ihm das Kaisersiegel übergeben, das euch derzeit so sehr quält.“ Sein Blick wurde traurig, als er dies sagte. „Ich spüre, wie es euch zusetzt und ich bedauere das sehr. Ich wünschte, ich könnte euch dies ersparen.“ Seine plötzliche Traurigkeit versetzte ihr einen Stich. „Es tritt ja nur sehr selten auf, macht euch deswegen bitte keine Sorgen.“, versuchte sie ihn zu beruhigen. Er lächelte wieder, doch sie konnte sehen, dass seine Augen traurig blieben. „Ich habe euch hierher gerufen, damit ihr einen Blick in dieses Becken werft. Es wird euch einen Blick darauf geben, was sein wird. Ihr seit wie ich der Voraussicht mächtig, junge Wächterin, deswegen wird es euch mit meiner Hilfe etwas Klarheit schenken können.“ Er umrundete das Becken und stellte sich neben sie, ohne sie zu berühren. „Was muss ich tun?“, fragte Liliana verwirrt. „Seht einfach auf das klare Wasser und formuliert eure Bitte, dass der magische Spiegel euch die Identität des neuen dunklen Wächters enthüllen soll. Ich werde euch die Bedeutung erklären, die ihr seht.“, erklärte er freundlich. Liliana nickte und betrachtete das klare Wasser in dem Becken, dann richtete sie ihre Gedanken auf das Wasser. „Bitte, gewährt mir Einsicht auf den künftigen dunklen Wächter und Kaiser des dunklen Reiches, damit ich weiß, wen ich wählen und wo ich suchen muss.“, bat sie innig. Das Wasser vor ihr blieb einen Augenblick, wie es war, dass trübte es sich ein und wurde dunkel. Irritiert wollte sie den schwarzhaarigen Mann ansehen. „Nicht. Lös den Blick nicht von dem Wasser.“, befahl er ihr streng in ihrem Kopf, noch bevor sie sich bewegen konnte. Gehorsam ließ sie ihren Blick auf dem Wasser ruhen, welches in seinen dunklen Tiefen ein undeutliches Bild erscheinen ließ. Sie konnte nicht viel erkennen, nur eine undeutliche Gestalt bildete sich heraus. Kurz fiel ihr Blick auf die Hand dieser Person, an der eine Art Siegelring aufblitzte. Da das Bild schnell wieder verblasste, versuchte sie sich so viele Einzelheiten der Vision einzuprägen, wie sie konnte. Die Peron war groß und hatte langes Haar, doch sie konnte die Farbe nicht erkennen. Er trug anscheinend ein Schwert an seiner Seite und auch seine Gestalt erschien ihr, als wäre er ein erfahrener Kämpfer. Die Vision verblasste immer schneller, bis sie schließlich vollkommen verschwunden war. Liliana starrte verzweifelt weiter auf das Wasser, doch es klarte wieder auf. „Ich konnte nicht viel erkennen.“, erklärte sie leise und bedauernd und drehte sich zu dem Mann neben sich um. Sie erschrak, als sie in seine Augen sah, die starr geweitet waren. Er glich mit diesem Blick ihrem Vater, als er eine Prophezeiung machte. „Der neue dunkle Wächter ist der geborene Fürst einer vergessenen Rasse.“, erklang seine Stimme in ihrem Kopf. Sie erschien ihr ein wenig entrückt, ähnlich, wie sie es noch von ihrem Vater kannte. Sein Blick klarte sich schnell wieder auf und er blinzelte für einen Moment verwirrt, dann sah er sie an. „Habt ihr alles verstanden?“, fragte er ernst nach. Liliana nickte. „Möchtet ihr, dass ich eure Prophezeiung wiederhole?“, fragte sie nach. Er schüttelte den Kopf. „Diese Voraussage ist nur für euch bestimmt.“ Er lächelte wieder, dann hob er seine Hand und wollte sie an ihre Wange legen. Er berührte sie aber nicht, dennoch glaubte Liliana, die Wärme seiner Hand zu spüren. „Verzweifelt nicht. Auch für euch wird es sicherlich eine Zukunft geben. Ich werde alles daran setzen, dass eine Lösung für euch gefunden wird. Und nun geh, Kind.“ Sie blickte noch einmal in seine silbernen Augen, dann verschwamm alles um sie herum. „Wartet. Wie ist euer Name?“, rief sie aus, bekam aber nur noch ein Lächeln von ihm, dann verwandelte sich ihre Sicht in undurchsichtiges Weiß. Keuchend holte sie Luft, als sie wieder klar sehen konnte. „Dem Schicksal sei Dank, du bist wieder bei uns.“, hörte sie Selens Stimme und sah ihre Freundin verwirrt an. „Was ist passiert?“, fragte sie irritiert. „Du hattest soeben eine Vision, Liebes. Deine Augen waren weit geöffnet und die Zeichen auf deinen Armen leuchteten, aber wir konnten nicht zu dir durchdringen. Du hast uns damit einen gehörigen Schrecken verursacht.“, meinte ihre Freundin und streichelte ihrer immer noch starr auf dem Bauch liegenden Freundin über die schweißnasse Wange. „Sie hat euch Grünschnäbel in Angst und Schrecken versetzt.“, hörte Liliana die leicht empörte Stimme ihrer Haushälterin und schmunzelte leicht, als diese sich neben Selen drängte. Sie hielt bereits ein großes Glas mit Wasser in der Hand, in welches sie einen Strohhalm gesteckt hatte. „Hier, das wird dir gut tun.“, meinte sie freundlich zu Liliana. Dankbar nahm sie den dargebotenen Strohhalm zwischen ihre Lippen und saugte gierig das kühle Wasser in sich hinein. „Ich hoffe, deine Vision war nicht allzu unangenehm.“, redete die Haushälterin leise auf sie ein. Liliana schüttelte leicht den Kopf. „Nein, keine Sorge. Ich habe für mich eine sehr wichtige Information erhalten.“, erklärte sie, nachdem sie das Wasser vollständig ausgetrunken hatte. „Noch eins?“, fragte die Haushälterin freundlich. „Ja bitte.“ Sie füllte das Glas wieder mit Wasser aus einer bereitstehenden Karaffe. „Und inwieweit war die Information wichtig für dich?“, fragte die Haushälterin weiter. „Ich weiß jetzt, dass der zukünftige dunkle Wächter ein Fürst ist, ein geborener Fürst, um genau zu sein. Auch wenn ich mit dieser Formulierung wie mit einer anderen nicht wirklich etwas anfangen kann.“, dachte Liliana matt nach. „Und was war das für eine Formulierung?“, fragte Selen interessiert nach. Liliana dachte noch einmal an denjenigen, der sie für sie ausgesprochen hatte und fragte sich erneut, wer er war und wieso sie bei ihm eine seltsame Verbundenheit gespürt hatte. „Die Prophezeiung lautete: Der neue dunkle Wächter ist der geborene Fürst einer vergessenen Rasse. Auch wenn ich damit nicht wirklich etwas anfangen kann.“, gab sie zu. „Hm.“, überlegte die Haushälterin, während sie Liliana den Strohhalm wieder an die Lippen hielt. „Ich würde mal vermuten, dass ein geborener Fürst nur bedeuten kann, dass dessen Vater oder Vorgänger zum Zeitpunkt seiner Geburt bereits verschieden war. Das erscheint mir auf jeden Fall logisch.“ „Und was soll dann das mit der vergessenen Rasse bedeuten?“, fragte Selen kritisch. „Woher soll ich das wissen? Kenne ich mich mit den Gepflogenheiten des Dunklen Volkes aus?“, grollte die Haushälterin leise, dann setzte sie sich neben Lilianas Bett auf einen Stuhl. „Bitte, streitet euch nicht.“, bat Liliana die beiden leise. „Wir streiten doch nicht.“, meinte Selen gleich freundlicher und strich ihrer Freundin beruhigend durch das helle Haar. „Ich habe mir nur solche Sorgen gemacht. Du weißt, dass ich dann auf niemanden mehr höre. Sie sagte mir zwar, dass es ganz normal wäre, dass du während einer Vision nichts mehr wahrnehmen kannst, dennoch hatte ich Angst um dich.“ Liliana warf ihrer Freundin ein erschöpftes Lächeln zu. „Stimmt, du warst ja noch nie mit dabei, wenn ich in so etwas unterwiesen wurde. Die einzige Vision, die ich bislang hatte, hatte ich ja auch nur in Beisein unseres lieben Hausvorstands.“ Die Haushälterin warf ihrer Herrin ein sanftes Lächeln zu. „Wir hätten den anderen Bewohnern schon noch zu Lebzeiten eures lieben Vaters darüber informieren sollen, wie es sich äußert, wenn der Wächter eine Vision hat. Dann wäre Selen heute nicht so in Panik ausgebrochen.“ Selen sah die Haushälterin wütend an, unterließ es aber, schnippisch darauf zu reagieren. Liliana ergriff die Hand ihrer Freundin und drückte sie sanft. „Ist schon gut, Sel.“, meinte sie nur beruhigend und bemerkte, dass ihr so langsam die Augen zu vielen. Der Schmerz in ihrem Rücken war nicht mehr so stark und die Vision hatte ihr auch ein wenig zugesetzt, weshalb jetzt die Müdigkeit in ihr Überhand nahm. „Schlaf jetzt, Liebes. Sicher wird es dir danach besser gehen.“, schlug die Haushälterin vor, dann nahm sie Glas und Karaffe auf, beugte sich noch einmal zu Liliana, um ihr auf die Stirn zu küssen, bevor sie das Schlafzimmer verließ. „Manchmal bringt sie mich einfach mit ihrer ruhigen Erhabenheit auf die Palme.“, grollte Selen der Haushälterin hinterher, was Liliana leise lachen ließ. „Ich weiß. Aber ich möchte nicht wissen, wie du agieren wirst, wenn du einmal in ihrem Alter bist, Sel.“ „Möge das Schicksal mich davor bewahren, ihr ähnlich zu werden.“, bat Selen inständig.“ Auch sie küsste Liliana behutsam auf die Stirn. „Schlaf jetzt, Liebes. Vielleicht geht es dir beim Aufwachen schon wieder besser.“ Liliana nickte nur matt und schloss auch gleich ihre Augen. Schon mit dem Schließen der Schlafzimmertür war sie fest eingeschlafen. Vier Tage später war Liliana wieder vollständig hergestellt und sie konnte sich ohne irgendwelche Beschwerden bewegen. Sie begab sich nach einem ausgiebigen Frühstück auf direktem Weg in die Bibliothek, wo sie als allererstes ihre persönlichen Erfahrungen während der aktiven Phase des Siegels niederschrieb. Danach begab sie sich auf die Suche nach den unterschiedlichen Völkern des Dunklen Reiches, um vielleicht hieran etwas über sogenannte vergessene Völker herauszufinden. Mit dieser Suche befasste sie sich beinahe drei Tage, bevor sie mit einem frustrierten Schnauben das letzte Buch schloss und sich in ihrem Sessel zurücklehnte. „Was meinst du zu dem ganzen?“, fragte sie das Tor, während sie unzufrieden auf den Stapel Bücher vor sich sah. Sie konnte nicht wirklich behaupten, dass ihr ihre Suche überhaupt irgendetwas gebracht hatte. Sie hätte noch nicht einmal nennenswert objektive Fakten über die einzelnen Völker und Clane benennen können. In keinem der Bücher hatte sie irgendeinen Hinweis über ein Volk finden können, welches zuerst existiert hatte, aber dann einfach verschwand. Wenn einmal ein Clan ausgelöscht worden war, wurde dieser in der Dunklen Welt als „Verloren“ bezeichnet und es wurde ihnen in den Chroniken immer gedacht. Doch nirgends konnte sie Hinweise entdecken, dass eine komplette Rasse einfach verschwunden war. „Es wird schon seine Gründe haben, dass man von einem vergessenen Volk spricht, Liebes.“, kommentierte das erscheinende Tor Lilianas Dilemma sanft. „Aber es hilft mir nicht wirklich voran.“, sagte Liliana frustriert und strich sich müde über das Gesicht. „Vielleicht solltest du da weitermachen, wo dein Vater vor Jahren aufgehört hatte.“, schlug das Tor vorsichtig vor, was Liliana sofort erschrocken erstarren ließ. Erst nach einigen Augenblicken drehte sie sich zu dem ihr im Rücken befindliche Tor um. „Du meinst allen Ernstes, dass ich ins Dunkle Reich reisen soll?“, fragte sie trotz allem noch einmal nach. „So wie es derzeit aussieht ist das die einzige Option, die wir derzeit haben.“ Lilianas Atem beschleunigte sich ängstlich, als sie den Gedanken an eine Reise in das Dunkle Reich zuließ. „Mein Vater hat seine Reise fast mit seinem Leben bezahlt und es gibt keinen geheimnisvollen Retter mehr, der mir im Fall eines Notfalls zu Hilfe eilen könnte.“, erinnerte sie das Tor. „Das ist mir sehr wohl bekannt, Lilly, aber wir werden keine andere Möglichkeit haben. Wie willst du jemanden erwählen, wenn du dir die in Frage kommenden Fürsten nicht mit eigenen Augen ansiehst und dann entscheidest?“ Liliana senkte ihren Kopf, denn sie wusste, dass das Tor Recht hatte. So oder so musste sie eines Tages alle Fürsten betrachten und dann ihre Wahl treffen. Sie hatte zwar ungeheuere Angst, doch sie wusste sehr wohl, dass sie sich dieser eines Tages würde stellen müssen. „Ich bin anscheinend ein riesiger Feigling, weil ich diese Aussicht immer verdrängt habe, oder, Tor?“, fragte sie leise. „Nein, dass bist du nicht, Lilly. Ich kann dich durchaus verstehen. Du hast nur die negativen Eigenschaften dieses Volkes erlebt. Wie sollst du da keine Angst haben? Aber ich kann dir versichern, dass nicht alle Bewohner der dunklen Seite Feinde deines Hauses sind. Deine Familie war und ist sehr angesehen.“ „Aber warum konnte es dann geschehen, dass ein Torwächter gefangen genommen und gefoltert wurde?“, fragte sie das Tor bitter und betrachtete das silbrige Schimmern verzweifelt. „Das kann ich dir nicht sagen. Noch kann ich erklären, woher der grenzenlose Hass kommt, den Lord Minan anscheinend gegenüber den Wächtern hegt. Wahrscheinlich werden wir das niemals ergründen können.“ Liliana seufzte und dachte einige Zeit darüber nach, was das Tor ihr soeben gesagt hatte. Nach einiger Zeit lehnte sie ihren Kopf auf der Stuhllehne zurück und betrachtete die Zimmerdecke, ohne sie wirklich wahrzunehmen. „Wenn dem so ist, dass ich eh in das Dunkle Reich reisen muss, dann kann ich mich eigentlich auch gleich auf den Weg machen. Je länger ich es herauszögere, desto größer wird meine Angst werden.“, murmelte sie leise. „Du solltest dir aber eine gute Strategie zurechtlegen, Liebes. Du darfst nicht vergessen, dass du die Sprache des Dunklen Volkes nicht sprichst, sondern nur lesen kannst. Die Bewohner verstehen und sprechen zwar die deine, aber sie würden sofort wissen, wer du bist, wenn du mit ihnen sprechen würdest.“, riet ihr das Tor. Liliana nickte langsam. „Du hast Recht. Diese Reise sollte auf keinen Fall unüberlegt und überstürzt getan werden. Ich sollte mich auf jeden Fall gut vorbereiten.“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)