Vermächtnis vergangener Zeiten von Sonna-Eraseus ================================================================================ Kapitel 1: Vermächtnis vergangener Zeiten ----------------------------------------- Titel: Vermächtnis vergangener Zeiten Autorin: me ^^ Rating: PG-16 Länge: ca. 12.000 Wörter Warnung: angst / death (allerdings keine der Hauptfiguren … nur so vorweg ^^) Fantasy Inhalt: Einst war Atenia ein blühendes Land, Menschen und Naturgeister lebten einträchtig miteinander. Doch dann verschwand der Frieden und Atenia zerfiel durch den ausgebrochenen Krieg in die Neun Königreiche. Azura steht seit Jahren mit den acht Nachbarreichen im Krieg, das Volk leidet Hunger und Not. Die Lage scheint ausweglos, vor allem als sich rätselhafte Ereignisse häufen, doch sie finden einen Verbündeten, mit dem niemand gerechnet hätte … Kommentar: Ursprünglich war diese Geschichte für den 7. Wettbewerb auf dem ADB geplant. Beim Schreiben hat sich die Story allerdings so verselbständigt, dass sie bereits im unfertigen Zustand die zulässige Seitenzahl überschritten hat. Aus diesem Grund habe ich für den Wettbewerb eine andere Story geschrieben und diese hier jetzt beendet, wo ich mich austoben konnte, was die „Begrenzung des Inhaltes“ angeht ^^ - auch wenn ich mich wieder hauptsächlich auf einen Haupt-Hauptcharakter konzentriert habe … das muss ich irgendwie auch noch mal in den Griff bekommen … Beta-Dank: geht diesmal an Antheon, der die Story wirklich bis auf die Grundfeste auseinander genommen hat und mir so manchen Fehler unter die Nase gehalten hat ;-P Claimer: Charaktere und Orte gehören mir! Die Fabelwesen entstammen allein der Mythologie – glaube ich zumindest – weswegen ich diese Rechte leider nicht besitze … *schnuff* ---------- Vermächtnis vergangener Zeiten Für meine Mama, die uns leider viel zu früh verlassen musste, die ich unendlich vermisse und von der ich meine Begeisterung für Geschichten habe. 15. Juni 2009 ~*~ # im Jahre 30 von Tyasurs Herrschaft # Die Nacht legte sich wie ein schwarzer Schleier über die Hauptstadt und wandelte das sonst so rege, lebhafte Treiben des Tages in eine geheimnisvolle, stille Atmosphäre. Schatten huschten durch die Straßen, immer auf der Flucht vor den patrouillierenden Soldaten. Begegnete man diesen, war es sicher, den Rest der Nacht im königlichen Verließ verbringen zu dürfen. Fackelschein huschte über die Türen und Fensterläden, begleitet vom leisen, rhythmischen Stampfen der Schritte. Ab und an erklang ein gezischter Befehl, die Schrittfolge änderte sich und die Schatten blieben in den engen Gassen wie angewurzelt stehen, stellten das Atmen ein, solange bis die Patrouille an ihnen vorübergezogen waren. Nacht für Nacht dasselbe Geschehen: Die Menschen dieses Landes, angetrieben von Wut und Machtlosigkeit, wollten und konnten nicht mehr tatenlos mitansehen, wie ihr König das Reich unerbittlich in den Krieg trieb. Was genug war, war genug. All dies war vom Schloss aus natürlich nicht zu sehen – und doch war die Anspannung auch hier nur zu deutlich zu spüren. Soldaten hielten vor den Toren Wache, patroulierten auf den Zinnen. Durch das Fenster blickte er auf die Stadt herab. Kein Licht brannte im Zimmer, einzig das silbrige Mondlicht erhellte ein klein wenig die Nacht. Wie schon die letzten Tage stand er seit Anbruch der Dunkelheit hier, den Kopf an die kalte Mauer gelehnt, und ließ seine Gedanken treiben. Einige Strähnen des blonden Haars fielen ihm ins Gesicht, doch nahm er davon keine Notiz. Stundenlang rührte sich Varant nicht von der Stelle. Etwas in ihm fühlte sich wie vereist an, seit er die letzten Versteinerungen mit angesehen hatte. Diese Tat des Königs war der Tropfen, der das Fass zum überlaufen gebracht hatte. Er sehnte sich den morgigen Tag herbei, an dem wohl endlich alles ein Ende finden würde. Er hoffte es so sehr. Zu lange hatte Varant tatenlos mit angesehen, wie das Königreich Azura und seine Bewohner dem drohenden Ende entgegengingen. Irgendwann hatte er aufgehört zu zählen, wie viele von ihnen reglos in der Großen Halle standen, hatte gelernt, mit regungslosem Blick an ihnen vorbeizugehen. Wie König Tyasur es schaffte, sie alle zu versteinern, wusste er nicht. Oft genug war er dabei gewesen, doch nie war ihm etwas eingefallen. Die einzige Erklärung, die er hatte finden können, war einfach zu fantastisch, um wahr zu sein. Varant seufzte leise. ~~ # im Jahre 17 von Tyasurs Herrschaft # Mit Erstaunten in den roten Augen blickte der blonde Junge zu seiner Mutter hinauf. „Wirklich?“, fragte er mit seiner kindlichen Stimme, die in dem großen, fast leerstehenden Raum des Schlosses widerhallte. „Das hat es früher alles gegeben?“ „Ja, so erzählt man es sich“, erwiderte sie lächelnd. Die langen blonden Haare, die im Licht der Sonne in allen erdenklichen Schattierungen leuchteten, fielen ihr glatt über den Rücken, umrahmten ihr zierliches Gesicht. Sie besaß die gleichen Augen wir ihr Sohn. Ein intensives, lebendiges Feuerrot, das von Innen heraus zu leuchten schien. „Vor langer Zeit, so lange schon, dass schon keiner mehr genau weiß, wann, war Atenia noch nicht in die Neun Königreiche aufgespalten. Damals war dies eine wunderschöne Welt und bevölkert von den wundersamsten Geschöpfen, die du dir nur vorstellen kannst. Es gab die Elben, die den Menschen unglaublich ähnelten, doch konnten sie mit den Tieren und Pflanzen sprechen und wo sie lebten, lebten sie mit der Natur im Einklang. Die vielen Seen mit ihrem glasklaren Wasser waren die Heimat der Wasserfrauen, die den Menschen Schutz und Segen spendeten. Drohte Gefahr vom Großen Meer, warnten diese Wassergeister die Menschen, die an der Küste lebten, vor ebendieser. In den Wäldern wohnten die Faune. Diese Waldgeister, halb Mensch, halb Ziege, beschützten die Bauern und Hirten bei ihrer Arbeit und brachten verirrtes Weidevieh zur Herde zurück. Sie liebten die Musik und waren meist mit einer Flöte anzutreffen, wobei ihr Spiel betörend schön gewesen war und alle Wesen liebten es, ihnen dabei zuzuhören. Dann waren da noch die Feen, die stets vom reinen Glück umgeben gewesen waren. Stets heiter und fröhlich, liebten sie das Tanzen und alterten niemals. Kindern und Neugeborenen bescherten sie außergewöhnliche Gaben und bestimmten so deren Schicksal. Und das bekannteste und seltenste Wesen von allen: das Einhorn. Auf dem ersten Blick einem Pferde gleich, mit einem Horn auf der Stirn, war sein Wesen doch viel edler und gütiger als das eines Pferdes. Sie lebten verborgen vor den Augen der Menschen in den tiefsten Wälder und zeigten sich, wenn überhaupt, nur Menschen mit einem reinen Herzen.“ Der lebhafte Sechsjährige, vollkommen fasziniert von ihren Erzählungen, blickte mit wachsender Begeisterung zu seiner Mutter hinauf. In seiner Fantasie sah er Atenia vor sich, wie es einst gewesen sein musste. Er meinte, das Flötenspiel der Faune zu hören, leises Wiehern eines Einhorns, die sanfte Stimme eines Elben, wie dieser mit den Tieren sprach, sah die Feen im Licht des Sonnenuntergangs tanzen. „Und warum gibt es diese Wesen heute nicht mehr?“ Der Wunsch in ihm wuchs, diese Welt zu sehen. In ihr zu leben. Eine Welt, in der alle Wesen glücklich waren. „Nun, dafür gibt es keine genaue Erklärung. Es wird erzählt, dass wir Menschen daran schuld sind. Im Gegensatz zu diesen naturverbundenen Wesen sah der Mensch die Natur immer als ihm Untertan an. In den alten Geschichten heißt es, dass, als dieser Zustand besonders schlimm geworden war, die Naturgeister es hier in Atenia nicht mehr ausgehalten haben und sich jenseits des Großen Meeres eine neue Heimat gesucht haben. Mit ihnen ist auch der Frieden aus dieser Welt verschwunden.“ Die Königin klang traurig, als sie ihrem Sohn diese Geschichte erzählte. Wie oft hatte sie die alten Geschichten gelesen? Abgegriffen sind die Seiten der Bücher, die in ihrem Regal standen, manche Titel waren bereits nicht mehr zu entziffern, so oft war mit den Fingerspitzen sanft darübergestrichen worden. Wie oft überkam sie beim Lesen eine Traurigkeit, die sie sich nicht erklären konnte? Auf eine seltsame Art und Weise fand sie es schade, dass diese Welt nur eine Legende sein sollte. „Und was geschah dann?“ Varant blickte zu seiner Mutter hoch, bemerkte eine Traurigkeit in den Tiefen ihrer Augen, die er neben seiner Begeisterung für jene Wesen mit ihr teilte. Diese Welt, von der seiner Mutter mit so viel Wehmut sprach, hätte er nur zu gerne gesehen. Es musste schön sein, dort gelebt zu haben. Sie erwiderte seinen Blick, der dieselbe Traurigkeit widerspiegelte, die sie selbst empfand. Ach Varant, du wirst es in dieser Welt nicht leicht haben, fürchte ich. „Varant, neben all diesen friedlichen und gutherzigen Geschöpfen lebten auch boshafte Wesen in Atenia. Spriggans, kleine und hässliche Wesen, raubten Säuglinge aus der Wiege und ließen dafür eines ihrer Kinder zurück. Die Menschen wurden von schrecklichen Albträumen und unvorstellbarem Grauen heimgesucht, dass ihnen von den Nachtmahren gebracht wurde, kleinen schwarzen Wesen, die durch jedes noch so winzige Loch in die Häuser drangen. Wassermänner, männliche Wassergeister, die mit ihrem Harfenspiel junge Mädchen zu sich ins Wasser lockten und ihre Seelen dort festhielten. Das gefährlichste Wesen unter ihnen aber war der Basilisk. Wer dem ‚Gott der Schlangen‘ begegnete und ihm in die Augen blickte, erstarrte zu Stein.“ Zu dem Wechselspiel aus Begeisterung und Traurigkeit in Varants Blick hatte sich nun eine weitere Emotion gesellt: der Schrecken. Dass es solche Wesen geben sollte … „Keine Angst, Varant“, strich sie ihm beruhigend durch das Haar. „Diese Wesen existieren nicht mehr. Du brauchst dich nicht zu fürchten.“ Augenblicke vergingen, in denen sie auf eine Erwiderung ihres Sohnes wartete, doch als Varant keine Absicht diesbezüglich erkennen ließ, fuhr sie mit leiser Stimme fort. „In den alten Geschichten heißt es, dass mit dem Weggang der Elben und der gut gesinnten Naturgeister die boshaften Kreaturen einfielen und die Menschen überrannten. Diese wehrten sich und der Krieg brach aus. Kein Ort in Atenia, der davon unberührt blieb. Letzten Endes siegten die Menschen, weil sie in der Überzahl waren, doch forderte der Krieg seine Opfer. Kein Mensch, der nicht gezeichnet worden war. Und auch das Gesicht Atenias hatte sich geändert. Aus den einst bis zum Horizont reichenden grünen Wiesen wurden Stein- und Sandwüsten, die Wälder verdorrten, Seen und Flüsse trockneten aus. Atenia wurde zu der Welt, die sie heute ist: ein Land, in Neun Königreiche zerfallen und Großteils von Stein und Sand bedeckt.“ Die Stimme der Königin ebbte zu einem leisen und traurigen Flüstern ab. Varant blickte aus dem Fenster Richtung Himmel und hing seinen Gedanken nach ... ~~ # im Jahre 19 von Tyasurs Herrschaft # „Mama, Mama!“, schrie der Junge aus Leibeskräften. Er rannte den Weg zum Fluss hinunter, vorbei an den Bediensteten und Soldaten, deren leises Getuschel und die betroffenen, traurigen Blicke er nicht wahrnahm. „Mama!“ Nach Luft ringend, blieb er wie versteinert am Ufer stehen, blickte auf den leblosen Körper seiner Mutter herab. Die Beine hingen noch im Wasser, das an ihrem ehemals leuchtend blauen Kleid zog, die Haare klebten ihr nass im Gesicht. Der Anblick wollte ihm schier das Herz zerreißen und seine Knie gaben nach. „Mama ...“, wisperte er so leise, dass der Wind seine Worte fortzerrte und streckte die Arme nach ihr aus. „Mach die Augen auf ...“ Doch das tat sie nicht. Tränen brannten in seinen Augen und bahnten sich ihren Weg über sein Gesicht. Vielleicht war er erst acht Jahre alt, die Bedeutung dessen verstand er aber sehr genau. Nie wieder würde er ihr sanftes, beruhigendes Lachen hören, nie wieder in ihre vor Leben leuchtenden Augen blicken. Ein stechender Schmerz in seiner Brust, ein Feuer, das ihn von innen heraus versengte. „Mama ...“ „Bringt den Jungen hier weg.“ Eine Stimme durchschnitt die Luft, der man anhörte, dass sie keinen Widerwillen duldete, und erstickte das Getuschel augenblicklich. Meister Nock trat auf die Soldaten zu und gab ihnen Befehle. „Bringt den Jungen auf sein Zimmer zurück und kümmert auch um die Königin. Los.“ Die Soldaten nickten eifrig und setzten sich in Bewegung. Einer trat auf Varant zu, hob den Jungen hoch und ignorierte das Geschrei des Jungen sowie dessen erfolglose Versuche, sich zu wehren. Als er an Nock vorbeigetragen wurde, blickte Varant den engsten Vertrauten seines Vaters wütend an, die Hände zu Fäusten geballt. Er hatte diesen alten Mann noch nie gemacht. Die nachtschwarzen Augen besaßen einen eigentümlichen Glanz, der ihn immer wieder abgrundtiefe Angst verspüren ließ. Nock blickte ihnen nach und strich sich eine graue Haarsträhne aus dem Gesicht. Dieses Hindernis wäre beseitigt. Jetzt muss sich der Junge nur noch für unsere Seite entscheiden. ~~ Vor ihm befand sich der geschlossene Sarg der Königin, hinter ihm sein Vater und Nock. Varant spürte nichts, fühlte sich wie leergesaugt. Keine Freude, kein Lachen mehr. Wenn er abends alleine im Bett lag, glaubte er die Stimme seiner Mutter zu hören, wie sie ihm Geschichten von früher erzählte. Tränen tropften in sein Kopfkissen, begleitet vom verzweifelten Schluchzen eines einsamen Kindes. Es war ihm egal, was sein Vater dazu sagte. ‚So benimmt sich kein zukünftiger König. Sei gefälligst ein Mann.‘ Varant wollte kein Mann sein, kein zukünftiger König. Er wollte seine Mutter wiederhaben, ihre Stimme hören, ihre Hand spüren, die ihm durch das Haar strich. Genau das wollte er, nichts anderes! Ein kühler Windzug strich über das Gras und ließ ihn schauern, als Nock einen Befehl erteilte. Varant sah, wie sich der Sarg bewegte und in der feuchten Erde verschwand. Es war vorbei, der Augenblick so endgültig wie es nur der Tod selbst sein konnte. Tränen liefen ihm wieder über die Wangen, trockenes Schluchzen kämpfte sich seine Kehle hoch. Krampfhaft schloss er die Hände zu Fäusten und versuchte es unter Kontrolle zu bringen, doch es wollte ihm nicht gelingen. Ein dumpfes Geräusch, als die erste Erde auf den Sarg traf. Er wollte es nicht sehen. Auf der Stelle drehte er sich herum, die Welt um ihn herum wirkte verschwommen und unreal. Nichts war mehr von Bedeutung. Tyasur rief etwas, doch Varant reagierte nicht darauf. Er rannte, rannte so schnell er konnte. So weit weg wie nur möglich. An einen Ort, wo er die grausame Realität nicht mehr ertragen musste. Tränen fielen auf das Gras, glitzerten in allen nur erdenklichen Farben, als das Sonnenlicht sich in ihnen brach … ~~ # im Jahre 20 von Tyasurs Herrschaft # „Los, strengt Euch gefälligst an!“, brüllte ihn der Soldat an und hieb mit dem Schwert auf den Jungen ein. Der König und Meister Nock hatten befohlen, den Jungen so hart wie nur möglich ranzunehmen. Ihm sollten die Flausen aus dem Kopf getrieben werden, die seine Mutter dort hinterlassen hatte. Varant hob die Klinge, welche schwer in seiner Hand lag. Er mochte dieses Training nicht. Er verstand nicht, warum sein Vater auf einmal darauf bestand, dass er all diese Dinge lernte. Diese Welt des Tötens war nichts für ihn. Er fühlte sich hier nicht wohl. Aber jedes Mal wenn er die Soldaten fragte, ob sie das Ganze nicht etwas langsamer angehen konnten, sah er die abgrundtiefe Angst vor der Strafe des Königs, würde ihm dies zu Ohren kommen, in ihren Blicken. Also blieb dem Jungen nichts anderes übrig, als sich in sein Schicksal zu ergeben und die Hoffnung nicht zu verlieren, dass es eines Tages, irgendwann, besser werden würde. Hinter dem Fenster, das zum Arbeitszimmer des Königs gehörte, stand eben dieser zusammen mit Meister Nock und gemeinsam musterten sie Varant aufmerksam. Keine Bewegung des Jungen entging ihren Blicken. „Ich befürchte, es wird noch einige Zeit und ein hartes Stück Arbeit werden, bis er soweit ist. Seine Mutter hat ihn viel zu sehr verweichlicht.“ Nocks dunkle Stimme hallte durch den eher spartanisch eingerichteten Raum. „Das stimmt wohl.“ Tyasur wandte den Blick vom Innenhof ab und ging zum großen Arbeitstisch, dem einzigen Stück Mobiliar, hinüber, der in der Mitte des Raumes stand. „Aber wenn es erst einmal soweit ist, wird er uns von großem Nutzen sein.“ Er studierte den Inhalt einiger Berichte, die von der Situation innerhalb und außerhalb des Reiches handelten, war gerne auf dem Laufenden, was Neuigkeiten betraf. „Nock, wir brechen Morgen früh zu der östlichen Grenze auf. Den Berichten zufolge häufen sich dort Rebellenaktivitäten. Sorg dafür, dass Varant in dieser Zeit in Politik unterwiesen wird.“ „Jawohl, Majestät.“ Eine angedeutete Verbeugung, ehe Nock den Raum verließ. Trotz seines hohen Alters hallten seine Schritte laut und deutlich durch die Gänge, das Geräusch ließ die wachhabenden Soldaten strammstehen. Schon bald wird Varant erkennen, dass wir die zukünftigen Herrscher vom wiedervereinten Atenia sein werden und dass dafür eben ein paar Opfer vonnöten sind. Ist er sich erst einmal seiner Macht bewusst, wird es ein leichtes für uns sein, die einfältigen Menschen zu beherrschen. Einst haben sie uns aus dieser Welt vertrieben, jetzt holen wir sie uns zurück. ~~ Leise schloss er die Tür hinter sich, lehnte sich gegen das alte Holz. Sein Blick wanderte in dem Zimmer umher, nirgends lag Staub auf dem Boden oder auf den Regalen. Alles wirkte so, als ob jeden Moment jemand durch die Tür des angrenzenden Zimmers treten und ihn fröhlich begrüßen wurde. Erinnerungen überfluteten Varant, die schöne Zeit zusammen mit seiner Mutter tauchte vor seinen inneren Augen auf. Für eine Sekunde war er der festen Überzeugung, ihre Stimme aus dem Nebenraum zu hören. Den Kopf schüttelnd, vertrieb er diesen Gedanken. Seine Mutter war tot! Seine Schritte hallten von den Wänden wider, mit den Fingern strich er über die Bücher, die noch genau wie damals im Regal standen. Bei einem Buch stockte er, das ein paar Zentimeter vorstand. Das haben Mama und ich als letztes gelesen … Bei diesem Gedanken lächelte Varant traurig. Auch wenn die Verzweiflung von Tag zu Tag weniger spürbar geworden war, so war doch das Gefühl der Einsamkeit nicht gewichen und er befürchtete, dass es nie ganz vergehen würde. Die letzten Sonnenstrahlen schienen durch das Fenster herein, zeichneten ein Muster auf den Fußboden. Das Glas fühlte sich kalt auf seiner Haut an, als er seine Stirn dagegen lehnte. „Ich hab dich lieb, Mama …“ In den Händen hielt er das Buch umklammert. ~~ # im Jahre 25 von Tyasurs Herrschaft # Als er zum ersten Mal sah, wie einer der Rebellen im Großen Saal zu Stein erstarrte, war er vierzehn Jahre alt gewesen. In den sechs Jahren, die seine Mutter nun schon tot war, hatte sich die Situation im Königreich drastisch verschlechtert, da der König noch unerbittlicher seine Ziele verfolgte. Seine Gemahlin hatte ihn früher des Öfteren wieder zur Vernunft bringen können, so dass dem Volk das Schlimmste erspart geblieben war, doch seit ein paar Jahren kamen vermehrt Gerüchte auf, etwas Unheimliches würde im Reich vor sich gehen. Überall versteinerten angeblich Menschen, meist Anführer der Rebellen. Mit der Zeit fiel dem Prinzen auf, dass Gefangene in den schlosseigenen Kerker gebracht wurden, von dort verschwanden und nie wieder auftauchten. Unruhe bemächtigte sich seiner. Die Geschichten seiner Mutter waren in seinem Kopf präsenter denn je. Er erinnerte sich an ein Wesen, von dem sie ihm immer erzählt hatte: den Gott der Schlangen, dessen bloßer Blick versteinern konnte. Er tat diesen Gedanken zwar mit einem Kopfschütteln ab, doch die innere Unruhe wollte nicht verschwinden, also hatte er beschlossen, das Geschehen im Schloss ein wenig genauer zu beobachten. Geschehnisse, die ihm nicht geheuer vorkamen, gingen im Großen Saal vor sich, so dass er beschloss ihnen auf den Grund zu gehen. Wie sehr er sich hinterher wünschen würde, es nicht getan zu haben! Die Schreie des Mannes, von zwei Wachen niedergedrückt, hallten noch Jahre später in seinen Ohren wider. Er wollte seinen Augen nicht glauben, als der Mann zu Stein erstarrt war. Wollte seinen Augen nicht glauben, als er den Schatten im Rücken seines Vaters sah. Der Schreck fuhr ihm bis ins Mark, der Schrei blieb ihm im Halse stecken. Rückwärts stolperte er aus dem Saal, den Gang hinunter. Mit einem Knall fiel seine Zimmertür hinter ihm ins Schloss. Mit rasselndem Atem versuchte er sich zu beruhigen, doch dieser Schatten wollte ihm nicht aus dem Kopf. Er sah den Schlangenschwanz noch immer hin und her peitschen, die Federn der Flügel und des Oberkörpers schimmerten rabenschwarz und der Schnabel leuchtete blutrot. Genauso wurden die Basilisken in den alten Legenden beschrieben. Genauso stand es in den Büchern der Königin! Aber seine Mutter hatte gesagt, diese Wesen existieren nicht mehr, hatten niemals existiert. Varant verkroch sich in sein Bett, zog die Decke bis über seinen Kopf, dennoch verfolgte ihn dieses Bild bis in seine Träume. Der Schatten tauchte direkt vor ihm auf. Er drehte sich auf der Stelle um und wollte fliehen, doch der Weg wurde ihm versperrt. Nock tauchte auf, der Blick dieser tiefschwarzen Augen jagte ihm einen eisigen Schauer über den Rücken. Ein weiteres Mal machte er kehrt, dann schrie er auf. Braune Augen, ein alter, dunkler Glanz in ihnen. Die Augen seines Vaters … ~~ Erneut hockte Varant in seinem Geheimversteck und beobachtete das Geschehen im Großen Saal. Er wollte unbedingt wissen, was sein Vater als nächstes plante, wollte wissen, ob er ihn irgendwie aufhalten konnte. „Mein König, soeben sind die Boten aus den Nachbarreichen zurückgekehrt.“ „Sie sollen eintreten.“ Sogleich traten zwei Gestalten in den Saal, bei deren Anblick es Varant kalt den Rücken hinunter lief. Er spürte sofort, dass von diesen beiden nichts Gutes ausging. „Mein König“, verbeugten sie sich kurz vor dem Thron. „Berichtet“, forderte sie Nock zum Sprechen auf. „Meine Mission ist von Erfolg gekrönt. Ihr braucht euch um die Herrscher der östlichen Nachbarreiche keine Gedanken mehr zu machen. Ich habe sie bis an ihr Lebensende mit Albträumen versorgt, dass sie schon bald Angst haben werden, sich schlafen zu legen.“ Der Mann grinste hinterhältig, während er zum König und dessen Vertrauten aufsah. Eine dunkle Aura umgab ihn, verströmte Eiseskälte. „Ebenso steht es mit meinem Auftrag. Die Königinnen der westlichen Reiche Yanaris und Beliya werden schon sehr bald große Probleme mit ihrem Nachwuchs bekommen. Ich habe dort zwei wirklich schöne Exemplare von Wechselbälgern zurückgelassen, daher ist es unwahrscheinlich, dass einer von ihnen jemals die Thronfolge antreten wird.“ Die schwarzen Augen blitzten freudig auf, die kalte Aura schien sich zu verdichten. „Sehr schön“, lächelte der König heimtückisch. „Ihr könnt gehen.“ Nock entließ die beiden mit einer Handbewegung, woraufhin beide den Saal nach einer erneuten Verbeugung verließen. Varant in seinem Versteck spürte immer noch die Kälte, die diese unheimlichen Gestalten im Saal zurückgelassen hatten … ~~ Ohne eine Mine zu verziehen, stand Varant schräg hinter seinem Vater und schien durch alle Anwesenden hindurch zu blicken. Er hasste es, hier zu sein! Die Selbstgefälligkeit seines Vaters verursachte ihm Übelkeit, genauso wie das Gefühl der Hilflosigkeit, dass in seinen Gedärmen tobte. Er zuckte kaum merklich zusammen, als sich die Türen des Großen Saals, begleitet von einem leisen Kratzen, öffneten. Die Wachen zerrten den Gefangenen hinein, dieser blickte gleichmütig und doch entschlossen seinem Schicksal entgegen. Ein Aufschrei, der sogleich wieder unterdrückt wurde, war die einzige Reaktion auf die menschlichen Statuen, die links und rechts des Mittelganges standen. Varant ahnte, dass auch dieser hier nichts verraten würde. Wann siehst du endlich ein, dass du keinen von ihnen jemals zum Reden bringen wirst? „Verrate mir, wo sich das Versteck der Rebellen befindet.“ Die Antwort bestand nur aus einem verächtlichen Blick. Was nun folgte, kannte Varant nur allzu genau. Er hielt den Blick gesenkt, als der Schatten hinter seinem Vater auftauchte, die Kälte, die sich in seiner Nähe ausbreitete, registrierte er schon gar nicht mehr. Innerlich abgeschottet, nur so überstand er dieses Schauspiel. Das nächste Geräusch, das sein Verstand verarbeitete, war das Knirschen von Stein auf Stein, als die Soldaten die Statue zur Seite schoben. Das Gesicht des Mannes war hassverzerrt. Varant ließ seinen Blick über die Statuen schweifen, spürte die Verzweiflung und Hoffnung, die von ihnen ausging. Irgendwann wird dies alles hier ein Ende haben. Niemand mehr, der einen geliebten Menschen verlieren muss, kein Kind, das ohne seine Mutter aufwachsen muss. Irgendwann wirst du untergehen, Vater … ~~ # im Jahre 26 von Tyasurs Herrschaft # Varant wusste, dass er nicht hier sein durfte. Aber er musste einfach wissen, was Nock um diese Nachtzeit unten im Wasserverließ zu tun hatte, von wo das Schloss mit Wasser versorgt wurde. Leise schlich er den Gang entlang, immer darauf bedacht, nicht von Nock erwischt zu werden. Er traute diesem Mann nicht. Plötzlich durchzogen Harfentöne die nächtliche Stille und ließen den Prinzen innehalten. Was ist das? Die Neugier siegte und er schlich weiter. Nur wenige Minuten später erblickte er Nock, der vor dem Wasserloch stand, neben ihm zwei Frauen, die Varant als Bedienstete erkannte. Woher kommt nur dieses Harfenspiel? Als würden sie einem ungehörten Befehl folgen, setzten sich die beiden Frauen in Bewegung und stiegen in das Wasser hinein, immer weiter, bis sie schließlich vollkommen darin verschwanden. Varant steckte die Angst in den Knochen, als er sich so leise wie möglich auf dem Rückweg machte. Als am nächsten Morgen die Leichen der beiden am Flussufer gefunden werden, ahnte er, wie seine Mutter gestorben war … jetzt musste er nur noch die Frage klären, ‚Warum?‘ … ~~ # im Jahre 29 von Tyasurs Herrschaft # Die Jahre zogen ins Land, ohne dass sich an der Situation etwas änderte. Es häuften sich zwar die Gerüchte, dass die Könige der westlichen Reiche dabei waren dem Wahnsinn anheim zu fallen und dass die Erben von Yanaris und Beliya auch nicht ganz richtig im Kopf sein sollten, doch dies verringerte die Grausamkeiten des Krieges nicht im geringsten, es verschlimmerte sie im Gegenteil sogar. Das Volk litt Elend und Hunger, doch der König erhörte keine der Bitten, die fast täglich im Schloss eintrafen. Wie es seinem Volk erging, war ihm vollkommen egal. Ihm ging es nur darum, Macht zu erlangen. Und dafür würde er alles tun. Wie oft Varant mittlerweile Versteinerungen beigewohnt hatte, wusste er schon gar nicht mehr. Seltene Male war es ihm gelungen, den armen Teufel rechtzeitig aus dem Gefängnis zu befreien, dennoch vergrößerte sich die Zahl der Statuen im Großen Saal unerbittlich. Er sah noch immer die angsterfüllten Blicke der Männer und Frauen vor sich, wenn sie erkannten, was geschehen würde. Das Gefühl der Hilflosigkeit, das ihn jedesmal überfiel, hasste er. Wie gerne würde Varant den Menschen helfen und sich den Rebellen anschließen! Seine Mutter hätte das Tun des Königs nie gutgeheißen, doch er war sich nicht sicher, ob sie in der Lage gewesen wäre, dem König jedes Mal Einhalt zu gebieten. Immer häufiger ertappte er sich bei der Frage, wieso seine Mutter diesen Mann überhaupt geheiratet hatte. Ab und an tauchte ein Gedanke in seinem Kopf auf, dass Nock da sicher seine Finger im Spiel hatte. Seit er denken konnte, war Nock die rechte Hand seines Vaters. Nie sah man den König ohne den alten Mann an seiner Seite und nie wurde eine Entscheidung getroffen, ohne Nock nach seine Meinung zu fragen. Er erinnerte sich an das Geschehen am unterirdischen Fluss, hörte noch immer die Harfentöne in seinen Ohren hallen … Der König brachte seinem Sohn keine Liebe oder Aufmerksamkeit entgegen – hatte er noch nie. Und ob er die Königin geliebt hatte, bezweifelte Varant ebenfalls. Manchmal fragte er sich, ob der König überhaupt wusste, dass er einen Sohn hatte. Was hätte er nicht alles dafür gegeben, das Schloss, diesen verfluchten Ort, an dem seine Mutter gestorben war und an dem er seitdem vollkommen alleine war, zu verlassen! Doch sobald er auch nur in die Nähe des Tores kam, stellten sich ihm die Wachen in den Weg. ‚Ihr dürft das Schloss nicht verlassen, Prinz. Befehl des Königs.‘ Nun, damit wäre zumindest die Frage geklärt, ob der König von seinem Sohn wusste oder nicht. Doch eine gute Sache hatte diese Tatsache. Varant kannte sich im Schloss aus wie kein anderer. Er schlich durch die Gänge, ohne gehört oder gesehen zu werden. Er kannte Wege und Räume, in denen vor ihm für lange Zeit niemand mehr gewesen war. Es war einer dieser Tage, an denen er, eine Erklärung für die unheimliche Macht seines Vaters suchend, durch ebenjene Räume schlich. Geräusche erregten seine Aufmerksamkeit und er folgte ihnen, um alsbald vor der halb geöffneten Türe seines Arbeitszimmers zu stehen. Auf leisen Sohlen schlüpfte er hindurch, schlich sich an die kniende Person vor dem Schreibtisch heran und beobachtete sie einige Sekunden lang. Außer den Bediensteten und den Wachen hielten sich keine Personen im Schloss auf – und von denen kannte er alle. Diese Frau aber war ihm gänzlich unbekannt. Er schätzte sie auf Ende Zwanzig. Die brauen Haare waren zu einem Zopf gebunden, ihre Kleidung war von einer gänzlich anderen Machart als die seine. „Wer bist du und was tust du hier?“ Für eine Sekunde rührte sie sich nicht, die Hand noch immer in der Schublade. Dann drehte sie sich auf der Stelle herum, ihre Hände fuhren zu den Stiefeln, wo die Griffe von Dolchen ansatzweise zu erkennen waren. Die Griffe umschlossen, blickte sie zum Prinzen hinauf. Ihre Blicke begegneten sich. Er sah Entschlossenheit in den Augen, deren Farbe ihn an den freien Himmel erinnerte. Ein eigentümlicher Glanz war ihnen zu Eigen. „Was tust du hier?“, wiederholte er seine Frage. Mit einer Antwort rechnete er dennoch nicht. Sie blickte ihn weiter nur stumm an, musterte ihn so, wie er sie taxierte. Ein Geräusch ließ Varant aufhorchen. Schritte waren auf dem Gang zu hören und sie wurden von Sekunde zu Sekunde lauter. Wachen. Verdammt, müssen die gerade jetzt hier patrouillieren? „Runter mit dir“, zischte er, griff nach ihrem Handgelenk und zog sie hinter den Schreibtisch. Die Frau hatte die Schritte ebenfalls vernommen, daher sah sie fürs Erste davon ab, ihn mit den Dolchen bekannt zu machen. „Keinen Mucks, verstanden?“ Er erhob sich wieder und ignorierte ihren verwirrten Gesichtsausdruck, ebenso das kalte Metall an seinem Bein. Gerade als er sich über den Schreibtisch beugte, wurde die Tür mit einem Ruck vollends aufgerissen und zwei Soldaten tauchten im Raum auf, begleitet von energischen Schritten. Varant wartete eine Sekunde, ehe er wütend aufblickte. „Was soll die Störung?“ Innerlich aber stöhnte er. Ausgerechnet der Hauptmann. „Verzeiht, Prinz, aber Eure Türe stand offen. Wir dachten …“ Der Hauptmann blickte den Prinzen fragend an. Es war eine eiserne Regel des Königs, keine Tür in diesem Schloss offen stehen zu lassen. „Was dachtet Ihr, Hauptmann?“ Varant umrundete den Schreibtisch und kam auf den Mann zu. Er schwieg für einen Moment, in dem er den Hauptmann aufmerksam musterte und hoffte, dass die Frau ja keinen Ton von sich geben würde. „Ich habe lediglich vergessen, meine Türe zu schließen. Ich würde Euch bitten, diesen Vorfall für Euch zu behalten. Wir wollen meinen Vater doch sicherlich nicht mit solchen Nichtigkeiten ärgern, oder, werter Hauptmann?“ Seine Stimme wurde mit jedem Wort leiser, bis es letztendlich nur noch ein Flüstern war. Er war beileibe nicht der mutigste Mensch und vermied gefährliche Situationen für gewöhnlich, aber von diesen Narren, die an der Leine seines Vaters tanzten, ließ er sich das Leben ganz bestimmt nicht schwer machen. Und um seinen Bitten ein bisschen Nachdruck zu verleihen, reichte es gewöhnlich, wenn man ihnen ein klein wenig Angst einjagte. „Wir Ihr wünscht, Prinz. Wir werden dann unseren Rundgang fortsetzen.“ Nach einer eher kurzen Verbeugung verließen er und sein Soldat den Raum, die Tür fiel mit einem Knall ins Schloss. Varant atmete erleichtert auf. Das ist ja gerade nochmal gut gegangen. „Hey, du kannst wieder rauskommen.“ Es dauerte nur Sekunden, dann tauchte die Frau auf, der verwirrte Blick war verschwunden, hatte einem vorsichtigen und lauernden Ausdruck Platz gemacht. „Wieso hast du mir geholfen?“ Ihrer Stimme konnte er nicht entnehmen, ob sie Angst hatte oder nicht. Neugierig musterte er sie ein zweites Mal, sie weckte Bewunderung in ihm. Ein aufmerksamer und wacher Blick, in dem jedoch eine gewisse Härte lag. In ihrem Leben hatte sie es sicher nicht einfach gehabt. Dies wurde noch dadurch unterstrichen, dass sie keine unnötige Bewegung vollführte und ihre Gefühle nicht nach außen dringen ließ. Sie schien sich vollkommen unter Kontrolle zu haben. „Du bist wirklich an den Wachen vorbeigekommen. Respekt. Das schafft nicht jeder.“ Ihre Frage ignorierte er erstmal. „Was wolltest du hier eigentlich?“ Er stand jetzt neben ihr, bückte sich zu den offenen Schubladen hinab. „Wenn du nach Informationen über die Pläne meines Vaters suchst, bist du hier falsch. Sein Arbeitszimmer befindet sich ein Stockwerk höher auf der anderen Seite des Schlosses.“ Die Blätter ordnend, blickte er zu ihr hinauf. „Lass dich aber nicht vom Hauptmann erwischen, sonst endet das böse.“ Er öffnete die Zimmertür, warf ihr noch einen Blick über die Schulter zu. Varant grinste, als er ihren verwirrten Gesichtsausdruck wahrnahm. ~~ „Manchmal glaube ich, du bist vollkommen verrückt“, flüsterte Yarel leise. Er schlich hinter ihr durch den dunklen Gang, seine Fingerspitzen glitten über das Moos an den Wänden. „Ach Yarel, du bist doch nur neidisch, weil ich den Gang zuerst gefunden habe.“ Sena drehte sich nicht um – das hätte eh nichts gebracht –, konnte sich aber genau den ärgerlichen Gesichtsausdruck ihres kleinen Bruders vorstellen. Er hasste es einfach, wenn sie recht hatte. Stattdessen hörte sie ihn wütend die Luft einziehen. Still schmunzelte sie vor sich hin, ihre Lachfältchen traten deutlich hervor. „Warte einen Moment.“ Sena tastete nach dem richtigen Stein und ein Klicken ertönte. Wie lange sie beim ersten Mal gebraucht hatte, um den Mechanismus für die Geheimtür zu entdecken, wusste sie nicht mehr. Aber sie war damals genauso froh gewesen, wieder frische Luft in ihre Lungen zu bekommen, denn durch das Moos und die nicht vorhandene Belüftung war die Luft in dem Gang feucht und modrig. „Mensch, endlich Luft.“ Yarel fuhr sich mit der Hand durch die kurzen schwarzen Haare, ein wenig Moos rieselte auf den Boden. Er grummelte. Dieser Gang war eindeutig nicht für große Menschen wie ihn gemacht worden. Aufmerksam blickte er sich im Raum um. Ein schmaler Lichtspalt erhellte das Zimmer, direkt unter der Decke war ein vergitterter Lüftungsschlitz angebracht. An den Wänden standen Regale voll von alten Kisten. Von Staub keine Spur. „Komm, hier lang. Vielleicht finden wir diesmal etwas wirklich Nützliches.“ Sena schloss die Geheimtür und winkte ihrem Bruder, ihr zu folgen. Leise schlichen sie durch die Gänge, auf direktem Weg zum Arbeitszimmer des Königs. Einen Weg, den sie einmal zurückgelegt hatte, vergas Sena so schnell nicht wieder. Auf ihrem Weg begegneten sie keiner Menschenseele und auch das Arbeitszimmer fanden sie verlassen vor. In dieser Hinsicht wurden Sena und Yarel seit sie denken können sprichwörtlich vom Glück verfolgt. Systematisch, leise und aufmerksam durchforsteten sie die Unterlagen des Königs. Vielleicht fanden sie einen Hinweis darauf, was mit ihren Kameraden geschehen war. Wer einmal von den Soldaten ergriffen wurde, kehrte für gewöhnlich nie mehr zurück. Es kursierte das Gerücht, die Gefangenen standen – genau wie andere Rebellen im ganzen Reich verstreut – versteinert in einem großen Saal im Schloss – doch das konnte einfach nicht sein! Woher sollte der König diese Macht besitzen? Vielleicht fanden sie einen Anhaltspunkt, was der König als nächstes plante. Jede Information war wichtig, und schien sie noch so nichtig. Minuten später schlichen sie, vorsichtig um jede Ecke spähend, den Weg zurück, den sie gekommen waren. Einen Fehler konnten sie sich auf keinen Fall erlauben. Die Geschwister atmeten auf, als sie wieder im Abstellraum waren. Yarel schloss die Tür hinter sich, er hörte das Klicken, dass das Öffnen der Geheimtür ankündigte. „Nun komm schon, Brüderchen. Trödel nicht so!“ Sie liebte es, ihren kleinen Bruder zu ärgern, besonders da dieser immer wieder darauf ansprang. Wer konnte da schon wiederstehen? „Du sollst mich nicht so nennen, Sena“, erwiderte er ärgerlich. Immerhin war er bereits fünfundzwanzig Jahre alt. Da immer noch ‚Brüderchen‘ genannt zu werden, war ja schon peinlich. Trotzdem trat er zu seiner Schwester und wollte sich gerade bücken, da fiel es ihm auf. Etwas ist anders. Doch ihm wollte nicht einfallen, was. „Yarel, was ist?“ Da erklang eine Stimme aus dem Zwielicht und enthob Yarel der Pflicht zu antworten. „Ich muss sagen, von diesem Geheimgang wusste sogar ich nichts. Aber ihr solltet vorsichtiger sein, wenn ihr ihn noch etwas nutzen wollt. Finden die Wachen Moos in einem Raum, der absolut nicht mehr genutzt wird und der jeden Tag gesäubert wird, werden sie wissen, dass hier etwas nicht stimmt.“ Varant trat ins Licht, registrierte die erschrockenen Blicke. Er hatte damit gerechnet, dass die Frau wiederkommen würde. Die Rebellen waren keine Feiglinge. Was sie einmal anfingen, das führten sie auch bis zum bitteren Ende durch – hatte er zumindest gehört und anscheinend stimmte es. Als er dem Blick Yarels begegnete, stockte ihm für einen Moment der Atem. Dieses Nachtblau löste irgendetwas bei ihm aus. Noch stärker als bei dessen Schwester. Er sah die gleiche Entschlossenheit wie bei ihr, den gleichen eigentümlichen hellen Glanz. Doch da war noch etwas anderes. Etwas, das ihn an sich selber erinnerte. Der Ausdruck von ‚Träumerei‘. Woher die Gewissheit kam, wusste er nicht, aber dieser Mann glaubte ebenso wie er, dass die alten Legenden einen wahren Kern besaßen. Den gleichen Ausdruck hatte seine Mutter immer gehabt, wenn sie ihm die Geschichten erzählt hatte. „Was …“, entfuhr es Yarel. Er hatte seiner Schwester nicht glauben wollen, als sie ihm von ihrem ersten Ausflug in das Schloss erzählt hatte, doch scheinbar hatte sie nicht geträumt. Der junge Mann vor ihm sah genauso aus, wie Sena den Prinzen beschrieben hatte. Sanfte Gesichtszüge, eingerahmt von kinnlangen blonden Haaren, die ihm in die Augen fielen. Den Ausdruck in den roten Augen vermochte er nicht richtig zu deuten, doch etwas war in ihnen … etwas, was ihn in genau diesem Moment keine Angst verspüren ließ. Er wusste einfach, dass der Prinz sie nicht verraten würde. Zu gerne hätte er dafür den Grund gewusst. Als er zu einer diesbezüglichen Frage ansetzen wollte, setzte sich der Prinz jedoch in Bewegung und verschwand aus dem Raum. Yarel ließ seinen Blick von der wieder geschlossenen Tür zu seiner Schwester gleiten. Er sah denselben verwunderten Ausdruck in ihren Augen wie bei ihm. „Was geht hier eigentlich vor?“ „Keine Ahnung, aber wie es scheint, ist der Sohn des Königs nicht auf dessen Seite. Und nun komm! Wir sollten hier weg.“ Sie tauchten in die Dunkelheit ein, ein Druck auf den Mauerstein und die Tür schloss sich hinter ihnen wieder. ~~ Varant beobachtete von seinem Zimmer aus das Farbenspiel des Sonnenuntergangs. Etwas, was er früher mit seiner Mutter gerne getan hatte. Er hatte auf ihrem Schoß gesessen und konnte sich nicht daran sattsehen, wie der blaue Himmel in allen erdenklichen Rotfärbungen erstrahlte. Mit Begeisterung hatte er die vorbeiziehenden Wolken beobachtet, mit dem Finger auf einige gezeigt und seiner Mutter erzählt, als was er sie sah. Mal war es ein Pferd gewesen, mal ein Vogel. Sie hatte ihm lächelnd durch das Haar gewuselt und ihm dann erzählt, was sie in den Wolken sah. Einhörner, Faune, Feen … Auch jetzt noch bildete er sich ein, ihre Stimme zu hören, wie sie ihm von den alten Legenden erzählte. Er seufzte leise. Ich vermisse dich, Mama. Als sie damals gestorben war, war eine Welt für ihn zusammengebrochen, die Fröhlichkeit in seinem Leben war mit ihr gestorben. Tagelang hatte er geweint und seinen Vater hatte er in der Zeit kaum zu Gesicht bekommen, dennoch kam ihm nie in den Sinn aufzugeben. Seine Mutter hätte nicht gewollt, dass er einfach klein beigab. Er hatte gekämpft, für sie. Von dem einst so fröhlichen Kind war nicht mehr viel vorhanden, die Fröhlichkeit lag verschüttet unter Traurigkeit und Einsamkeit. Er hoffte aber, sie bald wieder ausgraben zu können, hoffte, seine Mutter bekam dies mit, egal wo sie sich jetzt aufhielt. Mit den Fingerspitzen fuhr er über die Glasscheibe, meinte für eine Sekunde ihr Gesicht zu sehen und lächelte. Ich tue doch das Richtige, oder, Mama? Seit ihrem Tod war er auch nicht mehr in der Stadt gewesen. Das Leben außerhalb dieser Mauern war ihm vollkommen fremd geworden und flößte ihm ein wenig Angst ein – und doch würde er es gerne erleben. Der Wunsch, einfach durch den Geheimgang zu entfliehen und nach Yarel und Sena zu suchen, wurde von Tag zu Tag größer. Doch was konnte er dort draußen schon ausrichten? Er würde auffallen und wenn herauskam, dass er der Sohn des verhassten Königs war, wäre sein Leben nichts mehr wert. Nur zu gut erinnerte er sich an die anfänglichen Blicke von Yarel und Sena, wie sie ihn misstrauisch beobachteten. Warum ihm die beiden glaubten, wusste er nicht, aber es war ein schönes Gefühl. Dennoch konnte er vom Volk nicht dieselbe Haltung erwarten. Also blieb ihm nur übrig, im Schloss zu bleiben und den Rebellen dabei zu helfen, an möglichst viele Informationen zu gelangen. Er hatte mit Zählen aufgehört, wie oft er den Hauptmann in den letzten Monaten abgelenkt hatte. Viel zu oft war es vorgekommen, dass der Soldat immer dann aufgetaucht war, wenn Yarel oder Sena gerade dabei waren, die Unterlagen seines Vaters zu durchforsten. Irgendetwas ist hier faul. Seine Aufmerksamkeit wurde von zwei davonhuschenden Schatten abgelenkt, die gleich darauf im Dunkeln des Waldes untertauchten. Ich hoffe, es herrscht irgendwann wieder Frieden. ~~ „Eine Sache interessiert mich doch sehr, Varant. Warum hilfst du uns eigentlich?“ Sena wandte sich noch einmal zum Prinzen um, blickte ihn wartend an. Sie spürte Yarels Blick im Rücken. „Wenn ich die Antwort herausgefunden habe, sage ich sie euch“, war Varants Antwort. „Und nun geht.“ Damit verließ er die Abstellkammer, hörte hinter sich das Klicken der sich schließenden Geheimtür. Ich tue das Richtige, Mama, oder? Tief in sich spürte er die Antwort … ~~ „Sag mal, Varant, weißt du eigentlich was mit denen passiert ist, die vom König gefangen genommen worden sind?“ Sena betrachtete ihn forschend. Varant wunderte sich für den Bruchteil einer Sekunde über diese Frage, dementsprechend langsam fiel seine Antwort aus. „Ich dachte, das wüsstet ihr.“ Yarel blickte von seinen Papieren auf, einen erstaunten Ausdruck im Gesicht. „Nein, wie sollten wir? Jeder, der gefangen genommen und ins Schloss gebracht wurde, ist nie wieder aufgetaucht.“ Von den Gerüchten erzählte er erst einmal nichts. Varant stöhnte. „Dann kommt mal mit.“ Er öffnete die Tür und blickte sich vorsichtig auf dem Gang um, doch es war niemand zu sehen. „Kommt.“ Hintereinander schlichen sie den Gang hinunter, auf den Großen Saal zu. Varant nutzte seine geheime Passage, um ungesehen hineinzugelangen, denn trotz der momentanen Abwesenheit seines Vaters standen zwei Wachen vor den Türen. Der Prinz wusste, was ihn dort erwarten würde. Doch Yarel und Sena … Er hörte das entsetzte Aufkeuchen hinter sich, hörte Sena ein „Das ist ja schrecklich“ flüstern. „Ein Basilisk“, flüsterte Yarel kaum hörbar vor sich hin. Er hatte nie glauben wollen, dass die Gerüchte stimmten, doch jetzt, wo er es mit eigenen Augen sah … „Tja, das geschieht mit denjenigen, die mein Vater aus dem Weg räumt.“ Er wandte sich wieder den Geschwistern zu, seine Mine eine steinerne Maske. Das Entsetzen, das in ihren Augen zu lesen war, hatte er tief in sich begraben – und das war es, was Yarel und Sena sahen und was sie noch mehr entsetzte. ~~ „Ihr seid wohl total wahnsinnig geworden oder was? Einfach so in den Gängen herum zu spazieren. Es ist eigentlich ein Wunder, dass keiner der Soldaten euch bisher erwischt hat!“ Varant lief von rechts nach links, warf den Geschwistern wütende Blicke zu. Er war gerade noch dazu gekommen, die beiden in dem geheimen Raum hinter der Wand zu verstecken, bevor der Hauptmann sein Zimmer sprichwörtlich gestürmt hatte. „Entschuldige bitte, wir haben ihn wirklich nicht bemerkt. Keine Ahnung, wo der so plötzlich hergekommen ist.“ Sena erwiderte den wütenden Blick vollkommen unbeeindruckt. „Damit ist es aber nicht getan, fürchte ich. Mein Gefühl sagt mir, dass er irgendetwas ahnt. Vielleicht solltet ihr in Zukunft ein klein wenig vorsichtiger sein.“ Varant ließ sich seufzend auf seinen Schreibtisch fallen. Der Hauptmann muss einfach etwas ahnen, deswegen begegne ich ihm in letzter Zeit auch so oft … „Nun mach dir mal nicht so viele Gedanken. Es hat schon seinen Grund, warum Sena und ich hier im Schloss spionieren und keiner von den anderen. Weißt du, wir werden sprichwörtlich vom Glück verfolgt. So schnell passiert uns nichts, selbst wenn wir unaufmerksam sind“, versuchte Yarel den Prinzen zu beruhigen, doch der warf ihm nur einen kurzen Blick zu. Auch die Geschichte, die Yarel ihm dann erzählte, überzeugte ihn nicht und er wechselte einen warnenden Blick mit Sena. ~~ # im Jahre 25 von Tyasurs Herrschaft # „Yarel!“ Sena blickte sich suchend um, während sie zwischen Soldaten des Königs und Rebellen hin und her huschte. Irgendwo hier musste ihr Bruder doch stecken! Verdammt, da hatte sie einen Moment nicht aufgepasst und schon war er auf und davon. Kleine Brüder sind echt das schlimmste was es gibt. Mit dem Schwert wehrte sie einen Angriff ab, das Klirren ging jedoch im allgemeinen Kampflärm unter. Am Morgen war dies hier noch ein ruhiges Dorf gewesen, die umliegenden Felder hatten die Bewohner ernährt und so etwas wie Frieden hatte hier geherrscht. Jetzt war die Erde mit Blut getränkt, Schmerzens- und Angstschreie hallten als wildes Stakkato durch die Luft und über allem lag der flackernd rote Schein der alles vernichtenden Flammen, die sich durch die Hütten fraßen. „Yarel“, schrie sie erneut. „Hier bin ich.“ Der Schwarzhaarige tauchte neben ihr auf, die blutbefleckte Klinge in seiner Hand. Mit seinen neunzehn Jahren war es für ihn bereits alltäglich, Menschen sterben zu sehen und auch selber zu töten. Es gab Augenblicke, da hasste Sena ihre Eltern dafür, dass sie und ihr Bruder unter Rebellen aufgewachsen waren, dann aber wiederum war sie stolz auf ihre Eltern, dass sie Widerstand geleistet und für Frieden gekämpft hatten. Eines hatte sie gelernt in den letzten Jahren: Sie würde ihren Eltern raten, genau diesen Weg wieder einzuschlagen. Sie kämpfte für den Frieden und das nie wieder Kinder wie sie und Yarel in Angst und Schrecken aufwachsen mussten und schon früh zum Kämpfen erzogen wurden. Dass früher mal Frieden geherrscht hatte, wussten Sena und Yarel nur aus Erzählungen ihrer Eltern. Zwei Jahre vor Senas Geburt hatte Tyasur den Thron bestiegen und seitdem herrschte Unruhe im Reich. Gerade noch rechtzeitig kehrte sie aus ihren Gedanken zurück. „Duck dich!“, stieß sie ihren Bruder weg, tauchte gleichzeitig unter dem Schwerthieb hindurch. Sie fühlte den Luftzug über sich hinweg ziehen und setzte zum Gegenangriff an. Sie spürte Widerstand, als ihr Schwert in den Körper des Soldaten fuhr, sein Blut lief die Klinge hinab, floss über ihre Hände. Ihr Atem ging keuchend. „Bist du in Ordnung, Yarel?“ Sie rannte zu ihm hinüber, kniete sich neben ihn. „Ja, alles in Ordnung“, fuhr er sich mit einer Hand durch die Haare, schüttelte sich die Erde aus diesen. „Du hast mir einen ganz schönen Schrecken eingejagt, Sena. Er hätte mich doch eh nicht getroffen.“ Völlig unbeeindruckt stand Yarel auf und griff nach seinem Schwert, das ihm bei dem kurzen Flug aus der Hand gefallen war. „Wie oft soll ich dir nicht sagen, dass du dich nicht nur auf dein Glück verlassen sollst? Irgendwann verlässt es dich vielleicht, so wie bei Mama und Papa.“ Sie blickte ihn ärgerlich an, versuchte damit aber lediglich ihre Sorgen zu überspielen. Manchmal hasste sie dieses Glück, dass ihnen an den Fersen zu kleben schien, denn es ließ ihren Bruder unaufmerksam werden. Sie musste Yarel unbedingt noch klar machen, sich nicht pausenlos darauf zu verlassen. ~~ # im Jahre 29 von Tyasurs Herrschaft # Yarel saß auf Varants Bett und blickte diesen ungläubig an. „Wie bitte? Das soll wohl ein Scherz sein! Das glaub ich dir nicht.“ Er schüttelte den Kopf. „Glaub es oder glaub es nicht. Es ist die Wahrheit.“ Varant zuckte mit den Schultern. „Das müssen wir ändern. Los, komm.“ Yarel sprang auf und griff nach dem Handgelenk des Blonden. „Was soll das werden?“ „Heute Abend findet eine Hochzeit statt – und du gehst mit mir da hin. Ich stell dich einfach als einen entfernten Verwandten vor, der zu Besuch ist. Du wirst sehen, es wird die gefallen.“ „Aber …“, versuchte Varant Einspruch einzulegen. „Ich habe dir doch gerade gesagt, dass ich seit Jahren das Schloss nicht mehr verlassen habe. Ich weiß doch gar nicht, wie ich mich dort verhalten soll.“ „Ach was“, winkte Yarel ab. „Das ist eine Hochzeit. Da benimmt sich jeder daneben. Du wirst gar nicht auffallen, glaub mir.“ Er grinste schelmisch. „Na danke auch“, murmelte Varant, ließ sich nun aber doch mitziehen. … Er konnte sich gar nicht sattsehen an dem Leben, das hier herrschte. Das Haus war festlich geschmückt, die Menschen feierten ausgelassen. Die Antwort, die Yarel ihm auf seine Frage, wie man in einer Zeit des Krieges so ausgelassen feiern konnte, gegeben hatte, brachte ihn zum nachdenken. ‚Dann herrscht eben Krieg. Na und? Wenn wir uns davon unser ganzes Leben kaputt machen lassen, hätte der König doch schon längst gewonnen. Feste müssen gefeiert werden –außerdem halten sie die Hoffnung wach, dass bald wieder Frieden herrscht.‘ Die verschiedensten Vogelarten flogen zwischen den Menschen umher und trällerten fröhlich. Hände wurden ausgestreckt, auf denen sich die Vögel niederließen und leise zirpend Futter aus der hohlen Hand pickten, während sie sich das Gefieder streicheln ließen. Auf einen Pfiff hin erhoben sich überall die Vögel und Varant folgte ihnen mit den Blicken. Sie sammelten sich über den Köpfen einer jungen Frau und eines jungen Mannes und ließen sich auf den ausgestreckten Armen nieder. Die beiden sahen sich unglaublich ähnlich, weswegen Varant auf Geschwister tippte. Dieselben schwarzen Haare, das gleiche fröhliche Lächeln im Mundwinkel, etwa sechszehn oder siebzehn Jahre alt. Fasziniert beobachtete er die Szene eine Weile, ehe er sich den anderen aufregenden Dingen widmete. Gebannt lauschte er der Musik der Musikanten, wobei besonders zwei Flötenspieler ihn in ihren Bann zogen. Die Melodie war wunderschön und heiter, vertrieb all die düsteren Gedanken. Er meinte sogar, in ihren Augen das gleiche eigentümliche Leuchten zu sehen wie in denen von Yarel und Sena, aber da konnte er sich auf die Entfernung auch täuschen. Er beobachtete die Leute beim Tanzen, stutzte, als er Sena mit einem jungen Mann sah. Für eine Weile ließ er sie nicht aus den Augen. Er mochte Sena sehr, wie eine ältere Schwester, die er nie gehabt hatte. Vor ihren spitzen Bemerkungen, mit denen sie ihren Bruder gerne ärgerte, blieb auch er nicht verschont. Er mochte ihre fröhliche, ehrliche Art … vielleicht weil dies genau das Gegenteil von dem war, wie er sonst behandelt wurde. Für die Soldaten war er ein nichtsnutziger Prinz, der weder Kämpfen konnte noch fürs Herrschen geeignet war. In Nocks Augen las er vermehrt den Wunsch nach dem Verschwinden des Prinzen und sein Vater stimmte mit Nock sowieso in allem überein. „Die beiden geben ein schönes Paar ab, oder?“ Varant wurde aus seinen Gedanken gerissen und blickte in ein Paar grüner Augen, das ihn fröhlich anblickte. „Wer?“ „Na Sena und Nyle. Wo steckst du denn mit deinen Gedanken?“ Sie lächelte verschmitzt, die zwei Vögel auf ihrer Schulter zwitscherten leise, als würden sie über sein Verhalten kichern. „Mein Name ist übrigens Amiya.“ „Varant“, erwiderte er automatisch. „Erfreut“, nickte sie leicht mit dem Kopf und hielt ihm dann eine Hand hin. „Darf ich bitten?“ Für einen Moment war Varant erneut verunsichert, bis er verstand, was sie meinte. Sie forderte ihn zum Tanzen auf. Überall um ihn herum waren die Männer von den anwesenden Frauen aufgefordert worden – doch nie hätte er damit gerechnet, dass eine ihn auswählen würde. „Aber sicher“, verbeugte er sich und griff nach ihrer Hand. Sie lächelte fröhlich, während er sie auf die Tanzfläche führte. Aus dem Augenwinkel bemerkte er Yarel, wie er ihm grinsend zuwinkte und sich dann wieder seinen Gesprächspartnern widmete. Diese wenigen Minuten des Tanzes gehörten zu den schönsten Momenten seines Lebens, wie er hinterher nach Luft schnappend feststellte. So ausgeglichen hatte er sich schon lange nicht mehr gefühlt. Er plauderte mit Amiya und ihrem Bruder Janis, der sich nach einer Weile zu ihnen gesellt hatte. Varant kam nicht umhin, zu bemerken, wie ähnlich sich die beiden waren, nicht nur in ihrem Aussehen, sondern auch in ihrem ganzen Wesen und ihrem Verhalten. Sie lachten viel, während sie sich über dies und das unterhielten, insbesondere über die anwesenden Personen. Varant erfuhr mehr als er eigentlich wissen wollte. Dafür antwortete er im Gegenzug auf all die neugierigen Fragen, die ihm gestellt wurden – natürlich ohne die Tatsache zu erwähnen, dass er der Prinz war. Nach und nach wurde der Kreis der Zuhörer um ihn herum immer größer, jeder wollte seiner Geschichte lauschen. Ihm kam der Verdacht, dass dies etwas mit der Tatsache zu tun hatte, das Yarel ihn als entfernten Verwandten vorgestellt hatte. Er blühte richtig auf, vergaß fast, dass diese Welt, die so anders war als die, die er kannte, nicht die seine war. So friedlich und lebhaft, dass der Wunsch nach baldigem Frieden von Neuem entfacht wurde und nun heller brannte als je zuvor. Was ihm während der ganzen Zeit am deutlichsten auffiel, war das Leuchten in den grünen Augen Amiyas und Janis‘, das von innen heraus zu kommen schien … ~~ „Varant, du musst mir eines versprechen. Gib niemals auf. Rette dieses Reich vor der Vernichtung.“ Die nachtblauen Augen blickten ernst, der geheimnisvolle Glanz wurde stärker. „Das werde ich.“ Varant lächelte Yarel aufmunternd zu und sah ihm dabei zu, wie er durch den Geheimgang verschwand. Das werde ich. ~~ # im Jahre 30 von Tyasurs Herrschaft # Verdammt, wie konnte das nur passieren? Varant hockte in einer Nische des Großen Saals, das Handgelenk von Sena fest umklammert. Auf keinen Fall durften sie einen Laut von sich geben, sonst war alles verloren. „Ich will auf der Stelle eine Antwort von dir, hast du verstanden?“ Der König blickte aus zusammengekniffenen Augen auf den Rebellen, den seine Soldaten mitten im Schloss aufgegriffen hatten, herab. „Ihr bekommt aber keine“, zischte Yarel zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. Blut floss ihm aus dem Mundwinkel und aus einer Platzwunde an der Stirn. Der eiserne Griff der Soldaten hielt ihn unten. Hoffentlich konnte Sena entkommen. „Überleg dir lieber gut, was du mir antwortest. Sonst könnte es dir schlecht ergehen.“ Tyasur war halb aufgestanden und verlor langsam die Geduld. Wie kam der Rebell in sein Schloss? Wieso hatten die Wachen ihn nicht eher bemerk? Wenn er an die ganzen schiefgelaufenen Aktionen der letzten Monate dachte, musste sich der Mann schon länger im Schloss frei bewegt haben. „Schlechter als jetzt? Wohl kaum.“ Yarel verspürte keine Angst. Dieser Mann dort auf dem Thron war vielleicht stark, wenn er von einer Vielzahl von Soldaten umgeben war, aber er besaß kein Rückgrat. Hartnäckig hielt sich das Gerücht, er würde keinen Schritt tun ohne nicht vorher seinen engsten Vertrauten Nock gefragt zu haben. Doch vor diesem alten grauhaarigen Mann, der da neben dem König stand, verspürte Yarel genauso wenig Angst. „Wenn du wüsstest.“ Die Augen des Königs verengten sich. Er war wütend. Auf diese Rebellen, die seinem Wunsch nach Macht im Weg standen, und auf die Wachen, die den Eindringling nicht eher bemerkt hatten. „Haltet ihn fest“, wies er die Soldaten an. Sogleich griffen sie nach Yarels Kinn, ließen ihm keine Bewegungsfreiheit. Selber wandten sie den Kopf ab und schlossen die Augen. Auf keinen Fall wollten sie ebenfalls versteinert werden. Ein Schatten erhob sich hinter dem König. Pechschwarz schimmernde Federn, ein blutroter Schnabel, der Schlangenleib peitschte hungrig hin und her. „Du gehörst mir“, hörte man eine Stimme durch den Saal hallen. Yarel konnte seinen Blick nicht von dem Wesen lösen, blickte ihm direkt in die Augen – Ein Basilisk, war sein letzter Gedanke. Wie in den alten Legenden. – und wurde zu Stein. In ihrem Versteck saß Varant stocksteif da. Nein, nicht Yarel. Nein. Nein. Dieses eine Wort hämmerte durch seine Gedanken. Nicht Yarel, sein bester Freund. Die Machtlosigkeit überrollte ihn mit aller Macht. „Yarel!“, erklang es gedämpft neben seinem Ohr. Mit einem Ruck riss sich Sena los, rannte zwischen den versteinerten Menschen hindurch auf ihren Bruder zu. „Yarel!“, schrie sie ein zweites Mal, ließ sich neben ihm auf die Knie fallen. Die Soldaten rührten sich nicht, blickten sie nur erschrocken und ängstlich an. „Yarel“, flüsterte sie, strich ihm übers Gesicht. Tränen liefen ihr über die Wangen. Nicht auch noch ihr kleiner Bruder! Sie hatte doch gewusst, dass seine Sorglosigkeit ihm und auch ihr irgendwann zum Verhängnis werden würde. Wie oft habe ich dir gesagt, du sollst dich nicht allein auf unser Glück verlassen? Jetzt hatte es sie im Stich gelassen … „Du Monster!“, drehte sie sich ruckartig zum König herum, blitzte ihn aus wütenden Augen an – und versteinerte ebenfalls. „Nein“, war alles, was Varant leise flüsterte, als er sich von diesem Anblick losriss und vollkommen durcheinander aus dem Großen Saal verschwand. ~~ Varant seufzte. Sechs Tage waren seitdem vergangen. Sein Vater hatte das ganze Schloss durchsuchen lassen, doch den Geheimgang hatte niemand gefunden. Immer noch fühlte er diese Hilflosigkeit in sich, als seine einzigen Freunde Opfer seines Vaters geworden waren. Er würde alles tun, um die Versteinerung rückgängig zu machen. Nun noch mehr denn je. Er hoffte nur, er fand einen Weg. Er musste einfach einen Weg finden. Schritte wurden laut auf dem Gang. „Mein Prinz, ich bringe Euch Euer Frühstück.“ Keine Antwort seinerseits. Er hatte gar nicht gemerkt, wie schnell die Zeit vergangen war. Die Sonne tauchte am Horizont auf und brachte blutroten Schimmer mit sich. Ein Omen? Der junge Mann wandte sich vom Fenster ab und setzte eine ausdruckslose Mine auf. „Komm rein.“ ~~ „Euer Vater verlangt Euch zu sprechen.“ Die Worte des Dieners klangen noch in Varants Ohren nach. Es geschah nicht oft, dass sein Vater ihn sprechen wollte, aber es war auch keine Seltenheit. Eigentlich also kein Grund zur Sorge und doch verspürte er eine innere Unruhe. Ohne eine Regung zu zeigen, ging er an den Wachen vorbei in den Großen Saal hinein. Er sah seinen Vater, der den Blick entgegnete, auf dem Thron sitzen. Neben ihm stand reglos Nock, dessen schwarze Augen für keinen Moment von ihm abließen. Für einen kurzen Sekundenbruchteil verharrte Varant, als er an den neuesten Statuen vorbeiging. Wenn man genau hinsah, erkannte man den erstaunten Ausdruck in Yarels Gesicht und den wütenden in Senas. „Was wünscht Ihr, Vater?“ Seine Stimme klang emotionslos, als er Tyasur ansprach. Dieses Wort war an diesen Mann im Grunde verschwendet. Wann war er ihm je ein Vater gewesen? „Du begleitest mich morgen auf meine Reise. Wir brechen bei Morgengrauen auf. Halte dich bereit.“ Keine weitere Erklärung, nur eine Handbewegung, die ihn anwies, den Saal wieder zu verlassen. Varant nickte gehorsam, drehte sich herum und verließ den Saal mit der gleichen erzwungenen Ruhe wie er ihn betreten hatte. Das ist keine gute Wendung. Wieso will er morgen zu einer Reise aufbrechen? Das bedeutet, er wird die halbe Nacht auf sein und das wiederum bringt Schwierigkeiten mit sich, die nicht eingeplant sind. ~~ In vollkommener Dunkelheit schlich Varant den Gang entlang. Den zusätzlichen Wachen, die seit Tagen durch die Gänge patrollierten, konnten sie ausweichen. Aber wenn sein Vater mit Nock, dem Hauptmann und weiteren Soldaten über Pläne diskutierte, konnte man sie nicht im Schlaf überraschen. Verdammt. Er erreichte den nicht genutzten Abstellraum, blickte sich um und huschte hinein. Lange konnte es nicht mehr dauern, bis sie kamen. Das war der Plan, den sie geschmiedet hatten. Das, was sein Vater vorhatte, konnten sie nicht zulassen. Sie mussten einfach alles versuchen, ihn vorher aufzuhalten. Yarel hatte ihm einmal erzählt, dass ein Plan auch dann durchgeführt wurde, wenn Kameraden nicht mehr auftauchten. Keiner von ihnen würde jemals reden. Was sie einmal anfingen, das führten sie auch bis zum bitteren Ende durch. Ein Klicken kündigte das Eintreffen der Rebellen an. Varant wartete gespannt. Ein junger Mann tauchte auf, kurze rote Haare, eine Narbe auf der Wange. Er erinnerte sich an seinen Namen. Nyle. „Du bist also die Kontaktperson. Zeig uns den Weg.“ Hinter ihm tauchten weitere Männer und Frauen auf, alle mit dem gleichen entschlossenen Ausdruck im Gesicht. Varant erkannte einige wieder, denen er damals auf der Hochzeit begegnet war. Wenn er sich nicht täuschte, waren sogar die zwei Flötenspieler – Derian und Attis – unter ihnen. Doch scheinbar wurde er nicht wiedererkannt. „Es gibt ein paar Komplikationen. Der König wird im Morgengrauen zu einer Reise aufbrechen, weshalb er die halbe Nacht mit Beratungen zubringen wird.“ „Das macht nichts“, unterbrach ihn Nyle. „Wir führen den Plan trotzdem aus.“ „Gut, folgt mir“, nickte Varant in Richtung der Türe, öffnete diese und trat auf den Flur hinaus. Nun hieß es, unbemerkt zu bleiben. Eine Gruppe schickte er rechts den Flur hinunter, erklärte ihnen den Weg zum Dienstbotenbereich. Zwar rechnete er nicht damit, dass sich einer der Angestellten auf die Seite des Königs schlagen würde, aber sicher war sicher. Mit dem großen Rest machte er sich leise auf den Weg Richtung Großen Saal. Dort würde sein Vater anzutreffen sein. Sie hatten ihr Ziel fast erreicht. Noch eine Biegung und etwa zwanzig Meter, dann waren sie im Großen Saal. Er atmete bereits erleichtert auf, dass alles so gut gegangen war, doch leider hatte er sich da zu früh gefreut. Eine Tür, keine drei Meter von ihnen entfernt, öffnete sich und fünf Soldaten traten, sich leise unterhaltend, heraus. Als sie die Fremden entdeckten, gaben sie Alarm. Für eine Sekunde herrschte noch Stille, dann brach das totale Chaos aus. Überall ertönte das Geräusch von sich öffnenden Türen, schwere Schritte, die durch die Gänge hallten. „Verdammt“, fluchte Nyle. „Los, erledigt sie!“ Kampfgeschrei. Die Rebellen griffen an. Zuerst sah es gut für sie aus, da sie das Überraschungsmoment auf ihrer Seite hatten, doch nach und nach gewann die Ausbildung der Soldaten die Oberhand. Ob sie damit allerdings gegen die von Hoffnung beflügelten Rebellen gewinnen konnten, war fraglich. Doch was außer Frage stand: Viele Menschen verloren in dieser Nacht ein Familienmitglied. Varant gelang es, sich an den Soldaten vorbei zu schleichen. Ihm folgten einige Rebellen, unter ihnen Nyle, Derian und Attis. „Verdammt, ob Yarel oder Sena was ausgeplaudert haben?“, murmelte Attis vor sich hin. „Du spinnst wohl“, fuhr Nyle ihn wütend an. „Das würden sie nie.“ Der Rothaarige kannte Sena und Yarel seit Ewigkeiten und vertraute den beiden bedingungslos. Was viel mehr an ihm nagte war die Sorge um Sena … Nun standen sie vor den Türen des Großen Saals, Varant konnte die Stimmen seines Vaters und des Hauptmanns ausmachen. Nock hält sich bestimmt wieder im Hintergrund. „Drei Leute müssten in dem Raum sein. Wenn ihr ihn gleich betretet, solltet ihr euch auf das schlimmste gefasst machen.“ Er hoffte, dass diese Warnung ausreichte, doch er befürchtete das Schlimmste. Verdammt. Mit einem Ruck öffnete er die Tür und trat in den Raum. An den Wänden brannten Fackeln, die ein unstetes Licht verbreiteten. „Du stellst dich also gegen mich.“ Die Stimme Tyasurs klang emotionslos, so als wäre es keine Überraschung für ihn. „Wie du siehst.“ Varant schritt an den menschlichen Statuen vorbei, warf ihnen keinen Blick zu. Ein leises Schleifgeräusch begleitete das Ziehen seines Schwertes. Für einen kurzen Moment verspürte er so etwas wie Genugtuung, als er den Schrecken im Blick seines Vaters sah. Der König wusste, wie gut sein Sohn dank ihm mit dem Schwert umgehen konnte. „Ich habe lange genug mit angesehen, was du diesem Reich und seinen Bewohnern antust. Was du meiner Mutter angetan hast. Damit ist jetzt Schluss.“ „Ich habe wirklich gedacht, dass das Erbe deines Vaters stärker sein könnte als das deiner Mutter, doch da habe ich mich wohl getäuscht. Als ich erkannte, welchen Weg du eingeschlagen hast, wusste ich, dass wir mit dir die gleichen Schwierigkeiten haben werden wie mit deiner Mutter. Schade für dich, dass du kein so schnelles Ende finden wirst wie sie. Weißt du, wenn man ertrinkt, verliert man sehr schnell das Bewusstsein und merkt gar nicht, wie man stirbt. Dir wird dieses ‚Glück‘ nicht vergönnt sein.“ Nock sprach mit einem hämischen Lächeln im Gesicht. Wenn er daran dachte, wie einfach es gewesen war, die Königin in den Fluss zu locken … Eigentlich kaum zu glauben, dass diese Frau die Erbin eines so starken Vermächtnisses gewesen sein soll … Varant blickte Nock hasserfüllt an, bemühte sich aber, das Zittern seiner Hände wieder unter Kontrolle zu bringen. Ganz ruhig. Du hast es doch schon immer gewusst. Jetzt ist erstmal wichtig, die größte Gefahr auszuschalten und das ist der König. Also ganz ruhig. Er hob sein Schwert, rannte auf seinen Vater zu und ließ es auf ihn niederfahren. Doch bevor es sein Ziel fand, traf es klirrend auf das Schwert des Hauptmanns. „Nicht so schnell. Erst musst du an mir vorbei.“ Varant lächelte. „Das glaube ich weniger.“ Hinter dem Hauptmann tauchten Nyle und Derian auf, rissen den Mann zurück. Varant wandte seine Aufmerksamkeit wieder seinem Vater zu, registrierte nur kurz, dass sich Attis und ein weiterer Rebell auf Nock gestürzt hatten. Er würde diesem Mann, der Schuld am Tod seiner Mutter trug, gewiss keine einzige Träne nachweinen. Und doch … Er kreuzte das Schwert mit seinem Vater, wich geschickt den Hieben aus und attackierte selbst. Nun kam ihm seine Ausbildung zugute. Wie die Zeit verging, merkte er gar nicht. Er spürte keine Erschöpfung. „Du wirst bereuen, was du hier tust.“ Sein Vater keuchte, hielt das Schwert mit beiden Händen fest. Hinter ihm erhob sich ein Schatten, die Flügel gespreizt, den Schnabel wütend aufgerissen, den Blick direkt auf Varant gerichtet – doch nichts passierte. „Was …“ Der König konnte nicht glauben, was soeben geschehen oder eben nicht geschehen war. Das war unmöglich! Niemand war gegen ihn immun. Niemand – es sei denn … Er erinnerte sich an die Worte Nocks, der davon sprach, dass die Königin den edelsten Teil des Vermächtnisses in sich trug. Was eine Verbindung zwischen den zwei mächtigsten Wesen beider Seiten für Potenzial haben würde … Scheinbar hast du deinen Weg gewählt, Varant. Er spürte den Schmerz nicht, den das Schwert in seinem Bauch verursachte. Sah nicht den traurigen Ausdruck im Blick seines Sohnes ... Wie lange der Kampf wirklich dauerte, wusste hinterher keiner zu sagen. Wo bis eben noch Chaos und Lärm geherrscht hatten, kehrte nun Stille ein. Der Hauptmann und Nock lagen tot auf dem Boden. Die Überlebenden versammelten sich im Großen Saal, den Blick ungläubig auf die Steinstatuen gerichtet. Die Soldaten waren gefesselt, die schlimmsten Verletzungen verbunden. Keiner von den Rebellen war ein kaltblütiger Mörder, sie wollten lediglich, dass der Frieden in dieses Land zurückkehrte. Stille. „Du bist es, der diesem Reich den Frieden verwehrt und deswegen musst du leider den Thron räumen, Vater.“ Varants Stimme war leise, als er seinem Vater ein letztes Mal in die Augen blickte. Auch wenn er mit den Taten dieses Mannes nicht einverstanden war, ohne ihn wäre Varant nie geboren worden. Leise gesprochen und doch hallten seine Worte unendlich laut in der herrschenden Stille. Neben den fassungslosen Blicken der Soldaten, dass der Prinz den König getötet hatte, spürte er jetzt auch noch das Entsetzen in jenen der Rebellen. Fast meinte er ihre Gedanken hören zu können. ‚Der Prinz? Wieso hat er das getan? Ist er nicht genauso schlimm wie sein Vater? Wird jetzt wirklich der Frieden zurückkehren?‘ Varant erhob sich, ließ sein Schwert fallen und erwiderte keinen der auf ihn gerichteten Blicke. Vor Yarel und Sena fiel er auf die Knie und fuhr mit einer Hand ihre Gesichtszüge nach. „Ich habe mein Versprechen gehalten, hört ihr? Dieses Reich wird nicht untergehen. Nicht wenn ich es verhindern kann.“ Er konnte den Blick nicht von ihren Gesichtszügen lösen. Wie viele Menschen haben unter der Herrschaft meines Vaters leiden müssen? Wie viele Leben sind zerstört worden? Kann es überhaupt jemals Frieden geben? Ich habe meinen Vater für diesen Frieden getötet. Das Volk hat zu den Waffen gegriffen, um gegen ihren Herrscher um Frieden zu kämpfen. Wie kann Frieden, der mit Waffengewalt erkauft wurde, auf Dauer halten? Ist es überhaupt möglich, dass Menschen in Frieden leben können? Er erinnerte sich an die alten Legenden, die von Frieden erzählten. Warum konnte es jetzt nicht auch so sein? ‚Mit ihnen ist auch der Frieden aus dieser Welt verschwunden.‘ Er hörte die Stimme seiner Mutter wie aus weiter Ferne. Soll das bedeuten, Frieden ist in Azura – in Atenia – nicht möglich? Ist alles umsonst gewesen? Aber die Hoffnung, die die Menschen in sich tragen, die Hoffnung nach Frieden, ist doch echt. Also warum? Eine Träne tropfte seine Wange hinunter, fiel gen Boden. Seine Umgebung ändert sich. Plötzlich fand er sich an einem See kniend wieder, die Wasseroberfläche glitzerte im Sonnenlicht, sattes Grün, soweit das Auge reichte, gesunde Bäume und Sträucher. Wo bin ich hier? Sich umblickend, erhob Varant sich. Ein wunderschöner Ort. „Herzlich willkommen“, erklang eine sanfte Stimme, die Varants Aufmerksamkeit auf sich zog. „Wer seid Ihr?“ Er wollte seinen Augen nicht trauen. Ein strahlend weißes Pferd stand vor ihm, die Mähne wehte leicht im Wind, samtschwarze Augen, die ihn aufmerksam musterten, aber am geheimnisvollsten war das Horn auf seiner Stirn. „Weißt du das nicht?“ In Varants Ohren klang diese Frage amüsiert, leicht belustigt. „Ein Einhorn …“, flüsterte er ehrfurchtsvoll. „Wie in den alten Legenden …“ Seine Gedanken huschten nur so durch seinen Verstand, die Geschichten seiner Mutter waren präsenter denn je. „Ihr müsst mir helfen, bitte. Meine Freunde sind zu Stein erstarrt. Ihr könnt doch Versteinerungen lösen.“ Das Einhorn schüttelte den Kopf, so dass die Mähne aufwallte. „Das kann ich nicht. Ich kann meinen Wald nicht verlassen, denn nur hier kann ich überleben. Aber sei nicht traurig“, berührte es ihn sanft an der Wange. „Du besitzt die nötige Macht, um deine Freunde selber zu retten.“ Als es den überraschen Blick des jungen Mannes registrierte, sprach es weiter. „Es gibt einen Teil der alten Legenden, den ihr Menschen nicht kennt. Als wir damals Atenia verließen, blieb unser Vermächtnis dort. Ein Teil unseres Wesens, unserer Magie lebte in den Menschen weiter. Wir hegten die Hoffnung, eines Tages zurückkehren zu können. Du trägst einen Teil dieses Vermächtnisses in dir. Und auch deine versteinerten Freunde und einige von denen, die jetzt bei dir sind. Sag nicht, du hast es nicht bemerkt?“ Eindringlich musterte das Einhorn ihn. In Varants Kopf tauchten Bilder von der Hochzeit auf. Derian und Attis, wie sie alle mit ihrem Flötenspiel verzauberten. Amiya und Janis, wie sie mit einem Pfiff die Vögel zu sich riefen. Sena und Yarel mit ihrem unverschämten Glück. Das Einhorn schnaubte leise. „Ich sehe, du verstehst mich. Ihr alle tragt einen Teil unseres Vermächtnisses in euch. Feen, Faune, Elben, Einhörner …“ „Und was ist mit meinem Vater und Nock? Besitzen sie auch ein Vermächtnis? Mein Vater hatte die Fähigkeiten eines Basilisken. Ich konnte nur dieses Wesen in den Büchern finden, das diese Macht besitzt. Und Nock ähnelt mit seiner Macht, Frauen mithilfe seines Harfenspiels ins Wasser zu locken, den Wassermännern.“ „Das ist richtig. Nicht nur wir hinterließen bei unserem Weggang ein Vermächtnis. Auch die Spriggans, Wassermänner, Nachtmahre und Basilisken hinterließen den Menschen ein furchtbares Erbe, bevor sie verschwanden.“ Deswegen konnte mir mein Vater nichts anhaben. Deshalb hat sein versteinernder Blick bei mir nicht gewirkt. „Nun, junger Prinz, du weißt, was du zu tun hast. Kehre zurück und halte den Frieden aufrecht, den ihr euch heute erkämpft habt. Verliert ihn nicht wieder.“ Damit änderte sich Varants Umgebung ein weiteres Mal, helles Leuchten um ihn herum. Varant, gib nicht auf. Du kannst es schaffen. Ich weiß, dass du nicht so schwach bist wie ich. Tue das, was du für richtig hältst und es wird wieder Frieden herrschen. Kehre zu denen zurück, die dich lieben und die du liebst. Verliere diese Menschen nicht. Ich vertraue auf dich, mein Sohn. Varant blickte in die Richtung, aus der die Stimme kam, meinte dort eine Gestalt zu erkennen. Lange blonde Haare, die im Wind wehten, ein weißes Kleid … Er war sich sicher, sogar ihr liebevolles Lächeln zu sehen, spürte ihren warmen Blick auf sich ruhen. Mama … Das Licht erlosch und er fand sich im Schloss wieder, vor ihm die Gesichter Yelas und Senas. Ein leises Platschen ertönte, als die Träne auf dem Boden auftraf. Sie zersprang in unendliche viele kleine Teile, erstrahlte in einem hellen weißen Licht. Die Träne eines Einhorns ist in der Lage, Versteinerungen zu lösen. Das Licht schwand, ließ Staunen und Unglauben zurück. Die menschlichen Statuen waren nun keine mehr. Ungläubig blickte sich so manch einer um. Seit zwanzig Jahren stand die erste Statue hier. Nun lebten sie wieder. „Varant!“ Sekunden vergingen, in denen er sich keinen Millimeter bewegte. Noch war er nicht imstande zu begreifen, was soeben geschehen war. Noch schien ihm das alles zu unwirklich. Er trug einen Teil dieses Vermächtnisses in sich? Wieso? „Hey, Varant, hörst du mich?“ Eine Hand fuchtelte vor seinem Gesicht herum. „Yarel, lass den Unsinn.“ „Wieso?“, konterte er seiner Schwester. „Wenn er nicht reagiert, ist er selber Schuld.“ „Yarel …“ Sein Verstand hatte alles nun halbwegs verdaut und er war wieder in der Lage klar zu denken. Stürmisch umarmte er den Mann und riss ihn dabei zu Boden. „Ich habe mir solche Sorgen um dich gemacht.“ „Hey, ist doch alles gut gegangen. Ich habe dir doch gesagt, solange wir unsere Hoffnung nicht verlieren, können wir nur gewinnen.“ Yarel grinste schelmisch, hatte die Zeit der Versteinerung scheinbar gut überwunden. „Aber verrätst du mir mal, wieso wir wieder leben?“ „Das ist eine lange Geschichte …“, wich Varant aus. Würde man ihm glauben, wenn er von dem Vermächtnis erzählte? „Sehr gut. Ich habe Zeit. Sehr viel Zeit.“ „Yarel! Sena!“ Nyle und Attis kamen auf sie zu. „Nyle, schön dich zu sehen. Habt ihr uns vermisst?“ Sena trat ihnen entgegen, umarmte sie. „Wie ich sehe, habt ihr es auch ohne uns geschafft.“ „Natürlich, wir sind schließlich keine kleinen Kinder mehr. Aber wenn du uns beim nächsten Mal wieder nur die halbe Wahrheit über Kontaktpersonen erzählst, kannst du was erleben!“ Nyle blickte sie wütend an, die Arme vor der Brust verschränkt. „Ach ja? Du willst mir drohen? Du? Das ich nicht lache!“ Sena ging an ihm vorbei, zog ihn dabei mit sich. Sie konnte sich sehr gut vorstellen, wie es in ihm aussehen musste. Wenn sie sich nicht irrte, was es jetzt sechs Tage her, seit … Sie schüttelte den Kopf, verscheuchte den Gedanken wieder. Jetzt wird alles gut. „Komm, wir haben noch einiges zu tun, bis wir das Chaos in diesem Reich beseitigt haben und die Nacht ist noch lang.“ Varant ließ seinen Blick von ihr zurück zu Yarel wandern. Er hatte seine Freunde wirklich vermisst und war nun unendlich froh, sie wieder zu haben. „So, mein Freundchen, und jetzt will ich die ganze Geschichte hören. Als ich versteinert wurde, habe ich ganz eindeutig die Umrisse eines Basilisken hinter deinem Vater gesehen und du hattest gerade verblüffende Ähnlichkeit mit einem Einhorn. Also, ich höre.“ Yarel blickte ihn auffordernd an. „Tja, weißt du … das vertagen wir wohl besser auf später. Jetzt sollten wir erstmal den anderen helfen, ein bisschen Ordnung zu schaffen.“ Damit zog er Yarel auf die Beine. Der Frieden hält jetzt wieder Einzug in dieses Reich. Wir haben alle Zeit der Welt, Geschichten zu erzählen … ~~ Das Einhorn blickte noch einige Augenblicke auf die Stelle, wo Varant gekniet hatte. Noch nicht einmal Abdrücke waren im Gras zurückgeblieben. Es wandte sich mit einem leisen Wiehern vom See ab und tauchte ins Dickicht des Waldes ein. Vielleicht ist der Tag unserer Rückkehr ja näher als wir denken … ~ Ende ~ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)