Perfect only in his imperfection von Selia ================================================================================ Kapitel 2: 99 von 100 Punkten ----------------------------- Ihm war nie aufgefallen, wie verstörend die Ziffern aus der Hand seines Lehrers auf ihn wirkten. Wie Lutscher, zwei Stück, direkt nebeneinander aufgereiht, gen Himmel ragend und darum bittend, sie zu pflücken, um sich die Zähne an ihnen zu verderben. Ja, ihr Anblick bereitete einem Zahnweh. Langsam kroch das eigene Augenmerk von dieser Unbekömmlichkeit herunter und auf die daneben platzierte Zahl. Sie war satt, vollendet, dreistellig, einfach perfekt – und mit Hilfe eines Schrägstriches deutlich von der 99 abgetrennt. In Anbetracht dieser Tatsachen war es nicht weiter verwunderlich, dass einem von der merkwürdigen 99 übel wurde. Ken hatte sie nie zuvor zu Gesicht bekommen. Die 100, die kannte er gut, quasi in- und auswendig, und das seit Jahren. Bei ihm waren es immer 100 Punkte gewesen, immer 100 Prozent. Doch jetzt, jetzt war er mit schweren Gedanken, trübem Herzen und nur halb anwesenden Verstand, der unter Melancholie und Schuldgefühlen begraben lag, wieder in der Schule, saß an seinem Tisch und betrachtete mit verklärtem Blick das ausgehändigte Blatt. Diesen Test hatte er vor zwei Tagen geschrieben; es handelte sich um eine simple Hausaufgabenkontrolle. Vor zwei Tagen war er seit einer gefühlten Ewigkeit erstmalig wieder in die Schule gegangen, nachdem er sich aus einer ihn umschlingenden Umarmung seiner Mutter am Morgen gelöst hatte. Seine Mutter schien ihn kaum aus ihrer Obhut lassen wollte. Irgendwo in ihr war die Angst noch immer tief verwurzelt und bereitete sie darauf vor, dass wenn ihr Sohn das nächste Mal aus der Tür ging, er nicht wiederkäme. So wie ursprünglich einmal von Ken geplant… Die Erinnerung legte sich bitter auf seine Zunge und ließ ihn schwer schluckend die Hand herab senken, bis die Finger auf den roten Ziffern auftrafen. Die Berührung wirkte surreal und Kens Finger rutschte umgehend von den beiden Neunen herunter. „Er hat nur 99 Punkte!“ „Na sieh einer an!“ Das Wispern ließ den Dunkelhaarigen das Kinn heben und seinen Blick regelrecht erschrocken zur Seite schnellen. Der Junge am Pult neben ihm flüsterte mit seinem Hintermann; beide wirkten ertappt und hielten doch dem Blick aus den blauen Augen stand. Erst unsicher, dann zunehmend selbstbewusster. Ken kannte das nicht, nicht so. Das war nicht die Welt und auch nicht das Leben, was er verlassen hatte, als er noch als junges Genie gehandhabt worden war. Nie hatte jemand in seiner direkten Anwesenheit so über ihn zu tuscheln gewagt – geschweige denn sich getraut, ihm so direkt Parole via Blick zu bieten. Aber er war eben nicht mehr der Mensch, der er mal war. Der in solch einem Moment unerbittlich zurückgestiert hätte, scharf und schlitzend, bis sein Gegenüber aus der Befürchtung heraus, ihm würde wie durch einen gut angesetzten Skalpellschnitt die Bauchdecke aufplatzen, aufgegeben hatte. In jenen Tagen hatte ein Blick genügt, ein Heben des Kopfes; alles ging dank des unabänderlicher Stolz, den Ken auf den geraden Schultern getragen hatte, die er heute für alle anderen deutlich sichtbar vorbeugte. Kein Wunder also, dass die Leute witterten, dass er sich veränderte. Hatten sie ihn nicht allesamt bewundert? In ihren Träumen danach gelechzt wie er zu sein? Sich nach seinem Verstand, seinem Talent, seinem Können verbogen wie zusammengepferchte Sterbende in einer Grube, denen man nur ein einziges Seil hinab ließ und das es zu erreichen galt? Sie hatten keine Ahnung, was sie tatsächlich bewundert hatten… Jedenfalls nicht ihn, Ken. Nur diesen Tyrann, der unter dem Einfluss der Saat der Finsternis aus Ken herangereift war. Und doch schienen sie ihn lieber zu mögen, mehr zu respektieren als sein wahres Ich, das zwischen unsicheren Gesten und schüchterner Zurückhaltung in die Welt hinaus lugte. Der Gedanke schmerzte, irgendwo. Aber wie sollten sie auch einen Menschen mögen, der sich selbst nicht mochte. Nicht für das, was er einst war und leider auch nicht für das, zu dem er wieder geworden war. Man war nichts Besonderes. Vielleicht besonders dämlich, überhaupt erst der Dunkelheit so zum Opfer gefallen zu sein und bis zum Ende zu glauben, die Kontrolle nie verloren zu haben… Die Aufmerksamkeit zurück auf seinen Test fallen lassend, ließ Ken diesen in der zum Fach gehörenden Mappe verschwinden und erhob sich mit dem nun durchs Klassenzimmer hallenden Gongschlag. Seine letzte Stunde war vorüber; er wusste nicht, wieso er seine Zeit in der Schule absaß. Er hatte damals so viel vorgelernt, er brauchte den aktuellen Unterricht eigentlich nicht. Hingegen gab es so viel zu tun in der Digiwelt, aus der er ein einziges Chaos gemacht hatte in seinem Wahnsinn… Das schlechte Gewissen beschleunigte seine Schritte. Hinter ihm wurde gekichert. Er spürte die beißende Beobachtung im Nacken wie Insektenstiche. Gift, entstanden durch Hohn, trieb durch seinen Körper, wurde bis ins Herz transportiert und beschleunigte seine Atmung. Raus. Raus aus dem Zimmer, aber nicht zu schnell, sonst würden sie noch mehr lachen. Auf dem Gang, dort dann erheblich schneller. Laufen war in der Schule allerdings verboten, strengstens. Das Bedürfnis zu rennen heulte in Ken auf und ließ ihn blinzeln. Der irrationale Glaube, es nicht aus dem Gebäude zu schaffen, manifestierte sich plötzlich in seinem Kopf. Er hatte nur 99 Punkte erzielt. Das hätte es bei dem früheren Ken niemals gegeben. Der frühere Ken wäre auch nicht von Panik getrieben durch die Gänge gehastet, sich fortwährend selbst zum langsamer werden ermahnend. Der frühere Ken wäre erhobenen Hauptes durch die Schule marschiert, die ihm und nur ihm zu gehören schien und ihn zugleich nicht verdiente. Vor ihm hätten sich die Schülermassen in zwei geteilt und einen Weg frei gegeben, so wie das Meer vor Moses. Jetzt hingegen musste er drängeln und war doch zu freundlich, andere zu überholen. Der Bürgersteig unter seinen Füßen war wie ein Startschuss und Ken rannte, über die graue Fläche und blindlings vorbei an den Passanten. Sich nur schwer stoppen könnend an einer Ampel und deswegen beinahe einen Unfall habend. Das Gefühl des Schreckens darüber war wie eine schallende Ohrfeige, die Sammys Handabdruck auf seinem Gesicht hinterließ. Keuchend wie selten, erreichte Ken sein Wohnhaus und beugte sich, die Hände auf die Knie stützend, im Aufzug nach vorne. Mit lauten Stößen drängte sich der Sauerstoff in seine Lungen und wieder hinaus. Ihm war zu schwindelig zum Denken, das war gut. Die Bilder waren fort. Diese unzähligen Bilder von diesem furchtbaren Menschen, der er in den letzten Jahren war und dessen hämisches Lachen Ken noch immer zu hören glaubte. Wankend verließ man kurz darauf den Aufzug und schleppte sich zur Wohnungstür. Der Schlüssel weigerte sich, von der zitternden Hand ins Schloss gesteckt zu werden und als Ken es endlich vollbracht hatte, schien sich die Erschöpfung des Tages über ihm zu ergießen. Wie bei der Pechmarie konnte ihm jeder direkt ansehen, dass er etwas Furchtbares getan hatte. Das war es. Das machte die Welt so anders, zu einer 99 von 100 Punkten-Welt. Er realisierte, was er tat… „Ken? Bist du schon da?“ Ein Geschirrtuch in den Händen haltend, trat Frau Ichijouji – deutlich hörbar über die frühe Rückkehr ihres Kindes überrascht – in den Flur. Ihr Lächeln wich einer Blässe, als sie Ken erblickte. „Ken, was ist denn? Du bist ja völlig außer Atem!“ „Mir..mir geht’s gut, Mama.“ Beschwichtigend hob Ken seine dunkle Schultasche vor die Brust. Seiner Mutter Sorgen zu bereiten, war nicht seine Absicht gewesen und ließ ihn beschämt erröten. Er machte Fehler um Fehler… Selbst jetzt, wo er es besser wissen müsste, war er immer noch ein Abgrund der Imperfektion. „Ja, aber…“ Seine Mutter schüttelte lediglich alarmiert den Kopf; ihre Augen schimmerten so verdächtig, als würde sie jeden Moment zu weinen beginnen. Sich dadurch noch schuldiger fühlend, visierte Ken den Boden an und probierte, seinen rasselnden Atem bestmöglich einzudämmen. Er war ein Idiot. Ein totaler Idiot. Schnell wechselte er von seinen Schuhen in seine Pantoffeln und zwang ein unglaubwürdiges Lächeln auf seine Lippen, die sich scheinbar mit Leibeskräften gegen die Form zu wehren schienen. „Ich leg mich vor dem Essen noch mal kurz hin, ja?“ „Na gut“, stimmte seine Mutter zögerlich zu. „Das wird wohl das Beste sein. Ruh dich aus.“ Sie würde einen nicht wecken, wenn man denn tatsächlich tief schlafen würde, wenn es Essen gab. Dies definitiv wissend, schlich Ken reumütig in sein Zimmer. In seiner Brust ein Stein so schwer wie ein Felsen. Was seine Mutter jetzt wohl dachte…? Sie hatte sich schon genug um ihn gesorgt. Sie hatte schon genug um ihn geweint. Eigentlich hatte er sich geschworen, ihr das zu ersparen. Trotzdem schaffte er es nicht. Wie auch, wenn er nach Hause kam und den Eindruck erweckte, der Leibhaftige wäre hinter ihm her? Dabei waren seine einstigen Vergehen, seine Erinnerungen, das Einzige, was ihn jagte. Wohl für immer jagen würde und so unabschüttelbar war wie sein eigener Schatten… Sich Schweiß von der Stirn wischend, stellte man seine Schultasche neben den Schreibtisch und starrte auf den dunklen Computerbildschirm. Im Zimmer schwirrte Kens Atem wie ein ruheloser Geist umher. Er hatte 99 von 100 Punkten erzielt. Seine Mutter war betrübt. Die Welt war kaputt. Seine Welt war kaputt… Die Sicht verschwamm ihm schlagartig und lag wie ein Schleier über seiner Umwelt, als er nun in sein Hochbett hinauf kletterte. „Ken?“ Ein verschlafenes Wormmon öffnete ein Auge und war auf Anhieb hellwach, als es seinen Digimonpartner neben sich in die Kissen fallen sah. Wie auf Knopfdruck sprang es auf und versuchte, Zugang zu dem Menschen zu finden, der auf dem Bauch lag, das Gesicht aufs Kissen gedrückt, die Arme darum platziert. „Was ist los, Ken? Bitte sag doch was! Du weinst ja…“ Die letzten Worte wisperte Wormmon nur noch, wohl wissend dass Ken trotz seiner sensiblen Seite noch immer erhebliche Probleme hatte, mit seinen Gefühlen umzugehen. Es schien viel zu viele Emotionen zu geben, als dass der Dunkelhaarige sie vertragen oder gar verarbeiten konnte. Wormmon wünschte sich bei jedem Albtraum und jedem finsteren Gedanken Kens, es wäre anders. Doch Ken bewältigte sie Wormmons Meinung nach tapfer, wenn man die Umstände betrachtete. Selbst schien Ken das nur nicht zu realisieren… Auf allen zehn Beinchen kroch Wormmon noch etwas näher an Ken heran, bis der Geruch der stillen Tränen die Luft deutlich durchtränkte. „99 von 100.“ Das Flüstern war akustisch nahezu einwandfrei und doch wusste das Digimon nichts damit anzufangen. „Wovon redest du da, Ken? Ich…ich bin leider nicht klug genug, um dich zu verstehen“, gestand Wormmon zu seiner Schande verlegen ein - wie schon viel zu oft im Leben. Es war mit seinem Partner verbunden, im Herzen, ja, und doch schienen Kens Gedanken nicht immer ein offenes Buch zu sein. Zu seiner Zeit als Digimonkaiser hatte Ken immer erpicht darauf geachtet, dass niemand in ihm lesen konnte. Damals war es Wormmons Intuition alleine vorbehalten gewesen, Situationen einzuschätzen… „Punkte. 99 von 100.“ Wormmon stockte kurz und versuchte die Puzzleteile im Kopf zusammen zu setzen. Ken kam aus der Schule. Ging es um eine Arbeit? Ja, das musste es doch sein, oder? „Das..das sind doch viele Punkte“, kommentierte es schließlich vorsichtig. Nicht wissend, ob diese Aussage seinem Ken tatsächlich weiterhelfen würde oder gar alles verschlimmerte. „Ich hatte noch nie 99 von 100 Punkten.“ Der Satz war ein Murmeln, bei dem Ken das Gesicht leicht drehte. Die Stimme etwas rauer als sonst, blinzelte er gegen das trübe Licht. Seine Jalousie war zu ¾ herunter gezogen und das wenige Licht, was von draußen ins Zimmer fiel, zeigte sich nicht unbedingt hier oben, auf seinem Bett über dem Fenster… Wormmon rückte ein Stückchen beiseite. Die Fühler deprimierend herab hängend, da es Trost spenden wollte, wie schon so häufig, und Ken in seiner Depression und Trauer vermutlich wieder auf dem falschen Fuß zu erwischen schien. „Aber das ist doch nicht schlimm…“ Bei der Anmerkung duckte sich Wormmon instinktiv und sog Luft ein, als sein Gesprächspartner nun die eine Hand dazu benutzte, sich die Tränen vom Gesicht zu wischen. Kens Augen waren deutlich gerötet; das Bild brannte sich wie ein heißes Eisen in Wormmons Herz. Es hielt die Luft an, als Ken nun bitter zu lächeln begann. „Nein… Ist es nicht…“ Sein Lächeln zerbrach. „Schlimm ist, dass ich selbst jetzt, wo ich wieder ich bin, immer nur Fehler mache…“ Das Gesicht erneut im Kissen vergrabend, musste Ken schluchzen. Wohl wissend um seine Mutter, die besorgt in der Küche das Essen zubereitete und ihren Augen nach zu urteilen in Angst davor lebte, dass sich Ken womöglich etwas antat. Wohl wissend um sein besorgtes Digimon, dem er schon so viel Leid zugefügt hatte und das sich nichtsdestotrotz tröstend an ihm schmiegte. Wohl wissend um die Welt, in der er einen Fehler nach dem nächsten zu machen schien, ohne auch nur die Chance zu haben, jemals wieder sein Fehlerkonto aus den roten Zahlen heben zu können. Wohl wissend, dass 99 von 100 Punkten in einer Schularbeit sein geringstes Problem waren, nachdem er eine ganze Welt beinahe zerstört hatte und nicht wusste, wie er mit dieser Schuld leben sollte. Ende Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)