Tief von -Moonshine- ================================================================================ Kapitel 1: ----------- Bewusst wahrgenommen hatte ich ihn erst, als ich schon an ihm vorbeigefahren war. Mein Kopf schnellte herum, aber der Wagen war zu schnell, und ich sah nur noch die Rückansicht eines Mannes mit schwarzen Haaren. Die Farbe stimmte, aber ich war mir sicher, mein Unterbewusstsein hatte mir einen Streich gespielt. Ich war zu unachtsam gewesen, geistesabwesend, und deshalb hatte ich mich geirrt. Ganz einfach. Ich versuchte, mich wieder zu entspannen, aber mein unruhiger Herzschlag ließ sich nicht einfach durch fadenscheinige Ausreden beruhigen. Das nächste Mal, das ich ihn wieder sah, war nur zwei Tage später. Er stand vor meiner Tür und ich glaubte irgendwo in den Tiefen meiner Gehirnwindungen, dass das noch immer eine reine Fata Morgana war. Schon wieder. Ich starrte ihn an. Ich betrachtete ihn nicht, ich starrte nur. Erst später würde mir auffallen, dass er noch immer dieses dichte schwarze, weiche Haar hatte, die leicht gekrümmte Nase, diese blauen Augen. Keine tiefseeblauen Augen und auch keine himmelblauen. Einfach blau, das mehr einem Grau glich, ein bisschen trüb sogar. Mir würde auffallen, dass er müde aussah. Nicht so, als hätte er tagelang nicht geschlafen, vielmehr so, als würde das Gewicht der gesamten Welt auf seinen Schultern lasten. Aber bis dahin stierte ich ihn einfach nur an. Meine Fata Morgana. Wie ein böser Traum. "Hi", sagte er dann schließlich und, vollkommen fassungslos, schüttelte ich nur den Kopf. Ich wollte so vieles sagen: Warum bist du wieder hier? Was erlaubst du dir, einfach so hier aufzutauchen und dann noch mit so etwas Lapidarem wie einem "Hi"? Aber ich schüttelte nur meinen Kopf, und ich glaube, er verstand auch so. "Hi", antwortete ich dann leise. Er senkte den Blick, als könnte er es nicht ertragen. Es war so lange her. Viel zu lange. Wir sollten uns um den Hals fallen, uns versichern, wie sehr wir uns verändert hatten, oder auch, dass wir uns gar nicht verändert hatten, und uns zu unseren erfolgreichen Leben gratulieren und Dinge sagen, wie "Weißt du noch damals?" und darüber lachen. Eigentlich sollte mich das nicht so mitnehmen. Und ihn auch nicht. Er sollte nicht hier stehen, so befangen, und ich sollte nicht hier stehen, so wütend und verletzt. So gekränkt, wie ich es schon vor zehn Jahren war. Ich sollte erwachsen geworden und darüber hinweggekommen sein, und ich dachte auch, das wäre ich, aber jetzt stand er hier und ich war noch immer das siebzehnjährige Mädchen von damals, das am Straßenrand stand und einem davonfahrenden Kleinlaster hinterher blickte, zu getroffen, um zu weinen, und zu sprachlos, um zu schreien. "Ich bin wieder da", sagte er verlegen. Aber ich konnte ihn nicht anschauen und nichts darauf erwidern, deshalb blickte ich an ihm vorbei. In seinem Auto, einem älteren Ford-Modell, saß ein Mädchen mit schwarzen Haaren. Sie unterhielt sich mit jemandem, der nicht da war, aber erst da sah ich, dass sie eine Puppe auf dem Schoß hatte und fröhlich auf sie einredete. "Ist das deine Tochter?" Sein Blick wurde weich und sanft, als er sich umdrehte und das etwa neunjährige Mädchen betrachtete. "Ja. Ja, das ist... meine Tochter", schloss er lahm und sah ein wenig nervös aus, als er sich wieder mir zuwandte. Ich schwieg. Er nicht. "Hör zu... können wir reden?" Wir standen immer noch sprichwörtlich zwischen Tür und Angel. Wahrscheinlich hatten wir uns dort nie wegbewegt, seit dieser schicksalhaften Sommernacht vor etlichen von Jahren. Ich trat einen Schritt zurück, und er dachte schon, dass ich ihm anbiete, hereinzukommen. Sein Gesicht hellte sich auf, als wäre eine große Anspannung von ihm abgefallen, aber das hatte ich nicht vor. Ich legte die linke Hand auf die Türklinke und schüttelte den Kopf. Mein ganzer Körper schmerzte, so wie damals, nur dass es nicht wirklich physischer Schmerz war. Es fühlte sich nur so an. Es war schwierig und qualvoll, jemanden gehen zu lassen. "Lieber nicht." Er machte einen Schritt auf mich zu. In seinem Gesicht lag so etwas wie Verzweiflung. Ich wusste, wie sie aussah. Ich hatte sie oft im Spiegel gesehen. "Bitte..." Ich hielt inne. "Ich habe dir geschrieben." Und ich habe jeden einzelnen Brief gelesen, beweint, ihm aber dennoch nie verziehen. "Ich weiß." Er sah nicht überrascht aus. "Du hast mir nicht geantwortet." Auch hier nickte ich. Wieder schwiegen wir. Da lagen so viele unausgesprochen Worte zwischen uns. Unausgesprochene Vorwürfe. Dann brach ich das Schweigen. "Was willst du hier?", fragte ich leise und fürchtete gleichzeitig seine Antwort, obwohl ich sie mir auch erhoffte. Er sagte es. "Dich. Mir dir reden. Mich entschuldigen." Ich machte den Mund auf und schloss ihn wieder. Darauf gab es nichts zu sagen. Er wollte anscheinend keine Zeit verlieren und sprach schnell weiter. "Wir haben uns getrennt, wir... du weißt schon. Sie und ich. Wir sind geschieden, schon lange. Ich... ich will das in Ordnung bringen." "Das zwischen uns ist schon lange vorbei", entschlüpfte es mir ungewollt. Ich wunderte mich darüber, dass ich so kühl und abweisend klang, so ruhig, obwohl alles in mir schrie. Zu tief saß die Kränkung. Und zu schwer wog der Verrat. Er ließ den Kopf hängen, als wären seine schlimmsten Befürchtungen eingetreten. "Ich weiß." "Du bist einfach gegangen." Es war durchaus ein Vorwurf, auch, wenn es sich nicht so anhörte, und er wusste es auch. "Ja. Ich weiß. Ich musste." Freudlos lachte ich auf. 'Ich musste' - das hatte er mir auch tausendfach in seinen Briefen geschrieben, sich zu erklären versucht. Aber die Wahrheit blieb immer die Wahrheit. Er hatte mich verlassen. Und ich hatte ihn geliebt. "Du hattest eine Wahl." Er schaute zurück zu seinem Wagen. Seine kleine Tochter starrte mittlerweile neugierig zu uns herüber und er lächelte, als sich ihre Blicke trafen. Das versetzte mir einen Stich ins Herz, den ich nicht vorausgesehen hatte. "Ich habe mich richtig entschieden. Das kannst du mir nicht vorwerfen." Das war das erste Mal, dass er nicht entschuldigend, sondern entschieden und selbstbewusst klang. Und er hatte recht: Natürlich konnte ich ihm das nicht vorwerfen. Immerhin war ich diejenige, die die Verbindung zwischen uns endgültig gekappt hatte. Aber er, er hatte es mir erst möglich gemacht. Trotzig schwieg ich und sah wütend an ihm vorbei. Ich hasste es, im Unrecht zu sein. Er lächelte, wieder entschuldigend. Wahrscheinlich sah er seine Mission schon halb erfolgreich hinter sich gebracht. "Sie heißt Alicia." Diesmal schaute ich ihn an. Nein, ich glotze ihn regelrecht an. "Was?!" Alicia. Das war mein Name. Mein Zweitname, um genauer zu sein, aber er gehörte zu mir, das war ich! Er lächelte wieder und nickte nur zustimmend. Wahrscheinlich dachte er, dass mich das besänftigen würde, aber ich spürte unkontrollierte Wut in mir aufsteigen. All das, was niemals mehr hätte ans Tageslicht kommen dürfen, all das, das ich tief in mir vergraben hatte. "Du hast... das Kind einer anderen... nach mir benannt?", brachte ich hervor, um Fassung ringend. Sein freundlicher Gesichtsausdruck erstarb. Aber ich war noch nicht fertig. "Du schwängerst sie... lässt dir einreden, sie heiraten zu müssen, haust einfach ab... und dann benennst du deine Tochter nach mir?" Selbst in meinen Ohren klang ich hysterisch, aber ich konnte den unbändigen Zorn nicht mehr zurückhalten. "Und jetzt stehst du hier... und..." "Du weißt, dass ich dich nicht hintergangen habe", sagte er, ein wenig beunruhigt von meinem Ausbruch. "Wir sind erst zusammengekommen, nachdem..." Ich unterbrach ihn. "Ich kannte dich mein ganzes Leben!" Er senkte den Kopf. "Ja. Ich weiß." Es ging mir nicht darum, dass er vorher mit ihr zusammen gewesen war, obwohl wir schon seit Jahren umeinander herumscharwenzelt sind und uns nie getraut haben, einen Schritt weiterzugehen, zuzugeben, mehr als nur Freundschaft füreinander zu empfinden. Und dann, als es doch passierte, waren uns nur wenige Wochen vergönnt gewesen, bis sich Unglück und Konvention zusammenfügten. Sie erwartete ein Kind und die Eltern bestanden auf eine Hochzeit. Das gehörte sich so. Wie konservativ, hatte ich damals verbittert gespottet, dass er mit dieser Frau, die er nicht einmal liebt, einfach ein neues Leben anfängt, nur aus Pflichtbewusstsein heraus. 'Sei froh, dass du es nicht bist', hatte mein Vater zu diesem Zeitpunkt noch gesagt und meine Schulter getätschelt, als würde das alles wiedergutmachen. Aber ich war es. Die unglückselige Gestalt in dieser ganzen Tragödie war ich. "Es tut mir leid." Er machte Anstalten, sich umzudrehen und wieder zu gehen, tat es aber doch nicht. "Ich wusste nicht... so hatte ich dich immer bei mir, verstehst du?" Auf erschreckende, irrationale Weise verstand ich. Ich verstand ihn so gut. Aber es wäre mir lieber gewesen, ich würde es nicht tun. Irgendwo drinnen im Haus klingelte mein Handy, aber ich hörte gar nicht richtig hin. Sollte die Mailbox sich mit diesem störenden Anrufer herumschlagen. Das Mädchen - Alicia - hatte ganz offensichtlich gemerkt, dass hier etwas ganz und gar nicht gut lief, und war verschüchtert aus dem Auto geklettert. Sie war klein und dürr und hatte ein rosa-weißes Sommerkleid an. Unschlüssig stand sie neben dem Wagen und schaute besorgt zu uns herüber. "Daddy?", rief sie dann, mich ängstlich musternd. "Fahren wir nicht ins Schwimmbad?" Für den Bruchteil einer Sekunde brannte sich sein Blick - den ich seinerzeit nie als intensiv empfunden hatte - in meinen, doch dann drehte er sich um und lächelte wieder ganz müde und erschöpft. "Doch, gleich. Bitte warte noch ein bisschen, ja?" Sie nickte, ohne mich aus den Augen zu lassen, und schlenderte um das Auto herum, wahrscheinlich, um etwas von unserem Gespräch mitzubekommen. Ich senkte meine Stimme. "Du solltest gehen." Es war unglaublich schwierig, das auszusprechen. Aber vielleicht war es nötig. Damals war er gegangen und hatte mich zurückgelassen, als ich noch nicht bereit gewesen war, ihn zu verlieren. Und heute, heute würde er gehen, weil ich ihn wegschickte. Seine Schultern sackten in sich zusammen. "Es tut mir leid", sagte er wieder leise. "Mir auch", flüsterte ich. Er drehte sich um und machte mutlos ein paar Schritte zu seinem Wagen hin, blieb aber dennoch stehen. "Vielleicht... laufen wir uns ja über den Weg? Ich wohne ganz in der Nähe." Seine Stimme erstarb. Ich sah ihn an und sagte nichts. Dann schloss ich die Tür und lehnte mich dagegen, atmete ein paar Mal tief durch. "Mom!", hörte ich schwach aus der Küche rufen und innerhalb weniger Sekunden stand der neunjährige, schwarzhaarige Junge vor mir und runzelte verärgert die Stirn. "Ich kann mein neues Computerspiel nicht finden! Weißt du, wo es ist?" Manche Verletzungen, die sitzen einfach viel zu tief. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)