Herren der Drachen von Scarla ================================================================================ Kapitel 1: Eine neue Bekanntschaft ---------------------------------- »Erzählt er ihnen wieder Märchen, Ayra?«, Gora blickte fragend und auch ein wenig Missmutig das Mädchen an, das durch die Tür getreten war. »Ja«, antwortete diese, »diesmal die Geschichte über den Anfang der Welt.« »Solch ein Humbug, er sollte den Kindern nicht solche Flausen in den Kopf setzen, am Ende glauben sie es noch«, knurrte Gora. »Nun, auch Dura wird alt, und du weißt doch: Alte Leute erzählen gerne, also nimm es ihm nicht übel«, versuchte Ayra zu beschwichtigen, auch wenn sie sehr genau wusste, das es eigentlich keinen Sinn hatte. »Leider…«, knurrte Gora böse. »Er sollte die Kinder lieber ihre Aufgaben verrichten lassen, damit würde er uns bessere Dienste tun. Du ahnst ja gar nicht, mein liebes Kind, wir gut es tut, das du nicht mehr stundenlang bei ihm sitzt und dir seine Hirngespinste anhörst.« »Ab und an höre auch ich noch gerne seinen Geschichten zu. Aber natürlich erst dann, wenn ich alles getan habe, was zu meinen Aufgaben gehört«, lachte sie. »Gelegentlich ist da auch nichts gegen einzuwenden«, begann Gora vorsichtig in einem Ton, bei dem mit Sicherheit noch ein >aber< folgen würde. Und so wunderte es Ayra nicht, als es auch kam. »Aber nicht den ganzen Tag lang und auch nicht, wenn wir weiß Gott besseres zu tun haben!« »Ach, gönne ihnen doch diese kleine Freude«, meinte Ayra lächelnd. Sie wusste nur zu genüge, das Gora gerne über alles tobte und von jedem eine schlechte Meinung hatte, das ganze aber meist gar nicht so böse meinte. Gora sah sie giftig an und Ayra wusste, das sie jetzt besser nichts mehr sagte, wenn sie nicht wollte, dass die ganze aufgestaute Wut sich auf ihr entlud. Gora war wirklich nicht gut auf den alten Geschichtenerzähler zu sprechen. Also schwieg sie, doch in ihren spöttisch blitzenden Augen sah ihr Ziehvater auch so die Worte, die sie nicht auszusprechen wagte. »Los, geh und hol Lera her. Er sitzt ganz gewiss auch wieder bei Dura und horcht seinen Märchen und lässt dabei unsere Schafe von den Wölfen fressen«, knurrte er. »Nicht unbedingt, als ich eben gekommen bin, saß er nicht bei den anderen Kindern. Vielleicht war dein Sohn ja heute zur Abwechslung einmal brav und hat Schäfer gespielt«, widersprach Ayra. »Ich würde mich nicht darauf verlassen, also sieh zu, das du ihn findest und hol ihn nach Hause. Er ist eh schon spät dran, egal ob er nun aufgepasst, oder albernen Geschichten gelauscht hat«, für Gora war hier das Gespräch sichtlich beendet, denn er wandte sich um und arbeitete an seiner Schnitzerei weiter. Ayra blieb noch einen Moment lang sitzen, dann erhob sie sich mit einem Seufzer, und ging zur Tür. Schnell streifte sie sich ihre Jacke über und schlüpfte in den kalten Herbstabend hinaus. Goras Haus lag sehr Zentral im Ort, weswegen ihr Weg zum Dorfplatz, an dem Dura seine Geschichten zu erzählen pflegte, nicht weit war. Hier erbot sich ihr nun ein Anblick, den sich die Leute aus den anderen Dörfern der Umgebung nur zu sehr gewünscht hätten, zumindest gelegentlich. Trotz der bitteren Kälte, die dieses Jahr früh in das Land eingezogen war, saßen alle Kinder des Dorfes still lauschend beisammen und ließen sich von einem alten Mann erzählen, wie einst die Welt entstanden war. Nur ein Kind fehlte. Sie konnte Lera beim besten Willen nicht entdecken. »Dura, ist Lera gar nicht hier?«, fragte sie zur Sicherheit noch einmal nach. Sogleich hielt der Mann in seinen Erzählungen inne, um ihr zur Antworten. »Nein, meine Schneeblume, er ist nicht hier. Ich habe ihn den ganzen Tag schon nicht zu sehen bekommen, ich dachte, er habe sich erkältet, nachdem er gestern in den Fluss gefallen war«, antwortete Dura. Er nannte sie immer Schneeblume, auch wenn Ayra nicht wusste, wieso, und er bei einer entsprechenden Frage nur wissend lächelte. Sie hatte Vermutungen angestellt, sich selbst mit einer Schneeblume vergleichen, ohne auch nur ein einziges Mal eine Ähnlichkeit festzustellen. Schneeblumen waren immerhin wunderschöne, reinweiße Blumen, die nur sehr selten und auch nur in ganz wenigen Gegenden blühten. Unter den Reichen und Mächtigen dieses Landes waren sie heiß begehrt, sodass die Dörfler diese seltenen Blumen abpflückten und verkauften, wann immer sie eine fanden. Doch Ähnlichkeit hatte Ayra mit ihnen weiß Gott nicht, zumindest empfand sie es so. Bisher hatte sie sich selbst nur im Bach sehen können, nie in einem richtigen Spiegel, doch so groß würde der Unterschied schon nicht sein, hatte sie immer schon gefunden. Sie war eben keine Schönheit, ob nun in einem Bach oder in einem richtigen Spiegel war da letzten Endes einerlei. Eine andere Eigenschaft der Schneeblumen war, dass sie nur bei Schnee blühten, Ayra mochte zwar den Schnee, aber nur wenn sie drinnen im warmen sitzen konnte. Kälte und Nässe war ihr zuwider. Die einzige Verbindung lag vielleicht darin, das Ayra im Winter zur Welt gekommen war. Keiner hier zählte die Tage oder die Wochen, hier galten nur Jahreszeiten, nichts anderes und der Tag ihrer Geburt war mitten in einem sehr harten Winter gewesen, in dem es mehr geschneit hatte, als üblich. Und dennoch, ihrer Meinung nach war auch das kein Grund, dass sie jemand Schneeblume nennen mochte. Doch in diesem Augenblick war das alles egal und schon gar nichts, worüber man sich Gedanken machen würde. Sie wollte schnell Lera finden und wieder ins Warme, zurück an das brennende Feuer, das ihr Wohnzimmer mit so behaglicher Wärme erfüllte. »Nein, Lera ging es heute Morgen gut, da hat Gora ihn zum Schafe hüten in die Berge geschickt. Vielleicht hat er ja ausnahmsweise einmal getan, was Gora wollte«, erklärte sie. »Aber trotzdem danke.« »Nichts zu danken, Ayra. Ich würde mich übrigens sehr freuen, wenn du in den nächsten Tagen einmal zu Besuch kommen würdest«, lud Dura sie ein. »Gerne. Bis dann«, antwortete Ayra und ging weiter. Sie musste also anscheinend doch den Berg hinaufklettern, um zu sehen, wo Lera geblieben war. Es kam nun wirklich nicht oft vor, aber ab und an dann doch, da wünschte sie sich, dass der Junge sich mal nicht an das hielt, was man ihm auftrug. Zumal es nun wirklich nicht oft vorkam. Den gesamten Sommer, wo es ihr nicht im Mindesten etwas ausgemacht hätte, hinaus zu gehen, war er im Tal geblieben, doch heute, wo es kalt und ungemütlich war, da blieb ihr wohl nichts andere übrig. Sie fügte sich jedoch schlecht gelaunt ihrem Schicksaal und stapfte los. Doch lange musste sie nicht laufen, da kam Lera ihr mitsamt der kleinen Schafherde entgegen geeilt. »Schön, dass ich dich doch nicht lange suchen brauche, Lera! Gora will, das du nach Hause kommst!«, rief sie ihm entgegen, sobald er in Hörweite war. Doch kaum hatte der Junge ihre Stimme vernommen, scheuchte er die Tiere schneller gen Tal, was Ayra nicht verstand und deswegen die Stirn runzelte. Sie hatten eigentlich noch Zeit, hier auf den weiten Hängen kamen die Raubtiere nicht her, auch dann nicht, wenn es dunkel wurde, und selbst bis dahin war es noch mindestens eine halbe Stunde hin. »Ayra! Du glaubst nicht, was mir passiert ist!«, rief er im Laufen, immer und immer wieder und wirkte dabei so aufgekratzt, wie damals, als sie den Puma davongejagt hatten. »Ja, Himmel noch mal, was ist den geschehen? Warum bist du den so Aufgeregt?«, wollte sie neugierig, aber auch ein wenig Tadelnd wissen, und lief ihm entgegen. Keuchend blieb Lera vor ihr stehen, als er sie erreicht hatte, und rang erst einmal nach Atem. Er schien den großteil des Weges schon in einem großem Tempo zurück gelegt zu haben, warum war für sie aber noch immer nicht ganz schlüssig, doch sie kannte Lera gut genug um zu wissen, das er es ihr gleich voller Begeisterung erzählen würde. »Ich habe eine Drachen gesehen!«, rief er aus, als er wieder halbwegs bei Atem war. »Ich habe wirklich und wahrhaftig einen echten Drachen gesehen! So einen, wie in den Geschichten von Dura! Nur das er lebendig war!« Ayra schaute den Jungen zweifelnd an. »Einen Drachen? Aber Lera, du weißt genauso gut wie ich, das es Drachen nur in Märchen gibt«, war ihre Antwort darauf. »Ja, das habe ich auch immer gedacht, aber der war echt! Wie in den Geschichten! Er hatte ganz grüne Schuppen und auch die Flughäute waren grün, und der Bauch auch und er war so riesig! Er war bestimmt so groß wie das Haus der alten Lara! Und zwar allein der Körper! Die Flügel waren bestimmt noch mal genauso groß! Die haben den Mond verdeckt, so groß waren sie!«, beschrieb Lera mit einer solchen Begeisterung, wie Ayra sie nie zuvor bei ihm erlebt hatte. »Lera, noch einmal. Es gibt keine Drachen, weder blaue, noch rote, noch lila gemusterte, oder was auch immer du dir sonst einfallen lässt. Sie sind nur Gestalten aus Legenden, sie sind nicht wirklich«, sie versuchte ruhig zu bleiben, doch es fiel ihr schwer. »Nur weil du noch keinen gesehen hast, heißt das nicht, dass es keine gibt. Dura hat schon mal welche gesehen, das hat er selbst gesagt«, antwortete Lera bockig. »Natürlich. Du musst wissen, ich habe auch schon einmal ein fliegendes Schwein gesehen«, erwiderte Ayra sarkastisch. »Aber das ist doch nicht das gleiche! Schweine können nicht fliegen, das weiß doch jedes Kind«, widersprach er. »Und Dachen gibt es nicht, auch das weiß jedes Kind. Jetzt ruhe davon, und wenn du jemals wieder eine von Duras Geschichten lauschen willst, dann sagst du zu Gora kein Wort davon, verstanden?«, fauchte sie genervt. »Die Rebellen haben auch Drachen«, versuchte er es ein letztes mal und in einem solch triumphierendem Tonfall, das es Ayra wirklich schwer fiel, ruhig zu bleiben. »Die Rebellen, Lera, können angeblich auch Zaubern, glaubst du diesem Gerücht auch? Sie sollen unsterblich sein, sie können fliegen und über das Wasser laufen. Meinst du, das es stimmt?«, schnappte sie. »Nein, aber…«, wollte er abermals widersprechen. »Nein, Lera, das ist nichts anderes«, unterbrach sie ihn, wohl wissend, was er antworten wollte, »das sind alles nur Gerüchte. Und jedes einzelne davon ist unwahrscheinlicher, als das vorherige. Es gibt keine Drachen, also werden auch die Rebellen keine haben. Und damit ist das Thema jetzt beendet. Abmarsch, verschwinde nach Hause.« Lera schaute sie einen Moment lang schmollend an, und als sie im Sturmschritt loslief, da folgte er nur langsam. »Lera, jetzt komm endlich! Ich will nach Hause und Gora wartet auch schon auf uns!«, rief sie zu ihm zurück, doch sie konnte den Jungen nicht dazu bewegen, sein Tempo zu erhöhen. So liefen sie einen Moment lang stumm schmollend vor sich hin, bis sie es abermals versuchte. »Wenn du noch langsamer gehst, dann musst du stehen bleiben!« In just diesem Moment tat Lera genau dies. Ayra konnte sich ein genervtes Seufzen nicht verkneifen. »Was ist den jetzt schon wieder?«, grollte sie. »Ich habe mein Buch vergessen. Ich laufe schnell zurück und hole es, sonst wird Papa bestimmt wieder wütend«, antwortete der Junge bockig und wollte schon zurücklaufen, doch Ayra hielt ihn zurück. »Nichts da, Gora wartet auf dich. Du wirst nach Hause laufen und ich hole sein Buch. Wo hast du es liegen lassen?«, wollte sie wissen. »Unter der großen Eiche, beim Wald«, erklärte Lera. »Warum bist du so weit nach oben gelaufen? Du weißt doch, dass es dort gefährlich ist«, meinte sie vorwurfsvoll. »Ich wollte etwas spielen, und da wollte ich nicht…«, Lera sprach seinen Satz nicht zu Ende, bekam stattdessen rote Ohren. »Du wolltest nicht, das dich jemand sieht, weil es dir peinlich ist, wenn du versuchst, die Schausteller nachzuahmen?«, vermutete sie seufzend. Der Junge nickte kleinlaut. Ayra stieß einen undefinierten Laut aus, machte lediglich eine Handbewegung in Richtung Tal, dann lief sie den Weg zurück, den Berg hinauf, während der Junge die Herde weiter bergab trieb. Sie kannte den Weg, sie war ihn selbst oft genug gegangen, als sie es noch gewesen war, die auf die kleine Schafsherde aufpassen musste. Damals hatte Leras Mutter noch gelebt. Bella hatte damals den Haushalt geführt, nun war dies Ayras Aufgabe, während Lera sich um die Schafe zu kümmern hatte. Seid Bellas tot war dies so gehandhabt. Es kam sehr oft vor, das Ayra den Jungen darum beneidete, das er den ganzen Tag nur über die Wiesen laufen durfte, während sie selbst Brot backen oder die Wäsche waschen musste. Beides keine angenehmen Aufgaben, die viel Zeit in Anspruch nahmen. Da war die Feldarbeit ihr schon um einiges lieber, obwohl sie auch diese nicht sehr mochte. Aber bald, das wusste sie, würden die Aufgaben wieder neu verteilen, denn Lera war nur unwesentlich jünger als sie, und so war es nur recht und billig, das auch er bald auf dem Feld half. Dann würde eines der jüngeren Dorfkinder auf die Schafe aufpassen, gemeinsam mit der eigenen Herde, und sie würde nur noch den Haushalt machen müssen. Wenn sie bis dahin überhaupt noch bei Gora lebte, wie ihr bitter einfiel. Ihr Ziehvater hatte ihr erst vor kurzem eröffnet, das es den perfekten Ehemann für sie gefunden hatte. Der Sohn eines reichen Kaufmannes, ein guter bekannter Duras. Sie hatte ihren künftigen Ehemann noch nie zuvor gesehen, kannte ihn bloß aus Erzählungen. Danach gehend war er ein gut aussehender junger Mann, der äußerst großzügig das Geld des Vaters ausgab. Demnach war er wohl ein verwöhntes Kind, der sich aufspielte, wann immer es ihm möglich war. Nicht gerade das, was sich Ayra unter einem wunderbaren Ehemann vorstellen würde. Leider hatte sie jedoch keinerlei Mitspracherecht. Sie würde ihn heiraten müssen, ob sie nun wollte oder nicht, das stand nicht zur Debatte. Und darüber konnte der Reichtum, der ihr dann, zum ersten Mal in ihrem Leben, zur Verfügung stehen würde, nicht im Mindesten hinweg trösten. Mittlerweile war das junge Mädchen beim Wald angelangt und blickte sich nach der Eiche um. Im diffusen Dämmerlicht sah sie den Baum nicht sofort, doch er war sehr alt und stand so auffällig ein Stückchen vom nahen Wald weg, das sie ihn doch recht schnell fand. Sie lief hin und fand das Buch zwischen den Wurzeln liegen. Hier wurde es nach Sonnenuntergang durchaus gefährlich und sie mochte es nicht alleine mit einer Wildkatze aufnehmen, also beeilte sie sich. Plötzlich jedoch stieg ihr der Geruch von Feuer in die Nase. Wenn der Wald Feuer gefangen hatte, konnte es das Ende des Dorfes bedeuten, obwohl der Wald recht weit weg, und das Wetter nicht gerade Feuer fördernd war. Sie blieb stehen und hatte schnell die Richtung ausgemacht. Sie überlegte nur einen Moment, ob es nicht vielleicht besser war, im Dorf bescheid zu geben, entschied sich jedoch dagegen. Wenn es nur ein kleines Feuer war, das sie allein löschen konnte, wäre es nur unnötiges Panik machen gewesen. So ging die zögernd in den Wald, den immer stärkeren Geruch folgend. Schon wenige Meter hinter dem Waldrand sah sie das Flackern der Flammen in der Dunkelheit und folgte dem Licht. Sie hörte das knacken und zischen der Äste, die vom Feuer gefressen wurden und ein seltsames Geräusch, das sie nicht zuordnen konnte. Es erinnerte sie an das Schnurren einer Katze, doch das konnte nicht sein. Um diese Tageszeit befanden sich alle Katzen im Haus, oder zumindest im Dorf, denn bei Nacht wagten sie sich nicht mehr hierher. Zumal Ayra keine Katze kannte, die so laut schnurren konnte. So ging sie, nun deutlich neugierig, was das für ein Wesen sein mochte, weiter. Sie streckte ihren Kopf durch die Büsche und war im ersten Augenblick beruhigt, denn es war nur ein einfaches Lagerfeuer, das dort brannte. Zudem war es auch keine Räuberbande, die hier rastete, sondern bloß ein einfacher Mann, der einen Moosbewachsenen Stein zu Streicheln schien. Erst nach einigen Sekunden begriff sie, was es wirklich war, was er da streichelte und sie prallte mit einem lauten Schrei und weit geöffneten Augen zurück. Das mächtige Wesen, das da so laut geschnurrt hatte, erhob sich mit einer einzigen, fließenden Bewegung, die man diesem Ungetüm niemals im Leben zugetraut hätte, sprang mit einem mächtigen Satz über sie hinweg und versperrte ihr den Weg. Mehr noch, es drängte sie an das Lagerfeuer zu dem Mann, und stieß sie dort zu Boden. »Wer bist du?«, fragte der so ruhig, als wäre es Alltag für ihn, das ein junges Mädchen an sein Lagerfeuer kam, und sich vor seinem riesigen Begleiter fürchtete. Vielleicht war es das auch. Und Ayra war noch viel zu erschrocken, als das sie ihm irgendeine Antwort gab, sie starrte nur voller Angst und mit schnell klopfendem Herzen den grünen Drachen an, der sie aus jadefarbenen Augen anblickte. »Wer ist sie?«, fragte der junge Mann abermals, doch diesmal wohl nicht Ayra. Eine Antwort erhielt er jedoch auch diesmal nicht, so erhob sich der junge Mann schwankend und wollte einige Schritte machen. Er wäre schwer gestürzt, hätte das Ungetüm ihn nicht mit seinem langen Schweif gestützt. »Danke, aber es geht schon…«, murmelte der junge Mann und trat direkt an Ayra heran, ließ sich zu ihr zu Boden sinken. Frisches Blut glitzerte an seiner Schläfe. »Wer bist du, woher kommst du? Wer schickt dich?«, fragte er ruhig. Ayra jedoch schüttelte nur, einer Panik nahe, heftig den Kopf, war nicht in der Lage zu antworten. Erst, als der Drache in ihrem Rücken ein leises, drohendes Knurren ausstieß, beeilte sie sich, die gewünschten Informationen zu geben. »Ayra! Mein Name ist Ayra!«, rief sie voller Angst aus. »Wenn du mir nichts Böses willst, brauchst du keine Angst zu haben. Er tut dir nichts, wenn du nichts Unüberlegtes tust. Lüge nicht, denn das merkt er sofort, und versuche nicht davonzulaufen oder mich anzugreifen, denn auch das würdest du nicht überleben. Bleib einfach ruhig und antworte mir Wahrheitsgemäß, dann wird dir nichts geschehen«, versuchte er sie zu beruhigen. Sie fühlte, dass er es ernst meinte, sie wusste, dass ihr unter diesen Bedingungen nichts geschehen würde, doch hatte sie so entsetzliche Angst. Trotzdem versuchte sie ruhig zu bleiben. »Ich fürchte mich trotzdem«, gestand sie ihm leise. Der junge Mann überging es einfach. »Ayra«, sagte er, »was tust du hier, und wer hat dich geschickt?« »Mich hat niemand geschickt. Also doch, schon, Gora hat mich geschickt, damit ich Lera hole, und der hat aber sein Buch hier vergessen, also bin ich es holen gegangen. Ich bin freiwillig hier, so richtig geschickt hat mich keiner«, antwortete sie mit hoher Stimme, aus der die Angst deutlich zu hören war. Ohne den Kopf zu bewegen wandte sich der junge Mann an den Drachen und fragte: »Was meinst du? Können wir ihr trauen?« Der Drache gab einen brummenden laut von sich, was wohl so etwas wie eine Zustimmung war, den der junge Mann nickte zufrieden. »Mein Name ist Benjamin und der Drache heißt Jadea«, erklärte er. Ayra wandte voller Angst den Kopf und betrachtete das riesige Wesen über sich eingehend. Die Schuppen blitzen Smaragdgrün im Schein des Feuers, die sanften Augen waren in einem dunklen Jadegrün. Unwillkürlich musste sich Ayra eingestehen, das sie niemals zuvor ein so schönes Wesen gesehen hatte, und für einen Moment vergas sie ihre Angst. Dies musste wohl der Drache gewesen sein, den Lera gesehen hatte. Ayra wollte etwas sagen, denn sie spürte, das Benjamin etwas von ihr erwartete, doch ihr wollte einfach nichts einfallen. Sie zögerte einen Moment, beschloss dann einfach Belanglosigkeiten auszutauschen. »Jadea wegen der Augen?« fragte sie unsicher. »Ja.« Sie wusste gleich, dass er log, doch fiel ihr dazu kein Grund ein. Sie wagte auch nicht, ihn darauf anzusprechen, nicht mit dem Drachen im Nacken. Außerdem war es wohl sowieso nicht das Thema, auf das er wartete. Sie überlegte fieberhaft weiter, da fiel ihr Blick wieder auf das Blut. Sie deutete darauf und fragte: »Wie… ist das geschehen?« »Wilde Tiere«, antwortete er kurz angebunden und versuchte die Lüge nicht einmal zu verhehlen. Dabei lächelte er spöttisch. »Aber nicht hier in der nähe, also keine Sorge.« Sie holte Luft, um darauf zu antworten, doch erschien es ihr einfach nicht ratsam, in der Nähe des Drachens so etwas Dummes zu tun, also schluckte sie ihre Antworten einfach hinunter. »Das waren dann gewiss sehr große Tiere«, meinte sie mit einem viel sagendem Blick auf den Drachen. »Oh, Jadea war nicht in der Nähe, er war auf Jagd. Wäre er in der Nähe, hätten sie sich gewiss nicht getraut. Er hat mich eingesammelt und wir sind hierher gekommen«, log er ganz offen. Ayra nickte langsam, obwohl sie immer noch kein Wort glaubte. Sie seufzte, stand langsam auf und klopfte sich das Kleid sauber. Wenn er ihr nicht die Wahrheit sagen wollte, dann würde er seine Gründe dafür haben. Und er schien ihr nichts tun zu wollen, solange sie nichts Dummes tat. Man hatte ihr beigebracht, denen, die in Not waren zu helfen, also beschloss sie, dies zu tun. »Darf ich?«, fragte sie und deutete auf die Wunde. »Mach ruhig«, antwortete er, immer noch dieses spöttische Lächeln auf den Lippen. Sie trat an ihn heran und schaute sich die Platzwunde an. Bella hatte ihr beigebracht, wie man mit solchen Verletzungen umging. Der junge Mann ließ es widerstandslos über sich ergehen, doch der Drache beobachtete sie misstrauisch, jeder Zeit bereit, sie mit seinen Zähnen in der Luft zu zerreißen, sollte sie ihm vorsätzlich Schmerzen zufügen. »Es sieht nicht gut aus…«, erklärte Ayra nach einer Weile besorgt. »Es scheint sich ein wenig entzündet zu haben. Hier in der Nähe ist ein Bach, wenn du einverstanden bist, würde ich die Wunde dort gerne auswaschen.« Benjamin schwieg einen Moment, er schien auf etwas zu lauschen, dann jedoch nickte er langsam. Er kletterte auf den Rücken des Drachen, der sofort zur Stelle war. »Wie alt bist du eigentlich?«, fragte Ayra nach einer Weile, während sie zum Bach vorlief. »Sicherlich älter als du«, antwortete Benjamin ausweichend. »Ich bin siebzehn«, meinte sie nach einer Weile unaufgefordert. Der junge Mann lächelte wieder spöttisch, als er antwortete: »Achtzehn.« Sie überlegte, was sie ihn noch fragen konnte, was unverfänglich genug war, das er antworten würde, doch ihr fiel wieder einmal nichts ein, also Schwieg sie, bis sie beim Bach ankamen. Dort kletterte der junge Mann vom Drachenrücken und setzte sich auf einen Stein direkt am Wasser. Während sie die Wunde auswusch, fragte sie einfach weiter, was ihr eben einfiel. »Wo kommst du her? Und woher hast du einen Drachen?«, fragte sie so unvermittelt. Erst schien es, als würde sich ihre Vermutung bestätigen und Benjamin würde nicht antworten, doch er zögerte bloß einen Moment. »Ich komme aus einem Dorf oben im Norden. Dort haben wir Häuser, die direkt in eine Steinwand eingehauen sind, und einen großen Berg, in dem die Drachen leben. Fast alle Gänge sind groß genug, das sie hindurch laufen können. Viele dort haben Drachen, aber nicht alle. Der König lässt die Drachen jagen, deswegen gibt es sie nur dort. Und es ist schwer dort zu leben, denn die Gegend ist felsig und karg, es gibt kaum Gras für Weidetiere und keinen guten Boden für eine gute Ernte. Aber wir können nicht fort, dann würde der König uns fangen und töten.« Während der ganzen Zeit hatte der Drache schon geknurrt, nun fauchte der Benjamin ganz offen an. Erst erschrak sich Ayra darüber, denn sie dachte, dass er sie meinte, beruhigte sich aber schnell wieder, als sie merkte, dass dies nicht der Fall war. Benjamin dagegen lachte leise. »Er will nicht, dass ich dir davon erzähle, er denkt, dass du uns bei der ersten sich bietenden Gelegenheit an jemanden verraten würdest. Würdest du das tun?«, fragte er. »Nein. Ich… bin kein Freund des Königs, er tut schlimme Dinge, wenn man den Gerüchten glauben schenken darf. Wir leben nur am Rande seines Herrschaftsgebietes, aber auch wir haben darunter zu leiden. Und selbst wenn es das nicht wäre, ich glaube nicht, das du mich belügst, weil du etwas unrechtes tust, sondern einfach nur, weil du sehr vorsichtig bist«, antwortete sie. Er lächelte zufrieden. »Ganz so ist es nicht, aber es kommt nahe an die Wahrheit heran.« »Warum bleiben die Drachen eigentlich bei euch? Sie… sind nicht unbedingt die typischen Haustiere«, überlegte sie. »Sie sind auch keine Haustiere. Ich weiß nicht genau, warum sie bei uns bleiben, aber sie sind mehr als nur Haustiere. Drachen und Menschen waren schon seid Anbeginn der Zeit Freunde, und wir sind es auch jetzt, auch wenn die Drachen weniger geworden sind. Du musst wissen, sie sind unsere Sklaven, unsere Verbündeten, unsere Begleiter, unsere gleichberechtigten Partner, unsere Freunde und unsere Herren zugleich. Wir bestimmen über sie und zugleich würden wir es niemals wagen, ihnen ein Befehl zu erteilen. Kein Drache dieser Welt würde etwas tun, nur, weil man es ihm befohlen hat, und trotzdem muss man ihnen Befehle geben, damit sie tun, worum man sie bittet. Es ist… kompliziert. Du… wirst es wohl nicht verstehen, oder?« Ayra nickte langsam. So etwas hatte sie sich auch gedacht, sie verstand es nicht. »Und du? Woher kommst du? Wer sind Lera und Gora, die du erwähnt hast? Deine Eltern? Deine Geschwister?«, fragte nun Benjamin neugierig. Ayra lachte kurz auf, bevor sie antwortete. »Oh nein, ich bin nicht mit ihnen verwandt. Gora und seine Frau Bella nahmen mich bei sich auf und haben mich wie ihre Tochter großgezogen, aber ich bin es nicht. Ich bin die Tochter eines jungen Mädchens, das hier im Dorf lebte. Es kamen vor Jahren einmal Männer hierher, die den ganzen Winter blieben, warum weiß ich nicht, und die Leute im Dorf reden nicht über sie. Doch meine Mutter hat sich offensichtlich sehr gut mit einem der Jüngeren verstanden, zumindest hat sie einige Nächte mit ihm verbracht. Und das, obwohl sie selbst noch sehr jung war. Nun, neun Monate später wurde ich geboren. Die Männer waren schon lange fort und meine Mutter wusste nicht, was sie nun tun sollte, denn Verwandte im Ort hatte sie nicht und wer wollte schon ein junges Mädchen mit einem Kind? Deswegen beschloss sie, Fortzugehen. Mich ließ sie hier im Dorf, und weil Gora und Bella immer schon ein Kind haben wollten, haben sie mich bei sich aufgenommen. Als ich dann drei Jahre alt war, bekam Bella doch noch ein eigenes Kind, doch ich war ihnen bis dahin schon so sehr ans Herz gewachsen, das ich trotzdem bleiben durfte. Aber sie war von der Geburt sehr geschwächt und seit damals immer etwas kränklich gewesen, bis sie dann vor fünf Jahren starb. Eine zeitlang danach versuchte ich, meine richtigen Eltern ausfindig zu machen, ich wollte Gora ja nicht noch weiter zur last fallen, aber ich habe nicht einmal den Namen meiner Mutter herausgefunden. Deswegen musste ich bei ihm und Lera bleiben«, erzählte sie ihre Geschichte. Ihr Blick fiel wieder auf den Drachen und als sie so an Lera dachte, erinnerte sie sich an das, was der Junge gesagt hatte. »Lera hat euch auch gesehen«, sagte sie unvermittelt. Benjamin überging den Satz einfach, zumindest ließ er keine Regung erkennen. Ayra wunderte das einen Moment, doch sie war mit der Wunde fertig und es war schon sehr spät. »Ich muss jetzt nach Hause gehen, wenn du möchtest, dann komme ich morgen noch einmal vorbei und bringe die etwas zu essen«, bot sie an, als sie aufstand. Der junge Mann überlegte einen Moment, bevor er eine Antwort gab, dann jedoch nickte er. »Ja. Komm ruhig wieder, ich mag es, mich mit dir zu unterhalten. Du bist anders, als die Anderen, ein wenig so, wie ein Mädchen aus meinem Dorf. Aber bitte, sorge dafür, dass keiner etwas von mir oder Jadea erfährt, weder von dir, noch von deinem Bruder. Drachen sind nicht gern gesehene Wesen und ich möchte eigentlich nicht schon wieder davonlaufen müssen«, bat er, und Ayra nickte bereitwillig. »Es würde mir sowieso keiner glauben«, fügte sie rasch hinzu. »Okay. Danke. Und bis morgen«, verabschiedete sich Benjamin. Ayra lief hinab ins Tal. Das Buch, wegen dem sie eigentlich hier herauf gekommen war, lag noch immer auf der Lichtung, in der sie dem Drachen und dem jungen Mann begegnet war. Als sie ins Haus schlüpfte, wartete schon Gora auf sie. Wie erwartet, hielt er ihr einen langen Vortrag darüber, das sie unmöglich die halbe Nacht wegbleiben konnte, doch dann entließ er sie und sie schlüpfte schnell zu Lera ins Zimmer. »Lera, bist du noch wach?«, fragte sie leise. »Natürlich, was ist denn?«, erkundigte sich eine hellwache Stimme aus der Dunkelheit. Ayra tastete sich vorsichtig zu seinem Bett vor und ließ sie auf der Kante nieder. »Ich glaube dir deine Geschichte mit dem Drachen«, antwortete sie leise. »Ach ja? Und warum auf einmal? Hast du mein Buch auch mitgebracht?«, brummte der Junge misstrauisch. »Nein, das habe ich vergessen, ist jetzt aber auch egal. Ich habe sie getroffen! Den Drachen und den Mann, Benjamin und Jadea«, rief sie mit unterdrückter Stimme. Schnell und leise erzählte sie, was vorgefallen war, und Lera hörte atemlos zu. »Darf ich morgen mitkommen, wenn du wieder zu ihm gehst?«, fragte Lera am Ende ihrer Geschichte und sie wusste, das bei dieser Frage seine Augen strahlten, wie zwei kleine Sterne. »Ja, natürlich!«, nickte sie lächelnd, »aber du darfst niemandem etwas von den beiden erzählen, das musst du bei deinem Leben schwören.« Lera nickte eifrig und erklärte ihr feierlich: »Ich schwöre bei meinem Leben, das ich niemals ein Wort über die beiden verlieren werde! Und sollte ich es doch tun, dann möge ich auf der Stelle tot umfallen.« »Gut«, meinte Ayra zufrieden, «und jetzt gute Nacht. Du musst morgen ausgeruht sein.« Der Junge nickte in der Finsternis, während Ayra, deren Augen sich mittlerweile an die Dunkelheit gewöhnt hatten, zur Tür ging. »Gute Nacht, Lera«, flüsterte sie ein letztes Mal. »Gute Nacht, Ayra«, kam die postwendende Antwort. Dann verließ sie das Zimmer und schloss leise die Tür hinter sich. Sie schlich in ihr eigenes Zimmer. Schnell zog sie sich um und legte sich ins Bett. Ihre Gedanken ganz bei Benjamin und seinem Drachen schlief sie langsam ein. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)