Johann und Tabea von Staubengel (Nur ein letzter Herzschlag noch) ================================================================================ Kapitel 6: ----------- Sie ging sogar zwei Abende hintereinander nicht in den Park, rein aus Protest. Dass Johann sie bereits so für sich beanspruchte, so besaß, obwohl sie einander kaum kannten, machte ihr Angst. Es war so schnell gegangen. Sie hatte ihn erst zweimal gesehen und nie wirklich mit ihm gesprochen und schon beherrschte er ihre gesamten Gedanken. Dass seine Abwesenheit es nicht besser, sondern sogar noch schlechter machte, war der ausschlaggebende Grund, warum sie am dritten Abend schließlich doch wieder zu ihrem Treffpunkt an der Parkbank ging. Der See lag ruhig und glänzend da, das Wasser fast schwarz in der nächtlichen Finsternis. Heute war es überhaupt um einiges dunkler als sonst, Tabea hoffte, dass die warmen Spätsommertage nun endlich vorbei waren und der Herbst beginnen würde. Sie schwitzte schon nicht mehr so sehr in ihren Kleidern, aber des Nachts war es noch nicht merklich kälter geworden, so dass sie jetzt auch nicht fror. Im Licht der Laternen saß sie auf der Bank, scharrte im Kies, starrte ins Wasser und wartete stumm. Ob er überhaupt kommen würde?, fragte sie sich. Immerhin war sie in den letzten beiden Tagen auch nicht hier gewesen und vielleicht war er ja beleidigt. Aber Johann kam. Ganz leise, fast lautlos, schlimmer noch als Raphael, trat er aus den Schatten des Parks und lehnte sich hinter Tabea an die Rückenlehne der Bank. Sein Geruch schlug ihr in die Nase und sie schloss für einen Moment die Augen, ohne recht zu wissen, warum. Warum war sie nicht da gewesen? Sie hatte diesen Geruch doch so vermisst... Keiner von ihnen sagte ein Wort und das so lange, dass Tabea schon befürchtete, sich erst bei ihm entschuldigen zu müssen. Aber sie traute sich nicht. Tabea sah zwar Fehler ein, wenn sie sie machte, doch sie entschuldigte sich nicht dafür. „Warum sind Federn an die Taille deines Kleids genäht?“, wollte Johann schließlich wissen. Tabea musste fest die Zähne aufeinander beißen, um nicht aus Versehen laut los zu lachen. Hatte er denn gar nicht gemerkt, dass sie ihn zwei Tage lang versetzt hatte? Alles, was ihn interessierte, waren die Federn an ihrem dummen Kleid! Zugegeben, es waren schöne Federn. Groß und filigran, fliederfarben im Kontrast zu ihrem blassen, gelben Sommerkleid. „Sie sind nicht festgenäht“, berichtigte Tabea und man hörte ihrer Stimme das verkniffene Schmunzeln nicht mal an. „Sie gehören zu dem schwarzen Band, das den Stoff an meiner Hüfte rafft.“ Johann hob die Hände und strich mit ihnen an den Federn entlang, liebkoste sie fast mit seinen blassen Fingern. „Sie sind schön“, meinte er, „aber ziemlich unpraktisch, oder nicht? Man kann damit nicht liegen.“ „Manchmal müssen Dinge nicht praktisch sein“, gab Tabea überheblich zurück. Sie hatte Johann noch nicht angesehen. Sie starrte immer noch stur gerade aus auf den stillen, dunklen See. „Außerdem möchte ich mit dem Kleid überhaupt nicht irgendwo liegen“, setzte sie hinzu. Johann ließ von den Federn ab und setzte sich rückwärts auf die Rückenlehne der Bank, so dass er jetzt ins Blickfeld von Tabeas Augenwinkeln rückte. „Hattest du nie diesen Drang, dich einfach auf die Wiese zu legen, weil das Gras so gut riecht?“, fragte er. Tabea erschien diese Frage so lächerlich, dass sie einen Moment lang kurz davor stand, Johann deswegen auszulachen. Aber selbst als sie das nicht tat, überlegte sie, ob er die Frage wirklich ernst gemeint haben konnte. Sie entschied sich schließlich, nicht darauf zu antworten. „Man kann sie ausziehen, wenn sie einen stören“, sagte sie stattdessen ernst und vermied es tunlichst, Johann dabei anzusehen. Sie wusste genau, dass sein Gesichtsausdruck sie schuldig gesprochen hätte. Es dauerte nicht lange, bis sie ihr Schweigen bereute: In ihre peinliche Stille sagte Johann ohne den geringsten Umschweif und mitten in ihr Herz hinein treffend: „Ich weiß, dass du nur kommst, weil du Zuhause Ärger hast. Reiche Mädchen haben niemals Ärger, nur Zuhause, weil Geld dort nichts zählt. Ich hatte gehofft, dir ein bisschen zur Seite stehen zu können, aber wenn du nicht mit mir redest, dann kann ich dir nicht helfen.“ Als Tabea zutiefst verletzt und irritiert keine Worte zum Antworten fand, fügte Johann noch hinzu: „Du musst mit mir reden, wenn ich dir helfen soll. Hörst du?“ Tabea hörte, aber sie konnte nichts sagen. Ein kurzer Moment der Stille folgte, in dem die Luft zwischen ihnen beiden zu knistern begann. Dann sprang Tabea auf die Füße, wich ein paar Schritte von der Bank zurück und funkelte Johann so böse an, dass ihre Stirn vom Zusammenziehen schmerzte. „Wie kannst du es wagen“, zischte sie eisig. Und dann noch einmal, aber diesmal schrie sie: „Wie kannst du es wagen! Du hast nicht die geringste Ahnung davon, was in meinem Haus passiert! Du hast nicht die geringste Ahnung, welchen Schmerz ich ertragen muss! Wie kannst du es wagen zu behaupten, wir Reichen hätten es leichter als ihr? Was weißt du denn schon von den Problemen der Leute mit Geld? Nur, weil wir nicht täglich um unser Essen betteln müssen, sind unsere Probleme weniger Wert als die euren? Sehe ich das richtig? So denkst du über uns?! Ich sage dir jetzt mal etwas und das merkst du dir gefälligst auch: Meine Probleme gehen dich einen feuchten Kehricht an und wenn du glaubst, ich sei auf deine Hilfe angewiesen um mit irgend etwas fertig zu werden, dann hast du dich geschnitten, denn das bin ich absolut NICHT!“ Tabea musste kurz aufhören zu schreien, um wieder richtig Luft zu bekommen. Sie war noch nicht fertig, aber wenn sie jetzt schon weiter machte, würden ihr ganz sicher Worte herausrutschen, deren Benutzung sie für gewöhnlich vermied. Johann saß noch immer halb rückwärts und halb seitwärts auf der Lehne und sah sie vollkommen ruhig und gelassen an, als habe sie soeben nicht ihn als Proletarier beschimpft und angeschrien, sondern einen unsichtbaren Menschen hinter ihm. Diese Ruhe, die von ihm ausging, machte Tabea so aggressiv, dass sie die Hände zu Fäusten ballen musste. „Was starrst du mich denn so an!“, schrie sie. „Hör auf, mich so anzustarren! Du machst mich wahnsinnig! Ich hasse dein Gestarre, also hör gefälligst auf damit! Ich hasse es! Ich hasse DICH!“ Als Johann aufstand um auf sie zuzukommen, wich sie einen Schritt zurück und zeigte drohend mit dem Zeigefinger in seine Richtung. „Fass mich nicht an! Versuch es gar nicht erst! Bleib wo du bist, hast du verstanden? Bleib wo du bist, oder ich fang an zu schreien!“ Johann schüttelte den Kopf und ging um die Bank herum. Tabea wich noch einen Schritt zurück, blieb dann aber entschlossen an Ort und Stelle stehen. Sollte er doch kommen! Sie hatte keine Angst vor ihm! „Ich schreie!“, warnte sie noch einmal, als Johann weiter auf sie zukam, aber dieser blieb trotzdem nicht stehen. Tabea wurde so wütend, dass sie nach ihm schlug ohne ihn zu treffen. Was fiel diesem Kerl denn eigentlich ein! Für wen hielt sich dieser aufdringliche Gossenjunge überhaupt! „VERSCHWINDE!“, brüllte sie aus Leibeskräften und wollte erneut auf ihn einschlagen, aber diesmal wehrte Johann sie ab und hielt ihr Handgelenk umklammert. Tabea trat nach ihm, doch obwohl sie mit voller Wucht sein Schienbein traf, zeigte Johann keine Reaktion. Er versuchte etwas zu sagen, aber Tabea begann in ihrer Wut aus vollem Hals zu kreischen und drosch mit der freien Hand voll Verzweiflung auf ihn ein. Sie wollte es nicht hören! Kein einziges Wort von dem, was er zu sagen hatte! Er sollte still sein, still, still, still, still, still! Je heftiger sie auf ihn einschlug, desto verzweifelter wurde sie und je verzweifelter sie wurde, desto heftiger schlug sie auf ihn ein. Als sie merkte, dass Johann sich überhaupt nicht rührte und ihre Bemühungen folglich völlig umsonst zu sein schienen, hörte sie auf zu kreischen und zu schlagen und sah ihn völlig außer Atem und mit glitzerndem Hass in den Augen an. Seine Augen glitzerten zurück, aber nicht wütend, sondern... „Lass mich sofort los“, keifte Tabea irritiert und zog an ihrem Arm, den Johann noch immer nicht loslassen wollte. Seine Augen... seine Augen... auch die machten sie wahnsinnig... sie funkelten so unnatürlich, dass es ihr unmöglich war, auch nur für einen Augenblick woanders hinzusehen. Waren das wirklich seine Augen? Sie hatte sie noch nie von so Nahem gesehen... „Ich schreie gleich“, knurrte Tabea, nun auch wütend auf sich selbst und zog erneut an ihrem Handgelenk. Ihre Stimme wurde wieder lauter, in der Hoffnung ihre verwirrenden Gedanken zu übertönen, und so schrie sie fast schon wieder: „Ich warne dich, Johann! Lass mich jetzt auf der Stelle los, oder ich –“ Weiter kam Tabea nicht. Kalte, weiche Lippen legten sich auf ihren Mund, so blitzschnell und plötzlich, dass sie gar nicht in der Lage war, zu reagieren. Aus einem Reflex heraus schloss sie die Augen, öffnete sie aber wieder, als ihr bewusst wurde, was Johann da eigentlich tat. Er. Küsste. Sie! Mit einem entrüsteten Jaulen zerrte sie an ihrem Arm und versuchte den Kopf zurückzuziehen, aber Johann hatte ihr bereits eine Hand in den Nacken gelegt und hielt sie eisern fest. Verzweifelt versuchte Tabea sich zu wehren, strampelte hilflos mit Händen und Armen, aber er ließ sie nicht los. Nicht mal ihren Arm gab er frei, so sehr sie auch daran riss und zerrte. Er hielt ihn fest, hielt ihn einfach fest. Dann, nach einer Weile, lockerte er den Griff in ihrem Nacken und strich ihr vorsichtig mit den Fingerspitzen über die weiche, empfindliche Haut. Tabea durchfuhr ein Schaudern. Sie schloss die Augen wieder, obwohl sie gar nicht wollte, und gab sich ganz dem feinen Kribbeln hin, dass Johanns kühle Finger hinterließen. Es fühlte sich so gut an... Sie wollte es nicht genießen, aber sie konnte nicht anders. Dieses Gefühl seiner Hände, seiner Lippen auf ihrem Mund, es durchfuhr sie bis ins Innerste, ließ ihr Herz rasen, machte es kalt und warm zugleich in ihrer Seele. Sie ließ los, ließ alle Anspannung von sich abfallen und nahm einfach nur alles in sich auf, was sie gerade spüren konnte. Sie wurde g e l i e b t. Etwas Schöneres als das konnte es wohl überhaupt nicht geben... Als er merkte, dass sie sich nicht mehr wehrte, ließ Johann ihr Handgelenk los und nahm die andere Hand aus ihrem Nacken. Tabea merkte es kaum, hing bloß voll und ganz ergeben an seinen zarten, sanften Lippen. Sie fühlten sich so gut an, so richtig, so vollkommen – Ein stechender Schmerz ließ sie zusammenfahren, aber sie blieb wie sie war. Sie löste sich nicht von Johann, für keinen Schmerz der Welt. Nicht jetzt. Er hatte sie in die Lippe gebissen, doch der Schmerz verblasste schnell. Sie gehörte in diesem Moment voll und ganz ihm. Was er tat, war ihr herzlich egal. Sie spürte, wie er langsam an ihren Lippen zu saugen begann. Mit jedem Zug stach der Schmerz ihr wieder ins Bewusstsein, aber sie verdrängte ihn so gut es ging. Sie konzentrierte sich nur auf Johann, auf Johann und auf gar nichts sonst. Sie wollte, dass er sie wieder berührte, aber seine Hände regten sich nicht. Zwischen einem Zug und dem nächsten fühlte sie, wie etwas warmes, flüssiges ihre Lippen entlang und aus ihrem Mundwinkel lief. War das Blut? Oder war es Speichel? Sie wusste es nicht und es war ihr egal. Während Johann immer weiter saugte, verlor sie sich immer mehr in ihm und allem, was sein Kuss sie fühlen ließ. Sie wurde schwächer, ohne es zu merken. Der warme, dicke Tropfen war an ihrem Kiefer angekommen, tropfte aber nicht herunter. Tabea bemerkte ihn nicht. Sie konnte kaum noch denken, das Blut rauschte ihr in den Ohren. Johann saugte immer stärker, gieriger, und sie ließ es geschehen. Ich will jetzt nicht aufhören, dachte sie träge, während Johanns Kuss sie immer benommener werden ließ. Es tat viel zu gut dafür, so viel zu gut. Lass mich ihn küssen, bis die Welt untergeht, dachte Tabea, während Johann seinen Arm unter ihrem hindurch schob, um sie aufzufangen, wenn sie gleich fiel. Lass mich ihn küssen, bis gar nichts mehr zählt. Für immer und ewig, und wenn das nicht geht, dann wenigstens noch einen letzten Augenblick. Einen Herzschlag lang wollte sie ihn noch küssen. Bitte, dachte sie. Nur ein... ...letzter... ...Herzschlag... ... noch... ... .. . ~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~ http://animexx.onlinewelten.com/fanart/zeichner/221746/1544374/ Das Bild, auf dem die Geschichte beruht. Jetzt spoilert es ja nicht mehr ^_~ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)