Schlaflos von Cookie-Hunter (Der Albtraum endet nie...) ================================================================================ Kapitel 42: Zueinander ---------------------- „Wie-Wie meinst du das?“ 'Gleiche Branche.' das hörte sich in Kyos Ohren irgendwie... unheilvoll an. „Ich musste das früher auch machen. Leuten... dieses Zeug verkaufen. Oder unterjubeln, um neue Kundschaft zu gewinnen. Wir haben immer die gleiche Masche verwendet: Den vorgetäuschten Handtaschenklau.“ Beschämt sah sie zu Boden. Ihre Vergangenheit war ihr peinlich. Ein Fleck, den sie gerne ungeschehen machen würde. „Selbst genommen habe ich es nie.“ Sie fuhr sich übers Gesicht, wischte die neuen Tränen wieder weg. „Mama?“ Sae sah erst nach oben, dann schmiegte sie sich an ihre Mutter. „Nicht mehr weinen Mama.“ „Schon gut, mein Schatz. Es geht gleich wieder.“ Beruhigend legte sie eine Hand auf den Rücken ihrer Kleinen. „Wollt ihr wirklich nicht zu mir kommen? Ich setze uns allen Tee auf. Und dann kannst du in aller Ruhe erzählen. Ich bin mir sich, dass Daisuke in der Zeit ein wenig auf Sae aufpasst.“ Er beugte sich zu dem Mädchen herab. „Was hältst du davon? Du holst ein paar Spiele aus deinem Zimmer und wir spielen ein bisschen was bei mir zu Hause.“ Als Antwort nickte sie, löste sich auch wieder ein wenig von ihrer Mutter. „Dann bin ich wohl überstimmt. Gut, wir kommen rüber. Gebt uns ein paar Minuten.“ Lächelnd strich sie sich die letzten Tränen aus dem Gesicht. „Komm, Sae.“ Damit gingen sie endgültig zurück in ihre Wohnung. Kyo drehte um und ging wieder in seine eigenen vier Wände, ließ die Haustür angelehnt, damit seine beiden Gäste gleich einfach hereinkommen konnten. Er selbst wanderte Richtung Küche, wo Daisuke auf die Kaffeemaschine wartete. „Hast du die Tabletten gefunden?“, fragte er, während er im Schrank nach einer Kanne suchte. „Hab ich. Hab auch etwas gegen deine Bauchschmerzen.“ Der Gitarrist hielt ihm eine einzelne, verpackte Tablette entgegen. „Domo. Wüsste zu gerne, wo ich die her habe.“ „Die Tablette vermutlich aus der Apotheke.“ „Scherzkeks“, grummelte Kyo, während er ein Glas Wasser füllte, damit er die Medizin besser einnehmen konnte. „Ich meinte eigentlich die Schmerzen.“ Er schmiss die Tablette ein und leerte das Glas. Jetzt musste das nur noch wirken. Daisuke stieß sich von der Arbeitsfläche ab, drehte den Jüngeren zu sich, der zwar erst protestieren wollte, jedoch verstummte, als der Andere ihm plötzlich ungefragt unter das Shirt guckte. „Da hat Maboroshi ganze Arbeit geleistet. Der Mann hat wirklich Kraft in den Armen.“ „Was meinst du?“ „Sieh doch selbst.“ Damit ließ er den Stoff los. Skeptisch hob Kyo selbst sein Shirt an, riss schockiert die Augen auf. Da prangte ein dicker Bluterguss in der Mitte seines Bauches. „Ach du Scheiße. Was ist gestern Abend passiert?“ Er starrte Die an, hoffte irgendwelche Antworten von ihm zu bekommen. „Erinnerst du dich nicht mehr? An gestern Abend? An das, was gestern auf deinem Heimweg passiert ist?“ Eindringlich sah er dem Kleineren in die Augen. Wie viel wusste er noch? „Wie viel weißt du?“, stellte Kyo die Gegenfrage. Der Andere stützte sich auf der Arbeitsfläche ab, den Körper dieser zugewandt. „Ich weiß, dass ihr gestern auf dem Weg nach Hause mit jemandem kollidiert seid. Und dass dich dieses Ereignis völlig aus der Bahn geworfen hat“, erzählte Die, den Blick konzentriert auf die Kaffeemaschine gerichtet, bis er seufzen musste und sein Gesicht Kyo zu wandte. „Was meinst du eigentlich warum ich hier bin? Laut Maboroshi-kun warst du so fertig, dass du versucht hast dir das Fleisch von deinen Armen zu kratzen, kaum dass ihr hier wart. Und weil er und Nobu dich einfach nicht wieder beruhigen konnten, hat er keine andere Möglichkeit gesehen, als dich mit einem Schlag in die Magengrube außer Gefecht zu setzen. Daher der blaue Fleck.“ „Oh.“ „Oh?“ Die glaubte sich verhört zu haben. Fassungslos starrte er den Sänger an. „Oh?! Alles was du dazu sagen kannst ist 'Oh'? Verdammt, Kyo, du hast versucht dir die Arme mit bloßen Händen aufzuschlitzen, hattest dich wieder vollkommen in dich selbst zurück gezogen. Du bist so ausgetickt, dass man keine andere Möglichkeit hatte dich ruhig zu stellen, als dich k.O. zu schlagen!“ Zuerst war Kyo einen Schritt zurück gewichen, als Daisuke mit seiner Strafpredigt angefangen hatte, aber dann fasste er sich wieder, ging mit blitzenden Augen auf den Größeren zu. „Meinst du, ich finde toll, dass das passiert ist?“, fuhr er ihn lautstark an. „Ich hatte doch auch gehofft, dass ich endlich einigermaßen abgeschlossen hatte. Verdammt! Ihr glaubt alle, dass es so einfach ist zu vergessen, aber mit der Scheiße hat es angefangen. Deswegen habe ich mehr als fünfzehn Jahre meines Lebens verloren! Und der Rest von dem, was mir noch bleibt, ist auf ewig verkorkst! Ich finde es doch auch beschissen, dass ihr das immer mitbekommt.“ Seine Stimme wurde wieder leiser, ruhiger, verletzter. „Seit so vielen Jahren sorgt ihr euch um mich, tut ihr alles, damit ich mich besser fühle. Damit ich mein Leben auch wieder genießen kann. Und es hilft. Dafür bin euch unendlich dankbar. Doch dann gibt es eben wieder diese Momente in denen alles wieder hoch kommt. Wo all die Erinnerungen und schlechten Gefühle auf mich einstürzen. Ich will ja auch nicht, dass das passiert. Schon gar nicht, wenn ihr dabei seid. Aber es lässt sich nur so schwer kontrollieren. Eigentlich gar nicht. Das ist immerhin meine Vergangenheit. Die los zu lassen... das geht nicht.“ Mit einem resignierenden Seufzer schüttelte er den Kopf. „Es ist einfach ein Teil von mir.“ Er schnappte sich den Wasserkocher und befüllte ihn, setzte ihn im Anschluss auf die Station zurück und ließ das Gerät machen. „Tomoko-san und ihre Tochter kommen gleich noch rüber. Sie will noch etwas mit mir besprechen. Könntest du dich in der Zeit ein bisschen um Sae kümmern?“, fragte er, während er ein Kanne aus dem Schrank holte und mit grünem Tee befüllte. „Kann ich machen“, erklärte sich der Gitarrist einverstanden. Er nahm sich seine Tasse und goss sich von dem Kaffee ein, der soeben fertig geworden war. „Darf man fragen, worüber sie mit dir sprechen will?“ „Sie kannte Ayaka-san.“ Wie vom Blitz getroffen hielt Daisuke inne und starrte Kyo an. Den Namen hatte er seit einer Ewigkeit nicht mehr ausgesprochen gehört. Immer hatten sie alle einfach 'sie' gesagt. Das hatte es irgendwie einfacher gemacht. „Woher?“ „Das werde ich gleich erfahren.“ „Hallo?“, erklang es aus dem Flur. „Da ist sie schon.“ Kyo ging aus der Küche, um seine beiden Gäste in Empfang zu nehmen. Was ganz gut war, denn Tomoko hatte ein sehr schwer aussehendes Tablett dabei. Schnellen Schrittes ging er auf sie zu, nahm es ihr ab. Sie sollte sich jetzt ein wenig erholen. „Das Essen war noch zu retten“, erklärte sie ihr Mitbringsel. „Da dachte ich, dass ich es ja mitbringen kann. Wäre doch zu schade, um es weg zu schmeißen.“ „Eine gute Idee. Wir hatten hier nämlich noch kein Frühstück“, entgegnete Kyo mit einem schiefen Lächeln. Er führte seine Gäste ins Wohnzimmer, wo er sich noch einmal zu Tomoko umdrehte: „Wenn du möchtest, da vorne links ist das Badezimmer, dann kannst du dir das Gesicht waschen.“ Ein berechtigter Vorschlag, wo ihres doch immer noch mit getrocknetem Blut verschmiert war. „In dem Spiegelschrank ist auch noch ein bisschen Salbe, wenn du die Wunde behandeln möchtest.“ „Vielen Dank. Aber soll ich nicht erst-?“ „Um das Essen kümmere ich mich. Keine Angst. Ich muss ja nur noch Geschirr auf den Tisch stellen.“ Mit einem Lächeln sah er zu der kleinen Sae. „Möchtest du vielleicht schon mal mit mir kommen?“ Eng an ihren großen Panda gedrückt, nickte sie und schniefte. Man merkte, dass sie immer noch an dem Geschehenen eben knabberte. Hoffentlich konnte sie das Spielen gleich wieder ein wenig aufmuntern. „Dann los.“ Kyo wandte sich ab zum gehen, war aber noch keinen Schritt weit gekommen, da merkte er ein Gewicht am Bund seiner Jeans. Verwundert sah er noch unten, musste im nächsten Moment ein wenig schmunzeln, als er Sae erblickte. Langsamen Schrittes, damit die Kleine mit kam und er gleichzeitig nicht über sie stolperte, ging es zuerst zu dem Esstisch, wo er das Tablett abstellte, sich dann seinem Anhängsel zuwandte, indem er ihr ihren kleinen, bunten Rucksack abnahm und auf einem der Stühle platzierte. „Bleib schön hier sitzen, ich gehe nur gerade das Geschirr holen, ja?“ Doch statt zu nicken, schüttelte das Mädchen den Kopf, griff nach dem Shirt des Sängers und krallte die Finger der einen Hand hinein. „Ich will nicht alleine bleiben“, nuschelte sie und drückte ihr Plüschtier fest an sich. „In Ordnung.“ Kyo konnte sie verstehen, weswegen er ihr über den Kopf strich und ihr so etwas von der Nähe gab, die sie haben wollte. „Die?“, rief er nicht allzu laut. Doch dieser stand bereits in der Tür zur Küche und hatte sie die ganze Zeit beobachtet. „Ich decke den Tisch“, erklärte er sich bereit und dreht sich wieder um, damit er dieses Vorhaben auch in die Tat umsetzen konnte. Kyo war dankbar, dass sein Freund da war. Alleine wäre er doch ein wenig überfordert. Aber alleine hätte er auch nicht viel gegen den widerlichen Typen eben ausrichten können. Was ihn zu dem Gedanken brachte: Wie wäre sein Leben verlaufen, wenn er damals nicht alleine unterwegs gewesen wäre? Wäre das alles dann gar nicht erst passiert? Oder hätte er noch wen mit in diesen Abgrund gezogen? Die Wahrscheinlichkeit, dass alles gar nicht erst geschehen wäre, war eindeutig größer, sagte ihm sein Verstand. Aber was hätte er denn machen sollen? Damals war keiner der anderen mehr da gewesen. Außer Kaoru, aber das hatte er ja auch erst gewusst, als er wieder zu dem Parkplatz gekommen war. Da die Probe als beendet erklärt gewesen war, hatte er eben angenommen, dass die anderen Vier nach Hause gehen würden und dementsprechend keinen von ihnen gefragt. Zudem war er auch schon damals alt genug gewesen, um auch mal allein durch die Gegend gehen konnte. Es hatte niemand wissen können, dass das passieren würde. Wirklich niemand. Wieder einmal seufzte Kyo. Was passiert war, war passiert, nicht? Jetzt musste er damit leben. Er nahm die Kleine auf den Arm, drehte sich um sich selbst und nahm am Ende auf dem Stuhl platz, auf dem sie vorher gesessen hatte, sodass sie jetzt auf seinem Schoß sitzen konnte. Sanft legte er seine Arme um sie, drückte sie an sich. Langsam strich er ihr über den Unterarm. „Ich hatte solche Angst“, flüsterte Sae, krallte sich in das Fell ihres Stofftieres. „Ich weiß“, antwortete Kyo. „Aber das brauchst du jetzt nicht mehr. Hier bei mir kann dir nichts passieren.“ Er begann eine Melodie zu summen, um sie weiter zu beruhigen. Aber auch, um sich selbst ein wenig Spannung zu nehmen. Es war keine bestimmte Melodie, sondern eine, die sich erst mit jeder Note entwickelte. Daisuke kam zu ihnen, stellte ein paar Teller auf den Tisch, verteilte diese darauf, als er sein Handy aus der Küche vernahm. „Das wird meine Frau sein“, grinste er schief. „Hatte ihr Versprochen heute morgen anzurufen.“ Damit entschuldigte sich der Gitarrist und eilte in die Küche zurück, um das Gespräch entgegen zu nehmen. Derweil war Kyo immer noch mit summen und streicheln beschäftigt. Selbst als Tomoko wieder zu ihnen stieß. Um nicht untätig da zu sitzen verteilte sie das Geschirr auf dem Tisch, damit sie bald mit dem Essen beginnen konnten. Daisuke kehrte aus der Küche zurück und half ihr, lud im Anschluss jedem eine Portion auf den Teller. Ein bisschen Reis mit gebratenem Fleisch in Sauce, dazu Wok-Gemüse, das zwar ein wenig sehr braun war, aber immer noch essbar. „Sae? Möchtest du nicht von Kyo-kuns Schoß runter? So kann er doch gar nichts essen.“ Doch sie schüttelte sacht den Kopf, machte sich etwas kleiner und schien fast in ihn hinein zu kriechen. „Ich denke, ich werde Beides hin kriegen“, sagte Kyo lächelnd und schob sich mit seiner Fracht näher an den Tisch heran. Er hörte mit dem Streicheln auf, um sich die Stäbchen nehmen zu können. „Guten Appetit“, wünschte er noch, dann fing er an zu essen, was ihm die anderen gleich taten. Nach einigen Bissen reichte er etwas an Sae weiter, die aber keine Anstalten machte diesen auch zu sich zu nehmen. „Du musst doch etwas essen. Und sei es nur ein bisschen.“ Wenn man traurig war, dann war einem nicht nach essen, dass wusste er aus Erfahrung, aber nichts zu sich zu nehmen machte es auch nicht besser. „Na komm schon. Deine Mama hat sich so viel Mühe gegeben.“ Was Kyo nicht sah, waren die Blicke von Daisuke und Tomoko, welche bei der letzten Aussage ein wenig rot vor Verlegenheit wurde. Was den Gitarristen wiederum schmunzeln ließ. Kyo wäre ein guter Vater. Sogar ein fast perfekter. Und die Nachbarin schien ähnliche Gedanken zu haben. Sie würde auch viel besser zu ihm passen, als die kleine Sachiko. Die brauchte jemanden, der nicht so in sich gekehrt war, wie sein Freund. Jemanden, der das Leben in vollen Zügen genoss und unternehmungslustig war. Vielleicht auch ein wenig draufgängerischer. „Du musst etwas zu dir nehmen, Schätzchen.“ Mitfühlend legte sie ihre Hand auf einen Oberschenkel ihr Tochter, drückte Trost spendend zu, um ihr zu zeigen, dass sie für sie da war. „Mit knurrendem Magen lässt es sich nicht so gut spielen“, versuchte es Die, aber selbst das funktionierte nicht so gut. Das Mädchen wollte einfach nichts zu sich nehmen. Bevor der Bissen ganz kalt wurde, aß Kyo ihn selbst und auch normal weiter. Man durfte Sae jetzt nicht drängen, denn das würde zu nichts führen. Nach einigen Momenten fanden auch die anderen Beiden ihren Appetit wieder und aßen weiter. „Weißt du Sae“, sagte Kyo zwischen zwei Bissen, „die Traurigkeit wird nicht von alleine weg gehen. Ich weiß das, weil ich das selbst schon erlebt habe. Du kannst immer noch traurig sein nachdem du was gegessen hast. Denn das hilft dir ein wenig mit der Trauer fertig zu werden. Und mit dem hungrigen Magen kannst du dich wirklich nicht so gut aufs Spielen gleich konzentrieren. Außerdem hat sich deinen Mutter wirklich viel Mühe gegeben, als sie dieses leckere Essen gekocht hat.“ Wieder wurde Tomoko ob dieses Kompliments ein wenig rot, was dem Sänger dieses Mal nicht entging und auch ihm ein wenig Farbe ins Gesicht zauberte. Aber es brachte ihn auf eine andere Idee. „Wenn du jetzt nichts isst, dann machst du deine Mutter noch trauriger.“ Erneut hielt er dem Mädchen einen Bissen vor die Nase. Hin und her gerissen sah sie zu dem von den Stäbchen gehaltenen Reis und ihrer Mutter. Ihre Augen wanderten über ihr geschundenes Gesicht und die traurigen Augen. Dann öffnete sie den Mund und nahm den Bissen zu sich, was allen Anwesenden ein Lächeln entlockte. „So ist es gut.“ Und so wechselte er ab bei jedem Happen, ließ sich auch noch eine weitere Portion auf den Teller tun, damit sie beide satt wurden. Es half auch dabei, dass sich die Kleine entspannte und nicht mehr versuchte in Kyo hinein zu krabbeln. Eine halbe Stunde später standen Kyo und Tomoko in der Küche und machten gemeinsam den Abwasch, während Daisuke es sich mit Sae am Tisch gemütlich gemacht hatte und nun mit ihr ein paar der Spiele ausprobierte, die sie in ihrem Rucksack mitgebracht hatte. So konnten beide Parteien ein wenig ungestört sein. Tomoko stand an der Spüle, während Kyo alles abtrocknete und anschließend da hin stellte, wo es hin gehörte. Sie schwiegen, wusste doch keiner, wie das Thema angeschnitten werden sollte, das sie eigentlich bereden wollten. Bis sich Kyo ein Herz fasste. „Wie lange kanntest du sie?“ „Wen?“ „A-“, der Name wollte ihm nicht mehr über die Lippen. Es bestand ein geringes Risiko, dass sie dann wieder kam. Und das war ihm dann zur Zeit doch nicht recht. „Du weißt schon“, wich er dann aus und stellte den getrockneten Teller zur Seite. „Ach so.“ Sie war ihm eine Erklärung schuldig. Immerhin hatte sie vorhin mit diesem Thema angefangen. „Ich kannte sie etwa zwei Jahre.“ Gewissenhaft kümmerte sie sich um das dreckige Geschirr. „Sie ist, ebenso wie ich, in dieses Milieu hinein gerutscht. Ohne Abschluss. Ohne Arbeit. Ohne Zukunft. Genauso, wie viele andere Menschen. Wir haben... Drogen durch die halbe Stadt geschleppt. Waren Kuriere. Manchmal mussten wir dann auch neue Kunden...'werben'... indem wir...“ Ihr war das Ganze so peinlich. So unangenehm. Noch nie hatte sie so offen mit jemandem über diese Vergangenheit geredet. Seit dem sie sich da raus gekämpft hatte, hatte sie kaum noch soziale Kontakte. Eigentlich gar keine, wenn sie nicht einen kleinen Job als Teilzeit-Verkäuferin in einem Supermarkt um die Ecke gefunden hätte. „Indem ihr die Nummer mit dem Handtaschen-Diebstahl abgezogen habt“, ergänzte Kyo. So viel hatte sie ihm vorhin ja schon erzählt. Und wie der funktionierte brauchte sie auch nicht weiter erklären. Das hatte er am eigenen Leib erfahren. „Es... Es hört sich vielleicht komisch an, aber... sie war irgendwie stolz auf dich. Weil du doch eine Berühmtheit warst... ähm, bist.“ „'War' ist schon die passendere Bezeichnung.“ Denn was war er jetzt schon? Ein gefallener Soldat im Krieg um einen Platz in dem strahlenden, verheißungsvollen Licht, an dem sich schon viele Menschen verbrannt hatten. Weil sie wie Motten unbedingt ganz nah heran fliegen wollten an die Lampe, die Quelle des Leuchtens. Hatte er sich auch verbrannt? Nein, er war einem anderen Gift zum Opfer gefallen, welches ihn schlussendlich zurück auf den Boden geworfen hatte, wo ihn kein Licht mehr erreichen konnte, weil es von all den anderen eifrigen Faltern verdeckt wurde. „Wie...Wie bist du denn da hinein gerutscht?“ „Durch Sae's Vater. Weil ich unsterblich in ihn verliebt war. Ich hab das alles für ihn gemacht.“ Geschockt rutschte Kyo die Schüssel aus der Hand, die er gerade trocknete. Es gab aber nur ein dumpfes Klappern, weil der Gegenstand aus Plastik war. „Dann war der Kerl da eben...? Und er ist im Grunde dafür verantwortlich, dass ich...?“ „Er macht das auch immer noch“, gestand Tomoko und knetete den Spülschwamm erbarmungslos durch. „Es gibt immer noch so viele Menschen, die für ihn arbeiten. Das ist auch der Grund, weshalb ich keinen Unterhalt von ihm will. Ich will dieses dreckige Geld nicht.“ Ein Schluchzer schüttelte ihren Körper. Ja, es war schwer ohne dieses zusätzliche Geld aus zu kommen, doch wurden so viele ins Unglück gestürzt in den Bemühungen es zu bekommen, dass sie es einfach nicht haben wollte. Wegen diesem Geld hatten Menschen wie Ayaka und einigen anderen ihr Leben gelassen. Auch, wenn viele dieser Leben nur noch Scherbenhaufen gewesen waren, so waren sie immer noch wertvoll. Zu wertvoll, um sie wegen etwas wie Geld weg zu werfen. Kyo schlang seine Arme um sie, wollte ihr Trost spenden, halt geben. Er war ihr dankbar dafür, dass sie sich ihm anvertraute. Obwohl das Schicksal wirklich einen makaberen Humor hatte, dass es ihn auf diese Frau treffen ließ. Er murmelte ihr beruhigende Worte ins Ohr, strich ihr über den schmalen Rücken. Nie. Nie durfte er vergessen, wie viele andere Menschen es auf dieser Welt gab, die ebenfalls so viel Schmerz in sich trugen, wie er selbst, wenn nicht sogar mehr. Sein Blick huschte zur geschlossenen Küchentür, hinter der sich Daisuke und Sae befanden. Er durfte nie vergessen, wie vielen Menschen er bereits weh getan hatte. „Darf ich dich noch etwas fragen?“ Seine Stimme war leise, aber kein Flüstern. Er wollte sie zwar nicht stören, aber da waren noch ein paar Sachen, die er wissen wollte. Tomoko nickte und strich sich die Tränen vom Gesicht, während sie sich ein wenig aus der Umarmung löste. „Wie hast du es geschafft von dort weg zu kommen? Das muss doch schwer gewesen sein.“ Immerhin machte sie den Eindruck, als würde sie solche arbeiten nicht mehr machen. Außerdem hatte sie ja von 'früher' geredet. „Ja, das war es. Ich habe ziemlich kämpfen müssen. Im Grunde warst du der Auslöser, weshalb ich mir ernsthafte Gedanken über einen Ausstieg gemacht habe. Nachdem Ayaka-kun tot war, habe ich erkannt, dass das, was ich da tue, nicht das ist, was ich will. Und das mein Geliebter nicht der ist, für den ich ihn immer gehalten hatte. Kein Traumprinz. Kein Fels in der Brandung. Ich bin in ein Amt gegangen und habe mir Hilfe geholt. Habe jahrelang gekämpft, um von all dem weg zu kommen. Bis ich eine kleine Wohnung hatte und mir mein Geld auch mit einem ehrlichen Job verdienen konnte. Ich wollte sogar noch eine Abendschule besuchen, um mir noch einen besseren Schulabschluss zu verdienen. Aber dann bin ich wieder auf ihn getroffen. Reumütig stand er plötzlich vor mir. Erzählte mir all den romantischen Kram, den ich immer von ihm hatte hören wollen.“ Lachend schüttelte sie den Kopf. „Ich dumme Kuh bin auf ihn herein gefallen. Dann bin ich ganz schnell wieder in mein altes Leben abgerutscht. Irgendwann fand ich mich dann an einer Straßenecke wieder. Ein Paket mit Marihuana in der Hand und umgeben von Polizisten.“ Sie warf einen scheuen Blick in Kyos Augen. „Ich hab also eine Vorstrafe wegen Drogenbesitzes. Von einem Richter wurde ich zu ein paar Monaten Gefängnis verurteilt, obwohl ich ihnen alles gesagt hatte, was ich wusste. Gesungen wie ein Vögelchen, wie man so schön sagt. Während der Zeit hatte ich dann gemerkt, dass ich schwanger bin. Und da war für mich klar: Du musst diesem Kind eine sichere Umgebung schenken. Sae gab mir die Kraft, erneut zu kämpfen. Nur ist es nicht mehr ganz so sicher, seitdem ihr Vater vor etwa anderthalb Jahren wieder entlassen wurde. Keine Ahnung, wie er das geschafft hat, aber-“ Hier übermannten sie erneut ihre Gefühle, suchte sie die Nähe des Älteren, indem sie sich in seine Arme flüchtete. Auch eine Kämpfernatur hatte Momente, in denen sie Schwäche zeigte und die Stärke eines Anderen benötigte. „Geht es wieder“, erkundigte sich Kyo nach einigen weiteren Minuten, in der er ihr über den Rücken und das lange schwarze, zusammengebundene Haar gestrichen hatte. „Ja“, flüstere sie gegen seine Schulter. Ihre Tränen waren fürs Erste wieder versiegt. Alle in das Shirt des liebevollen Mannes vor ihr geflossen. Sie löste sich wieder ein wenig von ihm, damit sie ihn ansehen konnte. „Arigatou“, hauchte sie, ihre Stimme noch immer gebeutelt von den ganzen Emotionen und den Erinnerungen. „Keine Ursache.“ Kyo lächelte sie an und half ihr dabei, die feuchten Spuren von ihren Wangen zu wischen, wobei ihm wieder einmal auffiel, wie schön sie doch eigentlich war. „Ich bin ab sofort für dich und Sae da, wenn ihr Hilfe braucht.“ Behutsam strich er ihr ein paar Haarsträhnen hinters Ohr, sah ihr dabei tief in die Augen. Plötzlich war alles vergessen, was an diesem Morgen passiert war. Beide waren zu gefangen von ihrem Gegenüber. Langsam und zögerlich näherten sie sich, schlossen mit jedem Stückchen ihre Augen ein bisschen mehr und neigten ihren Kopf ein wenig. Sie wussten, was jetzt kommen würde, aber wehren wollte sich keiner der beiden dagegen. Sie konnten bereits den Atem des anderen spüren und erste kleine Blitze zuckten durch ihren Körper, als sie schon die Lippen des anderen an ihren eigenen erahnen konnten. 'Jetzt oder nie', schoss es Kyo durch den Kopf und er überbrückte den letzten, winzigen Abstand zwischen ihnen. Schüchtern bewegten sie ihre Lippen gegeneinander. Genossen diesen Austausch an Zärtlichkeit. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)