Schlaflos von Cookie-Hunter (Der Albtraum endet nie...) ================================================================================ Kapitel 25: Heilprozess ----------------------- Ehrfürchtig und immer noch sprachlos ging Kyo weiter durch den Raum. Das Ganze war doch verrückt. Absolut verrückt. Jedoch auch ein kleines bisschen Balsam für seine zerbrochene Seele. Er räumte einen der Stühle frei, setzte sich anschließend darauf. Denn so allmählich knickten ihm die Knie weg, nachdem er der ersten 'Schock' überwunden hatte. Vorsichtig nahm er eine der Schachteln in die Hand, die er gerade beiseite geräumt hatte. Er befreite sie von dem bunten Papier und stellte fest, dass sich auch hier drin Schokolade und ein Brief befanden. Beides diesmal aus Japan. In dem Schreiben fand er dieselben aufmunternden Worte, denselben innigen Wunsch, wie in dem Anderen. Und er würde sie in jedem einzelnen Geschenk wiederfinden. Allmählich zweifelte er an dem, was er dachte und fühlte. Dass er sein altes Leben einfach nicht mehr verdient und schon froh darüber sein konnte, dieses normale Leben führen zu dürfen, welches er jetzt hatte. Immerhin war allein diese Tatsache ja schon ein Geschenk. Ein Wunder. „Was sagst du dazu, Ayaka-san?“ Er schielte zu seiner rechten. Bis jetzt hatte sie sich ruhig verhalten. War im allgemeinen stiller geworden, seit dem Tag im Krankenhaus. „Soll einer die Menschen doch verstehen. Einen Mörder so zu verehren. Erbärmlich.“ Irgendwo musste er ihr ja Recht geben. Er hatte etwas Unrechtes getan und doch schien ihm die halbe Welt verziehen zu haben. „Das Singen fehlt mir schon. Es hat mich so viele Jahre über begleitet.“ Wehmütig seufzte er auf. „Tu doch, was du willst. Auf mich hörst du ja eh nicht.“ Mit einem verärgerten Schnauben wandte sie sich ab, ging geradewegs auf die Wand und den davorstehenden Geschenkberg zu. Und hindurch. „Ayaka-san?“ Verwundert sah er ihr hinterher. Was sollte das denn jetzt werden? Ihr Verhalten passte zu ihrer plötzlichen Stummheit. Seltsam, absolut seltsam. Er drehte sich wieder herum, sah mit leerem Blick auf die Tischplatte vor sich. Mit einem Mal fühlte er sich einsam. Richtig einsam. Gleichzeitig allerdings auch ein wenig, wie sollte er es sagen, befreit. Ja, befreit, erleichtert, unbeobachtet und - ganz wichtig – frei. Einfach nur frei. Herrliches Gefühl. Mit neu gewonnener Leichtigkeit öffnete er die Schachtel von eben erneut, brach sich ein Stück von der Schokolade ab und steckte es sich in den Mund. Angenehm süß. Man konnte sogar ein wenig von der Liebe schmecken, die bei der Herstellung hineingelegt worden war. Und es schmeckte nach Erlösung. Die Süße schenkte ihm die Erlösung, dadurch, dass sie das Gefühl Vergebung in sich trug. Deswegen sollte er jedoch nicht damit anfangen sämtliche Schokolade zu verputzen, die sich hinter all dem Papier hier drin verbarg. Dadurch würde er nicht nur platzen, sondern auch für die nächsten Wochen Bauchschmerzen haben, die sich gewaschen hätten. Aber er hatte sich ja vorgenommen jedes einzelne Geschenk zu öffnen, jeden Brief zu lesen, der hier eingetroffen war. Weshalb er sich auch gleich das nächste Präsent nahm. Es war ein wenig größer als die beiden bisherigen, aber auch leichter. Neugierig packte er es aus, nur um dann mit einem Schmunzeln festzustellen, weshalb es so leicht war: Es enthielt nämlich keine Schokolade, sondern eine Plüschkatze. Himmel, da war er jetzt ein erwachsener Mann, der auf die fünfzig zu ging und er bekam immer noch Kuscheltiere geschenkt. Sollte er sich nun geehrt oder dezent verarscht vorkommen? Besser geehrt, wo er doch schon ahnte, dass in einigen anderen Schachteln ebenfalls ein Stofftier war. Zumindest, wenn man sich an der Größe orientierte. Trotz allem würde er jedes Einzelne schätzen. Der Brief, der zu der grau-getigterten Katze gehörte, war selbiger als Papierröllchen um den Hals gebunden. Kyo löste die Schleife mit der das Schreiben befestigt war und entrollte es. 'Komm zurück und sing für uns!' Das war alles, was auf dem Zettel stand. „Der Kuchen ist wirklich gut. Den Konditor musst du dir merken“, schmunzelte Kaoru und nahm einen Bissen von seinem Stück. „Mach ich“, erwiderte Die und widmete sich seiner Kaffeetasse. Seinen Kuchen hatte er noch nicht einmal ansatzweise angerührt. Sein Appetit hielt sich seit einigen Tagen massiv in Grenzen. Sein Blick wanderte unkontrolliert immer wieder zu der Tür, die zum Konferenzzimmer führte. Er machte sich seine Gedanken darum, wie es Kyo gerade ging, was er fühlte. Schließlich war er ja ohne Aufsicht da drin. Und sie wussten ja, zu was das führen konnte. „Hey“, sagte Toshiya und stupste den Älteren an. „Geh doch nachgucken. Dann weißt du Bescheid.“ „Ich weiß gar nicht, wovon du redest.“ Schmollend sah er zur Seite. Er fand es peinlich, dass man ihm sein inneres Chaos so genau ansehen konnte. Sein schlechtes Gewissen plagte ihn einfach noch. Wieso zur Hölle schaffte er es eigentlich Kyo ständig an die Schwelle zu bringen? Das war ja fast so, als würde er ihn an die Hand nehmen und ihn direkt dort absetzen, mit den Worten: „Geh noch einen Schritt weiter. Da drüben ist das Land ohne Sorgen.“ „Die“, versuchte es Kaoru auf die sanfte Weise. „Nach dem letzten Mal ist doch auch alles wieder gut geworden. Da wird es dieses Mal auch nicht viel anders. Bestimmt.“ Er schenkte jedem eine weitere Tasse Kaffee ein. „Hm, ich sollte Ryuka-san fragen, ob sie uns noch eine Kanne macht.“ So ging er mit der leeren Thermoskanne aus dem Büro heraus und zu seiner Sekretärin, bat sie darum Nachschub zu organisieren. „Meint ihr, wir finden Kyo da drin wieder? Der sitzt da immerhin schon seit drei Stunden drin. Da wird er wohl schon so einiges ausgepackt haben.“ Die schmunzelte: „Nachher hat er wieder eine Schleife im Haar und bekommt sie nicht heraus.“ „Oder er hat sich komplett eingewickelt und kann sich jetzt nicht mehr befreien.“ Schallend begann Toshiya zu lachen. Diese Vorstellung war einfach zu köstlich. Himmlisch. Fantastisch. Das musste er unbedingt mal ausprobieren mit ihrem Sänger. Als Kaoru den Raum wieder betreten wollte, blieb er verwundert in der Tür stehen und besah sich mit hochgezogener Augenbraue das Spektakel. Da war er keine zwei Minuten aus dem Raum und der Jüngste konnte sich nur unter Anstrengung auf seinem Stuhl halten. Verrückt. Und Daisuke saß daneben, grinste hinter vorgehaltener Hand. Er warf diesem einen fragenden Blick zu, bekam aber nur ein Kopfschütteln. „Hast Recht. Ich will es nicht wissen.“ In dem Moment öffnete sich die Tür, durch die Kyo vor einigen Stunden hindurch gegangen war und nun wieder zurückkehrte. Neugierig und erwartungsvoll sahen die drei Männer zu ihrem Freund, der ein wenig schüchtern im Raum stand. „Du bist doch noch nicht fertig, oder?“, erkundigte sich Toshiya mit einem schiefen Grinsen. Es war zwar einige Zeit vergangen, aber in Anbetracht der vielen Berge wäre es schon ein ziemliches Wunder gewesen, wenn er alles ausgepackt und gelesen hätte. Kyo schüttelte den Kopf: „Nein, noch lange nicht. Es wird wohl auch noch eine Weile dauern, bis ich da durch bin.“ Verlegen blickte er zu Boden. „Eigentlich bin ich auch nur Mal kurz herausgekommen, weil ich Kaoru um einen kleinen Gefallen bitten.“ Erstaunt blickte der Ältere in die Runden: „Was denn für einen Gefallen?“ „Nun, weißt du... Ich hab mir gedacht... Es sind so viele Briefe und Geschenke und all so was. Ich finde, da wäre ein 'Danke' ganz angebracht. Nein, sogar überfällig. Mehr als überfällig.“ Kaoru stellte die Kaffeekanne ab und ging auf den Jüngeren zu. „Du hast doch sicherlich schon eine Idee, so wie ich dich kenne.“ „Du willst doch nicht etwa, dass wir dir jede Menge Briefpapier und was zum Schreiben organisieren?“ „Nein, Toshiya. Das will ich nicht. Mir würde, ehrlich gesagt, auch schon eine Kamera reichen.“ Mit einem verlegenen Grinsen kratzte er sich am Hinterkopf. „Ah“, machte Kaoru verstehend und man konnte die brennende Glühbirne über seinem Kopf förmlich sehen. „Du willst eine Videobotschaft benutzen. Clever. Na dann organisiere ich mal eine Kamera und du überlegst dir schon ein mal, was genau du sagen willst.“ Und schon stürmte der Älteste mit einem zufriedenen Grinsen aus dem Raum. Derweil hatte Die für Kyo einen Kaffee eingegossen und ihm diesen gebracht. „Möchtest du vielleicht auch noch ein Stück Kuchen? Noch ist was da. Oder Toshiya läuft gerade zum Auto und holt deines.“ Jedoch schüttelte der Kleinere den Kopf: „Nicht nötig. Sowieso blöd von mir, den im Wagen zu lassen. Allerdings hab ich mich da drin ganz gut an die viele Schokolade und die Kekse gehalten. Mir ist schon etwas flau, wenn ich ehrlich sein soll.“ Mit einem schiefen Lächeln nahm er einen Schluck, ging dann zum Sofa, auf dem Die noch kurz zuvor gesessen hatte. „Und wie weit bist du jetzt?“, fragte Toshiya und schob sich einen weiteren Bissen seines Kuchenstücks in den Mund. Seufzend antwortete Kyo: „Schon viel geschafft und dennoch ganz am Anfang. Zwischendurch hatte ich das Gefühl, dass das nie enden wird. Man merkt kaum, dass ich schon irgendwas ausgepackt habe. Wenn man mal von dem ganzen Papier und den herumliegenden Schleifen absieht. Es ist der absolute Wahnsinn.“ In aller Ruhe genoss er seinen Kaffee, wollte für einen Moment einfach nur abschalten. Den Kopf frei kriegen für einige geordnete Gedanken. Für ein paar Sätze, die er gleich in dem Video sagen wollte. Jedoch irritierte ihn die leicht bedrückende Stille, die vor allem von Die ausging. Machte der sich etwa immer noch Vorwürfe? Kyo seufzte. Sein bester Freund sollte sich nicht so fertig machen. Er konnte da nichts für. Nicht dafür, dass Kyo damals dieser Frau über den Weg gelaufen war. Nicht dafür, dass sie ihm dieses Mistzeug untergejubelt hatte. Und erst recht nicht für die Kurzschlussreaktion seinerseits. An allem, was in den letzten nahezu siebzehn Jahren passiert war, da war nur er, Kyo, Schuld. Na ja, er und Ayaka. Aber doch nicht Die. Der Gitarrist hatte ihm in der Vergangenheit doch immer wieder die Anstöße dazu gegeben, den Weg zurück in die Normalität zu gehen und ein Stück weit zu seinem alten Leben wieder zu finden „Daisuke?“ „Nani?“ Aus seinen eigenen Gedanken aufgeschreckt, sah sich Die erst einmal verwundert im Raum um, um herauszufinden, wer ihn da angesprochen hatte, bis er an Kyo hängen blieb, der ihn zudem auch noch ansah. Fragend blickte er den Jüngeren an, auch wenn er ein wenig Angst davor hatte zu erfahren, was jener denn von ihm wissen wollte. „Es war nicht wegen dir.“ Jetzt verstand Dai gar nichts mehr. Wenn Kyo das meinte, was er im Kopf hatte, dann war es doch natürlich seine Schuld. Er hatte dem Jüngeren so viele Dinge einfach so ins Gesicht gesagt, ohne sich darüber klar zu sein, welche Folgen das haben konnte. Zumal sie doch eigentlich wussten, wie extrem ihr Freund reagieren konnte. „Nein, Daisuke“, erwiderte Kyo, genau wissend, was der Größere dachte, wo sein Gesicht doch ganze Romane erzählte. „Es war nicht, weil ich die Wahrheit nicht verkraften konnte. Denn das waren deine Worte ja: Die Wahrheit. Es ist nur... Ich nehme seit dem missglückten ersten Versuch bei der Probe damals nahezu ausnahmslos jeden Abend Schlaftabletten, damit ich Ayaka-san nicht mehr hören brauche. Damit ich einen tiefen, traumlosen Schlaf und zumindest ein paar Stunden Ruhe am Tag vor ihr habe, weil sie mich doch ziemlich fertig macht durch ihre Anwesenheit. An dem Abend sind es nur dummerweise ein paar mehr geworden, weil sie so extrem penetrant war. Und getreu dem Motto: Mehr hilft mehr und schneller... Ich hatte mich einfach in der Stärke des Mittels vertan, weshalb es im Endeffekt so missglückt aussah.“ Beim Sprechen hatte er die Augen von Die genommen und sie, ins Leere blickend, gen Boden gerichtet. Das gerade war ein Geheimnis gewesen, welches er seinen Freunden noch nicht hatte erzählen können, da er dachte, dass sie mit einem Selbstmordversuch einfacher würden umgehen können. So war die Wahrscheinlichkeit groß, dass sie sich -und Toshiya im besonderen- Vorwürfe machten, dass sie nichts gemerkt hatten. „Am Wichtigsten ist jedoch: Du bist nicht der Auslöser.“ Wieder sah er auf, sah dem Älteren direkt in die Augen. „Sei nicht mehr so niedergeschlagen, ja? Denn du bist nicht der Grund.“ „Du lügst doch.“ Kyo schüttelte den Kopf: „Nein, tue ich nicht. Es war wirklich nur, weil ich schnell schlafen wollte, um ihre Stimme nicht mehr hören zu müssen. Deine Worte waren nicht der Grund. Sie haben mich zum nachdenken gebracht. Und das hat ihr Stoff gegeben, ja. Dennoch ist es nicht deine Schuld. Also, lass den Kopf nicht mehr so hängen. Bitte. Ich sitze hier, mir geht es gut und alles ist überstanden. Kein Grund sich jetzt noch irgendwelche Sorgen zu machen.“ So wirklich überzeugten Die die gehörten Worte noch nicht. Er hatte noch immer das Gefühl der Auslöser gewesen zu sein. Toshiya sah verstört zu Kyo. Er hasste sich gerade selbst dafür, dass er nichts von diesen Tabletten mitbekommen hatte. Wenn sein Mitbewohner das wirklich schon eine Weile machte, hätte er ja eigentlich irgendetwas merken müssen. Zum Beispiel leere Tablettenstreifen im Müll. War er ignorant? „Da ist man für ein paar Minuten aus dem Raum und ihr benehmt euch bei meiner Wiederkehr, als wäre einer gestorben.“ Da hatte sich Kaoru wirklich den passenden Moment für seine Rückkehr ausgesucht. Er schloss die Tür hinter sich und stellte sich vor seinen Sessel und die Kamera auf den Tisch. „Also, was geht hier vor sich?“ In einer Kurzfassung beichtete Kyo nochmals, damit auch der Älteste auf dem neuesten Stand der Dinge war, weshalb dieser sich geschockt in den Sessel fallen ließ. Mit einem tiefen Seufzer beendete der Kleinste unter ihnen seinen Vortrag und leerte seine Tasse. In seinem Inneren herrschte gerade ein gewaltiger Sturm. Anstatt die Situation zu verbessern, hatte er es geschafft, dass sich die anderen Drei noch schlechter fühlten. Wenn, ja wenn Shinya es damals nicht in seine Wohnung geschafft hätte, dann hätte er seinen Freunden diesen Moment ersparen können. Diesen und einige andere. „Kyo, hör auf so zu denken“, kam es drohend von Kaoru, der ihm gegenüber saß. Der Andere hatte seine Mimik einfach nicht mehr so unter Kontrolle wie früher. „Was passiert ist, ist traurig und ich möchte dir am liebsten noch ein paar Kopfnüsse verpassen, damit du dir merkst, diesen Scheiß nicht noch einmal zu machen.“ „Das merke ich mir auch ohne die Kopfnüsse.“ „Wie dem auch sei. Wir sollten in die Zukunft sehen. Und das Video drehen. Wäre jedenfalls ein guter Ansatz.“ Toshiya schüttelte mit einem leichten Lächeln den Kopf: „Shinya hat abgefärbt.“ „Nein, ich habe nur gelernt, dass es manchmal der bessere und einfachere Weg ist.“ Er vernaschte den Rest seines Kuchens und ließ die Worte wirken. Sie mussten nach vorne schauen. Zwar aus den Fehlern der Vergangenheit lernen, aber den Blick nach vorne gerichtet haben. Die griff nach der Kamera, die auf dem Tisch lag: „Soll ich dir bei dem Video helfen?“ „Gerne.“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)