Götterdämmerung von 35M3R0D ================================================================================ Kapitel 6: Markt ---------------- Agni POV Er wusste, es gehörte sich nicht. Es untergrub die Autorität seines jungen Herrn, trotzdem konnte Agni es nicht einfach so gut sein lassen. Vorsichtig spähte er um die Ecke und versuchte sicher zu stellen, dass Ciel ihn noch nicht bemerkt hatte. In letzter Zeit hatte dieser nämlich eine Tendenz entwickelt, für die Einkäufe etwas länger zu benötigen als normal gewesen wäre. Er war zwar nie wirklich lange weggeblieben, aber er kam auch nicht auf direktem Weg zurück, das wusste Agni. Der Earl tat noch irgendetwas anderes, von dem er ihm nichts erzählte. Aber jedes Mal, wenn er den Versuch unternommen hatte, ihn danach zu fragen, war er ausgewichen, hatte ihm Ausreden aufgetischt, wie dass die Verkäufer lange gebraucht hätten oder dass er dieses und jenes nicht gleich gefunden hätte. Es war keine grosse Sache, trotzdem machte sich der Inder Sorgen. Schliesslich war es seine Aufgabe den jungen Herrn zu schützen, selbst wenn dieser momentan nicht besonders gewillt schien, sich von ihm beschützen zu lassen. Ciel hatte ihm den Rücken zugewandt und stand zwischen den belebten Reihen der Marktstände. Sein Kopf drehte sich erst nach links, dann nach rechts, als würde er etwas suchen. Agni schaute ihm kritisch dabei zu, wie er von Stand zu Stand wanderte. Hin und wieder kaufte er tatsächlich etwas ein und steckte es in die mitgebrachte Jutetasche, doch für den Inder war ersichtlich, dass der junge Earl nicht ganz bei der Sache war. Sein Blick schweifte immer wieder in die Ferne und Agni fragte sich, was es wohl sein konnte, das sein neuer Herr sich hier zu finden erhoffte. Die Einkäufe waren es gewiss nicht, soviel war klar. Also hatte er mit seiner Vermutung richtig gelegen, gleichwohl empfand er einen gewissen Missmut darüber, dass Ciel ihn nicht einweihte. Schliesslich war er doch hier um zu helfen. Es war der ganze Zweck dieses verzweifelten Unterfangens. Oder hatte er Agni etwa endgültig als zu schwach und somit als nutzlos abgestempelt? Der Gedanke liess ihn bange die Lippen aufeinanderpressen. Das durfte nicht sein. Er wollte genauso wie der Earl den Urheber finden und Rache üben! Es war der einzige Lebenszweck, der ihm noch innewohnte. Ihn also von ihrer Suche auszuschliessen, war für Agni keine tolerierbare Option. Er ballte entschlossen die Hände zu Fäusten, doch sofort durchzuckte ihn wieder eine Welle des Schmerzes. Seine Hände erschlafften und Agni musste ein Stöhnen unterdrücken. Vielleicht, wenn der Schmerz nur nicht so omnipräsent wäre, könnte er Ciel nützlicher sein. Das Opium half, aber er wollte es eigentlich nicht. Ciel entfernte sich von ihm. Sein Schritt wirkte jetzt zielstrebiger als zuvor, fast so als hätte er gefunden, wonach er gesucht hatte. Agni gab sich Mühe an ihm dran zu bleiben, ohne ihm dabei zu nah zu kommen oder unnötig aufzufallen. Der Junge verliess die Lebensmittelabteilung des Marktes und steuerte jene mit den universal gebräuchlichen Gegenständen an. Der Richtungswechsel liess Agni die Stirn runzeln, weil er wusste, dass er bestimmt nichts auf die Liste geschrieben hatte, das dort zu finden gewesen wäre, aber somit war es umso mehr ein Grund ihm zu folgen. Für einen Moment verschwand Ciel aus seinem Blickfeld, weil er irgendwo zwischen den Ständen eingebogen war. Agni beschleunigte sein Tempo, nur um gleich darauf zu entdecken, dass sein junger Herr stehen geblieben war und mit jemandem sprach. Diese Person war versteckt hinter einem Pfeiler, schien aber einen interessanten Einfluss auf den jungen Earl auszuüben, denn dieser wirkte für einmal erstaunlich normal. Er schaute nicht abfällig oder gehässig auf diesen ominösen Gesprächspartner, sondern wirkte lediglich etwas reserviert. Er war nicht überschwänglich, aber die Tatsache allein, dass der Earl of Phantomhive sich mit jemandem auf solche Weise unterhielt, war ungewohnt für den indischen Butler. Bisher hatte Ciel es nämlich nie versteckt, was er von Londons Unterschicht hielt. Dass dort hinter dem Pfeiler also jemand stehen sollte, der anderer Behandlung bedufte, überraschte ihn… und zugleich bestätigte es ihn in seinem Verdacht, dass Ciel ohne seine Hilfe weiter ermittelt hatte. Es versetzte Agni einen Stich ins Herz… und in die Schulter. Langsam näherte er sich dem Earl und versuchte einen Blick auf den Unbekannten zu erhaschen. Es war schwierig, einen besseren Beobachtungspunkt zu finden, wenn er nicht zu nahe rangehen durfte; zudem machte der Lärm des Marktes es beinah unmöglich etwas zu verstehen, wenn man nicht in unmittelbarer Nähe der beiden Gesprächspartner stand. Agni beschloss die Sache anders anzugehen, nämlich von hinten. Mit schnellem Schritt umrundete er die Marktstände, so dass er sich auf der Seite des Unbekannten befand, der ihm nun den Rücken zugewandt hatte. Er wusste, dass er aufpassen musste, dass Ciel ihn nicht entdeckte, aber der Pfeiler bot ihm ausreichend Sichtschutz. Er schlenderte den Ständen entlang und tat so als würde er sich für einzelne Waren interessieren, während er immer mal wieder einen verstohlenen Blick zum Earl und seinem Gesprächspartner warf. Wenn er das richtig einschätzte, handelte er sich dabei ebenfalls um einen jungen Mann, der mit tief ins Gesicht gezogener Mütze und in den Hosentaschen vergrabenen Händen an den Pfeiler lehnte. Was sein optisches Erscheinungsbild anging, erinnerte er ihn sehr an den Jungen vom Hafen, aber Agni betrachtete es als abwegig, dass der Earl sich freiwillig in solche Gesellschaft begeben würde. Also ging er noch etwas näher heran. An einem Stand für Kupferwaren blieb er allerdings stehen und versuchte so zu tun, als würde er sich für einen heruntergekommenen Kochtopf interessieren. Der Verkäufer begann natürlich sofort auf ihn einzureden und den guten Zustand seiner Ware anzupreisen. Angi nickte und lächelte freundlich, doch geistig hatte er die Stimme des Verkäufers schon längstens ausgeblendet, stattdessen konzentrierte er sich auf das undeutliche Gespräch der zwei jungen Männer, die sich jetzt in unmittelbarer Nähe befanden. Es war nicht einfach etwas zu verstehen, oftmals gingen Teile im Lärm unter und er verstand nur Bruchstücke. „Vinny… du solltest vorbei kommen… es ist nicht schlimm, sie sind meistens ganz nett…“ Agni zog die Stirn kraus. Wer war Vinny und wohin sollte Ciel gehen? Er musste wirklich herausfinden, wer der andere Junge war, aber dafür wäre es nötig gewesen, ihn von vorne zu sehen. „Nein, ich werde nicht kommen. Das ist nichts für mich. Ausserdem muss ich jetzt sowieso zurück...“ Das war Ciels Stimme gewesen. Agni konnte nicht verhindern, dass er sich automatisch etwas umwandte. Er konnte noch sehen, wie der fremde Junge mit den Schultern zuckte und sich dann von der Säule abstiess. „Hmm na dann, aber wenn du es dir anders überlegen solltest, weißt du ja, wo du uns findest. Komm einfach nicht zu spät…“, er winkte Ciel einmal kurz zu und ging dann an Agni vorbei, ohne diesen zu beachten. Der indische Butler stand perplex da. Das war nicht der Junge vom Hafen gewesen, aber wer war er dann? Verwirrt ging sein Blick zwischen dem Pfeiler und der Stelle, wo der unbekannte Junge in der Menschenmasse verschwunden war, hin und her. Er konnte sich wirklich keinen Reim auf dieses Geschehen machen. [1] Ciel war auch nirgendwo mehr zu sehen, wahrscheinlich hatte er sich wirklich auf den Rückweg gemacht. Angi beschloss, dass es auch für ihn an der Zeit war zurück zu gehen. Eigentlich sollte er ja zusehen, dass er vor dem jungen Earl im Workhouse ankam, wenn dieser nämlich merken würde, dass er ebenfalls weg gewesen war, würde er ihm bestimmt Fragen stellen. Und im Gegensatz zu seinem Herrn stand es einem Diener nicht zu sich der Ausreden zu bedienen. Wenn Ciel also misstrauisch werden und nachfragen sollte, würde Agni die Wahrheit sagen, selbst wenn das den Unmut des jungen Earls nach sich ziehen würde. Genau als er sich in Bewegung setzen wollte, durchzog plötzlich eine heiss glühende Welle des Schmerzes seinen gesamten Körper. Ein grosser, torkelnder Kerl hatte ihn angerempelt und stand nun mit unfokussiertem Blick vor ihm. „Pass doch auf, du dreckiger Inder“, lallte er. Unter normalen Umständen hätte Agni den Mann höflich darauf aufmerksam gemacht, dass er es gewesen war, der in ihn hineingelaufen war, aber gerade jetzt war der Schmerz einfach so übermächtig, dass er einfach nur die Hand auf seine Schulter pressen konnte und sich ohne eine Erwiderung umdrehte. Kleine Pünktchen tanzten vor seinen Augen, während er sich leicht panisch den Weg durch die Menge bahnte. Er musste nach draussen. Seine Atmung ging rasselnd. Warum musste das gerade jetzt passieren?! Es war wahrhaft ein grauenhafter Zeitpunkt. Schweratmend lehnte er sich an eine kalte Steinmauer. Er konnte sein eigenes Blut in den Ohren rauschen hören. So konnte er wirklich nicht zurück zum Workhouse. Er musste sich erst etwas beruhigen… Er musste etwas gegen die Schmerzen haben… Er musste zu Lau. Ciel POV „Schön, dass du doch noch gekommen bist. Jason meinte ja, du würdest kneifen.“, so etwas wie Schalk lag in Ians Augen, während sie durch die ins Dämmerlicht getauchten Gassen wanderten. Ciel erwiderte nichts und vergrub seine Hände in den Hosentaschen. Er hatte nicht wirklich kommen wollen, der einzige Grund, warum er es dennoch getan hatte, war gewesen, dass Agni seit seiner Rückkehr nirgends aufzufinden war. Das Personal hatte ihm zwar mitgeteilt, dass er kurz nachdem Ciel zum Einkaufen gegangen war, ebenfalls aufgebrochen sei, aber gerade das machte ihn stutzig. Wo sollte Agni denn hingehen? Er brauchte schliesslich nichts von ausserhalb des Workhouses… „Wo sind die anderen hingegangen?“, Ciel hatte zu seinem grossen Erstaunen feststellen müssen, dass die Gang für ihre nächtlichen Aktivitäten nicht zusammenblieb, sondern sich in mehrere kleine Gruppen aufgeteilt hatte. „Fred, Simon und Nathan sind zum Ancor gegangen, sie haben dort Stammkunden; Jason und sein Bruder wollten die Lage entlang der Marlborostreet abchecken; und Liam, Sam und Ezechiel waren sich noch unsicher, werden aber wahrscheinlich zur Langley gehen.“ Ciel nickte bedächtig. Die Gegend, in der sie sich befanden, war ziemlich ruhig. „Es scheint ja reichlich viel Methode hinter eurer Aufteilung zu stecken.“ Ian zuckte mit den Schultern, „es verschreckt die Kunden bloss, wenn es zu viele von uns auf einem Haufen sind. Sie finden es einfacher auf uns zuzukommen, wenn es bloss zwei oder drei sind.“ „Verstehe. Und warum hast du mich hierhergebracht? Soll ich auch nicht verschreckt werden?“ Ian wandte sich um, ein entschuldigendes Grinsen lag auf seinem Gesicht. Er hob beschwichtigend die Hände, während nun zum ersten Mal seit geraumer Zeit jemand an ihnen vorbei ging. Es war ein junger Mann, von der Art seiner Kleidung her zu schliessen wahrscheinlich ein Student. Sein Blick blieb für einen Moment lang an Ciel hängen, bevor er sich wieder losreissen konnte – aber natürlich nicht ohne diesem ein mehr als schmieriges Augenzwinkern zukommen zu lassen. Und der junge Earl verstand. Er fokussierte Ian mit strenger Miene, „du bist nicht halb so nett wie du tust.“ „Hey, ich versuche bloss zu überleben“, Ian klopfte ihm versöhnlich auf die Schulter, „aber mit deinem Gesicht schien es eine vielversprechende Idee dich hierher zu bringen.“[2] Ciel presste die Lippen aufeinander, bevor er sich schliesslich wieder genug unter Kontrolle hatte, um zu erwidern: „Also, was ist das hier?“ „Hmmm,“ Ian legte gespielt nachdenklich den Finger ans Kinn, „lass uns mal sagen, eine Gegend, wo die Leute zwar nicht reich sind, aber dennoch etwas mehr Geld haben als unsereins.“ Mit skeptisch hochgezogener Augenbraue sah Ciel sich noch einmal um. Die Gegend wirkte in der Tat etwas besser, als der Rest von Londons East End, trotzdem war sie immer noch weit entfernt von dem was er als gehoben bezeichnet hätte. „Und was tun wir jetzt?“ „Na, wir warten“, Ian lehnte sich demonstrativ gegen die nächstgelegene Backsteinwand und verschränkte die Arme vor der Brust. Während Ciel etwas deplatziert daneben stand, konnte er nicht anders als unwillkürlich die Hände zu Fäusten zu ballen. „Du erwartest doch nicht ernsthaft, dass ich dabei mitmache?“ In gewisser Weise war es ihm von Anfang an schleierhaft gewesen, warum er überhaupt mit den Strichjungen mitgegangen war, wenn allen Beteiligten sowieso klar war, wie das enden musste. Ian zuckte gelassen mit den Schultern. „Das bleibt dir überlassen. Ich zwinge dich zu nichts, aber…“, sein Blick wanderte abgelenkt zur gegenüberliegenden Strassenseite. Zwei Männer, beide mit Schnurbärten, wahrscheinlich etwas über fünfzig, waren stehen geblieben. Ian schaute ganz unverhohlen zu ihnen und lächelte – für Ciels Geschmack etwas zu übertrieben – freundlich. Die Männer wechselten ein paar unverständliche Worte miteinander, dann schüttelte einer der beiden den Kopf und sie gingen weiter. Ian gab bloss ein abschätziges Geräusch von sich, wandte sich dann aber wieder seinem Gesprächspartner zu. „Also, wo war ich… ach ja, ich zwinge dich natürlich zu nichts, aber du weißt so gut wie ich, dass es, wenn man mal ganz unten angekommen ist, nicht mehr besonders viele Möglichkeiten gibt. Ausserdem hat es dich bei Bull ja auch nicht gestört.“ Das war genau der Satz gewesen, den Ciel gefürchtet hatte zu hören. Er versteifte sich etwas und wandte den Blick von Ian ab. Vielleicht war genau das der Grund, warum er überhaupt mitgegangen war. Die Strichjungen glaubten, er sei einer von ihnen und dass er am Hafen in ihrem Territorium gefischt hatte, als er sich mit Bull getroffen hatte. Es war also besser, ihn zu ihrem Verbündeten zu machen, anstatt ihn zum Rivalen zu haben. Deswegen hatten sie ihn mitgenommen. Die Frage blieb aber bestehen, warum hatte er selbst nicht einfach Kehrt gemacht hatte, als er Ian an jenem Tag auf dem Markt gesehen hatte. Er hätte es tun sollen! Stattdessen wurde er jetzt für ein Stück menschlichen Abschaums gehalten…. „Ich will nicht über Bull reden“, murmelte er kaum verständlich. „Wer will das schon…“ Ians Blick war wieder in die Ferne geschweift, er folgte einer gleichmässig herannahenden Kutsche. „Wie gesagt, ich zwinge dich zu nichts. Ich wollte dir einfach nur klar machen, dass ich und die anderen zusammenhalten. Wir sind eine Gang. Wenn du auch dazu gehörst, wärst du nicht mehr allein und wir beschützen dich.“ Das Geräusch der Kutsche wurde immer lauter. Ihre Räder donnerten über das Pflaster bis sie schliesslich direkt vor Ciel und Ian zum Stehen kam. Die Tür wurde geöffnet und gab den Blick auf das halbdunkle Innere frei. „Ian, mein Junge, wie geht es dir?“, tönte es heraus, ohne dass Ciel den Sprecher dabei hätte sehen können. „Alles bestens“, Ian grinste und näherte sich der Tür. „Wie ich sehe, hast du einen Freund dabei. Möchte er auch mitkommen?“ Ian warf einen kurzen Blick zu Ciel, meinte dann aber, während er sich schon auf den Fussrost gestellt hatte: „Ach Vinny ist noch neu und deswegen etwas schüchtern. Vielleicht beim nächsten Mal.“ „Verstehe“, tönte es wieder aus dem Innern der Kutsche. Und während sich eine behandschuhte Hand um Ians Taille schob, erhaschte Ciel endlich einen Blick auf den Besitzer der Stimme. Ein Mann mittleren Alters mit Monokel und einem Ziegenbärtchen, seine Augen blitzten Ciel an, während er Ian zu sich in die Kutsche zog und gleichzeitig die Tür schloss. ~~~ Ciel sah der Kutsche noch lange nach. Nicht, weil es ihn besonders gestört hätte, dass Ian einfach mit einem Freier mitgegangen war und ihn allein gelassen hatte. Nein, es war viel mehr die Tatsache, dass er besagten Freier kannte, die ihn derart beschäftigte. Er hatte den Mann schon einmal am Hafen gesehen. Ian hatte bestimmt auch schon dort Kontakt zu ihm aufgenommen, denn offensichtlich trafen sich die beiden nicht zum ersten Mal. Damals am Hafen war der Mann mit Bull aneinandergeraten. Er hatte wohl etwas über das Lager der Funtom Company erfahren wollen, aber Bull hatte sich geweigert mehr Informationen als nötig preiszugeben. Vielleicht hatte er sich auch erhofft, dass, wenn er sich stur stellte, der Mann versuchen würde ihn zu schmieren und er so zu etwas zusätzlichem Verdienst käme – zuzutrauen war es Bull - , aber der Versuch war offensichtlich nach hinten losgegangen. Der Mann war danach wieder verschwunden, was in Ciel natürlich sofort das Bedürfnis ausgelöst hatte herauszufinden wer er war und was er sich vom Funtom Lagerhaus erhoffte. Leider war es ihm damals unmöglich gewesen, den Namen des Unbekannten zu ermitteln, aber dass er ihm jetzt, zu einem derart unerwarteten Zeitpunkt wieder begegnete, erschien ihm beinah wie ein Wink des Schicksals. Vielleicht führte der Weg zum Urheber ja über Ians ominösen Freier. Es war nun an Ciel sich mit vor der Brust verschränkten Armen gegen die Backsteinwand zu lehnen. Sein Blick war nachdenklich gen Himmel gerichtet. Nach langer Zeit war das der erste brauchbare Hinweis, den sie kriegten; und dass dieser ihnen auch noch wegen eines Strichjungen zugeflattert kam, war geradezu ironisch. Seine Hände rumorten durch die Taschen und bekamen schliesslich etwas zu fassen. Er zog es heraus und drehte es nachdenklich in seinen Fingern hin und her. Der Apfel wirkte schon nicht mehr ganz frisch, seine Haut war leicht schrumplig und fühlte sich unter Ciels Fingerspitzen etwas wie Gummi an. Er wollte ihn eigentlich nicht essen, trotzdem hob er ihn an seine Lippen und biss hinein. Auf der anderen Strassenseite ging wieder jemanden vorbei. Ciel konnte aus den Augenwinkeln sehen, dass die Person ihren Schritt verlangsamte, dann aber, als er bloss weiterhin uninteressiert auf seinem Apfel herumkaute, weiterging. Irgendwie schmeckte die Frucht seltsam. Er verzog das Gesicht, schluckte das Stückchen in seinem Mund aber dennoch hinunter. Sebastian hätte bestimmt eine spitze Bemerkung gemacht, dass der Earl jetzt doch noch Bescheidenheit lernte, aber darum ging es hier gar nicht. Bescheidenheit spielte absolut keine Rolle, als er einen weiteren Bissen vom Apfel nahm, es ging einzig und allein um Glaubhaftigkeit. Wenn man sich als Teil von Londons Unterschicht ausgeben wollte, dann musste man auch so leben wie sie; und das hiess arm. Eigentlich wäre es schon nach ihrem Kampf mit Bull nötig gewesen, dass Agni einen Arzt aufsuchte. Einen richtigen, der die Wunde desinfizierte und nähte, nicht bloss einen Armenviertel Quacksalber, der irgendeine matschige Salbe draufklatschte und nach dem Motto praktizierte ‚was dich nicht umbringt, macht dich stärker’. Aber sie hatten nicht einmal das getan, denn sie hatten kein Geld gehabt. Der einzige Grund, warum sie seither nicht verhungert waren, war, weil sie in einer Küche arbeiteten, deren Bezahlung mehrheitlich aus Naturalien bestand. Ciel drehte den schrumpligen Apfel in seinen Fingern hin und her. Vielleicht war es das Wissen, dass er diese ganze Scharade mit einem einzelnen Satz hätte beenden können, welches ihn die Situation so dermassen distanziert betrachten liess. Er hatte keine Angst zu verhungern oder an einer banalen Infektion zu krepieren, denn er brauchte bloss zu rufen und er würde kommen. Natürlich stand es momentan nicht zur Debatte die Hilfe seines Butlers in Anspruch zu nehmen, aber er hätte es jederzeit tun können. Und solange Agni ihn nicht darum bat, irgendwas an ihrer momentanen Situation zu verändern, würde er dieses kleine Schauspiel fortführen. Angewidert warf er den Rest des Apfels fort und verschränkte wieder die Arme vor der Brust. Der Geschmack der Frucht lag ihm immer noch auf der Zunge. Er seufzte. ~~~ Es war dunkel geworden. Ciel stand immer noch an die Backsteinmauer gelehnt. Er wusste auch nicht so recht worauf er wartete, damit dass Ian zurückkam rechnete er eigentlich nicht. Er stand einfach nur da und dachte nach. Hin und wieder gingen Männer vorbei, die ihren Schritt verlangsamten und ihn kurz anschauten, dann aber weitergingen, wenn er nicht reagierte. Erst als schliesslich einer der Kerle direkt vor ihm stehen blieb, wusste Ciel, dass das Ende seines sinnlosen Herumhängens gekommen war. Er schaute nicht auf, sondern hoffte mit sich versteifender Köperhaltung darauf, dass auch dieser weiterziehen würde. „Na, was haben wir denn da?“ Falsch gehofft. Ciel verdrehte die Augen und hob langsam seinen Blick. Der Mann war für die Gegend überraschend gut gekleidet. Modische schwarze Schuhe, ein langer schwarzer Mantel… Sein Blick wanderte weiter hoch, nur um schliesslich bei einem Grinsen hängen zu bleiben, welches ihm das Blut in den Adern gefrieren liess. Sein Gesicht musste blankes Entsetzen widergespiegelt haben, denn der Mann tat einen Schritt auf ihn zu. „Junger Herr, habt Ihr das Gewerbe gewechselt? Ganz ohne es mir zu sagen?“, säuselte die Stimme. Ciel war zu perplex um etwas zu erwidern, so dass Sebastian bloss noch näher an ihn herantrat. „Ich hätte wirklich nicht gedacht, dass Ihr so schnell, so tief sinken würdet.“ Er legte herausfordernd den Kopf schief. Ciel, der endlich wieder zu sich gekommen war, stemmte die Hände gegen die Brust seines Butlers und versuchte ihn von sich zu stossen. „Lass mich in Frieden, Dämon! Das hier geht dich gar nichts an!“ „Oh, aber junger Herr, alles was Ihr tut, geht mich etwas an. Meine oberste Priorität ist Euer Wohlergehen und wenn es soweit kommt, dass ihr Euren Körper in einer finsteren Gasse feilbieten müsst, ist es meine Pflicht einzugreifen.“ Das Grinsen im Gesicht des Dämons schien neue Ausmasse des Amüsements zu erreichen. Es war mehr als offensichtlich, wie sehr es ihm gefiel, Ciel in einer derart kompromittierenden Situation zu sehen. „Ich biete gar nichts feil!“, blaffte Ciel. Hitze war ihm ins Gesicht gestiegen, während er immer noch versuchte sich aus Sebastians Griff zu winden. „Ach, dann steht Ihr hier einfach nur so rum, und das auch noch ganz alleine?“ Die Feststellung liess Ciel ruhig werden. Sein Blick war abgewandt und seine Wangen gerötet, während sein Handgelenk immer noch von Sebastian festgehalten wurde. Der Butler beugte sich zu ihm herunter und flüsterte mit verschwörerischem Tonfall: „Kann ich auch zu Eurem Kundenkreis gehören, junger Herr?“ „Lass das, du Bastard. Das ist nicht komisch…“, Ciel Stimme war nun leiser, beinah schon leicht verlegen. Er liess zu wie Sebastian sich wieder näher an ihn drängte und seinen Arm um seine Taille legte. „Das war in keinster Weise als Scherz gemeint, junger Herr…“, seine Hand hatte von Ciels Handgelenk abgelassen und glitt nun seinem Hals entlang nach unten. Dabei förderte sie gleichzeitig eine kleine, klimpernde Geldbörse zu Tage, die sie, wie nebenbei, in der Jackentasche des jungen Mannes verstaute. „…wie Ihr sehen könnt, zahle ich auch.“ Sebastians heisser Atem an seinem Ohr verhinderte für einen Moment, dass Ciel das wirkliche Ausmass dieser Geste begriff. Verwirrt folgte seine Hand jener Sebastians. Er ertastete die harten, klimpernden Münzen in seiner Tasche und erst da verstand er…. Er verstand, dass sein eigener Butler ihn gerade gekauft hatte. Die Hitze in seinem Körper schwoll an. Wie eine sprichwörtliche Flutwelle brach sie über ihn herein, als er Sebastian vehement von sich stiess. „WAS ERLAUBST DU DIR?!“ Er starrte seinen dämonischen Butler an, der immer noch amüsiert grinsend vor ihm stand, packte dann den kleinen Geldbeutel und schleuderte ihn ihm entgegen. Doch anstatt ihn aufzufangen, wich Sebastian ihm bloss geschickt aus, so dass er ein paar Meter hinter ihm auf dem Boden aufschlug. Er lächelte diabolisch. „Wie grausam von Euch, junger Herr. Lehnt Ihr mich ab, weil ich es bin oder zahlen Eure anderen Kunden besser? Es macht mich eifersüchtig, wenn andere Euch haben dürfen…“ Ciel ballte die Hände zu Fäusten und bemühte sich so ruhig es ging zu erwidern: „Niemand darf mich haben. Ich tue hier nichts derartiges….“, dann fixierte er Sebastian, „ich stehe hier bloss rum, alleine.“ Sebastian nickte anerkennend und richtete dann seinen Mantel. „Dann ist ja alles in Ordnung. Gehe ich richtig in der Annahme, dass Ihr immer noch nicht beabsichtigt nach Hause zu kommen?“ Ciel nickte bloss stumm. „Nun denn, junger Herr. Ich werde wieder ins Mansion zurückkehren, aber vergesst nicht, dass ich immer da bin.“ Er deutete eine kleine Verbeugung an und drehte sich dann um. ~~~ Ciel lauschte seinen verhallenden Schritten, obwohl er wusste, dass Sebastian die Wahrheit gesagt hatte. Er war immer da, selbst wenn er es nicht war… Er würde es auch wissen, selbst wenn er es nicht sah. Sein Blick fiel auf den am Boden liegenden Geldbeutel. Er hasste Sebastian dafür, aber wenn er ihn nicht nahm, würde es bloss ein anderer tun…. TBC [1] Nur um hier Verwirrung zu vermeiden, Ciel spricht auf dem Markt nicht mit Ian, sondern mit Jason, welcher zwar auch zur Gang gehört, aber im Hafen nicht mit dabei war, weswegen Agni ihn auch nicht wiedererkennt. [2] Das ganze erklärt vielleicht auch, warum Ian im letzten Kapitel so nett zu Ciel war. Er verspricht sich nämlich insgeheim davon, dass wenn Ciel bei ihnen mitmacht, es sicherlich einen positiven Effekt auf das Budget der Gang haben wird;P Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)