Illusionist von Illuna ================================================================================ Kapitel 1: One-Shot ------------------- Illusionist Disclaimer: The GazettE gehört natürlich ausschließlich sich selbst. Der Inhalt ist frei erfunden, ebenso wie Sayuki. Anmerkung: Mein erster Versuch in Sachen Gazette, wahrscheinlich auch mein letzter :3 Naja, man soll sich ja immer in neuen Dingen üben, ne? Ob es einigermaßen was geworden is..? Nun, darüber habe ich nicht zu urteilen!^^ Der Titel.. Passt nur, wenn man den Illusionisten mit jemandem gleichsetzt, der falsche Hoffnungen hat - oder so was in die Richtung. Viel Spaß! *** Illusionist Die Seiten der Gitarre klangen langsam aus. Ruhe kehrte in den Proberaum ein. Doch sie wurde jäh zerstört, als Kai wutentbrannt aufstand und seine Sticks auf den Boden schleuderte. Seine sonst so ruhigen und entspannten Gesichtszüge waren verzerrt. Die anderen Bandmitglieder sahen ihn erschrocken an. „Wenn ihr so beschissen spielt, dann können wir die nächste Tour gleich absagen! Und das noch bevor sie überhaupt richtig geplant wurde. Hat alles keinen Wert hier!“ Er stapfte der Tür entgegen. „Wenn ich rauchen würde, müsste ich den nächsten Automaten überfallen.“, brummte er sauer in sich hinein, verschwand dann aus dem Zimmer. Die restlichen vier sahen ihm verdutzt hinterher, bis Aoi sich den Gurt seiner Gitarre über den Kopf zog und das gute Stück an die Wand lehnte. „Hat er eine Identitätskrise?“, wollte nun Ruki wissen, ließ sich der Einfachheit halber auf den Boden vor seinem Mikro fallen. „Keine Ahnung.“ Die Probe war anstrengend gewesen, keine Frage, aber Uruha musste zugeben, dass sie wirklich schon einmal besser gewesen waren. Auch er hatte sich heute mehr als einmal verspielt. Mit einem Seufzen strich er sich eine helle Haarsträhne aus der Stirn. Sein Blick wanderte derweil zu den anderen hinüber. Ruki saß aufrecht auf dem Boden, seine Beine von sich gestreckt und spielte mit dem Deckel seiner Wasserflasche. Aoi hatte sich verkehrt herum auf einen Stuhl fallen lassen, die Arme auf der Lehne abgestützt und starrte missmutig in die Luft. Selbst Reita hatte keinen weiteren Kommentar dazu übrig – und das verwunderte den Gitarristen ein wenig, der sich neben Reita auf der anderen Seite der Couch niederließ. Natürlich war ihm seine Verwunderung nicht anzumerken, wer wäre er denn? Die Stimmung war sehr gedämpft. Im Moment lastete ein immenser Druck auf der Band. Die nächste Single musste fertig produziert werden, das darauffolgende Album stand ebenfalls an. Und natürlich die Tour zum Album. Von den ganzen Interviews, Fotoshootings und dem Videodreh wollte Uruha gar nicht erst anfangen. Ihm schwirrte ja jetzt schon der Kopf. In solchen Momenten fiel es ihm dann auch schwer, noch Spaß beim Spielen zu empfinden, ohne dass das Gefühl der scheinbaren Notwendigkeit Überhand nahm. Was das Ganze jedoch wohl am schlimmsten machte, war der Ausraster von Kai vor wenigen Minuten. Denn das bedeutete, dass es heute wirklich miserabel gewesen war und auch die vorherigen Male dies nicht ausbügeln konnten. Gewöhnlich war ihr Leader der Ruhepol bei Gazette, derjenige, der in jeder Situation einen kühlen Kopf bewahrte und die Kinder – Ruki und Reita – in ihre Schranken wies. Kai war letztendlich nicht umsonst ihr Leader. Aber nun? Uruha kniff die Augen zusammen, rieb sich über die Stirn. Wenn doch nicht alles auf einmal passieren würde. Den Stress hier mit der Band, den könnte er noch auf die Reihe bekommen, vor allem, da sie sich normalerweise untereinander stützten und wieder aufpäppelten, sollte einer wirklich mal nahe daran sein, die Nerven zu verlieren. Was jedoch glücklicherweise noch nie in diesem Ausmaß geschehen war. Nur war das im Moment nicht das Einzige, worum sich Uruha Sorgen machen musste. Während er dies dachte, wandte er seinen Blick dem Bassisten zu. Neben ihm zupfte eben jener unschlüssig an seinem Nasenband herum. „Wer geht jetzt zu ihm?“ Er sprach das aus, was allen durch die Gedanken huschte, aber niemand wagte auszusprechen. Denn sie wussten, dass nur Uruha gehen konnte. Und nun ja, er reagierte da manchmal gerne zickig, wenn man etwas ohne Absprache von ihm verlangte. Aber selbst ihm war bewusst, dass es die anderen drei lediglich verschlimmern würden. Ruki würde Kai mit seiner direkten Art nur noch mehr provozieren, so dass er, bei ihrem Glück, überhaupt kein Wort mehr mit ihnen wechseln würde. Mal ganz davon abgesehen, dass der Sänger dies als indirekte Aufforderung auffassen würde, noch tiefer in dieser Wunde herumzustochern. Aoi würde sich nach zwei harschen Worten schon geschlagen geben und eingeschüchtert zurückkehren. Nicht, dass er generell schwächlich oder feige war, aber der Drummer konnte des Öfteren sehr eigen sein, wodurch Aois Reaktion nachvollziehbar wurde. Uruha begann bei solchen Aussagen – die sich meist in subtilen Beleidigungen äußerten – meist einfach wegzuhören; diese Fähigkeit hatte er im Laufe der Jahre perfektioniert und er war stolz darauf. Der Bassist hingegen, um die Reihe zu vervollständigen, würde sicherlich ein paar seiner geliebten Machosprüche vom Stapel lassen – und in Kais derzeitigem Zustand war das nun einmal nicht die beste Alternative, die sie hatten. Obwohl Uruha wusste, dass es an ihm hängen bleiben würde – ja, auch er mogelte sich um solche Gespräche lieber herum –, verhielt er sich vorerst still. Mal sehen, dachte er mit dem Ansatz eines süffisanten Grinsens auf den Lippen, wer heute die leidige Aufgabe übernahm, ihn zu überreden. Erstaunlicherweise klärte sich dies schnell; musste wohl an der insgesamt ernsten Situation liegen. Ruki raffte sich hoch, schlappte zu Uruha herüber und setzte sich vor ihn. Die Arme lehnte er auf die Knie des Gitarristen – dieser war nahe daran, ihn wegzustoßen; unnötig enger Körperkontakt musste seiner Meinung nach nicht sein – und schaute ihn aus großen, leicht geschminkten Augen an. „Ruha?“, fragte er mit Unschuldsmiene, „Gehst du hin? Du kannst doch so gut zuhören.“ Ha, welch mageres Kompliment, das hatte der Kleine aber auch schon mal besser hinbekommen. Angesprochener hob die Augenbraue, zischte ironisch: „Du hast vergessen zu erwähnen, dass meine zickige Ader wenigstens seinen Beleidigungen standhalten kann und auch noch meine schnippischen Aussagen, die jeden irgendwann zur Kapitulation zwingen-“ „Das wollte ich nicht unbedingt sagen, weil ich weiß, dass du das nicht gerne hörst, aber ansonsten ja.“, gab der Sänger unverwandt zurück. Also manchmal war Uruha wirklich nahe daran… Noch immer fixierte er den Kleinen, bis dieser unerwartete Unterstützung erhielt. Reita war auf dem Sofa zu ihm herübergekrabbelt, legte den Kopf schräg. Uruha wagte es, einen kleinen Seitenblick auf den Bassisten zu werfen, was sich jedoch augenblicklich als Fehler herausstellte. Denn dieser sah ihn ebenfalls so hilfsbedürftig an, dass Uruha es einfach nicht übers Herz bringen würde, abzulehnen und ihn somit zu enttäuschen. Denn das war etwas, das der Gitarrist überhaupt nicht konnte: Reita enttäuschen. So sehr er es bisweilen auch versucht hatte, jedes Mal war er kläglich gescheitert oder hatte wochenlang ein schlechtes Gewissen gehabt. Bei allen anderen brachte er es dann und wann fertig, lediglich bei ihm streikten alle seine Sinne. Weshalb das so war, wusste er selbst nur allzu genau, jedoch hoffte er, dass niemand anderes davon Wind gekriegt hatte. Ohne noch ein weiteres Wort zu verlieren, stand er auf, was ein kollektives Jubeln zur Folge hatte. „Ruha, du bist unser Held!“, stimmte Ruki an und wären die anderen beiden nicht so weit von ihren Instrumenten entfernt gewesen, hätten sie ihm sicherlich auch noch musikalische Begleitung gegeben – wie so oft. Uruha dagegen machte sich innerlich eher darauf bereit, nun eine Vielzahl an Bosheiten und wüsten Beschimpfungen über sich ergehen zu lassen, man konnte trotz perfektionierter Ignoranz niemals gut genug vorbereitet sein. Kai brauchte diese Weise der Abreaktion; zumindest nahm Uruha das an. Er ging aus dem Proberaum heraus, durchschritt den Gang und hielt direkt auf den Notausgang zu. Es war eine Art Hinterhof, in den man kam. Mit einem Quietschen flog die Tür auf und wie Uruha es vermutet hatte, saß der Drummer auf der zweiten von fünf Stufen, die auf ebenes Gelände hinunterführte. Er ließ die Tür hinter sich wieder ins Schloss schnappen, blieb vorerst stumm stehen. Er wartete darauf, bis Kai ihm irgendein Zeichen gab, dass er sich setzen konnte. Würde dieses Zeichen ausbleiben, dann würde wohl die Welt untergehen. Uruha lächelte kaum merklich ob dieses blöden Vergleichs, doch der Schlagzeuger nahm kurz darauf seine gesamte Aufmerksamkeit in Anspruch. „Verzieh dich wieder.“, brummte er. Das war das Zeichen. „Meinst du nicht, dass du gerade überreagiert hast?“, wollte Uruha stattdessen wissen, setzte sich neben ihn auf den steinernen Treppenabsatz. Verwundert bemerkte er die Zigarettenschachtel, mit der der Dunkelhaarige herumhantierte und nahm sie ihm kurzerhand aus den Fingern. Mit einem leisen Lachen stellte er fest, dass es seine Lieblingsmarke war und Kai wohl schon auf ihn gewartet hatte – obwohl er ja knapp davor gewesen war, seinem Leader die Meinung zu geigen, Rauchen schädigte schließlich dessen Gesundheit; seine eigene war eh schon den Bach runter, da half nichts mehr. Noch während Uruha stumm eine Antwort forderte, nahm er einen Glimmstängel heraus, setzte ihn sich zwischen die Lippen und zündete ihn sich mit dem Feuerzeug an, das er aus der Hosentasche geholt hatte. Kein anständiger Raucher verließ das Haus ohne ein Feuerzeug einzupacken. „Wir waren heut wirklich schlecht. Du bist doch selbst realistisch genug, um mir da zuzustimmen.“, meinte Kai, stützte seine Unterarme auf den Knien ab. Uruha verzog keine Miene, zog an der Zigarette und blies danach den Rauch wieder aus. „Aber es geht nicht vorwiegend darum, hab ich recht?“ „Spielst du jetzt wieder Zicke und Ich hab eh immer Recht-Uruha?!“, zischte Kai sauer, doch der Gitarrist ließ sich nur wenig beeindrucken. Er war sowieso Schlimmeres gewohnt, da war diese anfängliche Unterhaltung ja beinahe Balsam für die Seele. „Ich bin dein persönlicher Seelsorger – also spuck’s endlich aus, für jede angefangene Stunde musst du zahlen.“ Daraufhin lachte der Drummer nur trocken auf. „Ich bin es nicht, der wie hypnotisiert jemandem hinterherrennt.“, gab er zurück, worauf Uruha für einen kurzen Moment den Mund verzog. Wer war hier der Seelsorger von wem? Das lief gerade ein bisschen in die verkehrte Richtung. „Meinst du nicht auch, dass es die Band noch mehr belastet, wenn du so weitermachst?“, fuhr Kai fort. „Und wir gehen mal vollkommen realistisch betrachtet davon aus, dass er deine Gefühle nicht erwidert – was tust du dann? Verlässt du die Band wegen deinem Herzschmerz? Oder willst du so weitermachen wie zuvor? Du weißt, dass das dann unmöglich ist. Abgesehen davon bezweifle ich, dass du das in dem Ausmaß packst.“ Uruha hatte die Zigarette noch nicht einmal bis zur Hälfte geraucht, als er sie vor sich auf den Boden schnippte und mit dem Absatz seiner Schuhe austrat. „Du willst mich aus der Band haben? Gazette ohne mich?“, fragte er gleichgültig, „Dafür dieses ganze Theater? Das hättest du auch mit weniger Aufwand erreichen können.“ Der Gitarrist sah ihn nicht an; denn so ungern er es zugab und er es für kaum einen Preis der Welt vor jemand anderem gestehen würde: es schmerzte wie die Hölle, was Kai von sich gab. Dieser seufzte, lehnte sich gegen das Geländer und betrachtete Uruhas Profil. „Nein, natürlich will ich dich nicht rauswerfen und das weißt du ganz genau. Aber ebenso weißt du, dass dein Spiel derzeit das Schlechteste ist, weil du dich nicht konzentrieren kannst. Selbst bei Melodien, die dir eigentlich schon längst in Fleisch und Blut übergegangen sind, setzt du falsche Noten.“ Uruha war trotz seiner Zicken im Hinblick auf seine musikalische Leistung vernünftig genug, um Kais Aussage beizupflichten – egal, wie sehr es im Grunde an seinem Ego kratzte, so viel Einsicht musste er als Musiker einfach aufbringen können. Ebenso wusste er, dass sie sich das im Moment nicht leisten konnten. „Und was soll ich deiner Meinung nach tun?“, murrte er dann ergeben. Es musste sich etwas ändern, dessen war er sich bewusst – andernfalls würde er den Drummer überhaupt nicht nach seiner Ansicht der Dinge fragen, da stand er gewöhnlich drüber. „Nimm dir zwei Tage Auszeit. Überleg dir, ob du für deine Gefühle wirklich das Fortbestehen der jetzigen Besetzung von Gazette aufs Spiel setzen willst. Ob es das wert ist und es in geeigneter Relation steht. Ich werde mich unauffällig umhören, wie deine Chancen stehen und dich morgen Abend anrufen; wenn sie vollkommen schlecht stehen, gehst du morgen Abend Party machen, um auf andere Gedanken zu kommen. Verstanden?“ Gnädigerweise wartete er noch ab, was Uruha dazu sagte und stellte ihn nicht ganz vor vollendete Tatsachen. Doch diesen schien das Angebot anzusprechen, denn er willigte ein. Gewiss war es etwas hochgegriffen, dass er morgen, sollte der Fall der Fälle eintreten und Reita ihn vollkommen abweisen, gleich jegliches Gefühl bei ein bisschen Spaß vergessen würde, jedoch waren zwei Tage Ruhe sehr verlockend. Vor allem, da er die anderen dann erst einmal nicht sehen musste. Freundschaft hin oder her – irgendwann wurden selbst die besten Freunde anstrengend, wenn man sie so oft um sich hatte. „Was sagst du den anderen?“ „Auch, dass sie sich eine Pause gönnen sollen. Aber Ruki könnte ich ja mal dazu ermuntern, den Liedtext für Aois Melodie fertig zu schreiben. An dem werkelt er ja auch schon ewig rum.“ Bestimmt nahm Kai dem Gitarristen die Zigarettenschachtel aus der Hand, als dieser sich eine zweite herausnehmen wollte. „Du solltest das Rauchen aufhören.“ Wieder antwortete Uruha nichts darauf. Solche Einwände stießen bei ihm generell auf taube Ohren, da hätte er schon fünfzehn Jahre früher mit ankommen müssen. Ihm war merkwürdig zumute. Auf der einen Seite freute er sich über die zwei freien Tage, die sich so eben ergeben hatten, aber auf der anderen Seite.. ängstigten sie ihn. Gewöhnlich war Uruha kein Mensch von Angst und übermäßigen Gefühlsduseleien – nur, weil er eine Zicke war und stolz darauf, hieß das noch lange nicht, dass er dazu neigte, seiner Umgebung seine seelische Welt zu offenbaren – aber was dieses empfindliche Thema angelangte.. „Geh jetzt nach Hause, du hörst von mir.“ Kai packte ihn am Arm und zog ihn hoch, doch Uruha befreite sich rasch. „Meine Gitarre.“, murmelte er abwesend, öffnete die Notausgangstür und ging zurück zum Proberaum. Ruki begrüßte ihn mit einem „Und? Erfolgreich?“, aber er erwiderte nichts. Wortlos verstaute er seine Gitarre, griff nach seiner Jacke. Schnell weg hier, waren seine Gedanken, als auch Reita anfing, auf ihn einzureden. Warum machte der Bassist eigentlich immer dann den Mund auf, wenn Ruki rumkrähte? Konnte er nicht von alleine ein Gespräch beginnen? Musste er immer noch andere auf seiner Seite wissen? Uruhas Bewegungen wurden fahriger, als er sich die Jacke überzog und mit zittrigen Fingern nach dem Gitarrenkoffer griff. Es waren nur noch zwei Schritte bis zur Tür. Dann hätte er es geschafft. „Uruha?“ Er kniff die Augen zusammen, verkrampfte die Hand, die sich bereits um den Türgriff gelegt hatte. „Ja?“, auch wenn er innerlich noch so aufgewühlt sein mochte – an seiner Stimme erkannte man dies nicht. „Warum flüchtest du?“ Warum musste Aoi so etwas immer laut aussprechen? Warum konnte er sich seinen Teil nicht einfach denken? Reita und Ruki wären auf solch einen Gedanken in diesem Zusammenhang sicherlich von alleine nicht gekommen. Warum ließ man ihn nicht in Frieden? Der Gitarrist war sich bewusst, dass er nicht lügen konnte, denn genau das hatte er vorgehabt: fliehen. Und außerdem würde es Aoi sofort bemerken. Da war sein Feingefühl von großem Nutzen – gelegentlich. Eine Antwort würde er ihm dennoch schuldig bleiben. Ohne dass eine Silbe seine Lippen verließ, ließ er seine Freunde hinter sich zurück und eilte dem Hauptausgang entgegen. Dort draußen angekommen, orderte er ein Taxi, dessen Fahrer er anwies, ihn in die Nähe seiner Wohnung zu bringen. Er unterließ es stets, seine vollständige Adresse zu nennen; das war schon zur Gewohnheit geworden. Die Wohnung wirkte seltsam trist auf ihn, als er das Schloss öffnete und eintrat. Den Gitarrenkoffer stellte er unter die Garderobe, machte sich nicht die Mühe, seine Jacke auszuziehen. Er wollte jetzt nicht hier sein. Hier in seiner leeren Wohnung, in der die Gedanken nur auf ihn zu warten schienen. Einige Augenblicke noch haderte er mit sich selbst, bis er beschloss, zu Sayuki zu fahren, einer Freundin. Uruha brauchte im Moment aus unerfindlichen Gründen Trost – und eine andere Umgebung. Kurzerhand stellte er sich vor den Spiegel im Flur, strich sich gedankenverloren durch das Haar. Dann nahm er ein Haargummi von der Kommode und band sich seine Mähne zurück. Das Bedürfnis, jemand anderes zu sein, wallte in ihm auf. Wäre er keine Berühmtheit, müsste er sich um so viel weniger Sorgen machen. So dachte er in seinen wenigen schwachen Momenten. Dennoch dauerte es meist nicht lange und er rief sich wieder zur Ordnung. Er liebte die Zeiten auf der Bühne, das aufgeregte Kribbeln, den Jubel der Fans, den Nervenkitzel, bevor es losging. In diesem Punkt machte er sich nichts vor: Er brauchte das, er brauchte dieses dringende Gefühl, jemand zu sein und im Fokus zu stehen. Nur heute schaffte er es nicht so leicht. Mit geübten Handgriffen entfernte er etwas überschüssiges Make-up, angelte nach einem Basecap und setzte es sich auf den Kopf. Da er heute nur eine unauffällige Jeans trug und eine schlichte schwarze Jacke, müsste er wohl ohne Probleme mit der Bahn fahren können. Den Gitarrenkoffer würde er mitnehmen. Bei Sayuki würde er sicherlich ein paar freie Minuten finden und ein bisschen üben können. Der Himmel hatte sich zugezogen, graue Wolken verdeckten die Sonne. Uruha stand vor einem Haus, außerhalb der Stadt. Er war eine Stunde lang mit dem Zug gefahren. Wie er es vorausgesehen hatte, hatte ihn niemand beachtet. Und während seiner kleinen Reise hatte er es genossen, einfach nur mal der Beobachter zu sein, von dem nichts erwartet wurde. So waren ihm die vielen geschmacklos gekleideten Menschen aufgefallen, die sich scheinbar viel mehr um andere Dinge zu sorgen hatten, als um ihr Aussehen. Uruha hatte dabei nur kurz das Gesicht verzogen. Äußeres Auftreten war ihm schließlich heilig. Seine schmalen Finger drückten die Klingel und er wartete. Als er von seiner Wohnung losgelaufen war, hatte er es nicht für nötig empfunden, Sayuki telefonisch über seinen Besuch zu informieren. Wenn es ihm nicht so gut ging, hatte sie einfach da zu sein. Auch wenn dies recht unhöflich erscheinen musste, es war Uruha gleichgültig. So selbstsüchtig war er nun einmal, daran konnte und wollte er nichts ändern. Aus dem Hausinneren ertönten leise Schritte, bis letztendlich die Türe geöffnet wurde. Eine schwarzhaarige Frau, geschätzte fünfundzwanzig, stand darin, in einem Jogginganzug gekleidet und einer Brille auf der Nase. Ihr überraschter Gesichtsausdruck verriet ihm, dass sie ihn wohl als letztes erwartet hätte. Doch sie war klug genug, um sofort alles zu durchschauen – meist etwas, das Uruha nur wenig an ihr zu schätzen wusste, ihm aber heute gelegen kam. „Kouyou.“, sie stand noch immer in der Tür, dann lächelte sie sanft, „Zum Glück weißt du, wo ich wohne, wenn es dir mal wieder schlecht geht.“ Der Gitarrist mochte den Klang ihrer Stimme. Denn sie schaffte es, so spöttisch gemeinte Aussagen vollkommen vorwurfsfrei rüberzubringen und meinte es im Endeffekt auch so. Es war erfrischend. Ohne viele Worte zu verlieren, ließ sie ihn hinein, bedeutete ihm, in der Küche auf sie zu warten. Dies tat er auch, nachdem er sich seiner Jacke und Schuhe entledigt hatte. Den Gitarrenkoffer hatte er im Flur an die Wand gestellt, dass niemand aus Versehen darüber stolperte. Außer Sayuki schien niemand da zu sein. Es wirkte alles so ruhig, ungewohnt, da normalerweise wenigstens die Hauskatze um seine Beine strich, sobald er auch nur einen Schritt in das Haus gesetzt hatte. Ein schmales Lächeln umspielte seine Mundwinkel – Reita mochte Hunde, er selbst konnte überhaupt nichts mit ihnen anfangen. Andauernd hechelten sie einem hinterer; da war ihm eine Katze mit Charakter doch wesentlich näher. „Möchtest du etwas trinken, essen?“, fragte Sayuki, als sie in die Küche gekommen war und benutztes Geschirr in die Spüle stellte. Uruha verneinte, setzte sich auf einen Küchenstuhl und stützte seine Arme auf dem Tisch ab. Gedankenverloren zeichnete er mit den Fingerspitzen das Muster der Decke nach. „Ich mag es nicht, wenn du so schweigsam bist. Dann ist immer etwas emotional Aufreibendes passiert.“ Sie seufzte, ließ sich ihm gegenüber sinken. „Wo sind deine Eltern? Und Merle?“ „Ist das denn wichtig, Kouyou?“, erwiderte sie, lehnte sich zurück und überschlug die Beine. Hätte sie keinen Jogginganzug an, hätte sie wohl sehr autoritär gewirkt, dachte der Gitarrist beiläufig. „Nein, nicht wirklich.“ „Und warum fragst du dann?“ Schweigen breitete sich zwischen ihnen aus, das Ticken der Wanduhr, die links neben dem Küchenschrank hing, hallte unnatürlich laut von den Wänden wider. Vielleicht sollte er langsam mit der Sprache herausrücken? Doch was sollte er erzählen, ohne sie wissentlich anlügen zu müssen? Er wusste aus Erfahrung, dass ein zu großes Lügengeflecht nach gewisser Zeit wie ein Kartenhaus in sich zusammenfiel und danach stand man selbst dumm da. Dann wurden nämlich die tollen Erklärungen knapp. Und die Lügen, die er Sayuki auftischen müsste, wollte er nicht über die Lippen bringen. „Willst du vielleicht erst mal auf deiner Gitarre herumklimpern? Dabei kannst du dich doch immer entspannen, oder nicht?“, schlug sie vor, was Uruha zu einem Verziehen seines Gesichts bewog. „Das ist kein Herumgeklimper!“, knurrte er sie an, doch die Frau zuckte nur unempfindlich mit den Schultern. „Du weißt, dass ich damit nicht viel anfangen kann.“ „Trotzdem ist es kein Grund, so abfällig darüber zu sprechen!“ Nach fünfminütigem Gezicke, bei dem es nur anfänglich um Musik und Uruhas geliebter Gitarre ging, beschloss er, dass er sich wohl besser seinem Instrument widmen sollte. Er war zu gereizt, als dass er genau darauf achtete, was er Sayuki an den Kopf warf – und gewöhnlich wusste er immer, was er sagte. Aber wenn er aufgebracht war, konnte ihm der ein oder andere fatale Kommentar herausrutschen, das letztendlich wohl besser ungesagt hätte bleiben sollen. Daher zog er lieber die Notbremse. Die Frau meinte daraufhin, dass sie in einer halben Stunde wieder kommen würde, solange würde sie noch einmal irgendwelche Unterlagen ihrer Eltern durchgehen. Uruha murrte unzufrieden, nahm die Kappe vom Kopf und zog sich das Band aus den Haaren. Im Grunde hatte er hierher kommen wollen, um Ablenkung zu finden – nicht noch mehr Streit und Unstimmigkeiten. Obwohl ihm das eigentlich nicht viel ausmachte, nur heute war es einfach.. schlecht. Insgesamt und durchgängig. Das Einzige, was ihn ein wenig ruhiger stimmte, war, dass ihm die Töne leicht von der Hand gingen und sich beinahe von allein zu einer Melodie formten. Mit geschultem Ohr verfolgte er, wie seine Finger ein melancholisches Lied anschlugen. Er fragte sich nebenbei mit einem verdrießlichen Grinsen, warum ihm diese fehlerfreien Notenfolgen nicht auch bei den Proben von der Hand gingen. Doch der Grund ließ sich so einfach benennen, dass es schlichtweg banal wirkte, es auszusprechen. Also würde er es nicht tun, sondern lediglich in seinen Gedanken Gehör finden lassen. Die halbe Stunde verging schneller als angenommen. Sayuki stand mit vor der Brust verschränkten Armen im Türrahmen und wartete, bis das Lied zu Ende war. „Lass uns ins Wohnzimmer gehen. Wir sollten reden.“ Uruha wusste: Jetzt war das Gespräch unumgänglich. Sie würde es nicht zulassen. Und aus einem ihm nicht bekannten Grund beruhigte ihn das ungemein. Es würde rauskommen, endlich würde er es aussprechen müssen. Vielleicht würde es das ja leichter machen? Vielleicht würde er dann darüber hinwegkommen? Es musste doch irgendwie zu überwinden sein. Stumm folgte er ihr in besagten Raum. Es war schlicht eingerichtet, vorherrschende Farben waren Braun- und Cremetöne. Das Sofa war zentral platziert, versetzt flankiert von zwei Sesseln. In ihrer Mitte stand ein niederer Couchtisch. Gegenüber dem Sofa ein Fernsehgerät. Die Wände waren gesäumt von Regalen und unter dem Fenster auf der linken Seite befand sich ein Schreibtisch, auf dem sich mehrere Unterlagen stapelten. „Setz dich. Ich denke, du möchtest nichts trinken?“ Eine rhetorische Frage, die keiner Antwort bedurfte. Elegant ließ sich der junge Mann in einen Sessel sinken. Er wollte nicht auf der Couch sitzen, wo sich die Möglichkeit ergeben hätte, dass sich Sayuki direkt neben ihn platziert hätte. Bei der folgenden Konversation konnte er keine menschliche Nähe gebrauchen. „Warum bist du hier?“ „Ich wollte dich sehen.“ „Lügner.“ Ihre Worte klangen harsch, sie ließ sich in den anderen Sessel fallen. Sie blitzte Uruha wütend an. „Ich hasse es, wenn du mich anlügst.“ „Woher willst du wissen, ob ich lüge?“ Er konnte es nicht. Er konnte jetzt einfach noch nicht mit der Wahrheit herausrücken. Sie musste ihm irgendeinen Anstoß geben. Vielleicht brauchte er ein Ultimatum? Aber wie sollte dies aussehen, dass er es auch wirklich als ein solches anerkennen würde? Im Notfall wäre ihm ihre Freundschaft gleich, das wusste er. Sein Schutz vor allem anderen. Merkwürdig, dass ihm das in so einer Situation so vollkommen klar vor Augen war. „Sag mir, warum du hier bist.“, erwiderte sie, ging nicht auf seine Frage ein. Der junge Mann seufzte, stützte den rechten Ellbogen auf der Lehne ab und strich sich dann mit den Fingerspitzen über die Stirn. Sayuki saß ihm angespannt gegenüber, was jedoch nur an ihrer Mimik kenntlich war. Ihre restliche Erscheinung wirkte locker. „Bist du mir eine Freundin?“ Mit einem Mal wurden ihre Gesichtszüge weicher, jedoch nicht so weich, dass man die Spannung in der Luft vergessen würde. „Würde ich dich sonst auffordern, mir alles zu erzählen?“ „Kannst du bitte nicht mit einer Gegenfrage antworten?“ Beinahe wäre seine Stimme schwach geworden – aber nur beinah. „Ja, ich bin dir eine Freundin.“, gab sie unverwandt zurück. „Du hast mir immer den Rücken gestärkt, nicht wahr? Selbst als du erfahren hast, dass ich Musiker werden wollte und du dem nichts abgewinnen kannst. ‚Solange du glücklich-“ „- bist, mit dem, was du machst, habe ich gesagt.“, vollendete Sayuki unaufgefordert den Wortlaut. Unbewusst biss sich Uruha auf die Unterlippe. Seine Finger huschten zu seiner Hosentasche, in der sich die viereckige Zigarettenschachtel befand. „Darf ich eine rauchen?“, fragte er vorschnell, verzog dann jedoch das Gesicht; noch ein Thema, das bei Sayuki auf sehr unfruchtbaren Boden traf. „Nein.“ Ihr Gesicht verschloss sich wieder. Er verspielte sich hier jegliche Chancen. „Solange ich glücklich dabei bin.“, wiederholte er den Satz, konnte es einfach nicht lassen mit den Fingerspitzen die Konturen der Zigarettenschachtel nachzufahren. Wie sehr bräuchte er jetzt eine Kippe. Sie würde ihn beruhigen und ihm zum nötigen Durchblick verhelfen, der in so einer Situation angebracht und hilfreich wäre. Doch Sayuki würde das niemals zulassen. Noch nicht einmal dann, wenn er zitternd vor ihr auf dem Boden liegen und vor lauter Entzugserscheinungen anfangen würde zu heulen. „Ich bin dir eine Freundin, Kouyou.“ Mit mehr Eindringlichkeit sprach sie es aus, worauf Uruha sie ansah. Sie war eine der wenigen, die ihn noch Kouyou nannten. Manchmal erschienen ihm Uruha und Kouyou wie zwei vollkommen unterschiedliche Persönlichkeiten, die einfach nicht zusammenpassten. Und dennoch waren sie in einem Menschen vereint. In ihm. „Wie sagt man jemanden, dass man sein Geheimnis nicht aussprechen und doch aussprechen will? Wie wird man seine Sorgen wieder los, ohne sich groß mit ihnen zu beschäftigen oder eine Lösung zu sehen?“, sinnierte er, zwang sich, von der Schachtel abzulassen. Kouyou hatte kaum geraucht, Uruha dagegen war andauernd dabei. „Und wenn du dein Geheimnis nur flüsterst?“ Sayuki wollte helfen, doch sie wusste nicht so recht wie. Uruha konnte es ihr ansehen. Wie sie sich unwohl auf den Sitzpolstern zurechtrückte, wie sie ihre Haarsträhne hinter das Ohr klemmte oder versuchte, sie wieder in den Zopf zurückzustecken. „Flüstern ist Sagen, ist Aussprechen. Die Lautstärke ist ganz gleich.“ „Schreib es nieder.“ „Dann wäre es kein Geheimnis mehr.“ „Aber es soll doch auch keines mehr sein, oder?“ Jetzt war die junge Frau verwirrt und wenn ihr Gegenüber es sich selbst eingestand: Er war es auch. Um jeden Preis wollte er sich schützen – aber auf der anderen Seite hatte er auch das Gefühl, dass das Kundtun ihm wieder seine verlorene Freiheit zurückgeben könnte. „Ein Geheimnis ist etwas, das nur einer weiß, sonst ist es kein Geheimnis mehr.“ Es wäre wohl für beide Parteien besser, wenn Uruha nichts weiter sagen und gehen würde. Es war eine dämliche Idee gewesen hierher zu kommen. Überrascht sah Uruha seine Freundin an, als sie auf einmal anfing zu lächeln. Ihn anzulächeln. „Weißt du, Kouyou, es ist gar kein Geheimnis mehr. Schon lange nicht mehr. Und zwar genau ab dem Zeitpunkt, an dem du gemeint hast, dass du ein Geheimnis besitzt.“ Das war der Anstoß. Nicht nachdenkend, welche Worte er nutzte, flüsterte er: „Ich liebe einen anderen Mann, Sayuki. Einen, dem ich beinahe tagtäglich in die Augen sehen muss. Mit dem ich arbeite, mit dem ich gemeinsam meinen Traum lebe.“ Es herrschte Stille zwischen ihnen. Und Uruha wurde bewusst, dass es wirklich falsch gewesen war. Sayuki sah auf den Boden, als sie aufstand und den Arm in Richtung Haustüre ausstreckte. „Geh. Ich will dich hier nie wieder sehen. Musik, okay. Aber einen anderen Mann lieben? Nein. Das ist widerwärtig, abscheulich, unmenschlich! Verschwinde, verschwinde von hier und komm nie wieder!“ Ihre Stimme war immer lauter geworden, zum Schluss überschlug sie sich fast. Ohne ein Kommentar zu äußern erhob sich der Mann. Im Flur schlüpfte er in seine Schuhe, warf sich die Jacke über die Schultern und setzte sich die Mütze wieder auf den Kopf. Mit dem Gitarrenkoffer in der Hand verließ er das Haus. Hinter sich hörte er nur noch, wie die Tür leise geschlossen wurde. Ein bitteres Lächeln schlich sich auf seine Lippen. Nur kein Aufsehen erregen, indem man die Türe zuknallte. Die Nachbarn könnten es ja mitbekommen und dann würde es Bedarf an Erklärungen geben. Er hatte noch nicht einmal den Hof verlassen, da blieb er stehen, stellte den Koffer auf den Boden. Dann zog er in aller Seelenruhe seine Zigarettenschachtel aus der Hosentasche, nahm eine Kippe und das Feuerzeug heraus. Die Zigarette fand Platz zwischen seinen Lippen und das Feuerzeug tat seinen Dienst. Befreit blies er den Rauch aus, nachdem er alles wieder verstaut hatte und seinen Weg fortsetzte. Er hatte Sayukis Bevormundung, was sein Rauchen betraf, eh nie gemocht. Die zwei freien Tage waren vorbei – und Kai hatte sich nicht gemeldet. Im Grunde sollte es Uruha ja nicht wundern; wer würde denn schon freiwillig seinen Bandkollegen nach seiner Gefühlslage fragen? Das taten Mädchen, Frauen oder andere, die ein großes Mitteilungsbedürfnis hatten. Und zufälligerweise wusste Uruha, dass Reita unter keinen Umständen zu dieser Gruppe Menschen gezählt werden wollte. Der Mann seufzte, fuhr sich mit der Hand über das Gesicht, während er mit der anderen sein Spiegelbild verdeckte, indem er sie auf das kalte Glas presste. Er konnte im Moment seinen eigenen Anblick nicht ertragen. Das war eigentlich schon eines der schlimmsten Anzeichen für seelischen Stress, den man bei dem Gazette-Mitglied je zu Gesicht bekommen würde. Wobei er jedoch gerade darauf achtete, dass es niemand sah. Würde nur unnötige Gespräche - Kai und Aoi – oder unangebrachte Kommentare – Ruki und Reita – bedeuten. Darauf konnte er getrost verzichten. Mit dem Handtuch um die Hüfte geschlungen trottete er in sein Schlafzimmer und zog aus dem offen stehenden Schrank wahllos Klamotten heraus. Heute war es ihm zum ersten Mal seit Jahren wieder egal, was er trug. Das nasse Handtuch wurde auf dem Boden liegen gelassen, als sich Uruha weiter in das Wohnzimmer schleppte. Der Aschenbecher auf dem Couchtisch quoll über, ein paar wenige leere Flaschen Alkohol reihten sich darum. Uruha blieb im Raum stehen, legte den Kopf schräg. Es roch nach abgestandenem Rauch. Ein widerlicher Geruch irgendwie. Um wenigstens diesem Gefühl entgegenzuwirken, trat er an das Fenster heran und riss es auf. Frische Luft wehte ins Zimmer herein, der sanfte Wind blies ihm durch die feuchten Haare. Er stützte seine Arme auf das Fensterbrett, fixierte die Maserung des Holzes. Danach den schwarzen Nagellack, der bereits gestern zu splittern begonnen hatte. Vielleicht sollte er doch… Den Gedanken führte er nicht zu Ende, würde er doch, sobald er mit der einen Sache begonnen hatte, nicht mehr aufhören, bis er sich vollständig zurecht gemacht hätte. Von einer zweiten Dusche, über eine Gesichtsmaske, um die Augenringe zu reduzieren, bis hin zur erneuten Kleiderauswahl, die sich womöglich länger hinziehen würde, als ihm lieb wäre, allein um seinen ersten Patzer auszugleichen. Aber er wollte nicht. Er fühlte sich zu schlapp und zu lustlos dazu. Es wäre alles doch nur Routine, die ihn dazu antreiben würde, seinem Spiegelbild wieder sorglos unter die Augen treten zu können. Das Läuten aus Richtung der Haustür ließ ihn müde über die Schulter blicken. Wer wollte denn etwas von ihm? Es war gerade mal zwei Uhr, ihre Bandprobe wäre erst gegen Nachmittag Abend, soweit hatte er sich wenigstens schon per Sms bei Aoi erkundigt. Sms war die einfachste Lösung ungewollten Gesprächen zu entgehen. Doch der Besuch schien nicht aufgeben zu wollen, als Uruha sich nach fünf minütigem Ignorieren noch immer nicht vom Fleck gerührt hatte. Das Klingeln hallte ungebremst weiter durch seine Wohnung. „Verdammter..“, murrte Uruha und stapfte zur Tür, riss sie mit einem Ruck auf. Als er seinen unerwünschten Gast ins Gesicht schaute, wurde ihm einmal mehr bewusst, weswegen er unterbewusst niemanden hatte sehen wollen. Wie es auch nicht anders sein könnte, war es Reita. „Kai hat mich vorbeigeschickt.“, war die überaus freundliche Begrüßung des Bassisten. Er wollte sich gerade an Uruha vorbei in die Wohnung drängen, als jener ihm den Weg versperrte, indem er die Hand gegen den Türrahmen drückte. „Es ist mir egal, dass Kai dich geschickt hat, um nach mir zu sehen.“, meinte Uruha, gleichzeitig begann es in seinem Inneren zu rumoren. „Es ist mir auch egal, mit was er dir alles gedroht hat, wenn du dich von mir abwimmeln lässt.“, fügte er noch hinzu, da Reita bereits den Mund aufmachte, um empört seine Meinung kundzutun. Jetzt war es an dem Bassisten wütend zu werden. Es hatte ja glücklicherweise auch niemand mit dem Gedanken gespielt, dass er nicht ein wenig cholerisch war. „Jetzt pass mal auf, Uruha.“, er verlagerte sein Gewicht auf das linke Bein, verschränkte die Arme vor der Brust, was ihn – zu Uruhas Leidwesen – nur attraktiver machte. Die dunklen Augen blitzten ihn an. Und wenn das charakteristische Nasenband nicht wäre, würde man sicherlich seine Nasenflügel beben sehen. „Ich hab echt keinen Bock, mir deine Scheißlaune anzutun, die wahrscheinlich, so wie immer, vollkommen grundlos ist. Aber weil ich Kai wirklich einen Gefallen schulde, tue ich mir das jetzt an. Geh rein, gib mir was zu trinken und wir können uns meinetwegen eine Viertelstunde anschweigen, bis ich meine Schuld bei Kai beglichen habe.“ „Und wenn ich das ganz einfach nicht will?“, erwiderte Uruha matt; zu Streitereien er war nicht aufgelegt. Nicht heute, vielleicht gar nicht mehr. „Weißt du, das interessiert mich einen Dreck.“ Mit diesem Ausspruch schlug er Uruhas Arm beiseite und stiefelte in die Wohnung. Der Gitarrist lehnte sich an dem Türrahmen an, war kurz davor, daran hinunterzusinken. Er konnte einfach nicht mehr, warum ließ man ihn nicht einfach in Ruhe? Er würde auch brav zu den Proben erscheinen, wieder sein Bestes geben, selbst den Fanservice würde er den Fans zuliebe begeistert mitmachen. Aber jetzt konnte er einfach keine menschliche Nähe ertragen. „Hier. Ab unter die Dusche und danach gescheit anziehen. Ich will nicht das Gefühl haben, bei einem Penner in der Wohnung zu sein. Dafür hast du echt zu viel Geld.“ Reita stand hinter ihm und schmiss ihm ein paar Klamotten an den Kopf. Uruha drehte sich nicht um. Er hoffte, dass der andere schnell wieder weggehen würde. „Los jetzt.“ Alles Hoffen schien vergebens. Denn als er sich noch immer nicht vom Fleck rührte, kam Reita aufgebracht zu ihm gelaufen und zerrte ihn am Arm in die Höhe. Vor sich herschiebend verfrachtete er den Gitarristen letztendlich im Badezimmer. „Zwing mich nicht dazu, dir auch noch beim Duschen zu helfen.“, meinte der Bassist grimmig und verließ daraufhin das Zimmer. Anscheinend um die gröbsten Unreinheiten in Küche und Wohnzimmer verschwinden zu lassen – so hörte es sich zumindest an. Uruha streifte sich langsam sein T-Shirt über den Kopf. Warum konnte er sich denn nicht durchsetzen? Dann wäre er jetzt wenigstens allein. Mit sich selbst. Noch nicht einmal ein anrüchiger Gedanke auf Reitas Kommentar hin war in ihm aufgekommen – und das sprach ebenfalls nicht gerade für seine gute seelische Verfassung. Hässlich, fuhr es ihm durch den Kopf, als er mit nacktem Oberkörper vor dem Spiegel stand. Sein Gesicht verzog sich vor Abscheu und schneller als er dachte, stand er unter dem kalten Wasserstrahl. Trotz des Eiswassers, das da auf ihn niederprasselte, ließ er keinen Laut von sich hören. Kein Klagen, kein Wimmern; rein gar nichts. Es war, als wäre er stumm. Ein Schatten seiner selbst traf seinen Zustand wohl am besten. Er erwachte erst wieder aus seiner Lethargie, als Reita unwirsch gegen die Tür hämmerte. „Uruha, du gehst mir grad echt voll auf den Nerv. Beweg deinen Arsch endlich aus der Dusche und zieh dich an! Willst du, dass du Schwimmhäute kriegst, oder was?!“ Warum war er so, wie er war? Warum war er nicht anders? „Reita?“, fragte er leise, stellte sogar das Wasser ab; wussteer doch, dass der Bassist schon längst wieder das Weite gesucht hatte. Womöglich, um sich nach etwas Trinkbarem umzusehen. „Ich liebe dich.“ Das erste Mal ausgesprochen. Aber die erhoffte Linderung seiner Taubheit blieb aus. Stattdessen hörte er ein lautes Klirren, das vom Gang her erklang. Glas war auf dem Parkettboden zersprungen – und Uruha fror in seiner Bewegung ein. Er hasste Zufälle. So wie jetzt. „Sag das noch mal.“, krächzte Reitas Stimme von außerhalb des Badezimmers. Direkt vor der Tür. Doch der Gitarrist war vollkommen erstarrt. Selbst die Stumpfheit in seinem Inneren war einer ausfüllenden Leere gewichen. Aber dann kam alles zurück. Alles. Das Gefühl des Betrogen-worden-seins wegen Sayukis Abweisung und ihrem Unverständnis. Das Gefühl des Schmerzes, immer wenn Reita ihn mal wieder nicht ernst genommen hatte. Das Gefühl der Wut, weil Kai versprochen hatte, ihm beizustehen und ihn letztlich wohl beiseite geschoben hatte. Das Gefühl des Verlassensseins, da niemand ihn zu verstehen schien. Das Gefühl der Einsamkeit. Das Gefühl der Trauer. Das Gefühl der Angst. Uruha, und auch Kouyou, war noch nie jemand gewesen, der nah am Wasser gebaut war, daher würde er auch nicht in Tränen ausbrechen. Er würde am Waschbecken stehen, seine Finger am Rand festkrallen, um den nötigen Halt zu bekommen. Er würde darauf warten, was als nächstes geschehen würde. Und wenn Reita eine entscheidende Rolle in diesem Stück spielte, würde dieses Ereignis sicherlich nicht lange auf sich warten. Die Tür öffnete sich einen Spalt breit. Uruha hatte sie vorhin nicht abgeschlossen; bisher hatte er auch nie einen Grund darin gesehen, eine solche Vorsichtsmaßnahme zu ergreifen. „Wirst du mir was entgegen werfen?“, kam es zögerlich von dem Bassisten, der sich einen Zentimeter in den gekachelten Raum gewagt hatte. Auf einmal lachte der andere leise, ließ den Beckenrand los. Warum ließ er sich so hängen? Warum hatte er nicht schon viel eher begriffen, dass Liebe eigentlich im Grunde ein wunderschönes Gefühl war? Ganz egal, ob die Gefühle nun erwidert wurden oder nicht, richtig? Er kicherte, drehte sich anschließend zur Tür um. „Keine Bange, ich hätte höchstens ein Handtuch zur Verfügung.“, scherzte er leichthin. „Das du dir im Übrigen lieber um die Hüften legen solltest.“, meinte Reita, sah unangenehm berührt auf die Seite. „Ach, Reita..“, seufzte Uruha, tat seinem Bandkollegen diesen kleinen Gefallen, aber nicht ohne noch ein „Du kannst mir doch sowieso nichts wegschauen“ hinzuzufügen. „Alles klar bei dir?“ Reita lehnte sich mit der Schulter an den Türrahmen, hatte die Arme verschränkt und den Kopf schief gelegt. Auch wenn der Bassist ab und an sehr grob im Ungang mit Menschen war – solche kleinen Augenblicke machten ihn nur noch liebenswerter. Uruha lächelte ihm entgegen. „Ja, es könnte nicht besser sein.“ Er zwinkerte sogar, wandte sich danach seinem Spiegelbild zu und versuchte, keine allzu geschockte Grimasse zu machen. Er sah aber auch mitgenommen aus. „Deine Gefühlsschwankungen sind sehr.. eigenartig.“, erwiderte der andere, „Gerade eben noch vollkommen neben sich selbst und jetzt auf einmal heiterer Sonnenschein? Uruha. Du weißt, ich kann so etwas nicht ausstehen.“ „Ja, ich weiß. Aber es ist doch gut, oder nicht? Ich bin wieder auf dem Damm, ich krieg meine Parts wieder auf die Reihe und mit unserer Band wird es weiter bergauf gehen!“ Uruha strahlte seine heimliche Liebe durch den Spiegel an. Es war alles in Ordnung. Es brauchte sich niemand mehr Sorgen um ihn zu machen. Einen Moment schien es noch, als wollte Reita nicht lockerlassen und zögerte, dann jedoch ergab er sich der guten Laune. Kaum war die Badezimmertüre ins Schloss zurückgefallen, fiel das strahlende Lächeln auf Uruhas Gesicht in sich zusammen. Nichts war gut. Sein ungewolltes Liebesgeständnis hatte es niemals gegeben. Einbildung war bekanntlich ja auch eine Bildung. Aber jetzt musste er das durchziehen. Es würde ihn bestimmt kaputt machen. So wie die zerbrochene Freundschaft bereits einen Teil in ihm zerstört hatte. Wenn er jedoch Glück hatte… Dann würde irgendwann irgendjemand da sein. Würde ihm wieder auf die Beine helfen. Würde ihn verstehen. Würde ihm wieder beibringen, wie man ohne eigenes Zutun vollkommen glücklich sein konnte. Nur jetzt musste er wohl noch warten. End~ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)