Nostalgia von Alibear ================================================================================ Kapitel 1: ----------- Wieder einmal kam er nach Hause, erschöpft von einer langen, harten Nacht. Eine Nacht, die scheinbar nur daraus bestanden hatte, Archie von einem Ende der Stadt zum nächsten zu manövrieren, nur weil sein Partner, der sich irgendwo grummelnd im hinteren Teil des Schiffes zurückgezogen hatte, mitbekommen hatte, dass dort Verbrecher, Erpresser, Vergewaltiger, Zuhälter ihr Unwesen trieben. Es kam ihm so vor, als hätte er die ganze Nacht lang alle zwei Sekunden das Steuer herumgerissen, nur um eine neue Richtung einzuschlagen, die ihm sein maskierter Partner vorgab. Fliegen, landen, kämpfen, die Stadt von ihren Eitergeschwüren der Gesellschaft befreien – nur eine der vielen Beschreibungen, die sein Kumpan für den Part Mensch übrig hatte, gegen den sie angingen – triumphieren, zurück zu Archie, wiederholen. Immer derselbe Ablauf, scheinbar keine Pausen – die er manches Mal dringend nötig gehabt hätte – ein immerwährender Wettlauf mit der Zeit, mit dem Bösen, zu dem ihm sein Partner antrieb, der augenscheinlich keine Probleme damit hatte, seinen Körper an die Grenzen seiner Leistungsfähigkeit zu treiben. „Böses muss ausgerottet werden, Daniel.“ Seine Prämisse, sein Motiv, sein Ziel. Immer und immer wieder hörte er diesen Satz, so als ob eine alte Platte auf einem Spieler auflag. Eine alte wellige Vinylplatte, so verbogen von der Hitze und dem Zahn der Zeit, dass die Nadel nicht mehr richtig die Rillen greifen konnte, sie übersprang und doch immer zum selben Punkt zurückfand. Böses muss ausgerottet werden. Böses muss ausgerottet werden. Böses muss ausgerottet werden. Böses muss ausgerottet werden, Daniel. Noch jetzt hörte Daniel Dreiberg diese Worte in seinem Kopf dröhnen. Hörte diese monotone, finstere, kratzige Stimme, die gerade dazu geschaffen war, die Leichtgläubigen und Ängstlichen in die Knie zu zwingen, den Verbrechern Furcht zu lehren. Sich vor dem zu fürchten, was diese Stimme beherbergte. Sich vor den schwarzen Tintenklecksen zu fürchten, die wie irre auf weißem Stoff umher tanzten. Spiegelbilder der Ängste der Person, die sie betrachtete. Zu fürchtende Symmetrie. Gefürchtete Symmetrie. Eine Symmetrie, in der auch er selbst in letzter Zeit viel zu viele Sachen gesehen hatte, die ihm nicht behagten, ihm sauer aufstießen. Es war irgendwie seltsam, aber er schien froh, dass Rorschach sich dieses Mal nicht dazu entschieden hatte, ihn in Archie bis nach Hause zu begleiten, um dann durch das Tunnelsystem zu verschwinden, nachdem sie noch einmal den Coup des jeweiligen Tages besprochen hatten, ihre Fehler in der Deckung, im Angriff und den süßen Geschmack des Erfolges. Nein, Rorschach verließ ihn eher, wollte an der Ecke Vierzigste und Siebte herausgelassen werden, direkt gegenüber des Gunga Diner, das Daniel in seiner Freizeit nur allzu gerne aufsuchte. Der maskierte Vigilant verabschiedete sich nicht von ihm, kletterte nur durch die Bodenluke raus, steckte die Hände in die Taschen seines Trenchcoats und verschwand in die langsam dem Sonnenaufgang weichende Dunkelheit. Seitdem Rorschach vor ein paar Monaten diesen Fall allein angegangen war, diesen Roche-Fall, von dem Daniel nur durch die Medien erfuhr, wie er endete, war es zwischen Rorschach und ihm nicht mehr dasselbe. Früher hatten sie gemeinsam, als Team Nite Owl II und Rorschach, für Recht und Ordnung gesorgt, übelstes Pack in die Flucht oder - noch besser - in den Knast geschlagen. Vor über zehn Jahren lag ihnen beiden noch etwas daran, in New York der Gerechtigkeit Platz zu schaffen, damit sie sich endlich frei entfalten könne. Gut, man musste bedenken, dass Rorschach schon immer etwas kräftiger zuschlug, als das Bewusstsein vieler Verbrecher es hätte aushalten können. Aber zumindest kannte Rorschach zu der Zeit noch Grenzen. Mittlerweile hatte Rorschach seine Ansichten und Ziele drastisch geändert. Seine Fäuste schrien nach Vergeltung, nach Gewalt, nach Mord und Totschlag. Seine Kraft und Ausdauer schienen nicht nur ihre natürlichen, sondern auch ihre moralischen Grenzen vergessen und über Bord geworfen zu haben. Wenn Daniel ihn nicht aufhielt, dann prügelte er seine Gegner auch gerne krankenhausreif. Nite Owl II kämpfte immer noch für seine Prinzipien. Rorschach kämpfte für die Zerstörung des Bösen. Ohne Kompromisse. Depressionen stellten sich bei ihm ein, wenn er allein an diese Entwicklungen von Rorschachs Persönlichkeit dachte. Sich langsam aus seinem Kostüm pellend, dachte Daniel weiter über seinen Freund nach, über dessen Verhalten und Eigenarten. Es war schon beängstigend, wie schnell sich eine Person ändern konnte, die man nun schon so lange Zeit kannte. Rorschach verdreckte, legte keinen Wert mehr auf sein Äußeres bis auf die Tatsache, dass es weiterhin furchterregend wirkte. Mittlerweile in doppelter Hinsicht, denn die abgerissenen Knöpfe, Schulterpartien und Nähte an seinem Trenchcoat ließen sich nicht mehr ignorieren, ebenso wenig wie die Flecken von Schweiß und Dreck, die sich auf dessen Stoff ansammelten. Der Fedora schien nicht nur von seiner Dampfbehandlung in seiner Form gehalten zu werden. Die Hose zeigte immer mehr Löcher, der Schal starken Gilb. Die Handschuhe wurden vor Schmutz ganz matt. Früher hatte sein Partner so manches Mal seinen Trenchcoat geöffnet, sei es gewesen, um es sich etwas bequemer zu machen oder seinem von Hitze gebeutelten Körper etwas mehr Luft zu gönnen. Heutzutage trug er ihn nur noch fest verschlossen, den Mantelgurt fest an seine Hüften geknotet. Seine Rüstung, seine zweite Haut, seine Zuflucht, sein Schutz vor der Welt um ihn herum. Rorschach legte nicht mehr diese Stimme ab, wenn er privat mit ihm sprach. Wenn sie vor, zwischen und nach ihren Aufträgen miteinander redeten, Pläne, Ideen mit einander austauschten oder einfach nur die Zeit totschlagen wollten, die sich bei den Flügen zwischen zwei Einsatzgebieten unausweichlich ansammelte. Während ihrer Anfangszeit hatte sich Rorschach nach den langen Nächten immer darüber ausgelassen, wie rau und wund ihm seine Stimmbänder vorkamen, als hätte er Sandpapier geschluckt. Jetzt schien er mit dieser Stimme verwachsen zu sein, unterschied nicht mehr zwischen Freund und Feind, wenn er sie benutzte. Für ihn waren jetzt alle Menschen gleich, daher verdienten sie auch gleiche Behandlung. Das ließ Daniels Magen jedes Mal aufs Neue grummeln: Er konnte, wollte sich einfach nicht damit anfreunden, dass er scheinbar von Rorschach nur noch wie der letzte Dreck behandelt wurde. Ein leider hinzunehmendes Übel, um es etwas bequemer bei seiner kleinen Hexenjagd gegen die New Yorker Unterwelt zu haben. Bei solchen Gedanken war es doch kein Wunder, dass sich Daniel dezent ausgenutzt fühlte. Das Kostüm in den Spind hängend, noch einmal Archimedes‘ Funktionen per Fernbedienung testend, schlich sich Dan anschließend regelrecht die Treppen vom Keller in seine Wohnung hinauf, die Haltung leicht gebückt und müde, den Kopf umgeben von finsteren Wolken und erfüllt von noch finsteren Gedanken. Hätte er die Möglichkeit gehabt, dann hätte er am liebsten jemand allwissendes gefragt, was in Rorschachs Kopf vorging in letzter Zeit, was diesen in ein solches Verhalten gedrängt hatte. Aber wohl selbst jemand so intelligentes wie Adrian Veidt hätte ihm darauf keine zufriedenstellende Antwort geben können. Vielleicht lag es wirklich an diesem Roche-Fall. Höchstwahrscheinlich lag es daran. Psychologie und Menschenkenntnis waren noch nie Daniels Stärke gewesen, aber aus den Nachrichten und Meldungen in Fernsehen und Presse konnte er sich doch ein gutes Bild von dem schaffen, was mit dem kleinen Mädchen und seinem Peiniger, seinem Mörder geschehen war. Blaire Roche, ein kleines Mädchen von sechs Jahren, das in ein furchtbares Verbrechen aufgrund einer simplen Namensverwechslung geraten war. Ermordet, da der Entführer augenscheinlich nichts mehr mit ihr anzufangen wusste, als sie als die mögliche Verräterin seiner Person zu sehen, sein Verderben, sein Tod. Sie musste beseitigt werden. Sie wurde beseitigt. Auf die wohl grausamste und pervertierteste Art und Weise, die man einer Person auch nur antun konnte. Noch jetzt wurde ihm schlecht, wenn er nur daran dachte. Wie nur musste es Rorschach getroffen haben, als er davon erfuhr, nachts, allein im Haus des Mörders, allein auf der Jagd nach einem solchen Monster. Doch Blaire Roche sollte ihre Rache bekommen. Rorschach nahm die Stelle ihres Racheengels ein, ließ das Monster leiden, zu einem Opfer der Flammen werden – die Polizei konnte nur noch die verkohlte Leiche Gerald Grices, angekettet an einen gusseisernen Ofen, aus dessen bis auf die Grundmauern niedergebrannten Wohnung bergen. Damit war für sie der Fall zu den Akten gelegt, erledigt, beseitigt. Damit war ein Monster vernichtet, die Welt etwas gebessert worden, gereinigt. Hätte sie doch gewusst, welch Monster ihr mit dieser Tat aufgebürdet wurde. Mittlerweile in der Küche angekommen, suchte Daniel schon instinktiv nach der Zuckerdose und dem Beutel Würfelzucker – extra einzeln abgepackte Würfel der Marke Sweet Chariot – und füllte gedankenverloren wieder auf, was Rorschach geleert hatte. Daniel hatte versucht, Rorschach auf den Roche-Vorfall anzusprechen, mit ihm darüber zu reden, aus erster Hand zu erfahren, was genau dort vorgefallen war. Die Polizei hatte bei ihrer Tatort-Untersuchung nicht nur Grice gefunden, sondern auch die toten, verkohlten Skelette zweier Schäferhunde, deren Schädelplatte in der Stirngegend von einem großen, scharfen Gegenstand gespalten waren, wie es aus den Untersuchungen als Ergebnis hervorging, beide in unmittelbarer Nähe ihres Besitzers liegend. Jemand musste sie vorher getötet und wieder in die Wohnung geschafft haben. Vielleicht als Abschreckmittel, als Warnung, um Grice zu zeigen, dass man es ernst meinte mit ihm. Dieser jemand konnte nur Rorschach sein. Doch so sehr Daniel auch ein Gespräch suchte, sein Partner wich immer wieder aus, zog sich zurück. „Ist tot. Nicht mehr von Belang“, das waren die gegrummelten Worte, die er immer und immer wieder von ihm vernahm in den letzten Monaten, wenn er versuchte, dieses Thema anzusprechen. Rorschach entzog sich ihm, entzog sich seinem Einfluss, verrohte, verdreckte, hatte nur noch eines im Kopf, den gnadenlosen Kampf gegen alles Übel auf dieser Welt und deren totale Ausrottung, mit welchen Mitteln auch immer. Keine Verhandlungen. Keine Kompromisse. Keine Gnade. Keine Möglichkeiten mehr, ihm zu helfen. Das Geräusch von auf den Tisch fallenden Zuckerwürfeln, die in der Dose keinen Platz mehr fanden und nun verdrängt wurden, riss ihn aus seinen Gedanken und wieder zurück in die Realität, das Hier und Jetzt. Schnell hob er den Vorratsbeutel hoch, hielt die Hand schützend vor dessen Öffnung, wollte verhindern, dass so noch mehr Würfel aus ihm entweichen konnten. Wenn er das doch auch nur bei Rorschach hätte bewerkstelligen können. Ihm eine helfende Hand reichen, ihn schützen vor sich selbst und seiner Entwicklung, seine Hände als Schutz dienend, sie an die Öffnung haltend, aus der dessen Moral und ursprünglicher Charakter ausliefen, ohne Unterlass aus ihm herausrieselten. Doch im Gegensatz zu den Zuckerwürfeln, die er jetzt vom Tisch aufhob, um sie in die Tüte zurückzustecken, konnte er Rorschach nicht das wieder zurückgeben, was dieser verloren hatte. Es war nicht mehr zu ignorieren, dass es keine Möglichkeit mehr gab, Rorschach zu helfen, ihn zu retten. Keine Möglichkeit mehr für ihn, zu seiner früheren, weniger drastischeren Natur zurückzufinden. Deprimiert, nachdenklich, fast nostalgisch nahm Daniel den letzten Zuckerwürfel, der noch auf dem Tisch lag, in seine Hand und studierte ihn eingehend mit seinem Blick. Ein Lächeln stahl sich auf seine Gesichtszüge, das Erste seit Monaten. Er hatte sich schon immer gefragt, was Rorschach daran fand, diese pure, grobe Süße in seinem Mund zu schmecken und zu fühlen. Immerhin war dies eine Eigenart, die selbst noch nach dessen Veränderung erhalten geblieben war. Vorsichtig drapierte er den Würfel aus seiner Ummantelung, nahm ihn zwischen Daumen und Mittelfinger, seufzte, als er ihn erneut beobachtete. Das würde nicht reichen, um weiter mit ihm zu arbeiten. Eine kleine Eigenart würde nicht ausreichen, um dessen neue, brutalere Persönlichkeit kompensieren, vergessen zu können, um weiter mit ihm zusammenarbeiten zu können. Daniel wusste das, Daniel wusste das nur zu gut. Dennoch tat es weh, sich so etwas einzugestehen. Es bedeutete das Ende einer erfolgreichen Ära. Das Ende eines erfolgreichen Teams. Das Ende einer Freundschaft? Langsam führte er den Zucker zu seinem Mund, legte ihn auf seine Zunge, seine Geschmacksnerven von purer Süße betäubt. Der Geschmack einer bittersüßen Niederlage. So müsste sie sich anfühlen, so musste sie schmecken. Erneut schlich sich Trauer in sein Gemüt, als er zu dieser Erkenntnis kam. Daniel würde Rorschach über die Trennung informieren müssen, erklären müssen, warum er das alles nicht mehr auf sich nehmen, ihn nicht mehr kontrollieren konnte. Ich muss es ihm erklären. Mit diesem letzten Gedanken warf er das Zuckerpapier in den Müll, ging aus der Küche, löschte das Licht und machte sich auf in sein Schlafzimmer, voller Angst davor, was ihm bevorstand. Erklären und hoffen, dass er es verstehen und nicht handgreiflich wird. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)