Spiel mit mir von Skeru_Seven ================================================================================ ✗✗✗ --- Ein bahnbrechend langweiliger Tag kurz vor dem Beginn der Ferien; selten war so wenig passiert, nicht einmal die Zeitung wusste, was sie berichten sollte. Das sagte schon alles. Der spannungslosteste Sommer seit Ewigkeiten. Ich lag faul und unterbeschäftigt auf meinem Teppichboden, betrachtete Staub, wie er durch die Luft segelte, und hoffte auf Abwechslung. Diesen Zustand konnte man wirklich keinem normalen Menschen auf Dauer zumuten, da beging man ja freiwillig einen Mord, nur damit hier was los war. Mein Handy klingelte herausfordernd und gespannt stellte ich fest, dass mich mein bester Freund Clemens anrief. Vielleicht die erhoffte Wendung an diesem scheintoten Tag. „Ja?“ „Hi Percy, hast du heute Zeit? Zacharias kommt heute endlich mal vorbei.“ „Echt? Ich komme, egal was meine Eltern vorhaben. Bis gleich.“ Wenn die nämlich wirklich spontan beschlossen, mich irgendwohin zu schleppen, wo man ungewollt einschlief, statt mich zu Clemens zu lassen, randalierte ich. Zacharias war Clemens' Brieffreund, den er vor drei Jahren bei einem seiner tausend Fußballturniere kennen gelernt hatte. Bisher hatte ich ihn leider noch nie persönlich getroffen, aber das wollte ich nun nachholen, immerhin erzählte Clemens ziemlich oft von Zacharias und das machte mich extrem neugierig. Außerdem klang das nach deutlich mehr Action als die Staubparade hier vor meinem Gesicht. Keine zehn Minuten später hockte ich in Clemens' Zimmer und blickte sehnsüchtig auf die Uhr. Gegen drei sollte Zacharias hier ankommen, aber die Uhr zeigte erst halb drei an, das bedeutete noch mindestens eine halbe Stunde Wartezeit. Meine Nerven hielten das kaum aus. Doch Clemens sah seltsamerweise ein wenig verärgert aus, was ich nicht verstand. „Was ist denn?“ „Meine Eltern sind unfair, sie gehen gleich zu IKEA, um nach einem neuen Sofa zu suchen und wollen, dass wir auf Manuela aufpassen.“ Diese Neuigkeit brachte mich auch nicht zum Jubeln. Manuela war Clemens' kleine Schwester, zwar in den meisten Bereichen eher pflegeleicht, aber sie wollte immer beschäftigt werden. Und was sollten drei Fünfzehnjährige stundenlang mit einer Fünfjährigen machen? Auf Barbie oder Lego spielen hatte ich definitiv keine Lust. „Was ein Scheiß“, murrte ich und breitete mich komplett auf Clemens' Bett aus. „Kannst du laut sagen“, pflichtete mein Freund mir bei und kickte eins seiner Kissen durch die Gegend. „Zach sieht das bestimmt genauso.“ „Abwarten, vielleicht wird es gar nicht so schlimm.“ Wie immer versuchte ich optimistisch zu bleiben, was mir auch oft gelang und womit ich Clemens gerne ansteckte, wenn er mal kurz davor stand, schlechte Laune zu bekommen. „Wir werden sehen“, grinste er. „Morgen Abend wird Zach abgeholt, bis dahin gibts noch genügend Manuela freie Zeit.“ Punkt drei Uhr klingelte es an der Tür und wie erwartet stand Zacharias mit all seinen Sachen vor der Haustür. Er sah anders aus, als ich mir ihn vorgestellt hatte: Kleiner, mit längeren, dunkleren Haaren bis zu den Schultern, aber es wirkte nicht mädchenhaft. „Hi Zach, du weißt ja, wer ich bin“, begrüßte Clemens den Neuankömmling, „und das ist mein bester Freund Percy.“ Er deutete auf mich. Sonst stand hier auch keiner herum. Mein Name stammte weder von englischsprachigen Vorfahren noch von Harry Potter begeisterten Eltern. Wahrscheinlich hatten diese vor eineinhalb Jahrzehnten einfach einen Namen ausgewürfelt, anders konnte ich mir nicht erklären, weshalb ich so einen beknackten Namen besaß. Zacharias lächelte mich zurückhaltend, aber freundlich, an und versuchte, seinen Rucksack und seine relativ große Sporttasche gleichzeitig in Clemens' Flur zu schleppen, doch scheiterte er schnell am Gewicht der beiden. Sie wogen schließlich auch gefühlte zwanzig Kilo. „Warte, wir helfen dir“, bot ich ihm an und zu dritt beförderten wir alles erfolgreich ins Haus hinein, ohne uns dabei einen Bruch zu holen. „Clemens“, hörte ich seine Mutter aus der Küche rufen, „wir fahren gleich los, denk bitte an Manuela.“ Man konnte förmlich zusehen, wie die Laune meines Freundes bei jedem Wort ein Stückchen sank und er genervt dir Augen verdrehte. Aber wer wäre nicht begeistert, die kleine Schwester an sich kleben zu haben. „Ja, werde ich.“ Es klang nicht wirklich danach, aber bevor er Ärger mit seinen Eltern bekam, befolgte er lieber ihren Anweisungen, egal wie nervig er sie fand. Oder er tat zumindest in ihrer Gegenwart so. „Was ist denn mit deiner Schwester?“, wollte Zacharias neugierig erfahren. „Wir dürfen solange für sie Babysitter spielen, bis meine Eltern halb IKEA gekauft haben“, erklärte Clemens ein weiteres Mal. „Tut mir echt Leid.“ „Nicht so tragisch, ich bins ja von zuhause gewöhnt.“ Zacharias hatte selbst zwei Geschwister, auf die er öfters mal aufpassen musste. Kaum saßen wir drei gemütlich in Clemens' Zimmer, stürzte schon seine Schwester herein und quengelte lautstark, weil ihr langweilig war. „Fängt echt gut an“, knurrte Clemens genervt und wandte sich an Manuela. „Was willst du machen? Aber was Normales, was auch wir machen können, ohne daran zu sterben, okay?“ „Obstgarten“, quietschte sie vergnügt und er seufzte nur ergeben. „Okay, Jungs, lasst Obstgarten spielen.“ Er verschwand kurz in Manuelas Zimmer und kehrte gleich darauf mit einem Pappkarton zurück. „Wie funktioniert das denn?“, fragte Zacharias, der das Spiel noch nie gespielt hatte. „Wir zeigen es dir schnell“, schlug ich ihm vor und baute mit Clemens' Hilfe das Spielfeld auf, auf dem vier Obstbäume mit je zehn Früchten aufgemalt waren. Manuela verteilte die vierzig Holzfrüchte auf die vier Bäumen; jeweils zehn Äpfel, Birnen, Pflaumen und Kirschen. „Das ist der Obstgarten“, erklärte ich Zacharias und gab ihm einen der vier kleinen Körbchen, in denen er später seine Beute sammeln konnte. „Mit dem Würfel entscheidet sich, welche Sorte du nimmst.“ „Klingt einfach“, meinte Zacharias und würfelte probeweise. „Rot bedeutet Kirsche, oder?“ Er legte eine kleine Holzkirsche in sein Körbchen. „Genau. Und gelb für die Birne, blau für die Pflaume und grün für den Apfel.“ „Und beim Korb darf man sich zwei Früchte nehmen“, plapperte Manuela eifrig dazwischen, angelte Zacharias' Kirsche und hängte sie sich ans Ohr. Man sah Clemens' Brieffreund an, dass er nicht sehr überzeugt von dem Spiel schien. Aber wir waren ja noch nicht fertig mit Erklären, denn auf dem Würfel befand sich ein weiteres Symbol: Ein schwarzer Rabe. „Jetzt kommt das schwierigste am Spiel.“ Ich musste mir ein Grinsen verkneifen, weil es gar nicht schwierig war, aber man musste irgendwie Zacharias' Interesse für Obstgarten wecken. Ich holte neun viereckige Karten, die zusammengelegt einen relativ dumm aussehenden Raben ergaben, hervor. „Bei jedem Raben, den wir würfeln, kommt eine dieser Karten auf das Feld und wenn alle neun hier liegen“, ich deutete auf die Mitte, „habe wir verloren. Verstanden?“ „Ich glaub schon“, vermutete Zacharias und reichte Manuela den Würfel. Die nächste Stunde hockten wir auf dem Boden, versuchten den Raben so selten wie möglich eine Chance zum Erscheinen zu geben und bewarfen uns am Schluss gegenseitig mit den kleinen Früchten. Manuela freute sich, weil wir fast jedes Mal die Bäume rechtzeitig abgeerntet hatten, und hüpfte auf Zacharias' Schoß auf und ab, bei dem sie es sich bequem gemacht hatte. „Noch mal“, forderte sie uns auf und ergeben sammelten wir das verstreute Spielmaterial zusammen und platzierten es an den vorbestimmten Stellen. Zum Glück sollte das die letzte Runde, noch länger hätte ich die hinterhältigen Blicke des Raben auf dem Würfel nicht ertragen. Die Runde begann alles andere als erfreulich für mich, da mich bei den ersten drei Würfen sofort etwas Schwarzes angrinste und Manuela mir böse Blicke zuwarf, obwohl ich nichts dafür konnte. Fieses Flattervieh, es sollte verschwinden. „Mann, Percy, was schaffst du? Denk dran, wenn wir jetzt verlieren, müssen wir solange spielen, bis wir wieder gewinnen, sonst macht Manuela Terror.“ Eine wirklich nervige Eigenschaft von ihr, das hatte ich schon oft miterlebt. Clemens erst recht, deswegen wohl auch die verzweifelte Warnung an mich. „Ich weiß es nicht“, jammerte ich und schaute frustriert zu den drei Teilen Rabe auf dem Feld – alle von mir. „Der mag mich anscheinend.“ „Soll er aber nicht“, beschwerte sich Manuela und zappelte so stark herum, dass Zacharias sie festhielt, damit sie nicht von ihm herunterfiel. „Vielleicht braucht Percy ein wenig Unterstützung“, überlegte Clemens laut und schaute Zacharias auffordernd an. „Komm, Zach, helf unserem Opfer-Percy doch, du hattest bis jetzt am meistens Glück mit den Würfel. „Na gut, ich versuche es mal“, versprach der Angesprochene, hob Manuela von sich herunter und setzte sich neben mich. Er nahm mit Daumen und Zeigefinger die eine Hälfte des Würfels, ich die andere und tatsächlich schafften wir es zusammen, dem Raben zu entkommen. Wenigstens freute sich nun Manuela und zwang uns dazu, jeden Wurf gemeinsam auszuführen. Sah zwar auf Dauer peinlich aus, aber zum Schluss gewannen wir und Manuela war restlos glücklich. „Was machen wir jetzt?“, fragte sie und nahm gleich wieder Zacharias in Beschlag, indem sie an seinen Haaren herum zupfte. Typisch kleine Mädchen, immer diese Faszination bei langen Haaren. „Verrücktes Labyrinth spielen“, schlug ich unschuldig grinsend vor. „Ach nee“, beschwerte sich Clemens, der das Spiel nicht mochte, weil man dabei zu viel nachdenken musste. Nicht so sein Fall. „Du willst nur nicht, weil du meistens verlierst“, zog ich ihn auf. „Wenn wir das machen, spielen wir später Fußball.“ „Und schießen dabei aus Versehen deine Schwester ab. Nein, lass mal.“ In Wirklichkeit war ich einfach zu faul für Sportaktivitäten aller Art, aber das wusste Clemens sowieso. Allerdings war die Sorge um Manuela nicht unbegründet, Clemens besaß manchmal das Talent, unabsichtlich alle Leute in seiner Umgebung mit einem Ball zu treffen. Mich natürlich auch. „Entscheidet euch mal“, begann Manuela zu nerven und versuchte Zacharias' Haare zu einem Zopf zu flechten, was ihr nicht gelang. Am Ende stimmten wir drei zu eins für das anspruchsvollere Spiel – Clemens fühlte sich von uns allen ziemlich verarscht – und teilten die Gruppen ein, da wir Manuela nicht allein spielen lass wollten und Clemens sicher irgendwann wegen Überforderung gestreikt hätte. Mein Freund und ich angelten uns den blauen Stein, Manuela und Zacharias den roten und eine vollkommen unübersichtliche Runde startete, bei der gegen Ende eigentlich niemand mehr durchblickte und es in einem von beiden Seiten begrüßten Unentschieden endete. „Mann, war das bekloppt“, seufzte Clemens tief und machte sich auf dem Boden breit. „Manuela, du kannst dich doch für den restlichen Tag selbst beschäftigen, stimmts?“ Natürlich wusste er schon die Antwort – nämlich nein –, aber er wollte heute noch etwas mit mir und Zacharias unternehmen, war auch verständlich. „Nein, ich will nicht“, nörgelte sie und zog währenddessen so stark an Zacharias' Haaren, das dieser erschrocken aufschrie. „Ich bleib hier!“ „Komm, Manuela, du kannst doch ein Bild malen“, probierte ich meine schwach entwickelten Überredungskünste an ihr aus, allerdings blieb sie störrisch an Zacharias kleben, als wäre er eine ihrer Puppen und würde ganz allein ihr gehören. Irgendwie regte mich der Gedanken auf, immerhin war er Clemens‘' und nicht Manuelas Brieffreund. Konnte sie überhaupt schon schreiben? Sicher nicht. „Ich weiß, was wir machen könnten“, rief sie plötzlich, flitzte davon und kehrte keine Minute später zurück. Mit einer Bürste und Unmengen von Haarspangen. „Als ob wir Ahnung von Frisuren haben“, brummte Clemens missbilligend, doch seine Schwester achtete gar nicht auf ihn, stellte sich hinter Zacharias und begann eher schlecht als recht dessen Haare zu kämmen. Mir kam ein gemeiner Verdacht und unfreiwillig musste ich lachen. „Nicht schon wieder“, seufzte Zacharias, als ihm die erste Spange ins Haar geklipst wurde. Trotz seiner Abneigung gegen seltsame pinke Dinger ließ er Manuela gewähren, während Clemens und ich stumm vor uns hin grinsten. Er hätte uns fast schon leid tun können, aber auch nur fast, denn so mussten wir beide nichts Weiteres tun außer herum liegen, zusehen und den Anblick genießen. Und Manuela wurde ausreichend beschäftigt. „Du wärst bestimmt ein tolles Mädchen“, schwärmte sie Zacharias vor, worauf dieser entsetzt das Gesicht in den Händen vergrub. Anscheinend empfand er es nicht als Kompliment, aber welcher Junge wollte schon als Mädchen bezeichnet werden? „Sollen wir ihm ein Kleid von Mama anziehen?“, schlug Clemens böse grinsend vor und ich starb beinahe an einem Lachanfall. Auf was für Ideen der Junge manchmal kam, echt beängstigend. „Ja, und dann spielen wir 'Vater, Mutter, Kind‘“, rief Manuela fröhlich, verpasste Zacharias noch zwei kümmerliche Zöpfchen und rannte gleich davon, um den Kleiderschrank ihrer Mutter zu plündern. „Was hats du getan?“, jammerte Zacharias und zupfte an der merkwürdigen Konstruktion auf seinem Kopf herum. „Irgendwann schneid ich mir die Haare ab, damit man mich nicht ständig verweiblicht.“ „Nein, die schönen Haare“, rutschte es mir ungewollt heraus, denn ich fand sie wirklich zu schön, um sie wegen anderer Menschen einfach zu kürzen. „Die schneidest du auf keinen Fall ab, sieht sonst sicher schrecklich aus.“ „Was für ein Kompliment. Pass auf, Percy, sonst bewirft er dich aus Rache mit Zahnstochern.“ Clemens machte sich wieder lustig über mich, wie so oft, aber daran hatte ich mich gewöhnt, außerdem tat ich das selbst generell bei ihm. „Ich hab eins gefunden!“ Stolz auf sich und ihren Modegeschmack hielt Manuela Zacharias ein rosafarbenes Trägerkleid mit schwarzem Blumenmuster unter die Nase. „Anziehen!“ „Nein, ich bin doch kein Mädchen“, wehrte er sich heftig, allerdings ließ sie nicht locker, bis er sich sein T-Shirt aus- und das Kleid anzog. „Na toll. Das sieht dämlich aus“ Allein die Miene war fotoverdächtig. „Jetzt spielen wir“, bestimmte Manuela. „Du bist Mama und Percy ist Papa.“ „Wieso denn?“, krächzte ich entsetzt. Also dadurch fühlte ich mich dann doch etwas überrumpelt. „Weil mein Bruder nicht mein Papa sein kann.“ Für sie schien das völlig logisch zu klingen; dass ihre Mutter aber kein Junge war, störte sie in keinster Weise. Einverstanden zeigte ich mich mit ihrer Entscheidung nicht. „Als könnte Percy und ich zusammen Kinder bekommen“, murmelte Zacharias und schüttelte den Kopf. „Das will ich sehen.“ „Ihr könnte es ja mal versuchen“, schlug Manuela kichernd vor und Zacharias wurde schlagartig blass, Clemens schaute seine Schwester erstaunt an und ich fühlte mich sehr verarscht. Woher hatte sie solche Gedanken? „Keine Aufforderung zu sexuellen Handlungen. Außerdem wird Zacharias selbst in 100 Jahren nicht schwanger werden, egal ob er mit Percy schläft oder nicht.“ „Clemens, hör auf mit dem Schrott, so genau brauchte es deine Schwester nicht zu wissen.“ Ich piekte Zacharias in die Seite. „He, geliebte Ehefrau, alles wird gut. Deine Tochter ist nur ein wenig neugierig.“ „Ihr seid alle gestört. Ich bin nicht weiblich!“ Er diskutierte noch eine Zeit lang herum, bis ihm nichts mehr einfiel und Manuela ihre Willen durchsetzte. Wir spielten 'Vater, Mutter, Kind', obwohl keiner von uns dreien wirklich Lust darauf hatte. Es verlief angenehm harmlos, doch dann kam Manuela wieder auf dumme Gedanken. „Küsst euch.“ „Nein, danke“, lehnte ich sofort ab, „mach ich ganz sicher nicht.“ Als ob ich nichts Besseres zu tun hatte, als mich durch ihre Kommandos zum Affen zu machen. „Komm Percy, dann wirkt es authentischer“, stichelte Clemens gehässig, „ihr bekommt dafür auch ein Eis.“ Clemens uns seine Bestechungsversuche. „Wenn es sein muss.“ Dumm, dass er wusste, wie gerne ich Eis aß. Da nahm ich dann auch mal so etwas in Kauf. Es war ja nur ein Spiel. Ich legte einen Arm um Zacharias' Schulter, schloss vorsorglich die Augen und küsste ihn ganz vorsichtig auf den Mund. Zuerst schreckte er zurück, aber dann erwiderte er zögerlich. Es fühlte sich seltsam, allerdings nicht unangenehm, an, ich hatte es mir wesentlich schlimmer vorgestellt. Seine Haare strichen leicht an meinem Hals entlang, das mochte ich irgendwie. „Ihr könnt langsam wieder aufhören“, riss uns Clemens' Stimme aus der höchst interessanten Situation. Anscheinend hatten wir durch diese neue Erfahrung gerade völlig das Zeitgefühl verloren. Sehr peinlich. „Gut, wo ist mein Eis?“ Nicht, dass mein Freund das noch zufällig vergaß, für diese Aktion wollte ich eine Belohnung; meine Lippen kribbelten nämlich immer noch leicht. Hoffentlich war das normal, ich kannte mich in solchen Dingen nicht aus. „Kommt gleich, Percy“, versprach Clemens und ging in dem Keller, um die gewünschte Süßspeise zu bringen. Cooler Service. „Was ein Theater.“ Zacharias entfernte die gewöhnungsbedürftige Frisur, streifte das Kleid aus und stattdessen wieder sein T-Shirt über. Er warf mir einen kurzen Blick zu. „Hat es dir wenigstens gefallen?“ „Hä?“ Okay, solche Fragen wollte ich wirklich nicht gestellt bekommen. „Vergiss es, nicht so wichtig“ Er probierte, seine Haare einigermaßen glatt zu bekommen, und fand dabei eine letzte Klammer. Ärgerlich zog er sie heraus und schnipste sie zum Rest, der vor ihm lag. „Hier, euer Essen.“ Clemens stellte uns zwei Schalen Vanilleeis vor die Nase und legte zwei Löffel daneben. „Du willst sicher auch welches, Manuela, oder?“ „Ja!“ quietschte sie vernehmlich. „Aber mit Schokosträuseln.“ „Du und deine Sonderwüsche“, grummelte Clemens, tat ihr aber den Gefallen und fünf Minuten später verputzen wir alle genüsslich unser Eis. Für Manuela sogar mit den Sträuseln. Kurze Zeit darauf kamen Clemens' und Manuelas Eltern zurück und wir drei konnten endlich etwas allein unternehmen – Playstation zocken. Und natürlich erzählten wir dabei irgendwelche intelligenten Sachen, sonst wäre es ja langweilig. Gegen sieben Uhr gab es Abendessen und danach fiel mir auf, dass ich theoretisch bald nach Hause gehen musste. Was ich überhaupt nicht wollte, dort lauerte wieder das öde Dasein, auf das ich für ein paar Stunden gerne verzichtete. „Du kannst hier gerne übernachten. Oder hast du was dagegen, Zach?“ Dieser verneinte und ich nahm das Angebot freudig an. Besser als zuhause vor dem Fernseher zu vergammeln und Chips in sich hineinzustopfen. Davon wurde man nur fett und frustriert. „Gut, dann holst du dein Zeug und wir warten auf dich“, entschied Clemens und begann auf dem Boden liegende Gegenstände aufzuräumen, damit mir nicht im endlosen Chaos unser Lager aufschlagen mussten. Ich lief in Rekordzeit nach Hause, packte alles Nötige in eine Tasche und kam noch einer halben Stunde wieder. Clemens und Zacharias hatten sich schon auf Clemens' Bett gepflanzt, führten irgendwelche tollen Gespräche über Fußball – unglaublich spannend – und knabberten Salzstangen. Zum Glück wechselten sie bald das Thema; Clemens schwärmte von Karola, ich regte mich über unsere Geschichtslehrerin auf und Zacharias saß schweigend daneben und hörte zu. „Los, erzähl mal was von dir“, drängte ich ihn, weil ich langsam auch etwas über ihn erfahren wollte. Immerhin wusste er nun, wie ich meine Geschichtslehrerin fand. „Was denn? Es gibt nichts Spannendes“, behauptete er, doch ich ließ nicht locker. „Keine Ahnung, hast du vielleicht eine Freundin, von der du erzählen könntest?“ Unvermittelt fing Clemens an zu lachen und konnte gar nicht mehr aufhören. „Was soll daran so lustig sein?“, fragte ich beleidigt und schaute ihn gespielt böse an. Woher sollte ich wissen, dass er anscheinend keine Freundin hatte? Und außerdem war das nicht so lustig, dass man deswegen fast vom Bett fiel und dezent über den Boden kugelte. „Ach nichts“, meinte mein Freund schnell und lachte weiter. „Ich hole kurz für uns was zu Trinken, bin gleich wieder da.“ Er verließ erneut den Raum und ließ mich mit Zacharias allein. Eine gute Gelegenheit, ihm ein paar Fragen zu stellen. „Was war an meiner Frage so lustig?“ Das interessierte mich wirklich gewaltig. So bescheuert war sie echt nicht gewesen. „Naja, ich hatte noch nie eine Freundin und werde auch in nächster Zeit keine haben.“ Damit schien für ihn die Sache erledigt zu sein. „Ja und? Aber deshalb wird Clemens sicher nicht vor Lachen sterben.“ Ich kannte meinen besten Freund gut genug, um zu wissen, dass er eigentlich nie grundlos lachte. Er war ja kein Mädchen. Hoffte ich, vielleicht hatte er mir was verschwiegen. „Weiß nicht“, wich Zacharias mir deutlich aus, erweckte damit allerdings nur noch mehr meine Neugier. „Und was sollte die Frage von vorhin?“ Wenn schon ausfragen, dann richtig. „Ich habs doch gesagt, vergiss es.“ Ich bekam wirklich die bestens Antworten. „Dann halt nicht.“ Ihn zwingen konnte ich nicht, vielleicht ging ich damit morgen Clemens auf den Geist, dann war ich bestimmt schlauer. Nur kam dieser im Moment nicht bei; entweder war er die Treppe hinunter gefallen oder hatte sich auf dem Weg zur Küche verlaufen. Beides wäre möglich gewesen. Konnte der sich vielleicht mal beeilen? Nun, da ich praktisch nichts tat, schlug die Müdigkeit zu, genau wie bei Zacharias, der schläfrig den Kopf gegen die Wand gelehnt hatte und gähnte. Seltsam, dass es erst halb elf war, mir kam es viel später vor. Eigentlich hätte ich langsam Clemens suchen müssen, doch dazu fühlte ich mich viel zu matt. Konnte jemand anderes für mich übernehmen. Zacharias' Kopf sank auf meine Schulter und wieder kitzelte mich etwa an meiner Wange, was mich sofort an heute Nachmittag erinnerte. Und das bis dahin unbekannte Gefühl bei unserem Kuss. Ich sollte besser an etwas anderes denken, auch wenn sich das als schwierig gestaltete, weil sozusagen die Ursache dafür mich als Kopfkissen benutzte. War meine Schulter so bequem? Wusste ich gar nicht. „Was macht ihr denn da Schönes?“ Clemens stand mit drei Gläsern Saft auf einem Tablett in der Tür und musterte uns belustigt. Hatte ihm jemand was ins Essen getan oder weshalb grinste er fast pausenlos? „Wir schlafen, weil du eine lahme Schnecke bist“, erklärte ich ihm freundlich und fixierte eins der Gläser. „Lass mal rüberwachsen, ich kann gerade nicht aufstehen.“ „Sehe ich.“ Er drückte mir das Getränk in die Hand, stellte das Tablett auf den Schreibtisch und nahm sich eins der verbliebenen Gläser. „Und, seid ihr beiden endlich glücklich zusammen?“ „Von was redest du?“ Wer war das und was hatte er mit meinem Freund gemacht? Von Clemens würde ich nicht erwarten, dass er mich mit einem Jungen verkuppeln wollte, schon gar nicht mit seinem Brieffreund. Das klang ziemlich schräg. „Mann, Percy, bist du blind oder was? Hast du nicht gemerkt, dass Zacharias voll in dich verknallt ist?“ Seufzend stellte Clemens das Glas auf den Boden. „Hä?“ Mich zu so einer Stunde mit solchen Tatsachen zu bombardieren grenzte beinahe an Unverschämtheit. „Woher sollte ich das wissen? Und wieso sollte er, er kennt mich doch erst seit sechs Stunden.“ „Du warst vorhin eine halbe Stunde weg, da hat er es mir gestanden. Aber auch nur, weil ich ihn sowieso schon durchschaut hatte.“ Eigentlich müsst ich in irgendeiner Weise schockiert sein, theatralisch durch die Gegend rennen oder Ähnliches tun, nur um das Klischee zu wahren. Allerdings war ich erstens zu müde und zweitens fand ich den Gedanken nicht so schrecklich, dass ich fluchtartig verschwinden wollte. Musste ich mir nun Sorgen machen? „Naja, wenn ihr beide so müde seid, gehen wir am besten alle ins Bett, hat ja keinen Sinn“, fand Clemens, schaffte zwei Matratzen herbei und suchte Bettbezug zusammen. Auf das Thema mögliche Beziehung zwischen mir und Zacharias wollte er nicht mehr eingehen. Vorsichtig stupste ich Zacharias in die Seite, damit ich mich endlich hinlegen konnte. Einfach aufstehen wäre dreist gewesen, zum Schluss hätte er sich den Kopf am Bettgestell angeschlagen. „Was?“ Er setzte sich benommen auf. „Scheiße, bin ich eingepennt?“ Verwirrt suchte der den Raum nach einer Uhr ab. „Irgendwie schon, aber wir sind eh alle müde.“ Clemens gähnte demonstrativ und steckte mich natürlich auch an. Wenig später lag ich auf der für mich bestimmten Matratze, kuschelte mich in die Decke und hoffte schnell einzuschlafen. Neben mir raschelte Zacharias noch eine Zeit lang herum und auch Clemens wurde nicht sofort still. Doch irgendwann bekam ich das nicht mehr mit. Am nächsten Morgen lag Clemens auf Zacharias' Matratze und hatte den ehemaligen Besitzer so weit abgedrängt, dass dieser nun direkt neben mir schlief und seine Arme um mich geschlungen hatte, weil ich aus Platzgründen halb auf ihm gelegen hatte. Seltsame Position, seltsame Situation. Vorsichtig befreite ich mich aus Zacharias' Umarmung und blickte auf die Uhr. Fast zehn, wir sollten bald aufstehen, sonst verpassten wir den halben Tag. Nach zehn Minuten hockten wir zu dritt am Frühstückstisch und löffelten Müsli, während Manuela um uns herum wuselte und mit uns spielen wollte. Aber da wir sie geschickt ignorierten, ließ sie es bald bleiben und wir widmeten uns bis zum Mittagessen der Playstation. Von Gesellschaftsspielen hatten wir nämlich die nächstens Fünf Jahre genug. „Was habt ihr denn für den restlichen Tag geplant?“, fragte Clemens' Mutter, als sie jedem einen Teller Spaghetti vor die Nase setzte. „Keine Ahnung, wir werden schon was finden“, meint Clemens selbstsicher. „Geht doch mal nach draußen, es ist so schönes Wetter.“ Der typische Standardsatz von Erwachsenen, wenn sie nicht wollten, dass ihre Kinder den Tag drinnen vor elektronischen Geräten hingen. Nach dem Essen scheuchte sie uns tatsächlich in den Garten, wo wir ein wenig verloren standen und dem Gras beim Wachsen zusahen. Nicht besonders spannend. „Also eigentlich können wir alles machen außer Fußball spielen“, stellte ich gleich klar, da ich einfach zu faul und zu schlecht dafür war. „Und alles andere, wobei man sich bewegen muss, stimmt?“ Natürlich ahnte Clemens, was ich dachte, er kannte mich zu lange. „Ich bin zusätzlich gegen intellektuelles Zeug wie Blätterzählen und so, versteht sich ja von selbst.“ „Spielen wir Verstecken“, schlug Zacharias vor. „Ist zwar eher für Kinder in Manuelas Alter gedacht, aber es ist weder anstrengend noch muss man viel denken. Das wollt ihr doch unbedingt.“ Da Verstecken immer noch besser als Nichtstun klang, wurde ich als Erster zum Suchenden erklärt, zählte einmal bis 50 und begann dann meine Aufgabe, den Garten zu erkunden. Clemens fand ich unter dem Gartentisch und Zacharias hinter einem Rosenbusch. Beides keine besonders ausgewählten Verstecke, so machte das gar keinen Spaß. Doch leider musste ich feststellen, dass ich selbst kein Besseres fand. Die Büsche waren noch nicht hoch genug, auf die Bäume klettern wollte ich nicht und der winzige Teich erschien mir auch eher unpraktisch, um sich selbst dort drin effizient zu versenken. Aber wo sonst? Unerwartet wurde ich an der Hand gepackt und in das kleine Gartenhäuschen gezogen. Stimmt, das gab es ja auch noch, hatte ich völlig übersehen, es war zu zugewuchert. Dort drinnen herrschte ein beruhigendes Halbdunkel dank des extrem kleinen Fensters, allerdings war es hier ziemlich eng, weil so ziemlich alle Gartengeräte hier verstaut wurden. Draußen zählte Clemens von zehn abwärts und als ich nichts mehr hörte, nahm ich endlich wahr, dass ich immer noch Zacharias' Hand festhielt. Vielleicht sollte ich langsam loslassen, irgendwann reichte es auch mal. Vielleicht aber auch nicht, denn es fühlte sich wirklich angenehm an und verstärkte sich sogar, als er den Griff lockerte und behutsam mit seinen Finger an meinem Unterarm entlangfuhr. Auf einen unsicheren Blick von ihm antwortete ich mit einem zaghaften Nicken – einerseits war ich verdammt unsicher und andererseits so neugierig –, worauf er sich zu mir beugte und mir einen Kuss auf die Wange gab. Interessante Beschäftigung in einem Gartenhäuschen, musste man zugeben. Darauf wäre ich nicht gekommen. Trotz meiner Nervosität schaffte ich es, Zacharias auch einen Kuss zu verpassen, allerdings auf den Mund. Das Kribbeln setzte wieder ein, stärker als vorher. „Ich störe ja nur ungern, aber ich hab euch gefunden.“ Clemens stand im Türrahmen, wahrscheinlich schon längere Zeit; er beobachtete uns einfach nur, sein Blick zeigte aber, dass es für ihn kein Weltuntergang bedeutete, was er hier gerade miterlebte. „Oder soll ich wieder gehen?“ Was für eine ungewohnte Diskretion von seiner Seite, damit hätte ich nicht gerechnet. „Nein, ist schon in Ordnung.“ Ich löste mich von Zacharias und half ihm beim Aufstehen. Seine Hand in meiner fühlte sich unglaublich gut an, dagegen hätte ich nichts einzuwenden, wenn es öfter vorkam. „Können wir wieder reingehen? Das Spiel hat seinen Sinn erfüllt.“ Zacharias wollte ich mich kaum loslassen, seine Finger hatten sich fast wie selbstverständlich um meine geschlossen. „Zum Glück, sonst hätte ich noch irgendwelche Verkupplungsversuche benutzen müssen, die sicher wesentlich unromantischer gewesen wären“, meinte Clemens grinsend und lotste uns wieder ins Innere des Hauses. Irgendwie war es seltsam, so nah bei Zacharias zu liegen und gleichzeitig Clemens dabei zu lauschen, wie er sich über irgendwelche alltäglichen Dinge wie überteuerte Kaugummis im Supermarkt aufregte. Das eine war mir so vertraut, das andere so fremd und zusammen erschien es ganz merkwürdig. Was nicht bedeutete, dass ich es schlimm fand, ich musste mich nur daran gewöhnen. Genau wie Clemens, dessen besten Freunde sich plötzlich nicht nur kannten, sondern auch kaum die Finger von einander lassen konnte. Aber was konnte ich dafür, dass Zacharias' Haare nun ebenfalls eine solche Anziehungskraft auf mich ausübten? Doch der Zeitpunkt, den ich die ganze Zeit gefürchtet hatte, rückte immer näher. Der Abschied von Zacharias. Warum musste er auch so weit weg wohnen? „Percy, beruhig dich“, redet Clemens mir gut zu, während ich fast an dieser Tatsache verzweifelte. „Ihr könnt euch E-Mails schreiben und so ein Zeug. Wofür hat man das Telefon erfunden? Außerdem sind bald Ferien, dann könnt ihr euch öfter sehen als nur am Wochenende.“ „Na und?“, nervte ich theatralisch und stach mit einem Löffel in mein Eis hinein, um es symbolisch zu töten. Ich hatte im Moment ein Recht, mich kindisch zu benehmen, und das nutzte ich aus. Ich wollte Zacharias bei mir behalten; ihn in mein Zimmer einsperren und nie wieder raus lassen, oder so was in der Richtung. Auf jeden Fall ihn nicht in sein weit entferntes Kaff zurückreisen lassen. Bevor ich allerdings weiter den Anwesenden mit meinen Sonderwünschen auf den Keks gehen konnte, klingelte es an der Haustür; wahrscheinlich Zacharias' Eltern, die ihren Sohn abholen wollten. Na toll. Konnten die nicht einfach wieder verschwinden und ihm hier sein neues Zuhause einrichten? „Und wehe, du schreibst mir nicht“, murmelte ich Zacharias ins Ohr, nachdem ich ihn umarmt und nur mit großer Anstrengung mein Bedürfnis unterdrückt hatte, ihn zum Abschied noch einmal zu küssen; ansonsten wären seine Eltern doch ziemlich schockiert. Zum Schluss ließen sie ihn gar nicht mehr her und dann drehte ich definitiv ein wenig durch. „Wird er nicht, ich werde ihn oft genug daran erinnern“, versprach Clemens. „Zur Not mache ich Telefonterror bei ihm. Oder geb dir seine Nummer, dann kannst du mir helfen.“ Und ob ich das tun würde. Als ich wieder allein in meinem Zimmer saß, fühlte ich mich irgendwie einsam, aber ich wusste, dass ich in spätestens drei Stunden etwas von ihm hören würde, immerhin hatte ihn der Abschied ebenfalls mitgenommen. Zwar hatten wir uns nicht irgendwelche kitschigen 'Ich liebe dich' s zugerufen – wäre auch deutlich zu früh und gegen meinen gesunden Menschenverstand gewesen –, aber das da mehr war, merkte wohl jeder. Vor allem ich; so etwas in der Art hatte ich mit Sicherheit noch nie gespürt, darauf verwettete ich meinen nicht existenten Laptop. Und wenn er sich in meiner Gegenwart auch so wohl fühlte wie in meiner, konnte in nächster Zeit mein Verbrauch an Bahntickets, Handykarten und freier Zeit im Internet ziemlich ansteigen. Und ich wäre verdammt stolz dadrauf. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)