Die Geschichten Von Säulenheym von Schilly ================================================================================ Kapitel 2: Gesucht ------------------ In den Straßen von Porydia war es so ruhig wie eh und je. Das war nicht verwunderlich, denn es war kurz vor Mitternacht und Porydia war die Hauptstadt der Elfen. Und dieses Völkchen hielt nicht viel davon den Feierabend damit zu verbringen sich dem Alkohol hinzugeben, zu gröhlen und sich dann den Oberkörper frei zu machen um auf dem nächstbesten Tisch zu tanzen. Und nur selten endeten die Feierabende eines Elfen damit, dass man mit mehreren Schnittwunden und einem blauen Auge in einer Seitengasse lag. Nein, in Porydia ging man pünktlich zum Sonnenuntergang ins Bett. Natürlich erst, wenn man sich die Zähne geputzt hatte. Und so kam es das niemand beobachtete wie die unbekannte und völlig vermummte Gestalt betont lässig die Hauptstraße hinunterging. Nun, zumindest versuchte sie lässig zu wirken. Doch eigentlich sah es so aus, als ob sie für einen aufrechten Gang nicht geschaffen worden war. Jeder Schritt war so ausladend, als ob sie damit sagen wollte: „Seht mich an, ich bin hier. Macht gefälligst Platz!“ Doch wenn sie den Fuß auf die Erde setzte entpuppte sich der Schritt als denkwürdig kurz. Eigentlich sah die Gestalt nur lässig aus, weil ihr viel zu langer Körper beim Gehen schlängelte. Die Gestalt zog sich den großen Hut tief ins Gesicht und rückte ihren Mantel zurecht, so dass man dazwischen nur noch einen bedrohlichen Schatten sehen konnte. Sie wußte genau, dass sich das für einen Kopfgeldjäger so gehörte. Und sie war ein Kopfgeldjäger. Da war sie sich fast sicher. Doch ihr fehlte etwas. Leider hatte sie sich nicht getraut am hellichten Tage so über die Straßen zu wandern, denn da waren ihr zu viele Leute auf den Straßen gewesen. Und jetzt waren eindeutig zu wenig Leute da. Sie hätte sich gewünscht das Mütter ihrer Kinder zurückzogen, wenn sie vorbeiging und das Händler schnell ihre Straßenläden schloßen, wenn sie zu Nahe kam. Doch jetzt war niemand mehr hier. Wenn sie doch bloß nicht so verdammt schüchtern wäre. Die Gestalt ließ ein Paar Schultern hängen, die anatomisch gesehen viel zu weit oben saßen. Nicht einmal ein runder Dornenbusch rollte für sie vorbei. Sie seufzte. Und blickte sich dann um. Die weißen Häuser die die Hauptstraße säumten und fast schon absurd sauber waren, starrten zurück. Nichts regte sich. In keinem einzigen Fenster war Licht zu sehen. Doch gerade als die Gestalt sich frustriert umdrehen wollte entdeckte sie einen schmalen Streifen Licht. Sie wußte nicht genau warum sie sich den Stoß gab, aber sie entschloß sich darauf zuzuwanken. Das Licht entpuppte sich als eine kleine Kellerkneipe, in der tatsächlich noch Betrieb herrschte. Über der Tür hing ein Schild auf der mit der für Elfen üblichen Schnörkelschrift „Idas Hütte“ stand. Die Gestalt hatte Mühe die Treppen hinunterzusteigen, denn die Stufen waren für ihre kurzen Beine viel zu hoch. Doch irgendwie schaffte sie es ohne umzufallen. Sie öffnete die weiße Tür und trat ein. Die Kneipe war ziemlich dreckig. Zumindest wenn man den Maßstab eines Elfen anlegte. Anders als in normalen Elfengebäuden bestand hier nicht alles aus Marmor oder wurde mit der Farbe Weiß geschmückt. Stattdessen war der Keller mit altem Holz verkleidet und urige Barhocker, Tische und Stühle standen überall herum. Eine Theke nahm die gegenüberliegende Wand ein. Für nichtelfische Verhältnisse eine ganz normale Kneipe. Wie es in Situationen in denen ein völlig fremdes Individuum eine fremde Kneipe betrat üblich war wurden sofort alle Gespräche eingestellt und alle Blicke wandten sich zur Tür. Einen Moment überlegte die Gestalt einfach umzudrehen und zu flüchten. Doch als das allgemeine Gemurmel wieder einsetzte fand sie genug Mut hineinzutorkeln. Diese Kneipe schien ein Zufluchtsort für alle Nichtelfen zu sein, denn überall saßen nur Menschen, Zwerge oder Oger herum. Die Gestalt schlängelte sich einmal quer durch den Raum und erreichte die Theke ohne mehr als ein halbes Dutzend Leute anzustoßen. Mit einiger Mühe hievte sie sich dann auf einen der hohen Hocker, was ihr sichtlich Mühe bereitete. Das lag daran das ihr Hintern viel zu weit unten zu sein schien. Ida, die bärbeißige Wirtin dieser Kneipe, zog die Augenbraue über ihrer Augenklappe nach oben und begutachtete ihren neuen Gast mit einem abschätzenden Blick. Erst dann ging sie auf ihn zu. Ganz wie es die Zunft verlangte. „Was kann ich für dich tun?“ „Ich hätt gern...“ Die Gestalt unterbrach sich als sie sich daran erinnerte, dass sie ihre Stimme verstellen musste. Sie war so hoch, dass es dem Zuhörer in den Ohren klingelte. Die Gestalt räusperte sich und sprach dann in betont tiefer Tonlage. „Ich hätt gern ein Getränk.“, sagte sie dann. Auch die andere Augenbraue der Wirtin setzte sich langsam in Bewegung. „Und was genau möchtest du für ein Getränk?“, hakte sie nach. „Das darf ich mir aussuchen, ja?“ „Natürlich.“ Den hochgezogenen Augenbrauen gesellte sich eine gerunzelte Stirn hinzu. „Ah. Dann hätt ich gern ein Mineralwasser.“ Die Wirtin zuckte mit den Schultern und begann damit ein relativ sauberes Glas mit Sprudel zu füllen. Gespannt stellte sie es vor den seltsamen Gast. Die Gestalt versuchte nach dem Glas zu greifen und merkte schnell, dass ihre Arme dafür zur kurz waren. Einige Sekunden wand sie sich wie ein Wurm auf dem Hocker, dann gab sie auf. „Haben Sie vielleicht einen Strohhalm?“ Die Wirtin steckte schweigend einen Strohhalm in das Glas. Die Gestalt trank. „Danke“, sagte sie dann. „Du kommst nicht von hier, oder?“, sagte Ida. Sie hatte schon längst damit begonnen ein Glas mit einem alten speckigen Tuch zu putzen, das dadurch eigentlich nur noch dreckiger wurde. Doch das war nunmal das, was Wirte machten, wie sie sonst nichts machten. „Nein. Ich komme aus dem Süden.“ „Sind dort alle so wie du?“ „Viele. Na ja, eigentlich ist dort keiner so wie ich, wenn ich so darüber nachdenke.“ „Du meinst zu kurze Arme? Den Hintern einen halben Meter zu tief am Körper?“, fragte die Wirtin höflich. „Die kurzen Beine nicht zu vergessen. Aber nein, das meine ich eigentlich nicht. In gewisser Weise sind im Süden viele so wie ich. Körperlich. Aber geistig...“ „Du bist ein Gelehrter?“ „Nein.“ Die Gestalt versuchte ihrer Stimme einen gewissen Charme hinzuzufügen, was ihr nicht gelang. „Ich bin Kopfgeldjäger.“ Die Wirtin schwieg, denn so wie ihr Gast das Wort Kopfgeldjäger ausgesprochen hatte kam es ihr vor als würde er sich über eine dramatische Pause freuen. „Und?“, sagte sie dann in einem Tonfall, den Patentanten gerne benutzten, „Kann man davon leben?“ „Ich bin noch nicht tot.“, stellte die Gestalt sachlich fest. „Das ist ein Argument. Aber bist du für einen Kopfgeldjäger nicht viel zu... höflich?“ „Findest du? Ich meine, muss man als Kopfgeldjäger unhöflich sein?“ Die Wirtin zuckte mit den Schultern. „Es ist eher selten das sich hier ein Kopfgeldjäger einfindet. Ich meine: Wir sind hier in Porydia. Was macht man als Kopfgeldjäger in Porydia?“, sagte sie. „Köpfe jagen...?“, gab die Gestalt unsicher zurück. „Scheinst nicht viel Ahnung zu haben, was?“ Ein Oger stampfte hinter der Gestalt vorbei und stieß ihm unsanft in den Rücken. Sein breitkrempiger Hut rutschte zur Seite und entblößte das Gesicht des Kopfgeldjägers. Die Wirtin schnappte unwillkürlich nach Luft und wich zurück. Auch andere Gäste stießen einen überraschten Laut aus. So schnell es seine seltsamen Arme zuließen setzte er sich seinen Hut wieder auf. „Du... Du bist ein...“, stammelte die Wirtin. „Pscht! Sprich es nicht aus!“ „Aber du bist... aber wie...? Das kann doch nicht sein.“ „Sei gefälligst still!“, zischte der Kopfgeldjäger. „Du bist ein Krokodil!“ Der Kopfgeldjäger seufzte. Sie hatte es tatsächlich ausgesprochen, obwohl er sie zweimal darum gebeten hatte still zu sein. Ihm war bewußt das er kein Mensch war. Und diese Tatsache störte ihn seit er denken konnte. „Ein Alligator.“, berichtigte er niedergeschlagen. Es kam selten vor, doch Idas Mund stand weit offen und sie wußte nicht so recht, was sie dazu sagen sollte. Nach einigen Sekunden schloß sie ihren Mund, zuckte mit den Schultern und kam zu dem Schluß das sie schon seltsamere Dinge gesehen hatte. Warum sollte ein Aligator auch nicht Kopfgeldjäger sein? „Entschuldigen Sie.“, erklang aufeinmal eine Stimme neben dem Kopfgeldjäger. Er drehte sich um und erkannte einen wirklich kleinen Menschen, der ein naher Verwandter einer Kartoffel zu sein schien. Alles an seinem Körper war klein, runzelig und hässlich. Er trug eine abgewetzte Latzhose und starrte mit zusammen gekniffenden Augen hoch. „Ihr seid ein Kopfgeldjäger?“, krächzte das Schrumpelmännchen mit so viel Respekt in der Stimme, das dem Alligator das Herz aufging. „Sehr wohl. Mein Name ist Xerxes Schattenklinge.“, gab der Kopfgeldjäger mit seiner verstellen Stimme zurück. Das war nicht sein richtiger Name. Aber er klang viel beeindruckender. „Mein Name ist Henri Kartoffelkopp.“, stellte sich der kleine Schrumpelmann vor. „Ich bin Bauer. Mein Hof liegt nahe den Wäldern im Osten von Porydia. Und ich bin in die Stadt gekommen in der Hoffnung jemanden zu finden, der mir helfen kann einen gefürchteten Verbrecher festzunehmen. Er hat mir etwas wichtiges geklaut.“ Xerxes Herz machte einen weiteren Sprung. Dieser kleine Mann wollte doch tatsächlich seine Hilfe beim Fangen eines Bösewichts. Und das, obwohl er ein Alligator war. „Was wurde entwendet?“, knurrte er, wie es sich für einen waschechten Kopfgeldjäger gehörte. Schade das er keinen Zahnstocher im Maul hatte. Das wäre vermutlich noch beeindruckender rübergekommen. „Mein wertvollster Besitz. Der wichtigste Gegenstand meines Lebens. Ich meine, ohne dieses Teil bin ich völlig aufgeschmissen. Es wiegt praktisch meinen ganzen Hof auf. Mit Geld nicht zu bezahlen. Wirklich wirklich wirklich wichtig.“, brabbelte Henri. „Das hört sich wirklich sehr wertvoll und wichtig an.“, bestätigte Xerxes fröhlich. Anscheinend hatte er einen ganz dicken Fisch an der Angel. „Also, was wurde geklaut?“ „Meine Brille.“ „Deine... deine Brille?“ „Ja, meine Brille. Runde Gläser, Gestell aus bestem Kupfer. Meine Brille.“ „Das... hört sich nicht so wertvoll an...“, meinte Xerxes. Das kleine Schrumpelmännchen zog die Augenbrauen hoch und formte mit seinem unförmigen Mund ein noch viel unförmigeres O. „Ohne die Brille bin ich aufgeschmissen. Ich sehe quasi gar nichts!“, erklärte er dann aufgeregt, „Was soll aus meinem Hof werden? Im Moment übernimmt der Nachbarjunge die Arbeiten auf meinem Hof. Aber ich kann ihn nicht ewig bezahlen.“ Was Henri Kartoffelkopp nicht ahnte war, dass er die Verantwortung über den Hof nicht dem Nachbarjungen sondern in seiner unerwarteten Blindheit einem seiner Kühe übergeben hatte, die dem Nachbarn fast zum Verwechseln ähnlich sah. Das völlig überraschte Rindvieh hatte während seiner Abwesenheit die Macht über den Hof übernommen und führte jetzt eine Rebellengruppe aus Hoftieren an, die gegen die Sklaverei wetterten. Aber das war eine andere Geschichte. „Oh.“, sagte Xerxes, weil ihm nichts besseres einfiel. Er war enttäuscht das es bei diesem Job nicht darum ging einen Hochkriminellen zu packen. Aber jeder fing mal klein an. „Und um welchen Verbrecher handelt es sich?“, fragte er schließlich. „Die Nachtigall.“, antwortete Henri. „Ah, ein leckeres Vögelchen. Nur schwer zu erwischen, die Biester.“ „Wie bitte?“ „Ach... Nichts.“ Henri begann in seiner Hosentasche zu kramen. Er zog ein zerknülltes Stück Papier heraus und strich es glatt. Dann reichte er es an Xerxes weiter. Es war eines der Wanted Poster, die in jeder gut sortierten Großstadt schmutzige Wände zierten. Unter der Überschrift „Gesucht“ war ein Bild, das ein Strichmännchen zeigte, an dessen Köpfen zwei Hörner zu beiden Seiten wuchsen. In der Hand hielt es ein Messer, wie es ein Sechsjähriger zeichnen würde. Darunter stand; „Die Nachtigall. Tod Oder Lebendig.“ „Das Bild ist nicht sehr gut.“, stellte Xerxes fest. „Findest du? Also ich finde es recht gelungen. Vor allem seine Haar. Wie beim Original.“ „Welche Haare? Ich dachte das wären Hörner.“ „Sieht wirklich gut aus.“, mischte Ida sich jetzt ein, „Muss vom porydianischen Phantombildmaler Gunnar Kritzelhand gemacht worden sein. Guter Bursche. Arbeitet für die Stadtwache. Einziger Zwerg da. Er hätte auch ein großer Künstler werden können.“ „Aber das ist nur ein Strichmännchen!“, ereiferte Xerxes sich. „Und du bist nur ein Alligator.“, entgegnete Ida in einem Ton, der zeigte dass sie Gunnar Kritzelhands Arbeiten sehr schätzte. Eine peinliche Pause entstand, in der sich die drei gegenseitig anstarrten. Ida starrte besonders grimmig und Henri so, als hatte er nicht ganz verstanden, worum es überhaupt ging. „Wie auch immer.“, sagte Xerxes und sprang etwas ungeschickt vom Hocker. „An die Arbeit!“, verkündete er und wankte davon. Zwei Stunden später befanden sich Xerxes und Henri auf einem kleinen Waldweg. Porydia lag schon eine Weile hinter ihnen und am Horizont erstreckte sich ein schmaler Streifen Dunkelheit, der Wald in dessen Nähe sich Henris Bauernhof befand. Sie hatten den ganzen bisherigen Weg über geschwiegen. Xerxes war viel zu aufgeregt um irgendetwas zu sagen. Es war sein erster Fall und er wußte nicht so recht was er machen musste. Er hatte keine Ausbildung genoßen oder sowas, alles was er über Kopfgeldjäger wußte war, dass sie besonders angesagt waren und ein ebenso hohes wie verruchtes Ansehen genoßen. Und das waren Dinge, die er auch wollte. In Idas Hütte hörte sich das alles noch spannend und gut an. Doch jetzt machte er sich Gedanken darüber, wer Nachtigall wirklich war. Auf dem Bild war er nur ein Strichmännchen gewesen. Aber wie sah er in Wirklichkeit aus? Vielleicht war er ein riesiger Muskelprotz oder vielleicht ein kleiner wendiger Messerstecher. Xerxes schluckte. Henri sagte nur deshalb nichts, weil sich seine Gedanken um Kartoffeln drehten und er in seinem Leben schon festgestellt hatte, dass sich andere Leute bei weitem nicht so sehr für Kartoffeln interessierten wie er. Deswegen bevorzugte er es unauffällig zu schweigen. Xerxes, der mit jedem Schritt nervöser wurde, brach nach einigen Minuten aber dann doch das Schweigen. „Wann sind wir da?“ Henri schüttelte sich als hätte ihn jemand aus einer tiefen Trance gerissen. „Ah. Oh. Was? Achso.“, sagte er und blickte sich um. Der Wald war inzwischen sehr nahe. Erste Ausläufe an dichten Laubbäumen liefen schon am Rand der Straße entlang. „Ah.“, sagte Henri noch einmal, „An meinem Bauernhof sind wir schon längst vorbei. Wir betreten gleich Nachtigalls Gebiet.“ „Was? Jetzt schon? Hier? Ich meine: Zu diesem Zeitpunkt?“ „Ganz genau.“ „Wir sind nur ein kleines Stück in den Wald gegangen. Was sag ich? Wir sind noch nicht einmal im Wald. Hier ist Nachtigalls Gebiet?“ „Ja. Er ist ein sehr bekannter Dieb. Es wäre doch sinnlos sich zu weit im Wald zu verstecken, oder? Dann findet einen ja keiner. Wie soll man ihn dann treffen?“ „Aber... Ich dachte immer das man Diebe nicht trifft, sondern verfolgt. Zu Tode jagen und so?“ Xerxes war verwirrt. Und seine Nervosität wurde noch schlimmer, als Henri über ihn lachte. „Ich rufe ihn jetzt.“, sagte der kleine Bauer plötzlich. „Warte noch, ich bin noch nicht...“ „Nachtigall, komm raus! Ich will meine Brille zurück!“ „...bereit.“ Xerxes zuckte zusammen und schaute sich verstohlen um. Jetzt war der Moment gekommen. Er musste seinen ersten Verbrecher schnappen. Vielleicht kam es sogar zum Kampf? Wie würde er sich schlagen? Nachtigall war bestimmt ein geübter Krieger. Als Dieb kam es bestimmt oft zu Kampfsituationen. Irgendwo raschelte es, was er zum Anlass nahm einen leisen Schrei auszustoßen. Irgendwo in den Baumwipfeln bewegte sich etwas. Und es war schnell und geschickt. Ein Schatten schoß durch einige Baumkronen und kam immer näher. Schließlich stieß er sich von einem Stamm ab und landete direkt vor dem Bauer und dem Kopfgeldjäger. Xerxes hatte sich hinter Henris Rücken geduckt und wagte es erst nach einigen Sekunden einen Blick auf Nachtigall zu werfen. Und er glaubte seinen Augen kaum. Ida hatte Recht gehabt. Gunnar Kritzelhand war ein begnadeter Künstler. Nachtigall war groß und schlank. Viel zu schlank, geradezu ein Strich in der Landschaft. Und sein Kopf war kugelrund mit einem Gesicht, dass aus drei Punkten und einem horizontalen Strich bestand. An den Seiten hingen zwei spitze Haarbüschel, die wie Hörner aussahen. Und in der Hand hielt er ein Schwert, das ein sechsjähriger Schmied hergestellt zu haben schien. „Hallo Nachtigall.“, sagte Henri im Plauderton. „Ah, du bist Henri Kartoffelkopp, richtig?“, sagte Nachtigall freundlich. Xerxes setzte sich verdutzt auf, als das Strichmännchen ein kleines schwarzes Notizblock hinter seinem Rücken hervorzauberte. Der Kopfgeldjäger wunderte sich wo er den Platz dafür gehabt hatte. Das Buch war dreimal so dick wie Nachtigalls Rücken breit. Der Dieb blätterte darin und las dann vor. „Henri Kartoffelkopp. Kundennummer 099, richtig? Ich habe dir letzten Dienstag ein Kupferrohr gestohlen, stimmts?“ „Meine Brille.“, berichtigte der Bauer ihn. „Das war eine Brille? Das erklärt die integrierten Fensterscheiben. Ich habe mich schon darüber gewundert.“ „Ich hätte sie jetzt gerne zurück.“ Nachtigall steckte das Notizbuch weg und schüttelte den Kopf. „Leider geht das nicht so einfach.“, sagte er und schwang beschwörerisch sein Schwert. Jetzt ging es los, dachte Xerxes sich. Jetzt würde Nachtigall gleich losspringen und sie angreifen um entkommen zu können. Und dann musste er ihn überrumpeln. Der Kopfgeldjäger spannte seine Muskeln an. „Ich habe einen Kopfgeldjäger dabei.“, sagte Henri ruhig. Xerxes hätte sich einen leichten bedrohlichen Unterton gewünscht, aber man konnte nicht alles haben. Nachtigalls Punktaugen glitten zum Kopfgeldjäger und zeigten leichte Überraschung. „Ach, wenn das so ist.“, sagte er dann. Nachtigall zog nun etwas hervor, das man als entfernten Verwandten einer Brille bezeichnen konnte. Es war ein Gestell aus Kupferrohren mit eingelassenen Backste inen aus Glas. Der Dieb kam damit näher. Xerxes Körper spannte sich. Doch Nachtigall reichte Henri die Brille einfach so zurück. „Was zum...?“ Nachtigall zog wieder etwas hinter seinem Rücken hervor. Es war ein Klemmbrett, an dem ein Stift und ein Zettel klemmte. „In Ordnung, hier ist das Formular beim Vorweis eines Kopfgeldjägers. Wenn du hier bitte unterschreiben würdest, Herr Kartoffelkopp.“ Der Bauer setzte sich seine Brille auf, wodurch seine kleinen Äuglein tausendmal vergrößert wurden. Er lächelte, als er die Welt wieder klar sehen konnte. Dann wandte er sich dem Klemmbrett zu und unterschrieb mit einer krakeligen Schrift. Xerxes schaute ihm völlig entgeistert dabei zu. Dann wurde ihm das Klemmbrett in die Hand gedrückt. „Nun müssen nur noch sie unterschreiben, Herr...?“ „Schattenklinge.“, murmelte Xerxes verwirrt, „Xerxes Schattenklinge.“ Er nahm den Stift und unterschrieb. Nachtigall nahm das Klemmbrett wieder entgegen und verstaute es hinter seinem Rücken. Er zog einen neuen Gegenstand hervor und Xerxes fragte sich wieder, wie zum Teufel er das anstellte. Der Dieb drückte dem Kopfgeldjäger einen kleinen Stoffball in die Hand, auf dem ein Smiley Gesicht prankte und kleine Strohhalme zwei kleine Hörner bildete. „Hier ist mein Kopf.“, sagte Nachtigall gewissenhaft. „War mir ein Vergnügen mit Ihnen Geschäfte zu machen, Herr Schattenklinge.“ Er verneigte sich. „Herr Kartoffelkopp.“ Noch eine Verneigung. Und dann verschwand Nachtigall wieder in den Baumwipfeln. Xerxes starrte entsetzt auf den kleinen künstlichen Kopf hinab. Existenzielle Fragen stellten sich in seinem Kopf. War das alles, was ein Kopfgeldjäger machte? Henri klopfte ihm irgendwann auf die Schultern. „Kommen Sie, Herr Schattenklinge. Ich werde ihnen ein ordentliches Bauernfrühstück machen. Es war eine lange Nacht.“, sagte er lächelnd. Der Kopfgeldjäger ließ sich den Weg hinunterleiten, aber sein Blick klebte auf dem kleinen künstlichen Kopf. Nach einer halben Stunde, der Bauernhof zeichnete sich schon in der Morgendämmerung ab, fand er seine Stimme wieder. „Was zum Geier ist dort im Wald passiert?“ „Sie haben ganze Arbeit geleistet, Herr Schattenklinge.“, sagte Henri. „Aber ich habe doch gar nichts gemacht?“ „Wieso? Sie haben erfolgreich einen Kopf gejagt. Niedliches Ding.“ „Aber der Dieb! Er hat Ihnen einfach die Brille zurückgegeben.“ „Ah, so einfach war das gar nicht. Ich musste ja erstmal einen Kopfgeldjäger auftreiben. Ganz schön schwer in Porydia einen zu finden. Ohne sie hätte ich meine Brille nie wieder bekommen.“ „Ich verstehe das alles nicht.“ „Jaja. Wirtschaft ist schon eine schwierige Sache, nicht wahr? Diese ganzen Formulare und Bedingungen. Diebe sind so schrecklich bürokratisch.“ „Gnblbeg...“, war das einzige, was Xerxes dazu sagen konnte. Sein Gehirn hatte sich soeben verabschiedet. Henri führte den Kopfgeldjäger über seinen Hof und wunderte sich über die vielen Plakate, auf denen Sprüche standen wie „Freiheit den Nutztieren!“ oder „Wir sind nicht nur leckere Würstchen, wir haben auch Rechte!“. Aber er ignorierte sie fürs Erste und geleitete Xerxes in sein Haus. „Herr Schattenklinge?“ „Hm...?“ „Hat Ihnen schonmal jemand gesagt, dass Sie aussehen wie ein Krokodil?“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)