Krieger der Winde von Silver-DragonX (Teil 1 - Der Gesetzlose) ================================================================================ Prolog: Prolog -------------- Die Trommelschläge klangen wie das Donnern eines Gewitters. Sie hallten in unseren Ohren wieder und lehrten uns die Angst vor diesen Kriegern, bevor wir sie überhaupt zu Gesicht bekamen. Gewiss, man hatte Geschichten über sie gehört, doch keine bereitete auch nur annäherungsweise auf das vor, was uns erwartete. Sie kamen mit dem Wind. Die Trommeln hauchten ihm Kraft und Wut ein. Sie fegten über uns hinweg wie ein Sturm über eine Wiese. Die Erde färbte sich rot durch das Blut. Ihre Gesichter zeigten keinerlei Gefühle, ihre Hände führten die Klingen mit tödlicher Präzision. Zahlenmäßig waren wir ihnen überlegen und trotzdem verloren sie kaum einen Mann. Ob es ihr wildes Aussehen war oder doch nur der Ruf, der ihnen vorauseilte? Bestien sollten sie sein. Gierig nach Kampf und Tod. Und doch waren sie nur Menschen, Menschen, die ihrem Schicksal die Stirn boten. Denn am Ende unterlagen sie der Größe unserer Armee. In der letzten Schlacht waren wir ihnen hundert zu eins überlegen und trotzdem fochten sie. Für ihre Freiheit. Gegen die Unterdrückung. Gegen unseren König, dessen Enkel noch immer zu Unrecht auf dem Throne sitzt. Ich bewundere diese tapferen Männer und höre ich auch nur einen schlecht von ihnen reden, dann erzähle ich ihm die Geschichte des Letzten dieses Volkes: die Geschichte des letzten Kriegers der Winde. -Der alte Prophet- -aus: Geschichte unserer Welt- Kapitel 1: Sturmnacht Teil 1 ---------------------------- Dichter Regen fiel in Strömen auf die Erde nieder. Blitze zuckten quer über den wolkenverhangenen Himmel und erhellten die Nacht für den Bruchteil eines Augenblicks. Das Donnergrollen ähnelte dem Gebrüll eines wilden Tieres. Der grüne Umhang schützte seinen Körper vor dem Regen. Nasse Haarsträhnen klebten ihm im Gesicht. Seine Züge waren hart und gefühllos. Die moosgrünen Augen fixierten das Tor, unweit vor ihm. Immer, wenn ein Blitz die Finsternis vertrieb, schimmerte der gepflasterte Weg geheimnisvoll. Hinter der dicken Mauer aus Stein ragte der Burgfried empor. In einigen Fenstern war Kerzenlicht zu sehen. Eine Feldmaus rannte über den Weg und stieß gegen seinen Fuß. Was sie bei diesem Wetter draußen zu suchen hatte, konnte er nicht sagen. Vielleicht war ihr Bau überflutet? Vielleicht suchte sie einen Weg ins Trockene? Er ging weiter. Mit der geballten Faust hämmerte er gegen das Eisentor. Auf der anderen Seite konnte er Stimmen vernehmen. Ein Soldat schob ein Guckloch auf. »Was wollt Ihr um diese Uhrzeit noch?« »Eine Zuflucht vor diesem Unwetter. Und etwas zu Essen.« Der Soldat musterte ihn eine Weile. »Mein Herr hat zur neunten Stunde hohe Gäste erhalten. Ich kann Euch kein Quartier bieten.« »Der Stall tut es auch«, rief er gegen den Sturm an. »Ich schlafe auch in der Küche, wenn es sein muss.« »Und fresst Euch durch die Speisekammer meines Herren. Nichts da. Der Stall muss genügen.« Der Soldat zog die kleine Tür auf und ließ ihn passieren. Unter dem Torbogen war es trocken. Fackeln spendeten Licht und Wärme. »Ich muss Euch bitten Eure Waffen bei mir zu lassen«, sagte der Soldat und streckte seine Arme aus. »Mein Herr besteht darauf, dass Gäste ihre Waffen ablegen und auf seinen Schutz vertrauen.« Er legte sein Schwert und zwei Dolche ab. Ein weiterer Soldat führte ihn zu den Ställen. Drinnen war es warm und es roch stark nach Pferdemist. Das Stroh war schon etwas älter, doch gab es trotzdem ein wunderbares Bett ab. Er entzündete die Laterne, die er von dem Soldaten bekommen hatte, hängte seinen grünen Umhang an die Stallwand und begutachtete sein neues Gemach. Insgesamt zehn Pferde konnten in dem Stall untergebracht werden. Neun Boxen waren leer, in der zehnten schlief ein alter Mann. Scheinbar wurde der Stall gerne benutzt, um niederem Gesinde eine Unterkunft zu ermöglichen. Er bezog die vorderste Stallbox, zog sein Hemd aus und legte sich auf den vorhandenen Kartoffelsack. Seine gebräunte, vom Wetter gegerbte Haut, zeugte von unzähligen Kämpfen, die er ausgetragen haben musste. Der alte Mann in der Nachbarbox hustete laut. Ansonsten war es still. Ab und zu war das Knarren der Dächer zu vernehmen und hörte man genauer hin, dann hörte man das Rauschend es Regens. Er zog einen versteckten Dolch aus seinem Schuh und drehte ihn aufgeregt in der Hand umher. Die zwölfte Stunde war noch nicht angebrochen. Es würde sich auszahlen, dass diese Burg sogar eine Kirche besaß. Das Schlagen der Kirchenglocke würde ihn zur rechten Zeit wecken und er würde pünktlich sein. Pünktlich, um seinen Auftrag zu erfüllen. Die Flammen leckten gierig an jedem bisschen Holz, das sie erreichen konnten. Überall roch es nach Blut. Der dichte Rauch bedeckte das Schlimmste. Von einer Anhöhe blickte er zurück auf seine Tat. Seine Augen zeigten Reue, sein Gesicht blieb hart. Er musste nun mal von irgendetwas leben, sei es auf diese Weise. Seine Arbeit war zweifelsohne nicht die beste Arbeit, aber es blieb ihm nichts anderes übrig. Plötzlich tauchte ein Kind zwischen den brennenden Häusern auf. Das Gesicht des Kleinen war blutverschmiert, in der Hand hielt er ein Schwert aus Holz. Eine kleine Narbe war unter dem linken Auge, genau wie bei ihm selbst. Moosgrüne Augen starrten ihn zuversichtlich, aber auch ängstlich an. Irgendwo ertönte der helle Klang einer Glocke… Kapitel 2: Sturmnacht Teil 2 ---------------------------- Die große Flügeltür des Saales schwang auf. Warmer Kerzenschein empfing die Neuankömmlinge. Auf der langen Tafel waren feinste Braten aufgetischt, Krüge mit edlem Wein standen neben den hauchdünnen Gläsern und goldene Teller und Platten glänzten im Feuerschein. Seit geraumer Zeit fand sich die Gesellschaft allmählich ein. Fürst Luchor, der Herr der Burg, begrüßte die neuen Gäste. »Wie geht es Euch, Graf von Treslan?« Der Fürst verneigte sich. Seine Abendgarderobe war in schlichtem blau gehalten, doch die Verzierungen an Ärmeln und auf der Brust waren aus kostbarem Samt. Sowohl die goldenen Ringe an seinen Fingern, als auch die Knöpfe an seinem Mantel zeugten von seinem Reichtum. »Ihr seht bezaubernd aus.« Er küsste den Handrücken der Frau des Grafen. »Jedes Jahr schafft Ihr es erneut, mich zu verzaubern. Ihr werdet von Jahr zu Jahr jünger.« Weitere Gäste kamen in den Saal und der Fürst begrüßte auch sie. Rechtzeitig mit dem Anbruch der zwölften Stunde wurden die Gäste zu Tische gebeten. »Meine hochgeschätzten Grafen und Fürsten, wehrte Barone und Herzoge«, sagte Fürst Luchor, nachdem er gegen sein Weinglas geklopft hatte. »Es ist mir wie immer eine Ehre mit einer solchen Gesellschaft den Tag meiner Geburt zu feiern. Wie immer habe ich das beste Geflügel und die besten Kälber meiner Ländereien ausgesucht. Selbstverständlich auch nur den besten Wein.« Er legte eine kurze Pause ein und genoss den Applaus der Adligen. Sein Blick begegnete dem der Frau des Grafen Treslan und er spürte ein Verlangen, dass er seit Jahren nicht mehr gespürt hatte. »Meine wehrten Damen und Herren«, fuhr Fürst Luchor fort und hob sein Glas über den Kopf. »Leider machte mir das Wetter in dieser Nacht einen Strich durch die Rechnung und ich musste die Feier in den Saal verschieben, aber das schlechte Wetter soll unsere Laune nicht trüben. Deshalb möchte ich einen Tost aussprechen. Auf mich!« Er führte das Glas zum Mund, trank es in einem zu aus und setzte sich anschließend auf seinen Stuhl. Der Wind peitschte verstärkt gegen die Fenster, die dicht unter der Decke waren. Einige Gäste schauten besorgt auf die Rahmen aus Ebenholz und die milchigen Scheiben. »Lasst den Tanz beginnen.« Ein Schrei ging durch den ganzen Saal, als eine Fensterscheibe splitterte. Die Scherben regneten auf den Boden und zerprangen in tausend kleine Teile. Im selben Moment erhellte ein Blitz die Nacht. Der Wind fauchte bedrohlich, als wolle er vor einem bevorstehenden Unheil warnen. Regen fand einen Weg durch das zerstörte Fenster. Schlagartig erloschen einige Kerzen. »Was geht hier vor?«, rief Fürst Luchor, obwohl er sich sicher war, dass der Sturm die Schäden angerichtet hatte. »Lasst den Tanz beginnen.« Ein Dolch ragte aus der Brust des Fürsten. Blut befleckte die weiße Tischdecke und verdunkelte den blauen Mantel des Adligen. Stöhnend sackte er auf seinem Stuhl zusammen. Dahinter kam ein Mann zum Vorschein, dessen Gesicht unter der Kapuze eines schwarzen Umhangs verborgen war. In der Rechten hielt er den Dolch. Sein unbedeckter Oberkörper wies unzählige Narben auf. Der Dolch zuckte rasch vor und beendete das Leben eines weiteren Adligen. Panik brach unter der Gesellschaft auf. Die edlen Damen rannten schreiend im Saal umher, während einige Fürsten und Grafen zu den Waffen griffen. Doch ihre Degen, nur für zeremonielle Anlässe gedacht, konnten dem Dolch des Vermummten nichts entgegensetzten. Mühelos wanderte er durch die Reihen der Adeligen und zertrennte einen Lebensfaden nach dem anderen. Auch vor den Damen machte der Vermummte nicht halt. Nach kurzer Zeit hatte das Abstechen ein Ende gefunden. Zwei Adlige krümmten sich noch im Todeskampf, doch letztendlich verloren sie ihn. Der Vermummte säuberte die Klinge des Dolches, ging zu der Flügeltür und schob eine Kommode davor. »Seid Ihr zufrieden?« Ein alter Mann, ohne Begleitung angereist, saß auf seinem Stuhl und grinste zufrieden. »Ich bin beeindruckt«, frohlockte er und applaudierte beiläufig. »Ihr habt Eure Aufgabe wie immer zu meiner vollsten Zufriedenheit erledigt.« Die grauen Haare des Mannes waren zu einer aufwendigen Frisur gesteckt. Sein grüner Mantel war mit silbernen Knöpfen und Broschen verziert und die schwarzen Reiterstiefel auf Hochglanz poliert. Über seine Nase lief eine tiefe Narbe, die ihm vor langer Zeit ein Räuber beigebracht hatte. Langsam stand er auf und ging auf den Vermummten zu. »Hervorragende Arbeit.« Er klopfte ihm auf die linke Schulter. Der weiße Handschuh nahm einen rötlichen Farbton an. Mit der linken Hand fummelte er an seinem Gürtel herum und hob einen einfachen Lederbeutel hoch. Münzen klimperten darin. »Der Lohn Eurer Arbeit.« Er ließ sich auf einem nahen Stuhl nieder und grinste den Vermummten an. »Wir hatten das Doppelte vereinbart.« Er warf den Beutel dem Alten zu. »Eine kleine Änderung der Abmachung. Ich sah mich gezwungen einen Teil für Vorbereitungen zu verwenden.« Der alte Mann warf den Beutel zurück. »Ich will mein Geld, Kurek. Haltet Ihr Euren Teil nicht ein, dann halte ich meinen nicht ein.« Er zog seinen Dolch und legte ihn an die Kehle des Mannes. »Ich schätze gute Fähigkeiten und Eure sind zweifelsohne überragend«, sagte er und schob die Klinge beiseite, »aber bitte vergesst nicht, dass ich Euch den Auftrag gab. Ich kann auch jemand anderen beauftragen, Assassine. Denkt immer daran.« Er blickte den Vermummten herausfordernd an. »Und jetzt stecht zu. Die Wachen werden jeden Augenblick erscheinen und ich befürchte, die Kommode wird sie nicht aufhalten.« Vor der Tür ertönten Rufe, jemand pochte gegen den linken Flügel. Der Dolch drang in die Schulter des alten Mannes ein. Wimmernd ging er zu Boden. Der Vermummte verstaute den Lederbeutel und ging zu dem Seil, das durch das zerstörte Fenster in den Saal hing. Er griff danach und zog sich einige Meter empor. Da flog die Tür auf und eine handvoll Wachen stürmte den Saal, doch der Vermummte war schon wieder verschwunden. Kapitel 3: Mondkinder --------------------- Villeroy donnerte die Hacke wuchtig in den Boden. Mit aller Kraft zog er an dem Stiel und das Eisen grub die Erde um. Sofort ging er in die Knie, wühlte mit den bloßen Händen im Lehm umher und rupfte einige Wurzeln heraus. Sie schimmerten weiß, als er sie ins Licht der Sonne hielt, die heiß vom Himmel brannte. Die Stürme der letzten Nächte waren vergessen, die Erde war trotz der heftigen Regengüsse schon wieder knochentrocken Mit dem Unterarm wischte Villeroy den Schweiß von seiner Stirn, dann richtete er sich auf. »Hier sind noch ein paar Wurzeln für dich.« Als er keine Antwort bekam, blickte er irritiert umher. »Jill? Jill?«, rief er und ging zu dem Leinensack, der auf einer Bank an der Hauswand lag. Er war bereits zur Hälfte gefüllt, ein einziges Durcheinander von Wurzeln. »Jill? Wo bist du?« Villeroy schmiss die Wurzeln in den Sack und schaute sich im Haus um. Das Anwesen seiner Familie bestand aus einem bescheidenen Häuschen und einem Garten. Zusammen mit seinen Eltern und seinen beiden Geschwistern Jill und Tscheni lebte Villeroy in einer kleinen Siedlung am Rande der Stadt H’ruquon. Die Hauptstadt des Landes Gardensa war eine der reichsten Städte der Welt, wenn man die Anzahl der Adligen zählte, die es sich im Stadtkern gemütlich gemacht hatten, mit ihrem Reichtum prahlten und ein Leben in Saus und Braus führten. Die meisten anderen Einwohner waren einfache Leute, Bauern, Schmiede, Tischler, Wagner, Schuster oder Bedienstete der Adligen. Villeroy rief erneut nach seiner zehn Jahre jüngeren Schwester. Vor acht Jahren war sie, zusammen mit ihrem Zwillingsbruder Tscheni, auf die Welt gekommen. Seitdem half Villeroy tatkräftig im Haushalt mit und griff seinen Eltern unter die Arme, wo er nur konnte. Sein Vater, Philippe Jacques Villeroy Grégory Forton, war Offizier der Armee des Herzogs Charles d’Luvière. Er verdiente gutes Geld, doch der Herzog hatte in den letzten Jahren vieles besteuert und eine fünfköpfige Familie hatte es schwer. Zumal sein Vater fast nie daheim sein konnte, war er doch ständig irgendwo stationiert oder führte herzögliche Soldaten in unzählige Schlachten. »Jill?«, rief Villeroy erneut. Allmählich wurde er zornig. »Ich will jetzt nicht mit dir spielen. Wo bist du?« Er hörte ein dumpfes Poltern aus dem Obergeschoss und erklomm vorsichtig die Stufen der hölzernen Treppe. Jeder Schritt wurde von einem lauten Knarren begleitet. Die Treppe, behauptete zumindest sein Vater immer, war der älteste Teil des Hauses. Sie stand angeblich in einem anderen Haus, da sie seinem Vater aber so gut gefiel, hatte er sie hierher bringen lassen. Und sie war wirklich etwas Besonderes, stimmte Villeroy grinsend zu. Das Holz war pechschwarz, glänzte aber zugleich, wie ein Edelstein, der von der Sonne angestrahlt wurde und das gleißende Licht reflektierte. Das Geländer war reichlich verziert, Pferdeköpfe bildeten Anfang und Ende und die unzähligen Motive luden zum Träumen ein. Sie erzählten von vielen Schlachten, tapferen Rittern und grausamen Ungetümen. Vill erklomm die letzten Stufen und betrat das erste Zimmer im Obergeschoss. Licht fiel durch ein geöffnetes Fenster herein, erhellte den Raum leicht und blendete Vill. »Hab ich dich!«, rief er, als er allmählich den Umriss seiner Schwester erkennen konnte. Jill hockte auf einem Schemel vor dem Fenster und beobachtete das Treiben auf der Straße. »Ich warte auf Mutter.« Das kleine Mädchen blickte verträumt hinaus. »Hast du hier so einen Lärm gemacht?«, fragte Villeroy und gesellte sich zu seiner Schwester. Sie schüttelte abwehrend den Kopf. »Das war Tscheni. Er spielt mit einem Amulett, das er vorhin gefunden hat. Er hockt da hinten und … Da ist Mutter. Mutter, Mutter«, rief sie, sprang auf und eilte die Treppe hinunter. Villeroy ging in den Nebenraum. Sein Bruder spielte mit einem funkelnden Gegenstand. Jedes Mal, wenn er von einem Sonnenstrahl getroffen wurde, schimmerte er in reinem Weiß. Villeroy betrachtete den Gegenstand. Er war kreisrund, so breit wie der Handteller eines Zehnjährigen und so dick wie der Nagel eines Zeigefingers breit war. Auf der Oberfläche waren Linien eingraviert, die verschiedene Muster zeigten. Kreisrunde, als auch ovale und undefinierbare Formen. »Vill, Vill«, rief Tscheni und grinste seinen Bruder freudig an. »Schau, was ich gefunden habe.« Der kleine Junge reichte Villeroy den Gegenstand. Die Oberfläche war wellig, die Formen waren eingraviert. Villeroys Augen weiteten sich. Das Amulett stellte den Mond dar. »Wo hast du es gefunden?«, rief er entsetzt. Seine Stimme bebte. Rasch ließ er das Amulett in der Tasche verschwinden. Tscheni schaute ihn verängstigt an. »Sag schon. Wo hast du es her?« Der Kleine hatte sich in die Ecke des Zimmers verkrochen und weinte. Tränen rannen über seine Wangen und tropften auf die Dielen. »Es hat so schön gefunkelt«, schluchzte Tscheni. »Es lag auf der Straße und es funkelte so schön. Ich hab es aufgehoben. Ich wollte doch niemandem wehtun.« Seine Stimme zitterte, die Tränen nahmen kein Ende. Villeroy schien aus einer Trance zu erwachen. Er nahm seinen Bruder in den Arm und tröstete ihn. »Du hast niemandem wehgetan, Tscheni«, sagte er und wischte die Tränen mit seinem Ärmel weg. »Aber der Mond ist gefährlich. Hat dich jemand gesehen, als du ihn aufgehoben hast?« Tscheni verneinte. »Wenn du wieder einen Mond finden solltest, dann lass ihn liegen. Oder willst du, dass dich die Soldaten holen?« »Villeroy Jacques Philippe Forton«, rief Villeroys Mutter, als sie das Zimmer betrat. »Wieso schreist du deinen Bruder an? Ich will sofort wissen, was hier los ist.« Villeroys Mutter war eine liebevolle Person und höflich zu allen, denen sie begegnete. Es sei denn, sie war wütend. Dann konnte sie eine richtige Furie werden und in Gedanken verdrehte Villeroy die Augen. »Alles in Ordnung, Mutter.« »Ist das wahr, Tscheni?« Sie konnte wirklich beharrlich sein. Zudem nahm sie die Kleinen immer in Schutz. Tscheni nickte. »Alles in Ordnung. Wir haben uns nur gestritten.« Ein Grinsen machte sich in dem kleinen Gesicht breit. Villeroys Mutter fuhr Tscheni durch die kurzen, braunen Haare. »Wehe ihr zankt euch noch einmal«, drohte sie und fuchtelte mit ihrem Finger hin und her. Anschließend stolzierte sie aus dem Raum. Erleichtert atmete Villeroy aus. Er hatte sich bereits ausgemalt, welche Strafe er ertragen musste. Schläge auf das Gesäß waren noch das Geringste. Er grinste Tscheni an. »Danke, kleiner Mann. Du hast wieder einmal …« Ein klares Läuten hallte durch die Straßen. Irgendwo knallte ein Hammer auf eine kleine Glocke. Villeroy rannte zum Fenster und schaute hinaus. In nicht allzu weiter Ferne schlug ein Soldat auf einem Wachturm Alarm. Unruhe brach auf der Straße aus, Menschen rannten kreuz und quer. Villeroy beobachtete eine Weile das Treiben. Er rührte sich nicht mehr, starrte, als sei er zu einer Statue geworden, auf den Wachturm. Unter ihm wurde es laut. Panische Schreie hallten durch die Straßen und genau diese Schreie waren es, die Villeroy aus der Versteinerung erwachen ließen. Er zog die Fensterläden ran und verriegelte sie von innen, stürmte in das andere Zimmer und zog sie auch hier zu. »Was ist denn, Vill?«, fragte Tscheni verängstigt. »Wir müssen hier weg. Die Soldaten aben Alarm geschlagen.« Er nahm seinen Bruder auf den Arm, stürmte die Treppe hinunter und rannte beinahe mit seiner Mutter zusammen. Sie trug Jill, nahm auch Tscheni und schickte Villeroy in die Küche, um die Vorratskiste zu holen. Mit Kleidung und der Kiste bepackt, rannte Villeroy auf die Straße. Menschen liefen wild umher, hier stolperte eine Frau, da lag schreiend ein Kind auf dem Boden. Die ganze Stadt war der Panik verfallen. Selbst die wenigen Stände, die in der Straße plaziert waren, wurden achtlos umgestoßen. Einige plünderten sogar. »Mutter!«, schrie Villeroy gegen den Lärm der Masse an. »Wir müssen hier entlang.« Er führte seine Mutter und seine Geschwister durch die Menschen. Er bahnte ihnen regelrecht einen Weg durch den panischen Pulk, der ihnen entgegenströmte. »Wieso laufen wir in die andere Richtung?«, fragte Jill und starrte den anderen Menschen hinterher. »Eine Abkürzung«, antwortete Villeroy. Plötzlich traf ihn etwas Hartes an der Schläfe und er strauchelte. Ein dünnes Blutrinnsal rann seinen Hals hinab. Sämtliche Geräusche waren gedämpft. Villeroy hörte lediglich das entsetzte Schreien seiner Mutter und das rhythmische Leuten der Alarmglocken. Er spürte noch, wie ihm die Kiste aus der Hand gerissen wurde, dann waren seine Sinne taub. Allmählich verschwamm alles zu einer einheitlichen Masse und Schwärze umfing ihn. Als Villeroy die Augen aufschlug, wollte die Schwärze nicht weichen. Einzig allein eine kleine Kerze, schon zur Hälfte heruntergebrannt, brachte etwas Licht in das Dunkel. Leises Plätschern drang an Villeroys Ohren. Anhand des Geruchs erriet er, dass er in den Katakomben unterhalb der Stadt sein musste. »Mein Kopf«, stöhnte er und fasste an die Stelle, wo er die Schmerzen verspürte. Jemand hatte ihm einen Verband angelegt. »Was zum …« Schritte näherten sich. Sofort warf sich der junge Mann auf sein Lager zurück und stellte sich schlafend. Im Halbdunkel, und durch die leicht geöffneten Augen, erkannte er die Züge eines Mannes, der ihm sehr bekannt vorkam. »Vater!«, entfuhr es Villeroy. Glücklich sprang er auf und erschreckte seinen Vater so sehr, dass dieser beinahe das Gleichgewicht verlor. »Vater. Dir geht es gut. Wo sind wir hier? Wo sind Mutter, Tscheni und Jill? Was ist eigentlich passiert?« Sein Vater umarmte ihn erleichtert. »Ich habe mir Sorgen um dich gemacht. Mutter und deine Geschwister sind nebenan. Die Katakomben der Stadt sind doch immer noch das beste Versteck. Ich bin froh, dass du dich an meinen Rat gehalten hast und nicht zu den Schutzräumen gegangen bist.« »Was ist eigentlich passiert? Warum gab es Alarm?« Villeroys Vater führte seine Hand zum Kinn und überlegte kurz. »Sie haben wieder angegriffen. Die Schutzräume stehen alle in Flammen.« Philippe zog einen Dolch aus seinem Stiefel und reichte ihn seinem Sohn. »Geh zu Mutter und deinen Geschwistern und verteidige sie, wenn es nötig ist. Ich muss jetzt wieder in die Burg zurück.« Er küsste Villeroy zum Abschied auf die Stirn und verschwand dann im Dunkel. Mit dem im Kerzenlicht schimmernden Dolch in der Hand verharrte Villeroy noch eine ganze Weile auf seinem Lager. Dann sprang er auf, verfehlte die Decke nur ganz knapp und wurde von der Dunkelheit verschluckt. Was er auch anstellte, den Weg zu seiner Familie fand er nicht. Seit Stunden, das Gefühl hatte Villeroy zumindest, irrte er in den Katakomben umher. »Vater hätte mir wenigstens den Weg nach Nebenan erklären können«, raunte Vill den nassen Wänden missmutig zu. Seine Stiefel waren durch das ganze Wasser bereits völlig durchnässt. Einige Male war er gestürzt und so von oben bis unten mit Dreck bedeckt. Ab und zu streifte eine Ratte oder etwas anderes sein Bein. Ein leises Quieken war dann jedes Mal zu vernehmen. Plötzlich hörte er Stimmen. Ein Stück vor ihm wurde es heller. Es schienen einige Männer zu sein. Die tiefen Stimmen hallten hier und da wieder. Villeroy pirschte sich an eine Ecke heran und spähte in die Richtung aus der Licht und Stimmen kamen. Zehn Männer standen in einer kleinen Höhle und diskutierten in einer ihm fremden Sprache. Sie hielten Fackeln in der Hand und leuchteten die Höhle damit einigermaßen gut aus. Villeroy bemerkte die Leichen von vier Menschen zu Füßen der Männer. Ein Mann, eine Frau und zwei Kinder. Eine düstere Vorahnung beschlich ihn. Sein Magen schien sich umzudrehen. Leise rutschte er an der nassen Wand hinunter. »Wieso?«, flüsterte er und fing leise an zu weinen. Stunde um Stunde verstrich. Ob es noch immer Tag war oder schon Nacht, wusste Villeroy nicht. Die Männer waren längst verschwunden. In den Katakomben gab es nur noch ihn, Ratten und die Leichen seiner Familie. Er stierte vor Schmutz und hockte noch immer an der nassen Mauer, trauernd und in sich hinein weinend. Seine geröteten Augen hatten sich an die Dunkelheit gewöhnt, seine Ohren nahmen jedes noch so kleine Geräusch war. »Wieso nur«, wisperte er und schlug mit der Faust auf den Boden. Schlammiges Wasser spritze in alle Richtungen, eine fette Ratte huschte davon. Vorsichtig, es lag wahrscheinlich auch daran, dass er einfach keine Kraft mehr hatte, kroch er auf die vier toten Menschen zu. Er sah das Gesicht seines Vaters. Aus einer Platzwunde am Kopf war das Blut gekommen, das ihm in die Kleidung lief. Er sah die angsterfüllte Miene seiner Mutter, die in einem Schmerzensschrei erstarrt war. Er betrachtete die friedlichen Gesichtszüge seiner beiden Geschwister, die den Anschein machten, als schliefen sie friedlich. Der Gestank verwesender Körper breitete sich schon eine gewisse Zeit aus. Hinzu kam noch der Geruch des Blutes. Villeroy war sich sicher, dass die Ratten schon an den Leichen nagten. Dieser Gedanke brachte das Fass zum überlaufen. Villeroys Magen rebellierte und er musste sich übergeben. Wieder schlug er mit der Faust auf den Boden. Ein stechender Schmerz durchfuhr seinen Körper. Etwas steckte ihm in der Hand. Er zog es heraus, konnte es aber nicht erkennen. Plötzlich fing sein Kopf wieder an zu schmerzen. Die Wunde an der Schläfe war durch das ganze Wasser in den Katakomben aufgeweicht und blutete wieder. »Verdammt«, brachte er noch hervor, dann erbrach er erneut. Es war nicht so, dass Villeroy dem Tod noch nie begegnet war. Er hatte bereits vor zwölf Jahren die Grausamkeit einer Schlacht kennen gelernt. Damals musste er mit seinen Eltern fliehen. Auch kannte er die Folgen blutiger Auseinandersetzungen. Schon recht bald würden die Seuchen ihre Klauen nach den Überlebenden ausstrecken. Villeroy hatte das Pestjahr miterlebt, die riesigen Scheiterhaufen gesehen, den Tod gerochen… Ein leises Plätschern ertönte in den unzähligen unterirdischen Gängen. Mit jedem Augenblick nahm es an Intensität zu. Ein gewisser Rhythmus war herauszuhören. Schritte! Jemand rannte in Villeroys Richtung. Aus einem Gang tauchte plötzlich ein Mann auf. Sein Atem ging keuchend und ständig warf er einen Blick über seine Schulter. Er bemerkte die Leichen am Boden nicht, stolperte über eine und fiel der Länge nach hin. Der dunkle Umhang, der von seinen Schultern fiel, ließ ihn in der Dunkelheit verschwimmen. Fackelschein näherte sich der kleinen Höhle, in welcher der Mann und die Leichen lagen und Villeroy auf den Knien hockte. Stimmengewirr war zu hören. Zehn Männer tauchten auf und erhellten mit ihren Fackeln die Höhle. Einer rief etwas Unverständliches und zeigte auf die Leichen. Ein zweiter bemerkte Villeroy und ging auf ihn zu. Der kräftige Arm des Mannes, der breiter als hoch war, schloß sich um Villeroys Hals und drückte ihm die Luft ab. »Lasst mich gehen«, würgte er hervor. Der Mann schien mit ihm zu reden, doch Villeroy verstand kein Wort. Zudem betäubte ihn der Gestank des Fetten. Seine Lunge brannte mittlerweile. Ein spargeldürrer Mann redete unterdessen auf den Fetten ein. Plötzlich löste dieser den Würgegriff und Villeroy schnappte nach Luft. Die übrigen Männer hatten sich um den Mann mit dem Umhang versammelt. Der schien wie tot. Regungslos lag er da, sein Umhang auf ihm, der ihn wie ein Leichentuch bedeckte. Der Anführer der Bande untersuchte den Mann, die anderen standen mit blank gezogenen Waffen um ihn herum. Plötzlich verlor der Anführer den Halt und krachte mit voller Wucht gegen eine Wand. Blitzschnell sprang der für tot geglaubte Mann auf, zog ein leicht gekrümmtes Schwert und enthauptete einen der Umstehenden. Bewegung kam in die anderen, Schilde wurden zum Schutz erhoben, Dolche und Schwerter stachen nach vorne. Der Fette und der Spargeldünne ließen von Villeroy ab und stürzten sich auf den Mann. Mit Freuden sah Villeroy, wie der Fette mit aufgeschlitztem Bauch zu Boden ging. Der Dünne wurde von dem Schwert komplett durchstoßen, die anderen hatten dem Mann auch nichts entgegenzusetzen. Nach wenigen Minuten stand einzig und allein der Anführer der zehn Männer. Sein Vorteil war es, dass er im Rücken seines Gegners stand. Seine Chance hatte er sofort erkannt und machte einen Satz nach vorne. Ein Stein traf ihn hart am blanken Schädel. Villeroy schleuderte gleich noch einen zweiten hinterher, der dem Glatzkopf die Nase brach. So hatte der Mann mit Umhang Zeit, auch den letzten Stehenden zu seinen Gefährten zu schicken. »Danke für deine Hilfe, Kleiner.« Die Worte standen keine Sekunde im Raum, da spurtete der Mann weiter und ließ Villeroy mit all den Toten und den fünf, allmählich erlöschenden, Fackeln zurück. Kapitel 4: Morgendämmerung -------------------------- Winter Es schneit Alles ist weiß Und es ist kalt Winter Der Wind trug erneut dicke Schneeflocken mit sich. Seit Tagen schneite es nun ununterbrochen. Villeroy kam nur schleppend voran. Bis zur Hüfte war er im Schnee versunken und bahnte sich seinen Weg durch die weiße Pracht. Sein dicker Umhang war bereits steif gefroren. Ihm war kalt, seine Lippen färbten sich allmählich blau. Seit er vor einem halben Jahr aus seiner zerstörten Heimatstadt geflohen war, hatte er harte Zeiten durchgemacht. Es gab Tage, da hatte er einen Kanten Brot zu essen gehabt, Tage, an denen er unter freiem Himmel schlafen musste. Jetzt war es ein Tag, an dem er sich durch tiefen Schnee kämpfen musste, weil er von Soldaten einer kleinen Stadt verfolgt wurde. Er hatte einen Teller Suppe gestohlen und eben jenen Mantel, der nun seinen Körper umwickelte. Ein bisschen Geld war auch dabei. »Verdammt«, keuchte Villeroy und eine dichte Atemwolke entschwebte. Sein Fuß verfing sich in einer Wurzel, die unter dem Schnee begraben war. Der junge Mann fiel in die weiße Pracht und feinster Puderschnee stob in alle Richtungen davon. Mühselig kam er wieder auf die Beine und setzte seinen Weg fort. Doch er kam nicht weit. Seine Sehkraft hatte seit geraumer Zeit stark abgenommen, seine Kräfte ließen nach. Erneut strauchelte er und fiel hin. Diesmal jedoch war die Anstrengung zu groß. Müdigkeit übermannte ihn. Die Kälte des Winters kroch nun gänzlich in seine Knochen. Schon in wenigen Stunden würde ihn hier niemand mehr finden. Villeroy grinste mit aller Anstrengung. »Hätte nicht gedacht, dass ich so sterbe.« Er wälzte sich auf den Rücken und starrte in den wolkenverhangenen Himmel. Der schneidende Wind war verschwunden, die Schneeflocken fielen sanft auf die Welt. Eine ganze Weile lag er regungslos da, dann wurde alles weiß. Der moosgrüne Umhang wehte wild umher. Seit Stunden schneite es nicht mehr. Die Schneeschuhe leisteten gute Arbeit und verhinderten, dass er einsank. Das dicke Pelzwams verhinderte, dass er erfror. Zwar war er Strapazen gewöhnt, aber Schnee war er schon lange nicht mehr begegnet. Normalerweise pflegte er in wärmeren Umgebungen seine Aufträge zu erfüllen. Dieses Mal hatte Kurek von Sechling ihn in den Norden Sadyykas geschickt. Sein nächstes Ziel war der Barbarenführer Hurda, ein brutaler Nordmann, der sein eigenes Volk verraten hatte, um Herrscher zu werden. »Hundewetter«, schnauzte er. Doch scheinbar war er nicht der erste, der sich durch den Winterwald quälte. Tiefe Rillen zogen sich durch den Schnee. Ohne Schneeschuhe zu wandern war tödlich. "Törichter Mensch", dachte er. Plötzlich endete die Spur. Ein großes Loch war im Schnee. Neugierig schaute er hinein, doch das Loch war leer. Er zuckte mit den Schultern und ging weiter. Die Schwertscheide war an seiner Hüfte festgefroren. Er musste sich beeilen, denn allzu lange würde selbst er in dieser Eishölle überleben. Feuerschalen erhellten und heizten die große Halle gleichzeitig. Siebzig an der Zahl, zu beiden Seiten des Thrones. Sie verbanden den hölzernen Sitz des Herrschers mit dem großen Eichentor. Von außen und innen reich verziert, die Geschichte des Landes widerspiegelnd. In der Mitte der Halle war eine riesige Feuerstelle, über den ein Eber an einem eisernen Spieß briet. Hurda schritt zu seinem Thron und ließ sich nieder. Sein massiger Körper schien das Holz zu zerdrücken. Jedoch bestand er zum größten Teil aus Muskeln und Sehnen, durch das rauhe Klima und viele Kämpfe geformt. Zu seiner Rechten stand eine gigantische Kriegsaxt. Die zwei scharfen Blätter hatten schon viele Köpfe gespalten und Bäuche ausgeschlitzt. Doch die kriegerischen Zeiten des Barbarenfürsten waren vorbei. Sein Haar war ergraut, das Alter zeigte sich langsam in seinem Gesicht wieder. Die Stirn lag tief in Falten, der lange, wilde Bart war schlohweiß. Trotzdem war er noch immer eine imponierende Gestalt. Eine Augenklappe bedeckte sein rechtes Auge, eine Narbe entstellte seinen Hals. »Wie geht es dem Jungen?« Seine tiefe, kratzige Stimme war durchdringend, aber warm. Er war kein grober Schlächter, zumindest, wenn er nicht durch Feinde gezwungen wurde. Seinen Stamm regierte er mit Milde und Güte und war ein beliebter Herrscher. »Er will Euch sehen, Hurda.« »Bringt ihn zu mir.« Zwei Krieger führten ihn vor den Fürsten. »Dein Name?« Hurda hasste es die Sprache des Südens zu sprechen. Er beherrschte sie nicht besonders gut und sie klang in seinen Ohren wie das Geschwätz eines verweichlichten Elfen. Zu oft hatte er die Elfensprache vernommen und auch sie hasste er abgrundtief. »Vill«, antwortete der Junge. »Woher kommst du?« »Ich weiß es nicht.« Der Junge log. Dessen war sich Hurda sicher. Seit Jahren konnte er fühlen, wenn jemand die Wahrheit sagte und wenn jemand log. »Du bist ein elendiger Lügner, Bursche. Vergiss nicht, dass dich meine Männer aus dem Schnee gezogen haben und ich dich wieder aufgepäppelt habe.« Der Junge starrte ihn fragend an. »Lügner«, sagte Hurda erneut, als er sich bewusst wurde, dass er in seiner Sprache gesprochen hatte. »Meine Männer haben dich gerettet, also sag mir die Wahrheit.« Der Junge schüttelte den Kopf. »Bringt ihn in sein Gemach«, befahl Hurda in seiner Landessprache und die Wachen führten den Jungen ab. Seit Stunden hockte er auf dem Balken dicht unter dem Dach der großen Halle. Der Rauch der erlöschten Feuerstelle zog an ihm vorbei, atmen war beinahe unmöglich. Unter ihm lag die Halle im Dunkeln. Sämtliche Feuerschalen waren gelöscht worden. Er wurde unruhig. In der Linken wirbelte er ein Messer umher. Immer wieder patrouillierte ein Krieger durch die Halle. Ein Kinderspiel. An einem Seil festgebunden, ließ er sich fallen, schnitt es unmittelbar über dem Boden durch und landete fast lautlos. Dem wachsamen Krieger entging das Geräusch jedoch nicht. Rasch war er an der Feuerstelle und betrachtete das Seil. Aus dem Dunkel zuckte der Dolch hervor und drang in den ungeschützten Hals des großen Mannes ein. Zwei Hände fingen und legten ihn behutsam auf den Hallenboden, damit die Rüstung die anderen Krieger nicht warnte. Er schloss die Augen des Toten und schlich zu einer Tür in der linken Flanke der Halle. Sie ließ sich geräuschlos öffnen. Immer wieder suchte er hinter Statuen und Wandteppichen Schutz, um den Kriegern zu entgehen. Zwei weitere tötete er auf dieselbe Weise, wie er mit dem ersten verfahren war, dann stand er vor der Tür zur Schlafkammer des Fürsten. Er öffnete nur einen Spalt, zwängte sich hindurch und fand sich, umgeben von Äxten und Keulen, in einem erhellten Raum wieder. Hurda strahlte ihn siegessicher an. »Du bist in meine Falle getreten, Assassine«, höhnte er und ging auf ihn zu. Der Barbarenfürst riss ihm die Kapuze aus dem Gesicht, starrte ihn erst einige Zeit fraglos an, dann fing er laut an zu lachen. »Du bist jetzt der Lakai Kureks?« Amüsiert setzte er sich auf die Kante des hölzernen Himmelbettes. »Wie tief bist du nur gesunken, Tsvirai.« »Du?« Hinter einigen Soldaten tauchte ein junger Mann auf. Er ging auf Tsvirai zu und starrte ihn fassungslos an. »Du hast mich damals vor den Männern gerettet«, sagte der Junge. »In den Katakomben, weißt du noch?« Tsvirai starrte den Jungen an. Vor seinem inneren Auge sah er die Bilder des Kampfes und der toten Familie. »Das ist interessant«, sagte Hurda, ging auf den Jungen zu und packte ihn am Kinn. »Der große Tsvirai rettet einem unbedeutenden Wurm das Leben. Wann bist du so weich geworden, Assassine?« Tsvirai spuckte ihm vor die Füße. »Lass ihn.« »Warum sollte ich? Du bist mein Gefangener und nicht in der Lage, mir Befehle zu erteilen!« Er warf den Jungen in eine Ecke und widmete seine Aufmerksamkeit wieder Tsvirai. »Und jetzt zu dir, geschätzter Freund. Beenden wir, warum du hier bist.« Tsvirai grinste bloß und zeigte mit dem Kopf in Richtung des Jungen. »Ich bin wegen ihm hier.« Hurdas Blick fiel auf ein kleines Amulett, das den Mond darstellte. »Ich bin hier um ihn zu holen«, sagte Tsvirai. »Ich habe keinen Auftrag von Kurek erhalten.« »Die Mondkinder«, hauchte der Barbarenfürst bloß. Seine Krieger leisteten keinen Widerstand, als sich Tsvirai aus ihrem Griff befreite. Er ging zu dem Jungen, half ihm auf die Beine und gab ihm das Amulett. »Ich bringe den Jungen jetzt zu Seinesgleichen.« Hurda neigte sein stattliches Haupt, als Tsvirai und der Junge an ihm vorbeigingen. Sämtliche Krieger gingen in die Knie. »Wann wollt Ihr uns verlassen?«, fragte der Barbarenfürst ehrfürchtig. »Wir gehen mit der Morgendämmerung.« Kapitel 5: Wahrheit? -------------------- Die Schlittenhunde bellten und jaulten zum Abschied. Hurdas Männer winkten ihnen noch eine ganze Weile nach, dann hörten Vill und Tsvirai die Peitschen knallen. Fast zwei Wochen hatte es gedauert, ehe der Schnee gewichen war. Der Landstrich, den sie jetzt betraten, war kahl und kalt. Kaum ein Baum oder Strauch wuchs hier, denn über die Jahrhunderte hinweg wurde dieses Land von Gletschern geformt und verändert. Ständig wehte ein eisiger Wind und es gab nur wenige Tage, an denen es nicht regnete. Die hügelige Gegend, das Ende der Berge im Westen, grenzte im Süden an Hurdas Barbarenreich. Die einzigen Tiere, die hier lebten, waren Hasen, Erdhörnchen, Füchse, Mäuse und eine seltene Wildhühnerart. Tsvirai und Vill, in dicke Decken eingehüllt, erklommen gerade einen kleinen Hügelkamm, als der Regen einsetzte. Schlagartig sank die Temperatur um mehrere Grad und Eis begleitete die dicken Tropfen. Der, mit dürrem Steppengras bewachsene, Erdboden war binnen Sekunden durchnässt, genau wie die beiden Reisenden. Vill testete, ob er seinen Atem schon halten konnte, doch seine Hand wurde schnell rot und brannte. Durch die graue Wolkendecke drang matt die Sonne, doch ihre Kraft hatte dem schlechten Wetter nichts entgegenzusetzen. Sie schien einen bereits verlorenen Kampf zu kämpfen. Stundenlang liefen Tsvirai und Vill durch die eisige Kälte, am ganzen Leib schlotternd, mit dunkelroten Nasen und Ohren. Vills Zähne klapperten wie ein teures Porzellangedeck nach einer heftigen Erschütterung. Tsvirai haderte mit sämtlichen Göttern, die ihm in den Kopf schossen, und als er bei dem Dreißigsten angekommen war, da fand er endlich eine Felsformation, mitten in der Landschaft aufragend, ein Überbleibsel der letzten Eiszeit, wo eine Felsnase einen trockenen Unterschlupf bot. Mühsam entzündete der Assassine, Hurda hatte ihnen reichlich Feuerholz mitgegeben, denn der Barbarenkönig kannte die Gegend und ihre Gefahren gut, ein Feuer. Wärmende Flammen leckten gierig nach dem Holz, das Licht schien die Kälte abzuhalten. Unterdessen hatte Vill mehrere Felsbrocken gesammelt, die nun als Schemel und Tisch herhalten mussten. Gerade wollte es sich der junge Mann gemütlich machen, da fuhr Tsvirai herum, zog seine Klinge blank und presste die Spitze des Schwertes gegen Vills Kehle. »Was soll das werden?«, fragte der Junge nervös und traute sich nicht zu schlucken, denn dann würde er sich selbst die Kehle ritzen, so nah lag die Klinge des Schwertes an seinem Hals. Vill schaute seinen Gefährten ratlos, aber zugleich nervös und verängstigt an. Er fühlte, wie ihm der Schweiß auf der Stirn stand. Langsam hob er die Arme über den Kopf und versuchte, ein gespieltes Grinsen aufzusetzen. Tsvirais Züge waren grimmig und eisern. Seine moosgrünen Augen funkelten zornig. Die Muskeln in seinem rechten Arm waren angespannt, bereit, schnell wie eine Schlange zuzuschlagen. »Wo hast du das Amulett her?« Jetzt schluckte Vill doch und spürte, wie die Spitze der Klinge leicht in seine Haut drang. Ein Blutrinnsal lief ihm auf die Brust und hinein in das nasse Leinenhemd, das er unter dem dicken Wams aus Bärenfell trug. Hatte der Krieger ihn durchschaut? »Ich bin ein Kind des Mondes«, log er, »und jedes Kind hat ein Amulett.« »Erzähle mir keine Märchen. Warum sollten die Mondkinder einen Jungen aufnehmen? Was haben sie davon? Du kannst ja nicht einmal kämpfen!« Vill spürte erneut ein leichtes Stechen am Hals. »Ich bin sehr wichtig für sie und außerdem kann ich kämpfen!« Er versuchte überzeugt zu klingen, doch angesichts der Tatsache, dass ein Schwert ihn zu durchbohren drohte, war er sich nicht so sicher? »Du kannst nicht kämpfen«, höhnte Tsvirai, zog das Messer aus Vills Gürtel und warf es ihm vor die Füße. »Kein Krieger läuft mit einem stumpfen Messer umher.« Vill spürte, wie ihm der Schweiß jetzt über das Gesicht lief. Tsvirai starrte ihn unbeirrt an, als sei er eine leblose Statue. Seine Augen, die ein unheimliches Funkeln beherbergten, waren die Augen eines skrupellosen Mörders. »Was soll das werden?«, fragte der Junge erneut, doch Tsvirai blieb versteinert. Eine ganze Weile standen sie so, dann rührte sich der Assassine. »Ich will die Wahrheit wissen.« »Die Wahrheit?« Vill versuchte, ein heiteres Grinsen über die Lippen zu bringen, und seine Angst zu verbergen. »Und jetzt erzählst du mir besser, was ich hören will!« Vill schluckte erneut. Wieder spürte er einen leichten Stich im Hals. Wieder setzte er ein gespieltes Grinsen auf und hoffte, dass es überzeugend wirkte. Entweder war das Grinsen überwältigend oder Tsvirai hatte ihn durchschaut, denn er blieb wie versteinert. »Woher hast du das Amulett?« Tsvirais Mund war der einzige Teil des Gesichtes, der sich bewegte. Er blinzelte nicht einmal, so ernst schien ihm die Angelegenheit zu sein. »Ich bin ein Mondkind«, antwortete Vill und versuchte erneut, überzeugend zu klingen. »Jedes Mondkind besitzt ein Amulett.« »Seit wann nehmen sie einen wehrlosen Burschen wie dich auf?« Dieses Mal war das Grinsen ein erleichtertes. Jetzt hatte Vill die Regeln dieses Verhörs verstanden. »Das sage ich dir nicht. Du willst etwas von mir wissen? Dann erzähle erst einmal von dir. Außer deinem Namen weiß ich nichts über dich.« Scheinbar hatte diese Antwort gesessen, denn der Assassine blickte verunsichert zu Boden. »Ich kann zwar nicht kämpfen, aber ich bin nicht dumm.« Vill hatte mit der Fassung ringen müssen, doch jetzt war er sich so sicher wie noch nie. So sicher, dass er meinte, aus der Situation zu entkommen. »Wenn du mich jetzt tötest, dann erfährst du nichts. Erzähle von dir, dann rede ich.« Vill machte einen Schritt vor. Warum wusste er nicht. Erst im Gehen wurde ihm klar, das dies seinen Tod bedeuten konnte. Doch Tsvirai reagierte, ging ebenso einen Schritt zurück und die Klinge lag noch immer am Hals des Jungen, so als hätten sie sich nicht bewegt. „Er ist gut“, dachte Vill und tat noch einen Schritt. Wieder folgte Tsvirai und das Schwert blieb an Vills Hals. Gerade wollte der Junge einen weiteren Schritt machen, da zog der Krieger die Klinge zurück und schob sie elegant in die schwarze Scheide aus Leder. »Ich lasse mich nicht so leicht austricksen, aber du hast mich überzeugt. Ich werde dir von mir erzählen.« Innerlich jubelte der Junge. Er hatte es geschafft, die Situation zu seinen Gunsten zu drehen. »Wie fange ich am besten an? Vielleicht erzähle ich dir zunächst, wer ich bin und woher ich komme.« Vill nahm auf dem Felsbrocken platz, den er sich bereitgelegt hatte und legte weiteres Holz in das Feuer. »Ich bin Assayer«, fing Tsvirai an, schwieg dann aber eine Weile. Vill hatte schon von den Assayern gehört. Wenn man den Geschichten trauen konnte, waren sie die ersten Chronisten der Welt. Schon viele Jahre vor anderen Kulturen hatten sie eine eigene Schrift und die meisten Schriften der heutigen Welt basierten auf eben jener Schrift. Zudem waren sie geschickte Handwerker und Naturforscher. »Mein Volk stammt aus dem Land Eurydka«, fuhr Tsvirai endlich fort. »Sie waren die ersten Chronisten und lebten vor allem in bergigen Regionen, im Wald oder auf der Steppe. Die Assayer waren ein stolzes Volk, das viele Neider hatte. Schon vor vielen Jahren wurden unzählige Kriege geführt und wegen der ständigen Bedrohung wurden schon die Jüngsten unter uns zu Kriegern herangezogen.« Tsvirai wühlte in seinem Rucksack herum und zog eine kleine Holzfigur hervor. Sie zeigte einen, mit Federn geschmückten Mann. »Unser Gott, Tukalan. Er bändigte den Wind und machte ihn zu unserer Gabe. Du musst wissen, dass die Assayer den Wind anbeteten. Uns wurde damals viel beigebracht. Nicht nur das Kämpfen, auch lernten wir viel in unseren Schulen, denn Wissen war eine Tugend.« »Wieso redest du ständig so, als ob es die Assayer nicht mehr gibt?« Vill war aufgeregt. Er hatte bemerkt, wie schwer es Tsvirai fiel, über seine Vergangenheit zu reden. »Du bist zu jung, um es zu wissen, aber die Assayer gibt es nicht mehr. Vor knapp einhundert Jahren, als dieses Land ein Flickenteppich bestehend aus Kleinststaaten war, da kam der Großvater des jetzigen Königs an die Macht. Er einte das Land, um es zu unterdrücken. Du kennst doch die Berge im Westen.« Vill nickte. Natürlich kannte er sie. Sie waren hunderte Meilen von seiner Heimatstadt entfernt und bildeten die Grenze des Großkönigreiches. »Dort lebten die Assayer. Auf der Ebene und im Wald davor und in den Bergen selbst. Der König wollte auch sie in sein Reich einbeziehen, doch die Assayer, von Natur aus ein Volk, das stets auf Freiheit besinnt war, weigerten sich. Somit erklärte der König ihnen den Krieg. Ich war damals keine zehn Jahre alt, als mein Vater mit den Männern meines Stammes in den Krieg zog. Keiner von ihnen überlebte die nächsten fünf Jahre, denn wer nach der entscheidenden Schlacht zurückkam, der wurde von den Soldaten des Reiches zu Tode gehetzt, gehängt oder öffentlich geköpft. Raubend, brandschatzend und mordend zogen die Soldaten durch unser Land. Sie ermordeten alle: Frauen, Kinder, Alte. Ich konnte ihnen entkommen, weil ich gerade im Wald spielen war. Als ich in mein Dorf zurückkam, fand ich nur noch brennende Ruinen und überall Leichen auf den Wegen.« Tsvirai legte wieder eine Pause ein, in der er deutlich hörbar schluckte. »Damals fand mich ein Soldat, doch er konnte mich nicht niederstrecken. Heimlich nahm er mich auf und er war wie ein Vater für mich. Einige Jahre später wurde er wegen Hochverrats hingerichtet. Seitdem lebe ich allein in dieser Welt. Aber warum erzähle ich dir das eigentlich? Die meisten kennen noch nicht einmal meinen Namen.« Vill war inzwischen so aufgeregt, dass er auf dem Stein hin und her wippte. »Vielleicht liegt es daran, dass ich mich nicht mehr als Assayer fühle, vielleicht auch, weil meine Ausbildung nie abgeschlossen wurde. Wie auch immer. Jetzt erzählst du mir, was ich hören will.« Tsvirai richtete sein Schwert wieder auf Vill. »Wieso nehmen sie einen Burschen wie dich auf und bist du wirklich ein Kind des Mondes?« »Ich bin wichtig für sie«, stammelte Vill, dem die Wendung des Gesprächs überhaupt nicht gefiel. Noch vor wenigen Augenblicken, so schien es zumindest, war der Assassine den Tränen nah und jetzt war seine Miene wieder erstarrt. »Warum bist du wichtig?« »Ich darf es nicht sagen.« »Wo finde ich die Kinder des Mondes?« Vill war überrascht, eigentlich hatte er erwartet, dass Tsvirai weiter nachhakte, aber dass er es einfach hinnahm, damit hatte er überhaupt nicht gerechnet. »Wo finde ich die Kinder des Mondes?«, wiederholte der Assayer seine Frage, aber nicht, ohne mit dem Schwert ein bisschen nachzuhelfen. Vill spürte einen vierten Stich im Hals. »In einer Stadt«, würgte er blitzschnell hervor. »Du musst in einer Stadt suchen.« »Wie finde ich sie?« »Sie finden uns. Ich muss nur das Amulett tragen, dann werden sie uns finden.« Innerlich betete Vill, dass er überzeugend klang, damit der Assayer die Lüge nicht erkannte. »Die nächst größere Stadt ist Drheinsburg. Finde ich dort die Mondkinder?« »Natürlich.« Woher sollte Vill das denn wissen. Erneut betete er, doch diesmal, dass es Mondkinder in dieser Stadt gab. Zufrieden schob Tsvirai sein Schwert in die Scheide zurück. Er ließ sich auf einem Felsbrocken nieder und starrte ins Feuer. Vill war erleichtert. Sein Herz raste noch immer wie wild, die vier Stiche im Hals spürte er nicht einmal mehr. Er ließ das Blut einfach laufen. »Darf ich dich etwas fragen?« Der Assassine hatte inzwischen einen Brotkanten ausgepackt und kaute genüsslich darauf herum. »Sicher.« »Wie ist es möglich, dass du den Krieg damals miterlebt hast? Du sagtest, dass du damals keine zehn Jahre alt warst.« »Und?« »Wenn der Krieg wirklich vor fast einhundert Jahren war, dann müsstest du jetzt einhundert Jahre alt sein oder sogar noch älter.« Tsvirai grinste schelmisch. »Die Assayer rechnen die Jahre anders. Nach ihrer Rechnung bin ich etwas älter als vierzig. Das sind fast einhundert Jahre«, fügte er grinsend hinzu, als er Vills Verwirrung sah. »Aber wie …?«, brachte der Junge stotternd hervor. »Assayer leben länger als normale Menschen. Ist die gute Luft in unserem Land. Nein, natürlich nicht«, sagte er und musste lachen, als er Vills verdutzten Gesichtsausdruck sah. »Ich weiß nicht, wieso Assayer länger leben.« Mit diesen Worten warf er Vill einen Brotkanten zu, suchte einen Verband, und verarztete die Wunden am Hals des Jungen. Anschließend saßen sie noch eine Weile am Feuer und lauschten dem, noch immer strömenden, Regen. Am nächsten Morgen brachen sie, nachdem sich der Regen endlich gelegt hatte, nach Drheinsburg auf. Eine ganze Woche benötigten sie dafür, doch ihre Freude war umso größer, als sie endlich wieder in der Zivilisation angekommen waren. »Da fällt mir gerade etwas ein«, sagte Tsvirai, als sie von einem Hügel aus auf die Stadt blickten. »Warum schlage ich mich eigentlich mit dir herum? Wäre es für mich nicht viel einfacher, wenn ich dir die Kehle durchschneide, mir das Amulett umhänge und die Kinder des Mondes suche?« Kalter Schweiß stand Vill auf der Stirn, denn am Tonfall des Assayers hörte er, dass er es ernst meinte. »Die Mondkinder kennen ihre Brüder und Schwestern. Wenn jemand das Amulett trägt, der nicht zu ihnen gehört, dann töten sie ihn.« Tsvirai grinste. »Schade«, sagte er so leise, dass Vill es nicht hörte. Drheinsburg war ein kleines Städtchen, weit abseits anderer Städte. Die nördlichste Stadt des Königreiches lag an einem Fluss, der in Hurdas Land entsprang. Hier war er schon zu einem beachtlichen Strom herangewachsen, der die Stadt in zwei Hälften teilte. Da es das ganze Jahr über sehr kalt war und viel Regen fiel, waren die meisten Menschen Fischer oder übten ein Handwerk aus. Die meisten jedoch verdienten sich ihr Brot als Schiffer, die große Flöße den Strom hinunter und herauffuhren und die Waren in südlichen Ländern tauschten. Denn nirgendwo sonst gab es so viele Handwerksbetriebe, wie in Drheinsburg. Schmiede, Köhler und viele andere, die mit dem Bergbau zu tun hatten oder damit in Verbindung standen. Die beste Kohle des Königreiches wurde hier gefördert und auch die besten Waffen kamen von hier. Denn der Boden war reich an Erz- und Kohlevorkommen. Außerdem hieß es, zumindest im Süden des Königreiches, dass Drheinsburg ein Abkommen mit den Barbaren hatte. Die meisten Häuser der Stadt waren, der Kälte wegen, aus festem Stein gebaut. Ging man die Straßen entlang, dann sah man überall die Wappen der verschiedenen Betriebe. Viele kleine Plätze und Höfe waren ins Stadtbild eingebaut und sollten als Sammelpunkte für Gesellschaften dienen. Obwohl es ziemlich kalt war und ein leichter Nieselregen eingesetzt hatte, herrschte auf den Straßen ein reges Treiben. Im Hafen hatte gerade ein Floß angelegt und brachte Früchte und Weizen aus dem Süden. Natürlich wuchsen auch hier Getreidesorten und Früchte an den Bäumen, aber es reichte nicht aus, um eine ganze Stadt satt zu kriegen. Im nahegelegenen Wald, um Drheinsburg herum fand man, wie in Hurdas Land übrigens auch, Bäume und Wälder, lebten größere Tiere wie Rehe und Bären, doch auch ihr Fleisch reichte nicht. Tsvirai und Vill quartierten sich im Gasthaus »Zum Braunen Hirsch« ein und nahmen, zum ersten Mal seit fast zwei Wochen, eine vernünftige Mahlzeit zu sich. Anschließend gingen sie, mit dem Amulett um Vills Hals hängend, in der Stadt spazieren. Tsvirai kaufte dem Jungen bei einem Schmied ein Kurzschwert, denn er hatte eingesehen, dass er den Jungen noch brauchte. Auch übte er mit ihm das Kämpfen, damit er sich im Falle des Falles verteidigen konnte. Denn Drheinsburg war ein raues Pflaster, die Miliz korrupt und Banden herrschten in der Stadt. An der langen Kaimauer blieben sie eine Weile stehen und starrten in die grauen Fluten des Flusses. Alles war in dieser Stadt grau. Die Häuser, die Straßen, das Licht, der Fluss. Einfach alles. Nur in den Häusern, an den Kaminen und um die Kerzen herum, erhielt das Leben Farbe. Selbst das Grün der Bäume war nicht wirklich grün. »Wann finden sie uns?«, fragte Tsvirai, nachdem sie minutenlang in die Fluten geschaut hatten. »Sie beobachten uns bereits«, log Vill, denn woher sollte er wissen, wann sie Kontakt aufnahmen. Sie blieben noch eine Weile im Hafen, bei den großen Lagerhäusern, wo es immer nach Fisch roch, aber nicht abartig, sondern angenehm, dann schlenderten sie zum Gasthof zurück und gingen auf ihr Zimmer. Auf dem Boden fanden sie ein weißes Kuvert. Der Abdruck eines Mondes war im Siegelwachs zu erkennen. Mit schweißigen Fingern brach Vill das Wachs und zog das Pergament heraus. Behutsam faltete er es auseinander und las die Botschaft. »Sie wollen uns morgen treffen. Zur Mittagszeit bei der Scheune vor der Stadt. Wir sollen pünktlich sein und niemanden von dem Treffen erzählen.« »Sehr gut.« Zufrieden ließ Tsvirai sich auf sein Bett sinken. Eine ganze Weile lag er noch wach und starrte aus dem einzigen Fenster ihres Zimmers. Er hörte Vills gleichmäßig gehenden Atem und musste grinsen. In Gedanken schärfte er sein Schwert und lockerte seine versteckten Dolche. „Mal sehen, ob sie dir deine Geschichte glauben werden, Vill. Wenn nicht, dann habe ich die richtigen Argumente, um mich herauszureden. Du auch?“ Mit einem Grinsen im Gesicht schlief er ein. Kapitel 6: Absoluter Gehorsam ----------------------------- Schon seit geraumer Zeit frage ich mich, wie tief ein Mann fallen kann, ehe er auf dem Boden aufschlägt und in die Fänge einer abscheulichen Bestie gerät? Wie viel Leid ein einzelner Mann ertragen muss, damit er zu einem blutrünstigen Ungetüm wird, zu einem Wesen, das ohne mit der Wimper zu zucken siebenundsechzig Menschenleben auslöscht? Was hat dieser Mensch verbrochen, was für eine Schuld hat er sich aufgeladen? Und ist er noch zu retten? Oder ist es längst zu spät? Kann ein zerrüttetes Herz geheilt werden? Kann ein jahrhundertealter, aufgestauter Hass, einer gigantische Woge in einem wütenden Meer gleich, besänftigt werden? Kann so ein Mensch, getrieben von Wut, Hass, Blutgier, Mord, kann so ein Mensch Liebe erfahren? Kann er seine Vergangenheit überwinden und sein Schicksal besiegen? Kann er es gar ändern? Oder ist so ein Mensch hoffnungslos verloren? Ich denke, dass die richtige Person ihn heilen kann. Eine reine, unschuldige Seele vermag das zu tun, woran so viele scheiterten. Die Wogen glätten, den Hass vertreiben, die Liebe in diesem Monstrum rühren. Es muss nur die richtige Person sein. Und für jeden Menschen gibt es diese Person. Für jeden kommt einmal der Augenblick, an dem er seine Vergangenheit ruhen lässt und sich auf die Zukunft konzentriert. Denn was vergangen ist, kommt nicht zurück, nur, was noch vor einem liegt, wird man erfahren. Vertraue mir. Ich habe diese Menschen gesehen, ihr Leid, ihren Hass, ihre Wut … und ich habe gesehen, wie sie geheilt wurden. Ich glaube an das Gute in jedem Menschen und in der Welt. Und das solltest du auch. -Der alte Prophet- -aus: Geschichte unserer Welt- Dunkelheit umgab ihn. Schon seit mehreren Wochen hatte er das wärmende Licht der Sonne nicht mehr gesehen. Den wohligen Duft der Wiesen und Wälder nicht mehr gerochen, das Rauschen des Wassers und die Laute der Tiere nicht mehr gehört und das sanfte Streicheln des Windes nicht mehr gespürt. Was er sah, waren dunkle Wände, nass und moosbewachsen. Er roch die feuchte, stinkende Erde, auf der er lag, zwischen Ratten, Kot, altem Stroh und vergammelten Leichen. Was er hörte, waren die Geräusche der Wachen, die durch die dicke Eichentür an seine Ohren drangen. Was er fühlte, waren die verrosteten Ketten, die in seine Hand- und Fußgelenke schnitten, und die gerade so lang waren, dass er das brackige Wasser und das verschimmelte Brot, das er nun schon seit Wochen zu Essen bekam, an den Mund führen konnte. Seine Haare reichten inzwischen bis auf den Boden, sein Bart verhüllte fast vollständig das Gesicht. Nur seine moosgrünen Augen, die noch immer ungebrochen auf das Holz der Tür starrten, der einzige Beweis, dass sein Geist noch ihm gehörte, waren zu sehen. Die Wunden der Tortur zierten seinen, mit Lumpen bedeckten Körper. Unzählige Blutgerinnsel hatten seine Haut rot gefärbt, sein Körper selbst war dürr, man konnte die Rippen einzeln zählen. Es war das erste Mal, dass ihm ein Fehler unterlaufen war und er hatte sich mit jedem Peitschenhieb geschworen, so ein Fehler würde ihm niemals wieder unterlaufen. Durch den dichten, schwarzen Bart drang ein Grinsen an die Oberfläche, welches jedoch sofort einen schweren Hustenanfall nach sich zog. Innerlich jedoch, dort, wo sein Geist frei von Eisen umherwandelte, malte er sich aus, wie er die Rache genießen, sich in dem Blut seiner Peiniger suhlen und dabei hämisch Lachen würde. Denn trotz seines elendigen Zustandes war er fest davon überzeugt, schon bald aus dem Kerker zu fliehen. Sein ganzes jämmerliches Dasein beschränkte sich nun auf die Rache und das Blutbad, dessen war er sich sicher, das er anrichten würde. Da hörte er plötzlich ein unbekanntes Geräusch. Nicht neu, nur vergessen. Er konnte regelrecht spüren, wie ein rostiger Schlüssel ein ebenso rostiges Schloss öffnete. Greller Fackelschein blendete, mit einem lauten Fauchen begleitet, warf er den Kopf zur Seite. Er war lichtscheu geworden, in den Wochen, die er in diesem Loch saß. Er konnte schemenhaft die zwei Wärter erkennen, ein breites Schwert am Gürtel, dornenübersäte Armbänder an den Handgelenken. Ihre Köpfe mussten kahl rasiert sein, ihre Rüstung schien aus Leder zu bestehen. Er roch den beißenden Gestank frischen Blutes. Noch immer hörte er die Schreie, die erst vor wenigen Stunden verklungen waren, noch immer hörte er das Quietschen der Foltergeräte. Er wusste, was jetzt auf ihn zukam und er stellte sich darauf ein. Zwischen die Wärter trat ein Mann, von dem er nur die Stimme kannte. Sie klang weise, obwohl er noch keine vierzig sein konnte. Nie klang sie zornig, nie traurig, nie arrogant, nie eingeschüchtert. Immer selbstsicher, immer leicht fröhlich, voller Kraft und innerer Ruhe. Etwas rauchig und nach viel Alkohol, aber nie zu viel. Sie klang nach Erfahrung, nie nach Unwissen, sie klang nach Verständnis, nie nach Fragen, sie klang nach Ehrfurcht, nie nach Hohn, doch diesmal, diesmal klang sie fremd. Ungewohnt, nahezu verzweifelt, ungewiss, fragend, seufzend. Sie klang aggressiv, wütend, jedoch zugleich beherrschend, ohne jegliche Mordabsicht. Er spürte, dass seine Zeit noch nicht gekommen war. Er roch, dass es für ihn heute nicht zur Folter ging. Er hörte, wie der Mann tief Luft holte, zwei Schritte auf ihn zu machte und mit seinen langen, dünnen Fingern sein Kinn packte. »Was soll ich bloß mit dir machen?« Er drehte den Kopf zur Seite, musterte ihn und presste die Wangen eng zusammen. »Du verdammter Schweinehund. Wie soll ich dich büßen lassen für deine Tat? Wie kann ich deinen Mord sühnen und wie kann ich deinen Mordversuch ausgleichen?« Er gab ihm eine schallende Ohrfeige, richtete sich auf und stöhnte. »Du verdammter Assassine kommst in meine Burg, mischt dich unter meine Männer und versuchst, mich hinterrücks zu erdolchen. Ich sollte dich hinrichten lassen und trotzdem kommt der Befehl nicht über meine Lippen, will es nicht. Wieso?« Jetzt schrie er ihm direkt ins Gesicht, Speichel traf die Stirn und verschwand im Bart. »Wieso? Wieso kann ich nicht einfach deine Tod befehlen? Wieso bewundere ich dich für deinen Mut und dein Können. Wieso bin ich froh, dass du zu mir kamst und ich dich einsperren ließ? Aber vor allem frage ich mich, wieso gerade ich? Wieso wurde ich Ziel deiner Künste, Assassine? Was habe ich verbrochen? Ich, Kurek Themeus von Sechling, der gütigste Herrscher, den diese Region jemals gesehen hat? Die Erträge sind reich, die Abgaben gering. Ich lasse meine Untertanen Holz für ihre Zwecke schlagen und erlaube ihnen, einmal im Monat einen Bock zu jagen. Und trotzdem werde ich zum Ziel eines Assassinen. Warum? Was willst du von mir?« Kurek von Sechling schritt die Kerkerzelle langsam und gemütlich ab. Jedes Mal, wenn er eine Frage stellte, dann drehte er sich zu seinem Gefangenen und spreizte die Arme weit vom Körper ab. Seine Brust beugte sich dabei nach vorne, sein Hals und sein Kopf blieben allerdings zurück. Es sah seltsam aus, fremd, wenn er sich so verbog. Plötzlich riss Kurek von Sechling eine der Fackeln an sich und ging mit seinem Kopf nahe an seinen Gefangenen heran. Es war das erste Mal, dass der Gefangene das Gesicht des Grafen sah. Dunkle, warmherzige Augen starrten ihn aus einem faltenfreien, scheinbar alterlosen Gesicht an. Kurek von Sechling hatte dichte, braune Augenbrauen und ebenso braunes Haar, welches mit Fett zurückgelegt war. Einige Strähnchen hingen ihm auf der Stirn, unter der leicht schiefen Nase saß ein dichter Schnauzer. Zusätzlich trug der Graf einen eleganten Spitzbart, das restliche Gesicht war sauber rasiert. Scheinbar legte Kurek von Sechling Wert auf Hygiene, denn sein Atem roch angenehm und seine Zähne waren gepflegt. Auch die Hand, die das schmutzige Holz der Fackel umklammerte, war auf dem Handrücken tadellos. »Lasst ihn vorbereiten«, befahl der Graf, drückte dem Wächter die Fackel wieder in die Hand und ging zur Tür. Gerade wollte er um die Ecke verschwinden, da hielt er inne und drehte sich zu seinem Gefangenen um. Ein leichtes Grinsen blitzte im Flammenschein auf, dann verschwand er. Die Wächter verließen die Zelle und schlugen die Tür hinter sich zu. Für eine Weile hatte der Gefangene seine Ruhe. Kurek Themeus von Sechling war ein eleganter, gut aussehender Mann in seinen besten Jahren. Doch das Herz des Grafen hatte noch keine Frau gebunden und so war ihm ein Erbe verwehrt geblieben. Zwar hatte er schon einige Liebschaften überstanden, jedoch hatte er Vorsicht walten lassen, denn nichts forderte den Kopf eines Grafen mehr, als ein uneheliches Kind. Vor wenigen Stunden war der Graf aus den Kerkern seiner Festung zurückgekehrt und bedachte jetzt, tief über ein Schachspiel gebeugt, seinen nächsten Zug. Sein Gegner war niemand Geringeres als sein eigener Bruder, Gurthan Themeus von Sechling. Schon seit Kindesalter an spielten sie Schach und sie waren beide herausragende Spieler. Kurek von Sechling war es bis dato noch nicht ermöglicht worden seinen herausragenden Geist in einem Krieg zu gebrauchen. So wurde Schach zu seinem Spiel und er lieferte sich tagelang Partien mit Menschen aus aller Herren Länder. Jeder Gesandte, der an seinen Hof kam, konnte eine Partie mit dem Grafen nicht umgehen und war er noch so schlecht. »Schach, mein Lieber«, sagte Gurthan und setzte seine Dame zwei Felder vom weißen König entfernt auf das Brett. Der Graf von Sechling verbarg ein Grinsen hinter seiner Hand, zog mit seinem Springer und entfernte die Dame aus dem Spiel. »Wie oft habe ich dir nun schon erzählt, dass ein König sich nicht von einer Dame besiegen lassen darf, Bruderherz?« Gurthan verschränkte nachdenklich die Arme, schaute in das Gesicht seines Bruders und zog mit seinem Turm um drei Felder nach vorne. »Schachmatt!« Daraufhin entfernte er sich rasch vom Spieltisch und wanderte durch die große Halle, in der sie immer saßen und spielten. »Wieso steigst du vermehrt in den Kerker? Gibt es dort unten wunderschöne Jungfrauen? Oder Unmengen von Gold?« »Weder noch.« Kurek ging seinem Bruder entgegen und reichte ihm die Hand. »Du hast wie immer wunderbar gespielt.« Gurthan wandte sich ab und ging zu der großen Glastür, die auf den Balkon führte. Lange Zeit starrte er auf den Hof, über die Mauer hinweg und auf die grünen Felder, die die Burg umgaben. Am Horizont sah er vereinzelt Dörfchen, die alle auf dem Land seines Bruders lagen. Der Regen der letzten Tage war einem strahlend blauen Himmel gewichen und auf den Feldern herrschte ein reges Treiben, denn es zogen bereits neue Wolken auf und die Bauern wollten die Ernte vor dem nächsten Unwetter, dass sie in wenigen Stunden erreichen würde, noch einholen. Innerlich überkam ihn die Wut und sein Gesicht verfinsterte sich. Er war der Erstgeborene und es sollte sein Erbe sein. Vor nunmehr dreißig Jahren war er zusammen mit seinem Vater in den Krieg gezogen und, so wurde es zumindest verlautet, für tot erklärt. Somit ging der Besitz in die Hand seines Bruders über. Als er nach zehn Jahren Gefangenschaft zurückgekehrt war, weigerte sich Kurek, ihm das Erbe der Sechlings zu überlassen und bis jetzt hatte sich nicht viel daran geändert. »Wieso bist du seit Tagen schon so missgestimmt, Bruder?« Kurek legte die Hand auf Gurthans Schulter, stellte sich neben ihn und folgte seinem Blick. »Willst du etwa wieder auf Reisen gehen?« »Du weißt, dass ich das nicht mehr kann, Kurek. Seit ich mir im Krieg diese Wunde zugezogen habe, kann ich die Burg nicht mehr verlassen.« In der Tat waren Gurthans Bewegungen stockend und langsamer als bei anderen. Auch wirkten sie unkontrolliert und gelegentlich suchten ihn heftige Anfälle heim. »Ich sehne mich nach den Abenden an einem Feuer, fern ab der Heimat.« Er zwang sich ein Lächeln auf und umarmte seinen jüngeren Bruder. »Doch ich sollte vergangenen Dingen nicht hinterhertrauern, steht heute schließlich ein so wichtiges Ereignis an.« »Du meinst den Gefangenen?« »Immerhin wollte er meinen geliebten Bruder ermorden. Ich hoffe ja immer noch, dass du ihn Vierteilen lässt.« Kurek grinste bloß und seine Augen strahlten, als Gurthan ihn verdutzt anstarrte. »Ich habe mir etwas viel Besseres überlegt, Bruder.« »Also lässt du ihn über einem Feuer schmoren?« Das falsche Lächeln wuchs zu einem ebenso falschen, aber breiten Grinsen. »Ich wusste es doch gleich.« Erneut schlang er seine Arme um den Hals seines Bruders und drückte ihn, sodass er kaum noch Luft bekam. Da klopfte es an der großen Eichenholztür. Die Flügel schwangen auf und herein traten drei Wächter, die einen edlen, wenn auch ein wenig dürren, Mann begleiteten, dessen Arme in Ketten gelegt waren. »Es ist noch viel besser als du erwartet hast, Bruder. Ich begnadige den Gefangenen.« Alle Farbe schien aus Gurthans Gesicht zu weichen, er stammelte einige Sätze hervor und drückte seine Verwunderung dann doch in vollständigen Sätzen aus. »Aber wieso? Er wollte dich töten. Wieso begnadigst du einen gemeinen Meuchelmörder?« Die drei Wächter machten einen Schritt auf Gurthan Themeus von Sechling zu und zogen ihre Schwerter. »Aus einem einfachen Grund, werter Bruder. Es kam ein Vöglein geflogen und ließ sich neben mir auf dem Geländer nieder. Und wie es da so hockte, da fing es an zu Zwitschern und ich lauschte seiner Melodie gewissenhaft. Als es endete, da warf ich ihm einen Brotkanten hin, das Vöglein nahm ihn dankend an und fliegt seit diesem Tage für mich durch die Welt.« Gurthan schien nicht zu begreifen, was sein Bruder damit ausdrücken wollte. »Und nun, lieber Bruder, darfst du raten, welches Lied mir das nette Vöglein zwitscherte. Soll ich es dir sagen?« Mit jedem Wort, das über die Lippen des Grafen wanderte, verfinsterte sich seine Miene und seine Stimme klang bedrohlicher. Schließlich zog auch er seine Klinge, presste sie seinem Bruder an den Hals und fuhr erbost fort: »Das Lied handelte vom Verrat eines geliebten Mannes. Von einem Mann, der seinem Bruder einen Meuchelmörder auf den Hals hetzt, weil er es nicht ertragen kann, dass sein Bruder die Ländereien des Vaters geerbt hat.« Gurthan atmete vorsichtig aus, setzte ein weiteres falsches Grinsen auf und hob seine Hände. »Du glaubst doch nicht wohl einem hinterhältigen Assassinen. Dieser Bastard würde alles tun, um aus seiner Zelle freizukommen und du hilfst ihm dabei. Er will uns auseinander bringen, Bruder.« Gurthan ging einige Schritte zurück und drehte sich zur Balkontür. »Wenn du diesem Meuchler wirklich Glauben schenkst, mein Bruder, dann habe ich nur noch Eines zu sagen: Wachen!« An die zehn bewaffneten Männer stürmten die Halle, ihre Schwerter funkelten im Licht der Sonne und auf ihren Schilden prangte das Wappen der Sechlings. »Männer«, rief Gurthan von Sechling, drehte sich zu seinem Bruder, zog sein Schwert und zeigte auf die Wärter. »Diese Männer wollen euren Herren töten. Bringt sie zur Strecke!« Mit wildem Geschrei griffen sie die Wärter an und ein heftiges Scharmützel entbrannte. Es dauerte nicht lange, ehe das erste Blut floss und nach wenigen Minuten lagen die Wärter niedergestreckt am Boden. »Es ist aus, Kurek. Viel zu lange musste ich auf meinen Titel warten, den du dir angeeignet hast. Viel zu lange musste ich den lieben Bruder spielen, der mit einer schweren Verletzung aus dem Krieg heimgekehrt ist und alles für seinen Bruder tut. Viel zu lange habe ich deinem Treiben zugesehen, doch das hat jetzt ein Ende.« Blitzschnell zuckte sein Degen nach vorne, grub sich ein Stück in Kureks Gesicht ein und hinterließ eine tiefe Wunde auf der Nase. Der Graf stolperte zurück, täuschte einen hohen Angriff vor und zog seinen Degen nach unten. Er traf das Bein seines Bruders, machte einen Satz nach hinten und stand plötzlich neben dem Gefangenen. »Die Schlüssel«, rief der, hielt dem Grafen die gefesselten Hände hin und sah ihn flehend an. »Ich kämpfe für dich, aber befreie mich von den Fesseln.« Kurek schluckte. Die Schlüssel baumelten noch immer am Gürtel eines Wärters. Er selbst hatte es nie für nötig gehalten, sich ebenfalls Schlüssel umzuhängen. Der Gefangene verstand. »Dann sollten wir verschwinden.« Ohne weitere Erklärungen machte er kehrt und stürmte durch die Tür davon. Kurek zögerte nicht lange und rannte ihm hinterher. »Holt sie euch«, hörten sie Gurthan noch brüllen, dann waren sie zu weit entfernt. Kurek und der Gefangene hasteten durch die unzähligen Gänge der Burg. Jetzt wurde dem Grafen auch klar, warum sein Bruder die Hinrichtung angesetzt hatte und warum alle Soldaten dort anwesend sein sollten. »Wo werde ich die Fesseln los?« Verstört starrte Kurek den Gefangenen an. Was interessierte es ihn, wo man die Fesseln los wurde? Er musste um sein Leben rennen und hoffen, dass er den Galgenplatz vor den Wachen seines Bruders erreichte. »Wo werde ich die verdammten Fesseln los?«, fragte ihn der Gefangene erneut, doch diesmal brüllte er ihn aus Leibeskräften an. »Die Schmiede«, stammelte Kurek und bog um eine Ecke. »Hier entlang.« Sie rannten über den Hof, als ein gellender Ruf an ihre Ohren drang. Ein Pfeil bohrte sich in einen Wagen, den sie gerade passierten, ein Zweiter verfehlte Kurek nur knapp. Ein Dritter jedoch fand ein Ziel und bohrte sich in die rechte Wade des Grafen. Mit letzter Kraft hastete er in die Schmiede und verrammelte die Tür, nachdem der Gefangene auch angekommen war. Ohne zu zögern, nahm der sich einen Hammer und drosch auf die Kettenglieder ein. Gleichzeitig hämmerten die Wärter an die dicke Holztür. Mit schmerzverzerrtem Gesicht versuchte der Graf den Pfeilschaft, der knapp über der Wunde abgebrochen war, aus seinem Bein zu ziehen. Blut lief ihm die Wade hinunter und tropfte auf den sandigen Boden in der Schmiede. Ein Esel, der zum Antrieb einiger Geräte und zum Tragen schwerer Lasten angeschafft worden war, beobachtete das Treiben. Plötzlich zertrümmerte eine Axt die Holztür und drei Wachen stürmten das Gebäude. Der Erste bekam den Schmiedehammer ins Gesicht gedroschen, mit dem der Gefangene die Fessel zertrümmert hatte. Noch während der Soldat zu Boden sank, entwendete er den Degen aus dessen Hand und stach die anderen beiden nieder. Dann sprang er vor die Tür, fegte einen Degen beiseite und erledigte im Handumdrehen mit Klinge und Hammer die übrigen Soldaten. Kurek, an den massiven Amboss gelehnt, beobachtete den tödlichen Tanz. Gerade ging der letzte Soldat zu Boden, da spürte er einen brennenden Stich in der Schulter. »Du kannst mir nicht entkommen, Bruder.« Gurthan hatte sich durch die Hintertür an ihn herangeschlichen und zog ihn jetzt, von den Schmerzen der Wunden in Bein, Schulter und auf dem Gesicht begleitet, auf die Beine. Vor allem der Kratzer im Gesicht machte Kurek zu schaffen, denn sein Kopf fühlte sich an als wolle er platzen und das Blut behinderte ihn beim Atmen. Durch die wilde Flucht war er sowieso noch ganz außer Atem, das Blut tat das Übrige. »Du verdammter Assassine«, donnerte Gurthan und nutzte seinen Bruder als Geisel, um die Schmiede unbehelligt verlassen zu können. »Wer bist du eigentlich, dass du meinem Bruder hilfst? Ich habe dich schließlich auf ihn gehetzt. Du hast mir die Treue geschworen. Wie waren doch gleich deine Worte? Absoluter Gehorsam deinem Herren gegenüber.« »Ich habe schon vielen die Treue geschworen«, sagte der Assassine und richtete die Klinge gegen den Grafen und seinen Bruder. »Ich leistete schon vielen Herren absoluten Gehorsam, aber nur so lange, wie sie zahlen. Und dein Bruder hat mir einen besseren Preis gemacht. Er wird mich begnadigen und meine Taten mit Geld entlohnen. Er ist mein neuer Herr und du wirst sterben.« Als er diese Worte aussprach, traf ein einzelner Regentropfen die Klinge des blutigen Degens. Doch schon nach kurzer Zeit brachen die Schleusen des Himmels auf und ein Sturzbach ergoss sich auf die Welt. Der staubige Hof verwandelte sich in ein Schlammloch, das Blut der Leichen wurde hinfort gespült und in der Ferne verkündeten Trompeten vom Abbruch der geplanten Hinrichtung. »Was hast du Bastard eben gesagt?« Gurthan traute seinen Ohren kaum. In der Stimme des Assassinen hatte er keinen Zweifel vernehmen können. Er war sich seiner Sache absolut sicher. »Du wirst sterben. Ich lasse dich für den Verrat büßen.« Ohne zu zögern, schnellte der Degen nach vorne und verfehlte Gurthans Kopf nur um Haaresbreite. Doch der Angriff reichte aus, damit sich Kurek aus dem Griff des Verräters befreien konnte. Noch während er zurücksprang, zog Gurthan seinen Degen rasch von links nach rechts und traf seinen Bruder im Rücken. Der samtene Anzug hatte der Klinge nichts entgegen zu setzen und sie drang tief in das Fleisch ein. Schreiend sackte der Graf zusammen. »Du kannst es dir noch überlegen«, blaffte Gurthan und hielt seinen Degen hoch erhoben, um Angriffe des Assassine zu kontern. »Ich zahle dir das Doppelt, nein, das Dreifache. Töte meinen Bruder und lass mich leben. Dann wirst du frei und reich sein.« Der Assassine senkte die erbeutete Waffe und überlegte. Den Moment der Unachtsamkeit nutzte Gurthan aus, sprang nach vorne und stach zu. Doch wie sich herausstellte, war der Assassine nicht unaufmerksam, sondern wich dem Stich aus und drosch seine Faust in das Gesicht seines Gegners. Gurthan ging mit blutender Nase zu Boden und landete im Schlamm des Hofes. Der Assassine grinste, strich sich mit der Hand über die rasierte Gesichtshaut und durch die nassen, schwarzen Haare und hob den Degen. »Angesichts der Tatsache, dass er der Graf und somit Herr der Burg ist, werde ich dich töten.« Er rannte auf Gurthan zu, stach senkrecht nach unten, zog den Degen jedoch noch herum, sodass er seinem Gegner zwar eine tödliche Wunde zufügte, er aber nicht ohne Leid die Welt verlassen würde. Genüsslich zog er den Degen aus dem Fleisch und reinigte ihn an der Kleidung. Kurek lag in einiger Entfernung im Schlamm und keuchte. Allmählich verlor er zu viel Blut und seine Augen sahen schon jetzt nur noch ein verschwommenes Bild. Mit viel Mühe hatte er sich auf den aufgerissenen Rücken gedreht, um den Zweikampf beobachten zu können. Eine innere Freude überkam ihn, als der Assassine seinen Bruder niederstreckte. Gerade zog er die Klinge aus der Brust des Verräters, da schlugen zwei Bolzen im Rücken seines Retters ein und er sank zu Boden. Die Schmerzen betäubten seine Sinne. Weder fühlte er die Kälte des Schlammes, noch hörte er die Rufe der Soldaten, die vom Hinrichtungsplatz in die Burg strömten. Auch sah er nur noch verschwommene Fetzen, die sich zu einer einheitlichen Masse vermischten. Er spürte nicht das warme Blut, das seinen Rücken hinunter lief und er vergaß, dass niemand außer dem Grafen wusste, dass er ein freier Mann war. Mit letzter Kraft würgte er einige verstümmelte Sätze hervor, dann brachte er die Kraft nicht mehr auf und fiel in Ohnmacht. Ein jeder Mann sollte sein Schicksal ändern können. Ist er dazu nicht in der Lage oder will er es nicht einsehen, dann ist er arm. Ist er dazu bereit und stellt sich dem Schicksal entgegen, dann ist er der reichste Mensch der Welt. -Der stille Barde- -aus: Briefe an den Fremden- Kapitel 7: Das Treffen ---------------------- Missgestimmt erwachte Tsvirai am nächsten Morgen. Dieser Traum verfolgte ihn nun schon seit Wochen, warum, wusste er nicht. Vielleicht war es ein Zeichen, vielleicht war es aber nur irgendein Traum unter vielen. Der Assassine warf seinen moosgrünen Umhang über und schnürte die Schwertscheide samt Klinge an seinen Gürtel. Leise schlich er zur Tür, denn er wollte Vill nicht wecken, doch als er das Bett des Jungen sah, bemerkte er, dass er fehlte. Hastig riss er die Tür auf und stürmte die Treppe hinunter, rannte beinahe mit einem Stallburschen zusammen und trat schließlich ins Freie. Es war ein kühler, trüber Morgen. Die Sonne hatte nicht die Kraft, die dichte Wolkendecke zu durchdringen und ein kühler Wind fegte durch die Gassen und Straßen der Stadt. »Wo bist du?«, fragte Tsvirai sich und spurtete los. Fast zwei Stunden irrte er durch ganz Drheinsburg, dann gab er die Suche vorerst auf. Er war nun noch schlechter gelaunt und hoffte, mit einem ordentlichen Frühstück die miese Stimmung zu vertreiben. Erschöpft betrat er den Schankraum des Gasthofes und sank an einem Tisch nieder. »Da bist du ja. Wo hast du denn schon wieder gesteckt?« Tsvirai sprang, wie von einer Wüstenkrabbe gebissen, von seinem Stuhl auf und starrte in Richtung der Stimme. Da saß Vill, drei Tische von ihm entfernt, grinste ihn fröhlich an und kaute auf gebratenen Eiern und knusprigem Speck herum. »Wieso warst du schon so früh draußen?«, fragte der Junge und nahm einen kräftigen Schluck aus seinem Krug. »Seit Mitternacht sind noch keine zehn Stunden verstrichen.« Tsvirai stapfte verärgert zum Tisch hinüber, packte Vill am Kragen und riss dabei den Krug herunter, der scheppernd auf den Dielen zerschlug. Einige Anwesende blickten kurz von ihren Tellern auf, widmeten sich dann aber wieder ihrem Essen. »Wo warst du denn?«, keifte Tsvirai und sein Gesicht lief rot an. »Ich habe dich gesucht, weil du verschwunden warst. Wer hat dir erlaubt, einfach so das Gasthaus zu verlassen?« Vill grinste verlegen und hob die Hände zu seiner Verteidigung. »Ich habe das Gasthaus doch gar nicht verlassen«, sagte er und befreite sich aus dem Griff des Assassinen. »Ich musste dringende Geschäfte erledigen und als ich zurückkam, warst du verschwunden.« Erneut sank Tsvirai erschöpft auf einen ein Stuhl. Inzwischen kam die Wirtin angewackelt und fegte die Scherben auf. Der Thronsaal lag zum größten Teil im Dunkeln. In den vier Säulen, die die Decke der großen Halle stützten, waren kleine Nischen. Jeweils eine Kerze stand in einer Nische und spendete einen Hauch von Licht, kaum genug, um auch nur die nähere Umgebung zu erhellen. Auf seinem Throne, in der Mitte des Saales, saß der König, Rabendan III., Enkel des Rabendan I., des Königs, der das Großkönigreich einte. Des Königs Gesicht lag in tiefen Falten, denn er war müde. Seine Haltung war schlampig, seine Hände hingen von den Armlehnen herunter. Er starrte in die Finsternis, wartete, auch nur die kleinste Bewegung ausmachen zu können, wartete darauf, endlich gute Nachrichten zu hören. Sein langes, rotes Gewand hing schlapp über seinen dürren Schultern, die Krone war leicht verrutscht. Selbst die dicke Schicht Schminke konnte seine Augenringe nicht mehr verbergen. Seit Tagen schlief er schon sehr schlecht, hatte ein ungutes Gefühl. Es würde wieder Krieg geben, das wusste er. Das fühlte er. Als er von der Zerstörung H’ruquons erfahren hatte, war ein Teil seines Heeres nach Gardensa gezogen und hatte dieses Söldnerpack aus Teiflos zu Tode gehetzt. Anschließend waren sie in Tashagat, der Hauptstadt Teiflos, eingefallen und hatten den Marquis zu den Göttern gejagt. »Wie konnte er es nur wagen?«, brüllte Rabendan und seine Worte hallten von den kahlen Wänden des Saales wider. »Nur die Ruhe, mein Gebieter«, flüsterte plötzlich eine Stimme. Aus dem Dunkel tauchte plötzlich die Silhouette eines Mannes auf. Er war groß gewachsen, hatte breite Schultern, jedoch schien ihm ein Hals zu fehlen, denn es sah so aus, als würde der Kopf direkt aus den Schultern wachsen. Das Gesicht des Mannes war unrasiert, eine tiefe Furche zierte die breite Stirn. Die kurz geschorenen, blonden Haare glänzten verschwitzt und die schiefe Nase wirkte furchtbar entstellt. »Ihr habt mich gerufen, mein König, hier bin ich.« Er verneigte sich so weit, dass er beinahe den Boden küssen konnte, dann ging er in die Knie und tat es tatsächlich. »Wo ist dein Bruder, Madak?« »Auch hier!« Eine zweite Silhouette schälte sich aus der Dunkelheit. Dieser Mann war etwas kleiner, und schmaler, ja schon fast zu dünn. Im Gegensatz zu seinem Bruder hatte er lange, schwarze Haare, elegant zu einem Zopf gebunden. Sein dünnes Gesicht war sauber ausrasiert und narbenlos. Tiefschwarze Augen funkelten den König ehrfürchtig an. Ein langer Mantel, außen schwarz, innen rot, fiel bis auf den Boden. An seiner Hüfte baumelte ein Degen, während sein Bruder eine gewaltige Axt auf dem Rücken trug. Der blasse Teint des Dünnen stand im krassen Gegensatz zu der gebräunten Haut seines Bruders, genauso wie die aufwendige Kleidung, die ihm den Schein eines Grafen verlieh. Der Breite hingegen trug einfache Arbeiterkleidung, seine schwieligen Handflächen zeugten von seiner schieren Muskelkraft. Der Dünne verneigte sich genauso tief wie sein Bruder und küsste ebenfalls den Boden. »Schön, dass du es einrichten konntest, Siriom«, sagte der König erschöpft. »Was habt ihr zu berichten?« »Der Marquis ist ein Liebhaber von Pflanzen geworden«, feixte Madak. »Er sieht sich gerade die Wurzeln an.« Ein tiefes Lachen erfüllte den Saal. »Wir haben ihn langsam getötet, ganz, wie Ihr es wünschtet«, sagte Siriom, dessen Stimme wie ein einschneidender Dolch klang und von einem eiskalten Hauch begleitet wurde. »Sonstige Neuigkeiten?«, fragte Rabendan III. und erhob sich von seinem Thron. Er streckte seine Glieder und stöhnte laut. »Keine Neuigkeiten, mein Herr«, antwortete Madak. »Wieso?«, brüllte der König und fasste sich sogleich an seine kahle Stirn. »Ich sollte nicht immer so schreien«, schalt er sich. »Von diesem Kerl fehlt jede Spur. Selbst die Aushänge brachten keinen weiteren Erfolg.« »Außerdem steht das Großkönigreich kurz vor einem Krieg«, fügte Siriom freudig hinzu. »Schon bald wird wieder Blut fließen. Zwei Länder des Nordens haben sich bereits verbündet. Euer Überfall auf Tashagat war keine gute Entscheidung.« »Aber dieses elende Pack aus Teiflos darf meine Untertanen einfach so abschlachten und eine ganze Stadt einreißen.« »Gardensa ist größtenteils unabhängig gewesen. Erst durch euren Einmarsch habt ihr es endgültig dem Reich einverlebt.« Verstört starrte der König zur großen Flügeltür, die sich soeben geöffnet hatte. Ein alter Mann, schwer auf einen Krückstock gestützt, betrat den Saal. Langsam und mit mühsamen Schritten, kam er dem Thron näher, doch so gebrechlich er auch aussehen mochte, seine Stimme war so kräftig wie zu seinen besten Zeiten. »Was hat Euch den weiten Weg vom Dágan Elû hier hergeführt, Emeldur, Großweiser?«, fragte der König. »Eure eigene Dummheit, Rabendan, eure Dummheit war es«, entgegnete der Alte scharf und zeigte mit dem knochigen Finger auf den König. »Euer Überfall kommt einer Sünde gleich und die Götter sehen es nicht gern, in den Zeiten des Friedens ein anderes Land zu überfallen.« »Ihr seid ein weiser Mann, Emeldur, und ein großer Prophet, doch noch bin ich der Herrscher und ich verteidige mein Volk, so gut ich kann.« Emeldur schüttelte bloß den Kopf. Schließlich blieb er, wo er war, stehen und stützte sich auf seinen Stock. »Ihr habt meine Worte nicht verstanden, Rabendan. Ihr begingt eine Sünde, schließlich wart Ihr es, der den Göttern schwor, dem Frieden zu wahren.« »Ein Rachefeldzug«, entgegnete der König, der sich durch die Worte des Alten beleidigt fühlte. »Nein. Rache darf es nicht geben. Euer Vater fiel der Rache zum Opfer. Und Eure Mörder dürfen gerne ins Licht treten«, fügte der Alte hinzu. »Kommt heraus, Madak und Siriom.« Aus den Schatten traten beide hervor, erstaunt, dass der Alte sie bemerkt hatte. »Ich bin ein Weiser und Prophet«, deutete er den Gesichtsausdruck der Brüder. »Ich habe Eure Anwesenheit gespürt.« »Verzeiht, wenn ich Eure Ausführungen unterbreche, Emeldur, aber ich habe meinen Männern noch etwas zu sagen«, rief der König, erbost darüber, dass er ignoriert wurde. Der Alte nickte bloß. »Sprecht, Herr des Großkönigreiches, befehlt Eure Meuchelmörder. Solange nicht ich das Ziel dieser Monster bin.« Der Alte drehte sich um und schien, sich gegen die Worte des Königs abzuschirmen. »Seine Anwesenheit erfordert eine Änderung meiner Pläne«, flüsterte Rabendan den Brüdern ins Ohr. »Meine Soldaten sahen Ihn vor wenigen Wochen in Gersau, nahe des Barbarenreiches. Beginnt in den nördlichen Regionen mit eurer Suche. Findet und tötet Ihn. Hört nicht auf Ihn zu jagen, ehe er nicht niedergestreckt vor euch liegt.« »Ganz wie Ihr wünscht, mein Gebieter«, sagten die Brüder im Chor und waren wenige Augenblicke darauf im Dunkel der Halle verschwunden. »Kommt, Emeldur, Prophet vom Berge, lasst uns in einen Raum gehen, dessen Wände keine Ohren haben«, sagte der König schließlich. Er stützte den Alten, so gut er konnte und führte ihn aus dem Thronsaal. Es war einige Zeit nach Mittag, Vill und Tsvirai standen, mit dem Rücken an die Wand gelehnt, an der Scheune und warteten. Die Sonne hatte es geschafft, die Wolken zumindest für eine Weile zu besiegen und warf ihr wärmendes Licht auf den Erdboden. Dass die Scheune dicht am Waldrand stand, war sowohl Nachteil, als auch Vorteil, fand zumindest Tsvirai. Einerseits sahen sie nicht, ob sie schon seit geraumer Zeit beobachtet wurden, andererseits ermöglichte der Wald eine schnelle Flucht, sollte das Treffen nicht ganz nach Plan verlaufen. Der Assassine hatte sein Schwert ganze dreimal geschärft, denn dieses unbehagliche Gefühl wollte ihn nicht verlassen. Vill hatte die Hände hinter den Kopf gesteckt, kaute auf einem Grashalm herum und freute sich über die Sonne, die in seinem Heimatland eigentlich immer schien, bis auf einige wenige Tage, die er stets aus seinem Gedächtnis strich. »Kommen sie auch?«, fragte Tsvirai, als sie eine Weile gewartet hatten. »Es sind bereits drei Stunden verstrichen und kein einziges Mondkind ist aufgetaucht.« »Sie kommen schon noch«, sagte Vill, doch insgeheim stellte er sich dieselbe Frage. Auch wenn er es zu diesem Zeitpunkt nicht wusste, er sollte recht behalten. Zwar dauerte es noch eine Weile, doch dann kamen sie aus dem Wald hervorgekrochen und umkreisten sie mit gezückten Waffen. Auffällig legte Tsvirai seine Hand auf den Griff des Schwertes. »Stecken lassen«, blaffte ein Mann. Er war etwas kleiner als seine Kameraden, jedoch hatte er den eisernsten Blick. Seine Augen ruhten auf Tsvirai, ignorierten Vill sogar gänzlich. Der Mann spürte, wer der Kämpfer war und wer noch nie gekämpft hatte. »Was wollt Ihr von den Mondkindern«, fragte der Mann, offensichtlich der Anführer. »Wieso seid Ihr in unsere Stadt gekommen?« »Ich will zu den Mondkindern«, antwortete Tsvirai. »Ich will den Rebellen beitreten, den König stürzen. Er ist meine Kontaktperson«, sagte er und zeigte auf Vill. »Den habe ich noch nie gesehen«, sagte der Mann. »Vielleicht hat er dich ja auch belogen, vielleicht ist er nicht einmal ein Kind des Mondes.« »Ich habe Euch auch noch nie in meinem Leben gesehen«, rief Vill, verängstigt, dass Tsvirai dem Mann Glauben schenkte. »Wie lange seid Ihr denn schon ein Kind des Mondes?« »Außerdem wärt Ihr dann nicht hier aufgetaucht«, fügte Tsvirai hinzu. »Wäre er keiner Eurer Brüder, dann wären wir schon seit geraumer Zeit tot.« Der Mann ging einige Schritte auf Tsvirai zu, presste zunächst sein Schwert auf den Hals, dann zog er es allerdings zurück. Sein Mund machte einige seltsame Bewegungen, dann nickte er zustimmend und steckte sein Schwert in die Scheide. »Ihr habt vollkommen recht. Wir hätten Euch mit Pfeilen durchbohrt und …« Einer seiner Kameraden kippte vornüber, ein Pfeil hatte sich in seinen Nacken gebohrt und trat aus dem Hals wieder aus. Rote Banner, mit dem Zeichen des Königs darauf, erschienen zwischen den Bäumen. Pfeile schwirrten durch die Luft, ein weiterer Rebell ging getroffen zu Boden. »Die königliche Garde«, brüllte der Anführer der Mondkinder. »Um die Scheune herum.« Sie setzten sich in Bewegung und stürmten hinter die Scheune, in die erwähnte Sicherheit, doch die war nicht gegeben. Rote Banner und Umhänge wehten ihnen entgegen, Klingen blitzen und erschlugen zwei Rebellen. »Schwerter, Schwerter«, grölte der Anführer, zog sein Eigenes blank und warf sich in den Haufen der Soldaten. Mit drei Hieben hatte er sich durchgeschlagen und stürmte auf die Bogenschützen im Hintergrund zu. Ein Pfeil traf seinen Schenkel, hielt ihn jedoch nicht auf. Auch die anderen Rebellen waren nun in kleine Kämpfe verwickelt, die Wachen schienen aber kein Problem zu sein. Tsvirai hielt sich bewusst im Hintergrund und feuerte Pfeile auf die Bogenschützen ab. Einige nahmen ihn ins Visier, aber der Rebellenführer streckte sie vorher nieder. Mit einem Kopfnicken bedankte sich der Assassine, steckte den Bogen weg und zog sein Schwert. Da er größer war als alle Rebellen und Soldaten, wühlte er sich mühelos durch die Menge, hier einen Hieb landend, da einen parierend. »Lauft«, brüllte er, denn die Soldaten aus dem Wald kamen um die Ecke gestürmt. Als der Weg frei war, flohen die Rebellen, zwei wurden von Pfeilen niedergestreckt, dann verschwanden alle im Wald. Vill irrte zwischen den Bäumen umher. Aus dem Scharmützel an der Scheune hatte er sich größtenteils herausgehalten. Zwar war sein Schwert stets zum Zuschlagen bereit gewesen, doch getötet hatte er keinen Soldaten. Jetzt waren alle verschwunden und er hatte sich verlaufen. Frustriert steckte er sein Schwert weg und trat gegen einen dünnen Ast, der auf dem Weg lag. Er flog einige Meter durch die Luft, dann landete er auf dem Boden. Ein lautes Klacken war zu vernehmen, eine eiserne Bärenfalle schnappte zu und zertrümmerte den Ast mühelos. »Verdammt«, fluchte der Junge. Wo eine Bärenfalle war, lagen noch weitere herum. Vorsichtig ging er weiter, auf jeden Blätterhaufen und jede Unebenheit des Bodens achtend. Eine ganze Weile ging es gut, dann ertönten hinter ihm Stimmen und er sah sich gezwungen, seine Schritte zu beschleunigen, da hallte plötzlich ein Schrei durch den Wald. Jemand war in eine Falle getreten. »Verdammt, Bärenfallen«, hörte er die Stimme eines anderen Mannes. »Macht sie auf«, wimmerte ein Zweiter und schrie kurze Zeit später. »Das waren bestimmt diese verdammten Rebellen«, sagte ein Dritter. Vill fluchte innerlich. Soldaten des Königs. Nervös schaute er sich um und fand schließlich ein Gebüsch, in dem er verschwinden konnte, was sich als Fehler erwies … Den Schmerz spürte er, bevor er das Klacken der Falle überhaupt wahrnahm. Blut färbte seine Hose dunkel, die eisernen Zähne hatten sich tief in das Fleisch seines Beines gegraben. Einen Schrei konnte der junge Mann gerade noch unterdrücken, sein Gesicht sprach Bände. Vor Schmerzen verzerrt und Tränen, die seine Wangen hinunterkullerten. Als wäre alle Kraft aus ihm gefahren, fiel er zu Boden und blieb an Ort und Stelle liegen. »Verflucht«, wisperte er kaum hörbar. Die Soldaten liefen an ihm vorbei, doch lieber hätte er sich von ihnen fangen lassen, als allein im Wald zu liegen, mit einer Bärenfalle im Fuß und langsam daran zu sterben. Wie lange er zusammengekauert unter dem Busch lag, konnte er nicht sagen. Er hatte schon seit Langem sein Zeitgefühl verloren. Er wusste nur, dass es zu Ende ging. Seine Finger wurden bereits taub, die Luft wurde immer kälter. Sein Atem ging schwer und als er es gar nicht mehr aushalten konnte, fiel er, von einem lauten Aufschrei begleitet, in Ohnmacht. Kapitel 8: Der Sharrâht ----------------------- Als die Finsternis um Vill herum wich, drohte der Schmerz ihn erneut in Ohnmacht fallen zu lassen. Einem brennenden Feuer gleich wanderte er durch sein linkes Bein, hinauf in seinen Körper, bis er schließlich im Kopf angelangt war. Seine Sinne ließen ihn schon wieder im Stich, lang Vergangenes erwachte vor seinem inneren Auge wieder zum Leben. Er sah seine Eltern und seine Geschwister tot in den Katakomben liegen. Er roch den Tod, die Feuer, den ekligen Gestank, als der Schwarze Tod die Länder heimsuchte. Er sah verzerrte Grimassen, im Kampf mit ihrem Schicksal, er spürte die Wärme der Scheiterhaufen, fühlte die Kälte des Winters. Als die Bilderflut in seinem Kopf verebbte, verlor sich auch der Schmerz im Nirgendwo und es ließ sich einigermaßen aushalten. Vill schaute sich um, versuchte Dinge zu erkennen, die ihm bekannt vorkamen, Anhaltspunkte, um zu wissen, wo er war. Instinktiv fuhr er dabei mit den Händen über sein Bein, wollte die Bärenfalle spüren, wollte seine Wunde fühlen. Aber es war keine Bärenfalle mehr da, sein Bein war mit einem Verband umwickelt. An einigen Stellen färbte sich das Weiß bereits rot. »Was zum ...?«, fragte er sich sichtlich überrascht, dass er nicht mehr im Wald lag, aber auch noch nicht tot war. »Du bist unser Gefangener«, ertönte eine Stimme. Hastig warf Vill seinen Kopf umher, da die einzige Lichtquelle aber neben ihm stand, konnte er nichts und niemanden erkennen. »Zeig dich«, rief er angespannt, bereit, zuzuschlagen. In einiger Entfernung, genauer genommen auf der anderen Seite der Kammer, sofern es eine Kammer war, wurden mehrere Kerzen angesteckt. Im leichten Schein der Flamme erspähte Vill vier Menschen. Einer hockte auf einem Schemel. In ihm erkannte er den Anführer der Mondkinder. Ein Verband war um seinen Oberschenkel gewickelt, ein weiterer um seinen Kopf, der das linke Auge bedeckte. »Macht mehr Licht«, sagte der Anführer. Die drei Männer neben ihm gingen zu der Feuerschale, entzündeten mehrere Fackeln und steckten sie in vorgesehene Halterungen. »Frag dich nicht, wo wir hier sind, du kennst diesen Ort nicht«, sagte er Anführer zu Vill gewandt, wurde dann aber durch einen Hustenreiz aufgehalten. »Du bist in unserem Versteck«, donnerte einer der drei Männer mit seiner tiefen Stimme wesentlich unfreundlicher. »Genug, Retho«, fauchte der Anführer genervt und richtete sich schließlich zu seiner vollen Größe, die ungefähr zwei Köpfe kleiner war als die seiner Gefolgsleute, auf. »Wir haben dich im Wald gefunden und diene Wunden versorgt. Doch dafür verlangen wir nützliche Informationen von dir. Wer ist der Mann, mit dem du umherziehst? Wer bist du? Was wollt ihr von uns? Wer hat euch geschickt?« Als Vill nach einer ganzen Weile den Mund noch immer nicht aufgemacht hatte, stürmte der Mann auf ihn zu und packte ihn am Hals. »Mach endlich das Maul auf«, brüllte er und eine Zornesfalte machte sich auf seinem Hals breit. Mit einem unsanften Ruck gab er Vill frei, der als Erstes nach Luft schnappte. Die Augen des jungen Mannes blickten den Anführer funkelnd an, dann spuckte Vill ihm vor die Füße. »Du hast es so gewollt«, keifte er, holte mit dem Fuß aus und trat Vill mit voller Wucht gegen seine Wunde. Ein gellender Schmerzensschrei hallte durch den ganzen Unterschlupf, der nicht viel mehr als drei, vier Höhlen war. »Du Schwein«, wimmerte Vill und umklammerte sein Bein. »Sprich endlich«, sagte der Anführer jetzt mit ruhiger, gelassener Stimme, »oder ich lasse Retho und seine Männer zutreten.« Die Drei im Hintergrund grinsten erfreut, einer ließ seine Finger knacken. Schon den ganzen Tag hatten düstere Wolken am Horizont gestanden. Jetzt waren sie herangezogen und türmten sich bis in die höchsten Himmelsschichten auf. Schlagartig wurde es dunkel, das Grollen des Donners drang an Tsvirais Ohren. Es klang tief, voluminös, stimmgewaltig, gleich dem Grollen eines uralten Bergtrolls, Blitze waren aber nicht zu sehen. Allmählich öffnete der Himmel seine Schleusen, doch es waren nur einige dicke Tropfen, die auf die Erde fielen. Dann, als der erste Blitz zuckte, goss es in Bächen herab, Eisstücke ebenso nieder. Der Wind nahm an Intensität zu, fegte wild über das Land und bog die Bäume fast bis auf den Boden. Jeder Blitz war heller als sein Vorgänger und jeder Donner lauter. Regen und Wind gewannen weiterhin an Kraft, Pfützen wurden zu Seen, die sich zu einem endlosen, tosenden Meer vereinigten. Wüsste man es nicht besser, man würde es für das Ende der Welt halten. Tsvirai kauerte, bis auf die Knochen durchnässt, in seinem Versteck im Busch, starrte weiterhin auf den kleinen Hügel am Rande des Waldes und war bester Laune. »Herrliches Wetter«, grölte er gegen den Sturm an. »Da fühlt man sich wie Zuhause.« Sein Lachen war kehlig und machte dem Donner Konkurrenz, zumindest eine Weile, dann schlug ein Blitz in einen Baum und das nachfolgende Grollen verschluckte jedes Geräusch. Tsvirai musste sich die Augen zuhalten, so grell war das Leuchten, doch die Bewegung im Hügel, der einzige Grund, warum er im Unwetter ausharrte, hatte er gesehen. Rasch spurtete er aus seinem Versteck hervor, über das kurze Stück freie Fläche und warf sich, von einem Schmatzen begleitet, gegen die Flanke des Hügels. Sein Schwert hielt er eng an seinen Körper gepresst und als er gerade aufspringen wollte, erschien die Sonne zwischen den Wolken und tauchte die Landschaft in ein unwirkliches Licht. Noch immer fielen unzählige, fast daumengroße Tropfen auf die Erde, doch leuchteten sie im Licht der Sonne, sodass man jeden einzelnen Tropfen sehen konnte. Weit im Osten stand ein schwacher Regenbogen am Himmel, die Wolken dahinter schienen pechschwarz. Tsvirai spürte die Wärme der Sonne auf der Haut, die jedes klamme Gefühl aus seinem Körper trieb. »Wie kann die Sonne scheinen, obwohl es in Strömen regnet?«, fragte sich der Assassine und küsste seine Klinge, die einen gelblichen Farbton angenommen hatte. Als die Sonne wieder hinter den Wolken verschwunden war, sprang er mit einem wilden Schrei auf und verschwand im Innern des Hügels. Gerade schickte er eine Wache mit einem gezielten Schlag auf die Nase zu Boden, da hallte ein Schmerzensschrei durch die Höhlen. »Vill«, hauchte Tsvirai, schob sein Schwert zurück in die Scheide und spurtete los. »Lass gut sein, Retho. Ich bin mir ziemlich sicher, dass der Bursche jetzt reden wird. Habe ich recht.« Dass dies keine Frage war, hatte Vill durchaus verstanden. Der junge Mann biss die Zähne so kräftig aufeinander, dass der Kiefer zu knirschen begann. Seit ihm dieser riesige, breite Rebell gegen das Bein getreten hatte, umgarnte ihn die Süße Verlockung der Ohnmacht wieder. Vill lag auf dem Boden zusammengerollt und weinte nur noch. Er konnte nichts dagegen tun, er wollte es nicht einmal, aber er hatte nicht die nötige Kraft, die Tränen zu stoppen. »Ich sage nichts«, würgte er mühsam hervor und stöhnte sogleich laut, als eine weitere Schmerzwelle gegen ihn brandete. Der frische Verband war schon rot getränkt, das Bein war heiß, glühte, brannte, wie ein Feuer. Der Anführer stapfte entspannt auf Vill zu, zog einen Stuhl heran und ließ sich vor ihm nieder. »Du kannst es dir leicht machen und deine Qualen haben ein Ende«, sagte er mit melodisch klingender Stimme. Es schien ihm einen Heidenspaß zu machen, seinen Gefangenen zu foltern. Genüsslich biss er in eine Frucht, von der Vill nur die Umrisse wahrnahm. »Du kannst dir natürlich auch das Leben schwer machen und den Mund halten«, fügte der Anführer kauend hinzu. Ein lautes Poltern drang durch die Tür, die kurz darauf aufgestoßen wurde. Ein Rebell, der zur Wache eingeteilt war, flog in den Raum, krachte mit voller Wucht gegen Retho und riss ihn mit um. »Ah, Besuch«, frohlockte der Anführer und drehte sich gelassen auf dem Stuhl herum. Eine Klinge legte sich an Rethos Hals, der gerade aufstehen wollte. Fluchend verharrte er in der Bewegung und starrte in Tsvirais wutentbranntes Gesicht. Ein Grinsen kam über ihn, als er sah, dass der Assassine aus einer Wunde an der Schläfe blutete. »Gebt den Jungen freu oder ich schneide ihm die Kehle durch«, drohte Tsvirai. Als sich niemand in dem Raum rührte, schrie er seine Drohung erneut. »Ich würde unsere Situation als Patt bezeichnen«, antwortete der Anführer schließlich, warf den Rest des Apfels weg, stand auf, zog ein Messer aus seinem Stiefel und hielt es an Vills Kehle. »Ich gehe einfach davon aus, dass du deine Geisel genauso wenig laufen lässt, wie ich meine.« Vill war der Meinung, ein leises Knurren zu hören, als Tsvirais Augen von ihm zu Retho wanderten und wieder zurück. Mit der Linken fummelte der Assassine in seiner Tasche herum. »Versuch es nicht erst«, sagte der Anführer gelangweilt und zuckte mit den Augenbrauen. »Du wärst ja doch nicht schnell genug.« Tsvirai zog die Hand aus der Tasche hervor und ballte verärgert die Faust. »Was also schlägst du als Ausweg vor …« »Oh, Verzeihung«, sagte der Anführer und verbeugte sich leicht, ohne jedoch Vill freizugeben. »Mein Name ist Crar.« »Also, dein Vorschlag, Crar?« »Warum denn nicht gleich so«, flötete er und grinste schelmisch. »Bist du mit dem Brauch des Sharrâht vertraut … wie war dein Name doch gleich?« »Unwichtig«, antwortete Tsvirai und ja, ich kenne den Sharrâht.« Missmutig wackelte Crar mit dem Finger, an dem er einen aufwendig verzierten goldenen Ring trug. »So geht das aber nicht. Ohne Namen kein Sharrâht und wir kommen nicht zu einem Ergebnis.« »Er heißt Tsvirai«, sagte Vill und als er sah, wie der Assassine ihn anstarrte, zuckte er bloß mit den Schultern. »Ich will den Dolch nicht noch länger an meiner Kehle haben. Komm du mal in meine Situation.« Tsvirai öffnete die Schnalle seines Gürtels und legte ihn ab. Anschließend zog er seine Stiefel aus und entfernte den Umhang von seinen Schultern. Sein Wams schmiss er achtlos über einen Stuhl und traf dabei Vill. »Was sollte das denn werden?«, schnauzte der junge Mann, dessen Bein von einem Kräutermischer verarztet wurde, nachdem man sich auf den Sharrâht geeinigt hatte. »Was ist eigentlich der Sharrâht?« Tsvirai antwortete Vill eine Weile nicht, dann ließ er sich auf einem Stuhl nieder, massierte seine Füße und sagte: »Der Sharrâht ist ein altes Ritual der Wüstensöhne. Eine Probe, um den Anführer eines Stammes zu ermitteln. Dabei treten zwei Männer im Zweikampf gegeneinander an und versuchen den jeweils anderen zu besiegen. Wer auch immer zuerst aufgibt oder eine Prüfung nicht besteht, der hat verloren.« »Aber er ist nicht einfach ein ordinäres Duell«, fügte Crar an. »Sonst wäre ein eigener Name überflüssig und man könnte ihn ja einfach Duell nennen.« Vergnügt zupfte er an seinem Bart, den er nur um den Mund herum hatte stehen lassen. Seine kurzen Haare schimmerten im Licht einer Fackel geheimnisvoll. »Deine Forderungen, Tsvirai.« Tsvirai überlegte kurz, dann ging er die wenigen Schritte auf den Anführer der Mondkinder zu und verneigte sich, wie es die Gesetze des Sharrâht verlangten. »Wenn ich gewinne, dann werdet ihr euch um seine Verletzung kümmern. Außerdem sind wir freie Menschen und ihr nehmt uns bei den Mondkindern auf.« »Ich werde mein Bestmögliches tun, um das zu verhindern.« Crar verbeugte sich ebenfalls. »Wenn ich aber gewinne, Assassine, dann seid ihr meine Gefangenen und werdet mir alles über euch erzählen. Und lass dir gesagt sein, dass mich eure Worte überzeugen, sonst seid ihr des Todes.« »Auch ich werde mein Bestes geben, um dies zu verhindern.« Sie reichten sich die Hände zum Kriegergruß und verließen zusammen die Kammer. Draußen vor dem Hügel angekommen ließen sie sich beide auf der Erde nieder. Der Regen war schon vor einer ganzen Weile verschwunden und auch der Boden war seltsamerweise bereits trocken. Vor dem Eingang waren zudem kleine Erdhügel aufgeschüttet worden. Vier Männer schleppten je eine Feuerschale, die sie auf den Hügeln ausleerten. Glühende Kohlen kullerten umher und blieben schließlich reglos liegen. Neben Vill machte es sich Retho gemütlich und grölte Crar etwas entgegen. »Die erste Prüfung«, sagte der Anführer mit fester Stimme, »ist der Lauf über glühende Kohlen. Der Herausgeforderte darf anfangen.« »Lass das«, rief Vill plötzlich. »Du bist verrückt. Das ist es nicht wert!« »Doch, das ist es«, unterbrach Retho ihn und klopfte ihm auf den Rücken. »Weißt du, Junge, manchmal muss man eben tun, was getan werden muss. »Aber wenn noch mehr von diesen Prüfungen kommen, dann werden sie sich umbringen.« »Dann soll es so sein«, sagte jetzt Tsvirai und ohne noch länger zu zögern, lief er barfuß über die Kohlen. Als er am Ende angekommen war, drehte er um und ließ das Stück zurück. Seine Miene blieb regungslos, während alle Umstehenden den Atem anhielten. Vill vermochte erst gar nicht, hinzusehen. »Er ist ein großer Kämpfer«, staunte Retho und tippte Vill an, als Tsvirai wieder Gras unter seinen Füßen hatte. »Viele schrecken davor zurück und eigentlich ist dies eine der letzten Proben.« »Du scheinst dich ja sehr gut mit dem Sharrâht auszukennen«, sagte Vill und musterte den großen Mann, der ihm langsam immer sympathischer wurde, trotz des Trittes gegen das Bein. Retho zog seinen Stiefel aus und zeigte Vill die Sohle seines linken Fußes. Die gesamte Unterseite wies Brandnarben auf, an einer Stelle lugte sogar das blanke Fleisch hervor. »Crar war nicht immer unser Anführer«, sagte der Rebell. »Er hat mich damals besiegt. Die Sohlen deines Freundes werden übrigens auch nicht viel anders aussehen.« Vill schaute zu Tsvirai hinüber, der regungslos vor seinem Kohlefeld stand. Vill sah ihm jedoch an, dass er furchtbare Schmerzen aushalten musste. Einige Muskeln in seinem Gesicht waren zum Reißen gespant und sein Atem ging rasch und flach. Inzwischen war Crar über sein Feld gelaufen. Er machte nicht so viel Hehl aus seinen Schmerzen, setzte sich hin und pustete über die krebsroten, mit unzähligen Blasen übersäten Fußsohlen. »Respekt, Assassine«, rief Retho und winkte vier Männern, die Kohlen zu beseitigen. »Ihr beide seid tapfere Krieger, doch haltet ihr auch der nächsten Prüfung stand? Du hast die Wahl, Assassine.« Tsvirai entschied sich für eine Messerprobe, deren Ablauf Vill nicht einleuchten wollte. Erst, als die beiden Duellanten jeweils ein Messer in die Luft warfen und ihre Schildhand ausstreckten, wusste Vill, wie sie funktionierte. Tsvirais Messer brachte ihm einen Schnitt bei, während Crar nicht einmal einen Kratzer davontrug. So ging es einige Zeit weiter, mal ging es um Kraft, dann wieder um Ausdauer und schließlich wieder um Mut. Als Tsvirai schließlich wieder and er Reihe mit wählen war, tippte er auf seinen Unterarm und sagte: »Fünf Hiebe auf Pferdehaar.« Crar nickte und ließ einen Mann ein Bündel mit Pferdehaar bringen. Dieses wurde zwischen zwei Spangen gespannt, dann stellte sich Crar vor der hauchdünnen Haarsträhne auf. »Dein Freund muss wirklich nicht mehr bei allen guten Geistern sein«, stellte Retho fest und grölte laut, als sein Anführer den Arm hob. »Dabei kann man seinen Arm verlieren«, fügte er hinzu und grölte erneut, als Crar zuschlug. Die gespannte Strähne traf auf den linken Arm, drang ein Stück in die Haut, die wie eine überreife Tomate aufplatze, ein und riss dann am Auftreffpunkt entzwei. Vill musste den Brechreiz unterdrücken und starrte verstört in eine andere Richtung. »Hab ich dir doch gesagt«, gab Retho als Antwort und lachte laut. Ein neues Haar wurde gespannt und Tsvirai unterzog sich der Prüfung. Auch bei ihm hinterließ die Strähne einen kleinen Schnitt. »Wie rückständig müssen die Menschen der Wüste sein, dass sie solche Rituale entscheiden lassen.« Vill schlug mit der Faust auf die Erde. »Dies ist ein bewundernswerter Kampf«, sagte Retho leicht beleidigt. »Nur die mutigsten Männer unterziehen sich dem Sharrâht und nur die Tapfersten der Tapferen bestehen ganze dreizehn Prüfungen. Der Assassine und Crar sind wirklich einmalige Kämpfer. Jeder Sohn der Wüste wäre stolz auf sie.« Rethos Augen strahlten, als er Vill noch eine Weile über etliche Sharrâhts und ihre Ausgänge berichtete. Sein großer kugelrunder Kopf wippte dabei leicht hin und her. Die kurz geschorenen Haare glänzten schweißig und der Vollbart roch nach Fetten und anderen schmierigen Dingen. Tsvirai schlug gerade zum dritten Mal auf ein Haar ein. Blut spritzte umher, als das Haar tief in den Arm schnitt. Fast dreimal so tief, wie die beiden anderen Schnitte zusammen. Ein leises Stöhnen war zu hören, doch dann riss die Strähne. »Das hat wehgetan«, feixte Crar und stellte sich wieder vor einem neuen Haar auf. »Bevor ich zuschlage … gibst du auf?« »Das hättest du wohl gern«, keuchte Tsvirai und drückte die Wunde so gut es ging ab. Er spürte schon nicht viel mehr als Schmerz, seine Glieder, allem voran sein Arm, wurden ihm endlos schwer, ein leichter Schwindelanfall traf ihn unerwartet. Um ihn herum verschwamm alles zu einer einheitlichen Masse. Erst das Stöhnen Crars verschaffte ihm wieder klare Gedanken. Auch bei dem Anführer der Mondkinder war das Haar weit ins Fleisch gedrungen und auch ihm ging es nicht mehr so gut wie noch vor dem Schlag. Tsvirai stöhnte, schleppte sich mühsam vor das Haar, hob den Arm und ließ ihn ohne Zögern niedersausen. Ohne größere Verletzungen zu hinterlassen, riss das Haar. »Betrug«, brüllten einige Männer und fuchtelten mit den Fäusten herum. »Maul halten«, keifte da Retho und sprang auf. Beide schafften es auch ein fünftes Mal, ein Haar zu zertrennen. Sofort wurden ihnen Verbände angelegt und sie durften sich eine Weile ausruhen. »So lange hätte ich nicht durchgehalten«, sagte Retho beiläufig. »Und ich erst«, fügte Vill mit einem leichten Unterton an. »Je mehr Haare zerschlagen werden müssen, umso tiefer die Schnitte. Mit jedem Mal wird der Arm schwerer und je langsamer man schlägt, umso langsamer reißt das Haar. Retho ließ sich wieder auf die Erde plumpsen. Er schien das Spektakel sichtlich zu bewundern. »Ganz große Krieger«, nuschelte er immer wieder. Nach einer kurzen Erholungspause zog Tsvirai sein Schwert und bekam einen Schild über die linke Hand gestreift. Auch Crar zog seine Waffe blank und rüstetet sich mit einem Schwert. »Wenn nach dreizehn Prüfungen noch immer kein Sieger feststeht«, erklärte der bullige Rebell, »dann wird in einem Zweikampf entschieden. Gekämpft wird bis auf das erste Blut oder bis jemand aufgibt.« Schließlich klatschte er in die Hände, die mehr den Pranken eines Bären glichen, dann gab er das Signal. Tsvirai und Crar umkreisten sich eine Weile, lauernd und bereit, blitzschnell zuzustoßen. Dass ihre Bewegungen durch die vielen Prüfungen geschwächt und abgehackt waren, schien keine Rolle zu spielen. Als der Wind plötzlich aufheulte und stark über den Hügel und die Umgebung pfiff, stürmten beide aufeinander los, doch noch mitten im Rennen stolperte Crar, stürzte hart auf den Boden und blieb liegen. Schweiß bedeckte seinen ganzen Körper, der Verband war tiefrot. Mit letzter Kraft stammelte er die Worte, die den Sharrâht entschieden: »Ich gebe auf.« Gleich darauf brach auch Tsvirai zusammen. Die Umstehenden tobten vor Begeisterung, rannten Tsvirai und Crar entgegen und hoben sie vom Boden hoch. »So endet es also«, sagte Retho, schnalzte mit der Zunge und pfiff durch einen schmal geöffneten Mund. »Diesen Sharrâht wird so schnell niemand mehr vergessen.« Er sprang auf und trottete gemütlich auf den Höhleneingang zu. Als er den halben Weg zurückgelegt hatte, drehte er sich zu Vill um. »Willst du da Wurzeln schlagen, Junge? Komm endlich, sonst verpasst du ein Festmahl. Jetzt wird gefeiert.« Grinsend und grölend verschwand er im Hügel. Vill stand langsam auf, prüfte, ob sein Bein ihn auch tragen konnte, dann folgte er Retho, wurde dabei aber von einem Rebell gestützt. »Die sind doch verrückt«, sagte der junge Mann, dann wurde er vom Hügel verschluckt. Kapitel 9: Vom Windmachen ------------------------- Als die ersten Strahlen der Sonne den Himmel rot färbten und sanft die Weiten der Welt küssten, verlangsamten sie ihren Ritt und hielten kurze Zeit später. Hauchzarter Nebel schwebte mystisch zwischen den Bäumen umher, die hier und da vereinzelt oder in kleinen Grüppchen standen. Die Senke war noch nicht erleuchtet, die Bergflanke aus grauem, kargen Fels versperrte der Sonne den Weg hinunter. Missgestimmt machte Vill einen weiteren Strich in das kleine Büchlein, welches er seit Beginn der Reise mit sich führte. »Dreiundzwanzig Tage«, brummte er in seinen dünnen Bart und verfolgte die Atemwolke, die gen Himmel entschwebte. Seit sie die Berge nach Süden überquerten, war es kalt. Jeden Morgen erwachten sie, vorausgesetzt natürlich, dass sie geschlafen hatten, über und über mit Raureif bedeckt. Selbst Retho wunderte sich, dass sie noch keinen Schnee gesehen hatten. Der hünenhafte Rebell befreite sein Pferd von Zaumzeug und Sattel und führte es ein Stück vom Lager weg. »Hast du nicht Angst, dass es dir abhaut?«, fragte Tsvirai, der seinen Schecken an einem Baum angebunden hatte. »Silas? Nein, der würde mir sogar ins Bett eines Bordells folgen. Ein Bilderbuchhengst«, sagte er und kurz darauf ertönte schallendes, aber irgendwie erzwungenes, Gelächter in der Senke. Raben stoben davon, hier und da huschte ein Eichhörnchen in seine Höhle. Crar, dessen Haare zu einem Zopf gebunden waren, hatte bereits ein Feuer entfacht und es dauerte nicht lange, da waren alle um die wärmenden Flammen versammelt. Und auch wenn es niemand zugeben wollte, man sah jedem Einzelnen die Müdigkeit an, waren sie schließlich fast drei Tage am Stück geritten. Einer, Faclo hieß er, schnarchte sogar schon gemütlich vor sich hin. Drei weitere waren kurz davor, lediglich Crar, Retho, Tsvirai und Vill kämpften weiter an. Es war drei Tage her, als der Aufstieg zum Pass über die Berge schon fast ein Ende hatte. Eigentlich wollten sie den Rest des Tages dort oben verbringen, doch königliche Truppen hatten sie erspäht und die Jagd aufgenommen. Shergo und Cafas waren, von Pfeilen getroffen, gefallen. Erst einige Hundert Höhenmeter weiter unten hatte die Hetzjagd ein überraschendes Ende genommen, als sich eine Gerölllawine löste und den Weg hinter den Rebellen begrub. Nur um sicher zu gehen, dass genug Abstand zu den Soldaten war, hatte sie ihren Pferden und letztendlich auch sich selbst, keine Pause gegönnt und waren die letzten eineinhalb Tage durchgeritten. Die unwirkliche Stille, die am Lagerfeuer herrschte, bezwang irgendwann den Drang wach zu bleiben. Tsvirai erwachte, als der Tag in den Abend überging. Die letzten Sonnenstrahlen glühten am Himmel, das Feuer war bis auf den letzten Ast heruntergebrannt. Nicht einmal eine Glut glomm. Endlich etwas erleichtert, richtete er sich auf streckte alle Glieder von sich und blickte sich um. Die Rebellen schliefen noch friedlich, eng aneinander gedrängt, um der Kälte besser zu widerstehen, von Vill jedoch fehlte jede Spur. Der Assassine schnallte sich sein Schwert um die Hüfte, warf sich seinen moosgrünen Umhang über und folgte den schwachen Fußspuren, die zu der kleinen Baumgruppe führten. Im Halbdunkel des Waldes und der Dämmerung erkannte er nur schemenhaft die Umrisse seines jungen Gefährten. Ein zartes Glimmen erhellte Vills Gesicht, Tränen liefen ihm die Wangen herunter. Tsvirai verharrte neben der dicken Tanne und lauschte andächtig dem leisen Singsang, dessen Melancholie wie zarte Nebelschwaden zwischen den Bäumen des Hains hing. Erst als Vill endete, ging der Assassine zu dem Jungen und legte ihm die Hand auf die Schulter. »Ich habe schon so lange nicht mehr für ihr Wohl gebetet«, sagte Vill, während er sich die Tränen mit dem Ärmel wegwischte. »Ein schönes Lied, wovon handelt es?« Vill richtete sich auf und drehte seinen Kopf in Richtung des Tales. Ein sanfter Hauch verfing sich in seinem Haar und spielte zärtlich damit. »Es ist eine Ode an den Südwind!« Er weht beständig in meinem Land und brachte stets ein mildes Klima. Durch ihn blühten die schönsten Blumen der ganzen Welt.« Vill machte eine Pause und ließ sich von dem Hauch umwehen. »Dein Volk scheint den Südwind zu lieben«, sagte Tsvirai und auch er lauschte dem Hauch. »Mein Volk betet alle Winde an. Wir sind damit groß geworden.« »Dann sind sich dein Volk und mein Volk gar nicht so unterschiedlich«, antwortete der junge Mann mit geschlossenen Augen. Der Südwind ist die Stimme unseres Gottes.« »Wir sind gleich da!« »Leise«, zischte es in einiger Entfernung kaum vernehmbar, »oder sie hören uns.« Vill und Tsvirai rissen gleichzeitig ihre Augen auf. »Was war das?« Tsvirai lauschte angestrengt, hielt seine Hände vor die Ohren und murmelte schließlich etwas Unverständliches. Plötzlich hallte Fußgetrampel zwischen den Bäumen entlang, die zunächst zaghaften Stimmen waren nun deutlich zu vernehmen. Selbst das gepresste Atmen verstand man tadellos. »Dein Südwind hat uns heute vor dem Tod bewahrt«, sagte Tsvirai und rannte los. Sie hasteten durch das dichte Unterholz und zum Lager. Kurze Zeit später waren die Pferde gesattelt und über kargen Fels in eine Waldgruppe geführt. »Der Wind trägt ihre Stimmen an unsere Ohren«, erklärte der Assassine. »Solange wir Gegenwind haben, sind wir kaum zu hören und können uns an ihnen vorbeischleichen.« Sie schlugen sich möglichst lautlos durch den Hain und führten die Pferde einen schmalen Pfad an der rechten Flanke der Senke hinab. Rethos Pferd bockte ein ums andere Mal, blieb aber ruhig. Selbst als sich eine kleine Steinlawine löste, schienen sie die Aufmerksamkeit der Soldaten noch immer nicht auf sich zu ziehen. Zumindest vermuteten sie dies, denn kurze Zeit später ertönten wütende Schreie, die ganz darauf hindeuteten, dass das verlassene Lager entdeckt worden war. »Werden sie uns denn jetzt nicht genauso gut hören?«, fragte Crar und die Sorge in den Gesichtern der Rebellen war groß. Einen Schlagabtausch auf dem schmalen Pfad wurden sie nicht lange überleben. Tsvirai grinste schelmisch und führte sein Pferd auf eine Ebene, die sich in die Seite der Senke grub. »Ich habe uns nicht umsonst den beschwerlichen Weg frei gehalten. Sie werden uns nicht hören, denn diese Steilwand liegt im Windschatten. Und sobald wir auf der Ebene dort unten sind, werden wir Rückenwind haben, der unseren Pferden Flügel verleihen wird. Außerdem lauschen sie dem Wind nicht. Unsere Stimmen würden für sie keine Bedeutung haben.« »Aber du hast eben noch selbst gesagt, dass der Südwind ihre Stimmen an unsere Ohren trägt«, bemerkte Faclo. »Solange wir Rückenwind haben, weht es aus Norden. So ein plötzlicher Wetterwechsel ist mir noch nie untergekommen.« »Vertrau mir«, säuselte Tsvirai und führte sein Pferd weiter den Pfad hinunter. »Warum ich mich über eine wolkenverhangene Nacht freue?« Crar öffnete das Band, welches seine Haare zurückhielt, schüttelte sie aus und beugte sich schließlich zu Vill hinüber. »Die Ebene ist so dunkel wie die Höhle eines Trolls«, frohlockte er und schnalzte mit der Zunge, woraufhin sich sein Pferd in Bewegung setzte. Tsvirai hatte recht behalten, eisiger Nordwind fegte über die Grasfläche, die Tiere flogen beinahe, so schnell ritten sie. Der Fackelschein in der Senke hob sich scharf gegen die Nacht ab. Plötzlich zerriss ein schrilles Fauchen die Nacht, sämtliches Licht wurde von einem kleinen Punkt am Fuße des Gebirgszuges angezogen. Ein gewaltiger Schatten erhob sich und verschwand in den Wolken. Tsvirai murmelte unverständliche Worte, der Wind frischte auf, spornte die Pferde an und trieb die Rebellen noch eiliger weg von dem verfluchten Berg. Jeder, und war er zuvor noch so tapfer und mutig gewesen, behielt nun den Himmel im Auge und es waren die ersten Sonnenstrahlen, die den Mut in den Herzen der Männer schürten, wie ein Schmied seine Esse. Vill plumpste erschöpft auf den harten Boden. Sein Gesäß schmerzte, die Oberschenkel waren durch das lange Reiten wund gescheuert. Zwar hatten sie zwischendurch Schlaf gehabt, ständig nachts unterwegs zu sein und tagsüber zu ruhen ging Vill allerdings gegen die Substanz. Auch den anderen erging es nicht besser, tiefe Falten gruben sich in die Gesichter, dunkle Ringe unter den Augen zeugten von der Müdigkeit. »In Kürze müssten wir auf eine kleine Siedlung treffen«, sagte Tsvirai, der die Führung übernommen hatte. »Solange wir dort vor diesem Schatten sicher sind!« Crar war bleich, biss nur halbherzig in seinen Brotkanten und wickelte sich in dicke Decken ein. »Was war das eigentlich für ein Viech?«, fragte Retho und auch ihm konnte man ansehen, dass er mit den Nerven rang. »So etwas habe ich noch nie gesehen!« Tsvirai war während der ganzen Flucht erstaunlich ruhig geblieben. Zwar müde, aber ruhig. Er hatte keine Miene verzogen, als sich der Schatten erhob. Jetzt saß er da, murmelte etwas vor sich hin und lauschte dem Wind. Inzwischen war auch den anderen Gefährten aufgefallen, dass der Assassine auf so ziemlich jeden einen fremden Eindruck machte. Sie hatten untereinander schon Wetten abgeschlossen, aus welchem Teil des Königreiches er wohl käme. Ein warmer Fön umwehte die verängstigten Rebellen. Der Duft unzähliger Blumen gesellte sich hinzu, schloss man die Augen, so war man der Meinung, in einem riesigen Blumenmeer zu sitzen. Die Realität sah anders aus. Verdorrtes Gras, verkohlte Baumreste. Geier kreisten am Himmel, hier und da fand man ein totes Tier, bis auf die Knochen verbrannt. In der nahen Siedlung erfuhren sie, dass ein Buschfeuer gewütet hatte. Die Nacht legte sich wie ein Tuch über die Welt. Sterne funkelten am Himmel, der fahle Vollmond leuchtete gespenstisch. In der Ferne heulte ein Wolf. Crar nahm einen kräftigen Schluck Schnaps und torkelte auf die Terrasse der kleinen Kneipe. Beinahe wäre er in den Staub der Straße gestürzt, da frischte der Wind auf und fing seinen Fall ab, so empfand er zumindest. Auf dem Balkon über ihm stand Tsvirai und murmelte vor sich hin. »Verdammt, was machst’n du da?«, lallte der Rebellenanführer und ließ sich auf der Treppe der Terrasse nieder. »Machst du schon wieder den Wind?« Ein lauter Rülpser entfuhr ihm. »Wieso bist du der Meinung, dass ich den Wind mache?« Die Stimme des Assassinen war gedämpft. »Hör mal gut zu«, stammelte Crar und nahm erneut einen kräftigen Schluck, »ich bin zwar nicht der Prophet des Königs, aber ganz so dumm bin ich auch nicht. Du hast auch schon auf der gottverdammten Ebene und in dieser Senke gezaubert.« »Gezaubert?« »Du bist bestimmt einer dieser komischen Magier!« Zufriedenes Gelächter ertönte auf dem Balkon. »Und was machst du?« »Ich trinke mir Mut an, mein Freund. Ich weiß, was der Schatten war und ich weiß auch, wer du bist!« Crars Stimme klang ernst, das Lallen war verschwunden. »Ich weiß, welche Bestien der König heranzieht und sich hält. Ich bin seit vielen Jahren ein Kind des Mondes.« Tsvirai starrte in den klaren Nachthimmel. Eiskristalle hatten sich an den Fensterscheiben gebildet, sein Atem war deutlich zu sehen. »Scheinbar bin ich nicht der Einzige, der sich mit dem Königsgeschlecht befasst.« Der Anführer räusperte sich genüsslich und stellte die schwere Schnapsflasche lautstark ab. »Warum befasst du dich mit dem Königsgeschlecht, mein Freund?«, Tsvirais Stimme klang angespannt … und gelassen zugleich. Heiseres Gelächter erklang unter den Füßen des Assassinen. »Das wird ein gefährliches Gespräch. Jede Wand im Königreich hat Ohren, jeder könnte sein Spitzel sein. Aber was rede ich da um den heißen Brei herum. Das weißt du natürlich alles selbst. Ich habe dein Gesicht schon einmal gesehen, Assassine.« Crar zog einen Bogen Pergament unter seinem Mantel hervor, rollte es auf und legte es mitten auf die Straße. »Du bist ein Gesetzloser! Sämtliche Kopfjäger des Reiches sind dir auf den Fersen. Wenn dich ein Bürger in diesem Dorf erkennt, dann wird das hier eine kurze Zuflucht.« »Du hast dich ja gut über mich informiert. Doch sag mir, warum interessierst du dich so für den König?« »Ich bin Rebell, mein Feind ist der König.« Staub wurde aufgewirbelt, als Crar sich in den Sand plumpsen ließ. Er starrte Tsvirai, der einige Meter über ihm stand, regungslos an. »Aber Spaß beiseite. Sag mir, was du über mich weißt.« Eine Weile herrschte eine erdrückende Stille. »Nichts«, antwortete Tsvirai und verschränkte die Arme vor der Brust. »Gute Antwort, gute Antwort.« Crars Zähne blitzen im Mondlicht, als er seinen Mund zu einem breiten Grinsen öffnete. »Um ehrlich zu sein, Freund, beschäftige ich mich nicht nur mit ihm. Ich kenne ihn. Ich kenne ihn so gut wie kein Zweiter.« Nun grinste auch Tsvirai. »Was hält der König denn davon?« »Du bist ein kluger Mann, Tsvirai, ein sehr kluger Mann.« »Wieso ausgerechnet die Kinder des Mondes?« Wieder herrschte eine erdrückende Stille. Der Wind pfiff die Straße entlang und wirbelte Staub auf. Für kurze Zeit war der Rebellenanführer verschwunden. »Also«, fuhr der Assassine fort, nachdem sich der Staub gelegt hatte. »Warum die Mondkinder?« »Auf dem Thron ist für den Zweitgeborenen meist kein Platz. Schon gar nicht auf einem Ergaunerten.« Tsvirai konnte ein Lachen nicht unterdrücken. »Was für eine Ironie«, rief er laut, zückte sein Schwert und sprang vom Balkon auf die Straße hinunter. Crar rollte zur Seite, drückte sich kraftvoll ab und kam in einer wirbelnden Bewegung auf die Füße. Ein Dolch blitze in seiner Hand, der den Schwerthieb mühelos abfing. Funken stoben und erhellten für kurze Zeit die ansonsten dunkle Straße. Beide grinsten sie sich eine Weile an, dann schoben sie die Klingen in die Scheiden zurück und ließen sich auf dem Boden nieder. Tsvirai wischte ein paar Strähnen aus seinem Gesicht, Crar zog das Haarband fester. »Was willst du bei den Rebellen?« »Die Frage gebe ich zurück«, konterte der Assassine gelassen. »Ich sehe diese Unterhaltung läuft auf ein klassisches Patt hinaus«, stellte Crar fest. »Damit will ich es bleiben lassen. Du bist ein guter Mann. Die Kinder des Mondes können gute Männer gebrauchen. Herzlich willkommen bei den Rebellen, Bruder Windmacher.« Kapitel 10: Vom Jagen und Fressen --------------------------------- Die letzten Wolken hatten sich bei ihrer Ankunft verzogen, fahl stand der Vollmond am Himmel und erhellte das ganze Dörfchen. Unheimliche Stille war ihnen gefolgt, selbst der Wind hatte mit dem Wehen aufgehört. Gut zwanzig Stiefel wirbelten Staub auf, als die Reiter abstiegen. Pferde schnaubten, ein Mann bellte Befehle. Die Rüstungen der Soldaten waren schwarz und rot. Rote Umhänge fielen den meisten über die Schultern. Die Helme waren blank poliert und liefen spitz zu. An jeder Hüfte baumelte ein Langschwert in einer schwarzen Scheide. Die Knaufe hatten die Form eines Rabenkopfes. Ein Mann trug ein Banner, ein schwarzer Rabe auf rotem Hintergrund. Das Zeichen des Königs. Die Wappen, die der Rabe in beiden Klauen hielt, beide zeigten zwei sich kreuzende Schwerter, gaben den Rang des Trupps an. Sie alle gehörten zu den Besten der Besten. Einige Soldaten trugen schwere Hellebarden, die ohne Umhänge hatten Köcher mit Pfeilen auf den Rücken geschnallt. Vier Bogenschützen verschwanden in kleinen Seitengassen. Die restlichen Soldaten nahmen vor der Kneipe Aufstellung, richteten ihre Bögen und Hellebarden auf die Eingangstür und erwarteten weitere Befehle. Zwei weitere Pferde wieherten laut, schwere Stiefel trafen auf den Boden. Ein großer, bulliger Mann schob sich zwischen den zwei Reihen hindurch. Seine Kleidung war abgenutzt, die blonden Haare kurz geschnitten. Das Gesicht war unrasiert, die Narbe auf der Stirn pulsierte. Ein dürrer, bleicher Mann mit langen schwarzen Haaren folgte ihm. Der schwarzrote Umhang flatterte im Wind, Rüschen zierten seine Gewänder, die ihm einen adligen Schein gaben. Ein langer Degen baumelte an seiner Hüfte. Die tiefschwarzen Augen huschten ungeduldig hin und her, die Wangenknochen, die deutlich unter der Haut hervortraten, zuckten beständig. »Kommt heraus, wo immer ihr auch seid!«, rief der Dürre mit einer Stimme, die man ihm nicht zugetraut hätte. »Die werden bestimmt nicht kommen, Siriom«, sagte der Große und zog seine gewaltige Streitaxt, die auf seinem Rücken baumelte. Siriom verdrehte die Augen. »Weiß ich doch, Bruder. Ich wollte uns nur ankündigen. Ein Überraschungsangriff wäre doch arg langweilig.« Der Große donnerte den Griff der Axt in den Staub der Straße. »Und was machen wir jetzt? Warten?« »Geduld, Madak. Du wirst dich schon noch früh genug austoben können.« Siriom blickte zu vier Hausdächern, die nahe der Kneipe lagen. Ein zufriedenes Grinsen ließ seine Mundwinkel zucken. »Es ist keine Falle. Wir können loslegen.« »Gut«, rief Madak, wuchtete seine Axt und marschierte zielstrebig auf die Tür zu. Holz flog durch die Gegend, von ohrenbetäubendem Lärm begleitet brach die Tür in sich zusammen. Die weinigen Gäste in der Kneipe waren aufgesprungen und hatten ihre Waffen gegriffen. Schon am späten Nachmittag war der Trupp in Sicht des Dorfes gewesen, genug Zeit, um sich vorzubereiten. »Lasst die Waffen fallen und ergebt euch«, säuselte Siriom, zog seinen Degen blank und richtete ihn auf den vordersten Mann. »Ihr seid nicht die, die wir suchen. Ergebt euch und es wird euch nichts geschehen.« Trotziger Hohn war die Antwort auf die Forderung. »Ihr verdammten Hunde haltet euer Wort doch sowieso nicht. Wir haben schon genug Erfahrungen mit den Soldaten des Königs gehabt. Schaut euch doch unsere Wiesen und Felder an. Allesamt von eurer Bande niedergebrannt.« Der Degen ragte so rasch aus dem Nacken des Mannes heraus, dass man nicht einmal blinzeln konnte. Röchelnd brach er zusammen und krümmte sich noch eine Weile auf dem Boden. Siriom säuberte die Klinge mit einem Tuch und warf es den anderen vor die Füße. »Noch jemand?« Die Stimme klang fauchend und herausfordernd. Wütend und laut brüllend stürmten die übrigen Männer auf Madak und Siriom zu. Beile, Schwerter, aber auch Hacken schwangen sie. Madak wirbelte seine Streitaxt umher und trennte zwei Angreifern die Köpfe ab. Einem dritten trieb er das Blatt zwischen die Schulterblätter. Siriom tänzelte regelrecht zwischen den Bauern und Handwerkern hindurch, fügte blitzschnell mehrere tödliche Stiche zu und drosch einem weiteren die Parierstange ins Gesicht. Ein feiner Blutnebel hing in der Luft, als auch der letzte Dorfbewohner zusammenbrach. Übrig blieben nur noch der Wirt und der Stallbursche. »Verschwindet hier«, raunte Siriom, doch ehe sie auch nur einen Schritt machen konnten, brachte Madak sie zu Fall. Seine Augen, vom Blutrausch weit geöffnet, glänzten nahezu fiebrig, Schweiß lief ihm die Schläfen und den Hals hinunter, auch seine Arme waren nass. Sein Körper bebte wild, ein Knurren und Schnaufen war zu vernehmen. »Beruhige dich, Bruder«, sagte Siriom, wischte erneut seine Klinge sauber und ließ sie in der Scheide verschwinden. »Du wirst deinen Spaß schon noch bekommen, aber wenn du jetzt durchdrehst, dann müssen wir uns vorerst zurückziehen. Du weißt selbst am besten, was beim letzten Mal passiert ist.« Die Worte seines Bruders schienen ihre Wirkung nicht zu verfehlen. Madak ließ sich auf einem Stuhl nieder und säuberte seine Axt. »Holen wir sie uns!« Allmählich ging die Sonne weit im Osten auf. Aus einigen Häusern stiegen dünne Rauchsäulen zum Himmel empor. Erst als die Flammen durch das Holz brachen, wurden die Säulen dick und schwarz. Kein Haus hatten die Soldaten ausgelassen, kein Leben im Dorf verschont. Einem Mahnmal gleich, hatten sie den Bewohnern die Köpfe abgeschlagen und sie auf Spießen am Rande der einstigen Siedlung aufgestellt. Madak und Siriom waren dem Trupp vorausgeritten. Dämpfig hatte der Tag begonnen, einige Rauchschwaden folgten ihrer Fährte. »Wie in drei Gottesnamen wussten sie, dass wir kommen«, fluchte der Große und knallte beide Fäuste aufeinander. »Ich war mir sicher, dass sie sich sicher fühlen würden.« »Vielleicht hat sie ja dein Gestank verjagt.« Siriom studierte die Karte der Region, sein Pferd fand den Weg allein. »Was ist euer Ziel?«, grübelte er, rollte das Pergament schließlich zusammen und zügelte sein Pferd. »Wir warten hier!« »Auf die Soldaten?« »Auf die Nacht. Du weißt, dass ich das Tageslicht nicht so gut wegstecke wie du! Und hier ist es schön schattig.« In der Tat spendete dichtes Blattwerk wohligen Schatten. Die Sonne stand schon fast im Zenit, es wurde schnell heiß auf den Ebenen südlich des kleinen Gebirgszuges. Außerdem kam man der großen Westwüste immer näher. Als die Soldaten sie eingeholt hatten, fiel die Nacht über das Land. Ein kühler Luftzug umwehte die Gruppe, eine Pause wurde den Soldaten nicht gegönnt. Es war Madak und Siriom ziemlich egal, ob einer der Männer vor Erschöpfung zusammenbrach. Eine Jagd konnte man nur erfolgreich beenden, wenn man der Beute keine Erholung gönnte. »Wenn man von Verfluchungen spricht«, frohlockte der Dürre erfreut, als er einen dumpfen Aufschlag und heiseres Stöhnen hörte. »M … Meister«, stammelte ein Soldat. »Wir brauchen dringend eine Pause. Seit gut vier Tagen verfolgen wir sie jetzt ununterbrochen. Wenn wir …« Weiter kam er nicht. Siriom drehte sich hasserfüllt im Sattel um, zog in einer flüssigen Bewegung seinen Degen und hieb dem Mann mühelos den Kopf ab. Das Pferd scherte aus und galoppierte mit dem hin und her wippenden Torso durch den Wald davon. »Keine Ruhepause«, grölte er und seine Stimme klang mehr wie ein wildes Fauchen. Wutentbrannte, dunkle Augen funkelten jeden einzelnen Mann an und wenn Blicke töten könnten, dann wären sie allesamt vom Pferd gefallen. Sirioms Muskelstränge im Gesicht drangen unter der Haut hervor. Wild fletschte er die Zähne und wäre Madak nicht eingeschritten, er hätte bestimmt noch weitere Männer enthauptet. Kaum war wieder Ruhe eingekehrt, da hallte schallendes Gelächter zwischen den Bäumen umher. »Jetzt bist es aber du, der sich beruhigen muss, Bruder.« Man sah ihm deutlich an, dass er seinen Spaß hatte und mit den Tränen kämpfte. »Wenn du so weiter machst, dann haben wir bald keine Gefolgsleute mehr.« »Halt dein dummes Maul«, fauchte Siriom ihn an, gab dem Pferd die Sporen und preschte dem toten Reiter hinterher. Bald darauf ertönte abartiges Schmatzen. »Er muss nur seinen Heißhunger stillen«, kommentierte Madak die Geräusche, als er die angsterfüllten Mienen der Soldaten sah. »In wenigen Minuten hat er sich wieder beruhigt.« Wieder lachte er und da nur er sich lustig fand, lachte er eben allein weiter. »Dunkel waren die folgenden Tage. Meine Knochen verrieten mir das Unwetter. Schon Stunden vorher roch es nach Regen, der Wind frischte merklich auf und als die ersten Blitze auf die Länder niederfuhren, brüllten die Götter ihren Zorn heraus. Der Regen peitschte über die Dächer, Donnerschläge betäubten die Ohren, die Blitze blendeten jedes Auge. Der Tag war schwärzer als die Nacht. Noch nie habe ich solch Unwetter erlebt und es waren nicht Wenige in meinem Leben. Trotzdem gönnten sie sich keine Pause, wie sie mir später erzählten. Man kann einer Jagdgesellschaft nur entkommen, wenn man bis zum Äußersten geht.« -Der alte Prophet- -aus: Anekdoten eines alten Mannes- Sturm peitschte die Wiesen und Wälder, Blitze zuckten nieder, die Schleusen des Himmels waren gesprengt. Nur wenige Meter weit konnte man blicken, dann verschwamm alles hinter einem nassen Schleier. Fahles Licht flackerte an den Wänden und in den Feuerschalen. Die kalten Steine der Burgmauern waren trüb und trostlos. Sämtliche Pracht, die Wandteppiche, die Gemälde, die prunkvollen Kerzenhalter, sie alle waren verschwunden. Eine dicke Pechnase rann die Wand herunter, ein Loch in der Decke war mit der schwarzen Flüssigkeit zugeschmiert. Es zog tierisch in den Gemäuern, sämtliches Personal trug dicke Wintermäntel. Graf Kurek von Sechling stand an einem großen Fenster, biss herzhaft in einen Apfel und starrte hinaus. Ein schweres Fieber hatte ihn vor wenigen Tagen ereilt, seinem Leibarzt verdankte er sein Leben. »Mein Herr«, ertönte eine Stimme im hinteren Teil des Zimmers. In einer dunklen Ecke kauerte ein Mann, das Gesicht mit einem Tuch verhüllt. Ein pechschwarzer Umhang hing von den Schultern herab. Darunter kam eine silbrig glänzende Rüstung zum Vorschein. Der Graf drehte sich vom Fenster weg, schlenderte eine Weile durch den Raum und warf dem Mann schließlich ein Ledersäckchen zu. Goldmünzen klimperten darin. »Er hat seinen Auftrag nicht erfüllt.« »Du bist dir sicher?« »Natürlich«, antwortete der Mann, dessen Stimme roh und wild klang. Hörte man genauer hin, erkannte man den schweren Dialekt der Wüstensöhne. »Hurda lebt. Er rüstet sein Volk zum Krieg. Drei weitere Länder haben sich den nördlichen Ländern angeschlossen. Es dauert nicht mehr lange und ihr Schlag gegen das Königreich wird kommen.« »Das darf nicht passieren.« Kurek schlug mit der geballten Faust auf das kleine Tischchen zwischen ihm und dem Mann. »Eile zu Hurda. Es ist noch nicht an der Zeit. Halte ihn auf.« »Und was mache ich mit Ihm?« »Finde ihn. Töte ihn.« Heiseres Gelächter erklang unter dem schweren Tuch. »Mein Wille ist Euer Befehl, mein Herr.« Kapitel 11: Der Klingenturm Teil 1: Die Prüfung der Tore -------------------------------------------------------- Fauchend fegte die Feuerwalze zwischen den Bergwänden entlang. Heiße Luft stieg flimmernd auf, Flammen leckten an vielen Stellen an den Steinen, die kreuz und quer verteilt waren. In der Ferne ragte ein nadeldünner Strich in den Himmel, kaum auszumachen, vor dem gewaltigen Bergmassiv. Lediglich die Spitze, die sich deutlich vor dem weißen Schnee der Bergkuppen abzeichnete, war zu erkennen. Der Rest des Turmes konnte nur vermutet werden. Vills Augen waren vor Schreck weit geöffnet. Es fehlte nicht mehr viel und er wäre in der Feuerwalze zu Asche zerfallen. Crar hatte ihn gerade noch vom Pferd gezogen. Die verkohlten Überreste des treuen Reittieres lagen auf dem grünen Gras. Kleine Rauchwölkchen stiegen empor. »W … wieso … was … warum«, stammelte der junge Mann, dessen Herz noch immer raste wie nach einer stundenlangen Jagd. »Dies ist das erste von zehn Toren«, kommentierte Crar mit ernster Miene. »Das „Tor der Flammen“.« Tsvirai sprang vom Pferderücken, hob einen Steinbrocken auf und schleuderte ihn einige Meter weit. Kaum hatte er das Gras berührt, brach die Feuerwalze von Neuem los. »Interessant«, murmelte der Assassine. »Doch eines macht mich neugierig. Warum ist das Gras nicht verbannt?« »Soll ja nicht gleich jeder wissen, wo sich das Tor befindet«, rief Retho und lachte. »Die Wiese ist verzaubert. Sie verbrennt in eintausend Jahren nicht.« »Und wer mit offenen Augen durch die Welt wandert, der bemerkt die verkohlten Steine. Sie sind der einzige Hinweis«, fügte ein anderer Rebell hinzu. Tsvirai saß wieder auf und starrte eine Weile in Richtung des Turmes, betrachtete die Felswände und sog tief die Luft ein. »Wie sollen wir an diesem Tor, wie ihr es nennt, vorbeikommen?« Crar lächelte schelmisch knackte mit den Fingern und trieb sein Pferd voran. »Genau das ist die Aufgabe des Tores«, sagte er und passierte den ersten verkohlten Stein. Vill zog reflexartig den Kopf ein, erntete damit aber nur einige Lacher der Rebellen. »Was? Wieso?« »Wir passieren die Tore nicht zum ersten Mal«, rief Crar, der schon ein gutes Stück unbeschadet geritten war. »Folgt einfach Retho. Er kennt den sicheren Weg.« Der bullige Rebell zog Vill hinter sich und trieb seinen Hengst an. Sicher fand Silas den Weg. Tsvirai folgte, ohne zu zögern und auch die restlichen Rebellen schlossen sich dem Zug an. An hinterster Stelle ritt Rethos Bruder, ebenso bullig, aber kaum ein Haar auf dem Kopf. »Ein Schritt in die falsche Richtung und wir werden alle gebraten wie die Ochsen am Spieß.« Retho brüllte über seinen Vergleich wie eben jener Ochse und lenkte Silas nach links. »Woher weißt du, wo es lang geht?« Vill hatte noch immer die schwelenden Überreste seines Pferdes vor Augen. Er schluckte bei dem Gedanken, genauso zu enden. »Instinkt!« »Was?« Das Lachen wurde noch lauter. Der Hüne drehte sich im Sattel um und grinste Vill mit tränenden Augen an. »Du solltest dein Gesicht sehen, Kleiner!« Erst als sie Crar einholten, beruhigte Retho sich. »Hab nur Spaß gemacht. Keine Sorge, ich kenne den Weg. Schau dir einmal an, wie die Steine verteilt sind. Einfach immer zwischen denen entlangreiten, die dicht aneinanderliegen.« Vor Tsvirais innerem Auge hob sich der Weg deutlich ab. »Wirklich einfallsreich«, lobte er. »Diese Rätsel und die Tore«, sagte er und machte eine kurze Pause. »Der Schöpfer muss ein gescheiter Mann gewesen sein.« »Er ist immer noch einer«, fügte Crar an und schnalzte mit der Zunge, worauf sich sein Pferd in Bewegung setzte. Doch nicht allzu weit, dann zog er die Zügel stramm und stieg ab. »Was nun?« Vill musterte die grüne Fläche, die sich vor ihm auftat. »Doch nicht schon wieder eine tödliche Falle?« »Nein, nein«, antwortete Crar und zupfte an seinem Bart herum. »Das „Tor der Illusion“ ist nicht tödlich. Man muss es lediglich finden.« »Aha. Und worauf warten wir dann?« Vill stieg ebenfalls ab und gesellte sich zum Anführer. »Nach dir«, sagte der und zeigte Richtung Turm. Vill zuckte mit den Schultern, drehte sich noch einmal zu seinen Gefährten um und stapfte entschlossen los. Leider hatte er Tsvirais Grinsen nicht mehr gesehen. Der Assassine konnte sich denken, wie die zweite Aufgabe ausgelegt war … Es dauerte nicht lange, da tat es einen lauten Schlag, dicht gefolgt von einem ebenso lauten Aufschrei. Vill lag im Gras, hielt sich die schmerzende Stirn und starrte verwirrt ins Nichts. »Immer mit dem Kopf durch die Wand, diese Jungspunde.« Crar schloss zu dem jungen Mann auf, grinste zufrieden und klopfte mit der Faust an die Stelle, gegen die Vill gelaufen war. Ein metallisches Geräusch ertönte. »Das „Tor der Illusion“. Man muss lediglich den Türknauf finden, dann kann man passieren.« »Sehr witzig«, kommentierte Vill die Blicke seiner Gefährten. »Aber ich nehme mal an, dass ihr bereits wisst, wo der Knauf ist.« »Es gibt keinen.« »Und wie sollen wir dann einen finden?« »Gar nicht«, sagte Retho, der jetzt auch bei Vill stand. »Man muss die richtige Einstellung haben, um passieren zu können. Das ist der Knauf.« Noch während er die letzten Worte aussprach, führte er sein Pferd ein ganzes Stück weiter und war plötzlich verschwunden. Nach und nach passierten die Rebellen das zweite Tor, bis nur noch Vill, Crar und Tsvirai übrig waren. »Ich nehme mal an, du wirst uns die Lösung nicht einfach verraten wollen«, meinte der Assassine und klopfte ebenfalls gegen das Tor. Crar lachte bloß. »Versuch es.« Tsvirai schritt entschlossen auf das unsichtbare Hindernis zu. Im nächsten Augenblick war er verschwunden. »Nicht schlecht«, staunte der Rebell und schob Vill dem Tor entgegen. »Jetzt du, Kleiner.« »Aber sie soll ich ein massives Tor passieren, zudem ein unsichtbares?« »Dies ist die Aufgabe, die ein Mondkind bestehen muss. Wenn du es nicht packst, bist du des Mondes nicht würdig.« Mit diesen Worten verschwand auch er. »Warte!«, rief Vill verzweifelt und pochte an das Tor. »Wie soll ich das machen?« Als nach einigen Minuten eine Antwort ausblieb, ließ er sich ins Gras plumpsen und starrte nachdenklich auf die weite, grüne Wiese. Schließlich kratzte er sich am Kopf, stand auf und lief auf das Tor zu. Vorsichtig streckte er erst die linke, dann die rechte Hand aus. Nichts. Er fühlte das kalte Eisen, doch nichts passierte. Etwas schlug klirrend neben ihm ein, dann stolperte er plötzlich vorwärts und tauchte auf der anderen Seite des Tores wieder auf. Fröhliche Gesichter empfingen ihn, klopften ihm stolz auf die Schulter, Tsvirai lächelte sogar. »Wurde auch langsam Zeit, Kleiner«, donnerte Retho und drückte Vill an seinen wuchtigen Körper. »Sag schon, wie bist du durchgekommen?« »Ich weiß nicht so recht«, war die Antwort. »Vielleicht weil ich Angst hatte? Irgendetwas hat mich nur knapp verfehlt.« »Interessant.« Der Anführer der Mondkinder zupfte wieder an seinem Bart. »Auf diese Weise hat noch niemand das „Tor der Illusion“ durchquert. Apropos Tor, dreh dich bitte einmal um.« Vill tat wie ihm geheißen und starrte auf eine riesige Mauer, die über und über mit weiß leuchtenden Linien verziert war. Direkt vor ihm war das metallische Tor, keine vier Meter hoch und drei Meter breit, ebenfalls mit diesen seltsamen Linien überzogen. »So sieht das Tor wirklich aus«, erklärte ein Rebell. »Die Linien sind der Zauber, der es vor den Augen aller Wesen verbirgt, doch nur von der anderen Seite.« Mehrere Wortfetzen fielen Vill ins Auge. Sie waren auf der ganzen Mauer verteilt und er konnte nur Bruchstücke erkennen. »Wie ich sehe, hast du bemerkt, dass die Linien, der Zauber, Buchstaben formen«, fügte Crar hinzu. »Der Zauber ist in der alten Sprache der Assayer geschrieben. Ich nehme mal an, dass unser Assassinenfreund sie lesen kann«, sagte er, worauf er ein Kopfschütteln von Tsvirai erntete. »Dies ist die vergangene Sprache Eurydkas. Nur den Weisen meines Volkes war es vergönnt, die göttliche Sprache zu erlernen. Auch kann ich nicht sagen, wer diesen Zauber angebracht hat. Die Weisen gaben ihr Geheimnis niemandem preis.« Crar deutete auf einige Symbole. »Der Weg, das Tor u passieren, steht dort geschrieben. Sie bedeuten so viel wie: Das Tor der Illusion. Weder Schall noch Rauch.« »Man kann das Tor passieren, indem man sich immer wieder sagt, dass dieses Tor nicht existiert. Wie auch immer«, sagte Retho. »Lasst uns weiterreiten. Es warten schließlich noch acht weitere Tore.« Der Nachmittag war weit fortgeschritten, als sie an einer hohen Steinmauer ankamen. Drei Tore weitere Tore hatten sie bereits hinter sich gelassen. Retho ritt auf die Mauer zu, donnerte mit der Faust dagegen, worauf die schweren Flügel aufschwangen. Vergnügt passierte er das sechste Tor, hinter ihm fiel es krachend zu. Am Ende waren es wieder Crar, Tsvirai und Vill, die übrig waren. »Bei diesem Tor muss man felsenfest von seinem Weg überzeugt sein«, erklärte der Rebell, ritt auf das Tor zu und konnte es passieren. Auch für Tsvirai war es kein größeres Problem. Vill wartete eine Weile und überlegte. Es schien als wolle er meditieren, wandelte in einem tranceähnlichen Zustand auf das Tor zu und blieb kurz davor stehen. »Geh auf«, rief er. Ein Knirschen wanderte durch die Mauer, Staub und kleine Bröckchen rieselten von den Zinnen nieder. Krachend flogen die beiden Flügel auf, der Boden schien zu beben. Rethos Augen waren weit geöffnet. Schweiß rann ihm die Stirn herunter, er schluckte hörbar. »Eines ist sicher«, stammelte er nervös, »der Kleine ist von sich selbst überzeugt.« Eine einsame Träne kullerte Vills Wange hinunter. Er führte rasch die Hand vom Mund an die Stirn und von dort zum Herzen, dann grinste er seine Gefährten erfreut an. »Hat funktioniert.« Sie setzen ihren Weg fort und erreichten am frühen Abend das nächste Tor. »Die „Zwillingstore der Geduld“. Hier wird der Ausharrende belohnt.« Die Rebellen ließen sich in einem Kreis nieder, durchwühlten ihr Gepäck nach Essbarem und erzählten Geschichten. Mehrere Stunden verstrichen, ehe Crar, der scheinbar die ganze Zeit geschlafen hatte, sich regte. Gähnend setzte er sich zu Vill und Tsvirai und erzählte von einem Überfall auf die Soldaten, der nicht so glücklich verlief. Immer wieder brach lautes Gelächter aus, als er an bestimmten Stellen angelangt war und erzählte, wie er die Soldaten mit einem Tuch besiegt hatte. »Wie kommen wir eigentlich durch das Tor?« Vill starrte den Rebell pausenlos an. Nicht, dass ihm die Geschichte nicht gefallen hatte, er war nervös geworden, weil Mitternacht immer näher rückte und sich nichts getan hatte. Zudem war er scheinbar der Einzige, der den Gegenstand, der ihn verfehlt, nicht vergessen hatte. »Dies ist das „Tor der Mitternacht“.« Crar biss ihn einen Kanten Brot und nahm einen kräftigen Schluck Wasser. »Du siehst also, wir haben nichts zu befürchten. Es öffnet sich genau um Mitternacht und bleibt zwölf Schläge lang offen. Dazu auch die Uhr.« »Uhr?« Crar zeigte mit dem Kanten an der Mauer hoch und tatsächlich war eine kleine Glockenuhr mitten in der Mauer eingelassen. »Mach dir keine Sorgen, Kleiner.« Fünf Minuten vor Mitternacht brachen sie das provisorische Lager ab und stellten sich vor dem pechschwarzen Tor auf. Mit dem ersten Glockenschlag schwang es auf und die Pferde setzten sich in Bewegung. Mit dem zweiten Glockenschlag hatten Crar und Retho das Tor passiert, mit dem dritten Glockenschlag Vill. Mit dem vierten Glockenschlag Tsvirai und ein Rebell. Gerade ertönte die klare Glocke zum fünften Mal, da hallte lautes Wiehern über die Wiesen. Irgendwo knirschte eine Sehne, ein Aufschrei folgte. Rethos Bruder, der gerade dabei war, das Tor zu durchreiten, kippte aus dem Sattel. Ein Pfeil ragte aus seinem Hals. Lärm machte sich unter den Rebellen breit, einige trieben ihre Pferde hinter die Torflügel. »Die Jäger haben uns eingeholt.« Faclo warf sich mit seinem ganzen Gewicht gegen einen Torflügel, doch der rührte sich nicht. »Nutzlos«, brüllte Crar und zog sein Schwert. »Das Tor schließt sich mit dem letzten Glockenschlag. Wir müssen sie aufhalten. Bereitmachen zum Angriff.« Retho, der zu seinem Bruder gestürzt war, legte ihn sanft auf dem Boden ab und wuchtete seine Axt. »Ich werde sie aufhalten, und Rotho rächen.« Seine Miene war finster, in seinen Augen brannte unendliche Wut. Plötzlich wurde er durch das Tor gezogen, eine Ohrfeige brachte ihn halbwegs zur Vernunft. Vor ihm stand Rotho, Blut sprudelte aus der Wunde wie Wasser aus einem Bergquell. In der linken hielt Rotho seinen Zweihänder. Er deutete Faclo und einem weiteren Rebell, Retho festzuhalten, brach die Pfeilspitze ab und stapfte wankend vor das Tor. Der neunte Glockenschlag ertönte, die heranpreschenden Reiter waren keine hundert Fuß mehr entfernt. Einer legte einen Pfeil an die Sehne, verfehlte Rotho aber meilenweit. »Drei Glockenschläge noch«, stöhnte der Rebell, dann waren die Reiter bei ihm. Mit einer kreisenden Bewegung, die auf die Beine der Pferde zielte, brachte er die zwei Reihen zu Fall. Der zehnte Glockenschlag. Zwei Pfeile durchbohrten seinen Bauch. Wild brüllend wirbelte er den Zweihänder herum und zerhackte die Soldaten in zwei Hälften. Weitere Reiter preschten heran. Unter ihnen ein riesiger mit abgetragener Kleidung und ein dürrer, langhaariger Mann, dessen Umhang im Wind flatterte. Der elfte Glockenschlag. Rotho drosch auf das erste Pferd ein, worauf die anderen stehen blieben. Mühelos hatte er den schweren Brustkorb gespalten. Blutnebel hing in der Luft, Wehklagen drangen an die Ohren der Rebellen. Rethos Wut war neu entflammt. Die Bestie in seinem Inneren kannte kein Halten mehr, er schüttelte seine Kameraden ab und stürzte auf das Tor zu. Der zwölfte Glockenschlag. Ein Rucken ging durch die Türen, behebig wanderten sie aufeinander zu. Rotho drehte sich, erledigte sich dabei eines Gegners und starrte seinem Bruder in die Augen. »Ich kaufe euch zwei Tage«, formten seine Lippen noch, dann flog der Kopf von den Schultern. Ein zufriedenes Grinsen auf seinem Gesicht war alles, was blieb. Der riesige Mann warf sich gegen die Flügel, doch umsonst. Als der zwölfte Glockenschlag verhallte, ertönte das Klicken des verzauberten Schlosses. In genau diesem Moment warf Retho sich gegen das Tor, hämmerte wie wild dagegen, versuchte es aufzuziehen. »Lass mich durch. Lass mich zu ihnen durch. Ich zerfetze diese Mistkerle in der Luft. Faclo, Crar und andere warfen sich auf Retho und zogen ihn weg. Der bullige Rebell wütete und tobte, schlug um sich und verpasste einigen seiner Kameraden blaue Augen. »Komm zu Sinnen, du dämlicher Köter«, keifte Crar. »Rotho ist gestorben, um uns Zeit zu verschaffen. Wenn du jetzt da raus gehst, dann war sein Tod umsonst.« Diese Worte waren es, die Retho erreichten. Seine Muskeln erschlafften, die Wut legte sich. Alle Kraft wich aus seinem Körper und wich dem bitteren Beigeschmack, den so viele Menschen bereits verspürten. Trauer. Bittersüße Trauer. Tränen rannen über die breiten Wangen und versickerten im Kragen des Hemdes. Ruhe in Frieden, Rotho. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)