In den Fängen eines Vampirs von Severinam (Gefangene der Emotionen) ================================================================================ Kapitel 1: Die „nächtliche Eroberung“ ------------------------------------- „Das ... ist nicht gerade eine kleine Hütte.“ Staunend sah sie sich in der Villa ihrer nächtlichen Eroberung um. Von überall her schienen ihr der Luxus und der Reichtum nur so entgegenzuspringen. Amüsiert blitzte er sie aus grauen Augen an, antwortete aber nicht. Sie konnte sich nicht wirklich daran erinnern wie sie in dieses Haus gekommen war. Ich war wohl zu beschäftigt ..., dachte sie, und ein kleines, lüsternes Lächeln huschte über ihr Gesicht. Es verschwand aber sofort wieder als sie das Gesicht ihres Gegenübers erblickte. Alain. Mit diesem Namen hatte er sich gestern vorgestellt. Alain. Schon dieser Name klang wie die Versuchung höchstpersönlich. Und er täuschte nicht ... Alain sah gut aus, kein Zweifel, aber genau das machte sie auch etwas misstrauisch. Letzte Nacht war sie noch zu angeheitert gewesen um sich darüber großartig Gedanken zu machen. Aber nun... Was hatte sie von ihm zu erwarten? Er, ein gut aussehender, dunkelblonder, perfekt proportionierter ... nennen wir ihn mal – Adonis. Sie, durchschnittlich, brünett, braunäugig. Langweilig. Liliane war sich durchaus bewusst, dass sie eigentlich überhaupt nicht zusammenpassten. Was also sah er an ihr, das er nicht auch bei anderen schöneren – zu ihm passenderen – Frauen fand? Solche verunsicherte Gedankengänge waren so typisch für die Mittzwanzigerin, dass sie sich normalerweise nicht so einfach auf jemanden einliess. Auch nicht für einen One Night Stand Aber er ... er war so anders, und sie reagierte so ungewohnt auf ihn. Nie zuvor hatte sie einen Mann wie ihn getroffen ... einen Mann, der sie sofort so sehr fasziniert hatte. Während sie an ihrem frischen Brötchen kaute, das Alain von seinem Butler – er hat ernsthaft einen Butler, wo bin ich hier nur gelandet – hatte organisieren lassen, ging ihr die letzte Nacht noch einmal durch den Kopf. Er hatte sie – für sie vollkommen unerwartet – angesprochen, als sie doch recht verloren an der Bar gestanden und auf ihren bestellten Cocktail gewartet hatte. Ihre Freundin hatten sie mit den Worten du musst dringend mal wieder unter Menschen’ in diese Disko geschleift. Doch war sie jetzt auf der Tanzfläche verloren gegangen oder mit Bekannten irgendwo im Gedränge ins Gespräch vertieft. Wieder einmal hatte Liliane sich total verloren gefühlt, und wieder einmal war ihr nur zu gut bewusst geworden, weshalb sie nicht gerne ausging. Seine Stimme, die Stimme ihres Adonis, war trotz des Lärms und des Gebrülls sanft gewesen und hatte eine Gänsehaut hinterlassen. Er hatte sie aufgefordert, und obwohl sie nicht tanzen konnte und sich alles in ihr dagegen gewehrt hatte, war sie ihm auf die Tanzfläche gefolgt. Jedoch – die nächste Überraschung – nicht auf die für den gemeinen Pöbel. Er hatte sie die Treppe zum VIP-Bereich hochgezogen. Die Tanzfläche dort war zwar kleiner aber dafür meistens so gut wie leer. Er hatte ihr tief in die Augen geschaut, und als das nächste Lied erklungen war, hatten sie sich im Einklang zu der Melodie bewegt. Es war für sie vollkommen ungewohnt gewesen, sich einfach zu bewegen, ohne sich dabei zu überlegen, ob sie vielleicht angestarrt wurde. Sie hatte einfach nur getanzt ... und sich dabei gut gefühlt. Sie war wie gefesselt von seinen wundervollen, grauen Augen gewesen und alles um sie herum war so unwichtig geworden; in den Hintergrund gerückt. Irgendwann hatte er sie zur Bar geschoben und einen weiteren Caipirinha für sie und einen Scotch für sich bestellt. „Woran denkst du gerade?“ Alains Stimme holte sie wieder in die Gegenwart zurück. Er goss sich etwas Orangensaft in sein Glas. Verwirrt ob dieser Ablenkung und der Ahnungslosigkeit, wie sie diese Frage beantworten sollte, starrte sie ihn schweigend an. Sie konnte ihm unmöglich sagen, dass sie an den gestrigen Abend gedacht hatte, oder? Und da war sie wieder, wenn auch nur ganz klein – die leise Angst, etwas Falsches zu sagen und sich lächerlich zu machen. Mit einem liebevollen Blick musterte er Liliane. „Sag mal wie komm ich von hier eigentlich wieder in die Stadt rein?“, lenkte sie das Gespräch auf einen nicht ganz unwesentlichen Punkt, auch, um seiner Frage auszuweichen. „Willst du denn schon gehen? Der Tag ist doch noch lang, und ich möchte dich gerne besser kennen lernen.“ Verblüfft schaute sie auf. Ein wenig Enttäuschung spiegelte sich auf dem Gesicht von Alain wider, und sie bereute ihre Frage. Wenn sie gewusst hätte, dass er nicht wollte, dass sie ging ... Aber dennoch ... Er will mich besser kennenlernen? Wozu das denn? Das hat er doch gar nicht nötig! Sicher, Liliane würde lügen, würde sie behaupten, kein Interesse an dem Blonden zu haben, doch sie hatte sich niemals der Illusion hingegeben, dass aus dieser ... Beziehung mehr werden würde als ein kleines, kurzes, sexuelles Abenteuer. Sie war schon mehr als überrascht gewesen, als er sie in der Nacht gebeten hatte, bis zum Frühstück zu bleiben. Und nun so etwas. Als sie über diese überraschende Bitte etwas genauer nachdachte, flammte ein Funken Hoffnung in ihr auf, doch schnell zertrat sie ihn wieder mit einem imaginären Fuss. Schnell noch Interesse vorheucheln, um mir nicht das Gefühl zu geben, benutzt worden zu sein? Ja, das würde passen. In seinen Kreisen wird man wahrscheinlich nett und höflich aus dem Haus komplimentiert. „Was machst du eigentlich beruflich?“, fragte er, als sie nicht auf seine letzte Äusserung einging. Das war genau die Art von Smalltalk die sie für ihr Leben verabscheute. ... Und es war ihr peinlich. „Das ist doch nicht wichtig“, meinte sie darauf. Ein wissendes Lächeln zierte nach dieser Antwort seine (vollen, verführerischen, begehrenswerten) Lippen. „Was ist dann wichtig?“ Zärtlich griff er nach ihrer freien Hand. Mit einem ängstlichen Blick schaute sie ihn an. Liliane dachte darüber nach, kam aber zu keiner Antwort, die irgendeinen Sinn für ihn ergeben hätte. Sie zuckte nur mit den Schultern und hoffte, dass er jetzt nicht anfangen würde, tiefschürfende Fragen zu stellen, die sie entweder nicht beantworten konnte – oder wollte. Auch er schien einzusehen, dass seine Fragen im Augenblick wohl unbeantwortet bleiben würden und drängte sie nicht länger. Schweigend widmete Liliane sich wieder ihrem Frühstück, hing weiter ihren Erinnerungen der letzten Nacht nach und bemerkte nicht, dass Alain nur lustlos sein Croissant zerpflückte. Er hatte sie geküsst. Dort an der Bar. Es war ein süsser Kuss gewesen. Ihr Herz hatte mit einem Mal wild gegen ihre Brust geschlagen. Sie hatten kaum miteinander geredet; er hatte sie nur angesehen ... Die ganze Zeit. Sein Blick war tief gewesen; es war ihr so vorgekommen, als könne er bis in ihr Innerstes sehen; in ihr lesen, wie es ihm beliebte ... Ein wenig war es ihr vorgekommen, als würde er sie röntgen, aber dennoch war ihr sein Blick nicht unangenehm gewesen. Und dann ... dann hatte er sich vorgebeugt und mit seinen Lippen die ihren berührt. Voller Verlangen hatte sie diesen Kuss erwidert, sein Duft war in ihre Nase gestiegen, und ein Kribbeln war durch ihren Körper gelaufen, das ihr gezeigt hatte, wie lange sie solche Momente schon vermisste. Ihre rechte Hand hatte sich wie von selbst in seinem weichen, seidigem Haar vergraben, während ihre linke sich an seinem Oberarm fest gekrallt hatte. Auch seine Hände waren nicht untätig geblieben und ihren Körper hinauf und wieder herunter gewandert ... „Was hältst du von einer Führung?“ Er stand auf und hielt ihr einladend die Hand hin; durchbrach so ihre Gedanken. Ein Gentleman durch und durch. „Das ist, wie du siehst, das Speisezimmer – der Tisch stammt übrigens aus den Zwanzigern des 19. Jahrhunderts.“ „Ein Erbstück?“, fragte sie staunend. Sie wollte sich gar nicht vorstellen, wie viel er heute wert sein musste. „So ungefähr ...“, meinte er nur ausweichend. „Was heisst ‚so ungefähr’?" Neugierig beobachtete sie ihn. Doch Neugier war nicht das einzige Gefühl, das sie ob seiner seltsamen Antwort verspürte ... ein wenig Misstrauen mischte sich gegen ihren Willen in die Frage. So war sie schon immer gewesen ... sie liess sich durch Kleinigkeiten verunsichern, und manchmal hasste sie sich beinahe selbst dafür. Ein verschmitztes Schmunzeln blieb die einzige Antwort darauf, und sie gab auf. Etwas verunsichert sah sie sich um. Ein grosser silberverzierter Wandspiegel, ebenfalls aus der Frühromantik, schmückte die rechte Seite. Geschickt wurde das Licht vom Fenster auf die gegenüberliegende Wand geworfen und rückte ein Gemälde in den Vordergrund. Ein Stilleben mit Blumen, Insekten und Früchten auf einem Tisch. Durch die Schatten, welche auf das Bild geworfen wurden, machte es beinahe – natürlich nur beinahe – einen etwas unheimlichen Eindruck. Liliane verdrängte diesen naiven Gedanken. Ausser dem mächtigen Tisch und dem dazu passenden Stühlen befand sich nur eine Stil passende Kommode unter dem Spiegel. Eiserne, fünfarmige Kerzenständer füllten die Ecken links und rechts von der zweiflügeligen Tür, und ein prunkvolles Blumengebinde stand in einer edlen und überraschend modernen Vase in der Mitte des Tisches. Der Tisch war, ausser mit den Brötchen und Croissants, auch noch mit einer reichlichen Auswahl von Früchten, Marmelade, Käse und Würsten sowie Fleischaufschnitte beladen. Dampfender Kaffee und süsse, frische Obstsäfte standen etwas abseits bereit. Das reinste Schlaraffenland. Die dargereichte Hand ergreifend stand Liliane auf und liess sich aus dem Zimmer geleiten. Der Empfangsbereich der Villa war riesig und nahm etwa ein Drittel des Erdgeschosses ein. Riesige Blumenvasen gefüllt mit frischen Blumen in den Farben des beginnenden Herbstes fingen den Blick ein, während ein lieblicher Duft die Luft schwängerte. Sie fühlte sich hier wohl ... und verdrängte auch diesen Gedanken. Sie würde wohl nicht mehr sehr lange hier sein ... und danach nie wieder! Raum für Raum zeigte Alain ihr seinen Stolz – er liess es sich auch nicht nehmen, ihr seine unzähligen Gästezimmer vorzuführen. Erstaunlicherweise wurde jeder Raum in einem anderen Stil gehalten, als sollte für jeden Geschmack etwas dabei sein, oder als ob es von jeweils einem anderen Charakter eingerichtet wurde. So blieb es nicht aus, dass auch Liliane das eine oder andere Zimmer neidisch betrachtete und am liebsten darin eingezogen wäre. Am Ende zeigte Ihr Alain noch ein riesiges Zimmer, das komplett leer stand. Die hohen Wände; kalkweiss, dunkler Parkettboden und zwei kleinere Fenster, gegenüber der Tür, mit Blick auf das Waldgebiet. Im Hintergrund konnte man das Sandsteingebirge erkennen. Stuckarbeiten zierten die Decke, und ein, von Lilianes Gefühl her ziemlich grosser, offener Kamin, befand sich an der einen Wand. In einer Nische des Kamins lag bereits das Feuerholz bereit, als würde alles darauf warten, dass jemand kam und ein Feuer anfachte. Liliane konnte sich nicht gegen die Idee erwehren, diesen Raum für sich selbst einzurichten. Sie stellte sich ein Himmelbett vor, mit seidenen Tüchern in leuchtenden Orangetönen, die die Pfosten verhüllen würden, die Fenster mit schweren, samtenen Vorhängen geschmückt. Kerzenleuchter, die die vier Ecken des Zimmers erleuchten würden ... und Kirschholzschränke mit schnörkelhaften Ornamenten gegenüber des Bettes und eine Truhe mit allerlei Krimskrams vor dem Fussende. Kuschelige Lammfelle an den Seiten, die morgens ihre wärmeverwöhnten Füsse vor dem kalten Boden schützen würden. Sie dachte an ihre schäbige Wohnung zu Hause und unterdrückte ein leises Seufzen. Langsam näherte sich Alain von hinten und schlang Besitz ergreifend seine Arme um ihren Körper. Seine warmen Finger streichelten ihren Bauch und rutschten langsam und genüsslich tiefer. Ein Wärmegefühl machte sich in ihr breit und sammelte sich zu einem erhitzten Kribbeln in ihrem Unterleib. Sie seufzte nun doch leise – vor Lust. Sie erinnerte sich an die letzte Nacht, an seine geschickten Finger, seine warmen, sanften Lippen, sein Stöhnen, welches in das ihre eingefallen war ... „Und ... wie findest du meine ‚Hütte’?“, säuselte er in ihr Ohr, um gleich darauf an ihrem Hals zu knabbern. Ein kleines Grinsen hatte in seiner Stimme mitgeklungen, und plötzlich war sie sicher, dass er ihr ihre Gedanken genau angemerkt hatte. Sie schauderte unter seinen Berührungen. „Eigentlich hat diese ‚Hütte’ nur einen Haken“ murmelte sie. „Und der wäre?“ Neugierig aber schmunzelnd wartete er ihre Antwort ab. Liliane hätte sich dafür schlagen können, dass sie nicht einfach so simple Ausdrücke wie 'Schön' oder 'Wundervoll' hervorgebracht hatte, sondern wieder einmal auf ein wenig Sarkasmus zurückgreifen musste. Sie überlegte, auf ihrer Lippe herumkauend, ob sie ihm wirklich ihren ersten Gedankengang offenbaren sollte. Mache ich mich vielleicht lächerlich? Sie wollte keinen schlechten Eindruck vor Alain machen, ihrem Adonis, ihrem perfekten Gott auf Erden ... „Mhm ...?“ Er schien eine Antwort wirklich zu erwarten. Sie schien nicht darum zu kommen, sie ihm zu geben „Also, der Haken ist, dass sie nicht mir gehört.“ Sie seufzte theatralisch. Unerwartet fing Alain an zu lachen. Irritiert schaute sie zu ihm auf und musste ebenfalls grinsen. „Wenn du wüsstest, wie oft ich das schon gehört habe ...“ Fordernd drehte Alain sie nun zu sich herum und berührte vorsichtig ihre Lippen mit den seinen. Zögernd ging sie auf den Kuss ein und öffnete ihre Lippen, als er ganz sachte ebenfalls seinen Mund öffnete und seine Zunge über ihre Unterlippen glitt. Seine Hände, die er auf ihre Hüften gelegt hatte, streichelten nun ihren Körper. Während die eine Hand sich vorsichtig unter ihre schwarze Bluse schoben und ihre Wirbelsäule erkundeten, wanderte die andere ihren Bauch hinauf und reizte fordernd ihre Brustwarzen, die sich augenblicklich erregt aufstellten. Auch sie blieb nicht länger untätig. Mit ihrer rechten Hand langte sie in sein weiches, volles Haar und krallte sich darin fest, und unter einem leisen Stöhnen, welches man eher spürte denn hörte, drängte sie sich eng an seinen Körper. Mit ihrer linken Hand glitt sie zu seinem Po der in einer wildledernen, braunen Hose steckte und seinen Konturen mehr als schmeichelte. Ihre Zungen spielten sanft miteinander. Schliesslich löste Alain sich ein wenig von ihr. Seine Hände nahm er jedoch nicht von ihrem Körper; im Gegenteil: Er umspielte weiterhin beinahe quälend langsam ihre Brustwarzen. „Vielleicht sollte ich dir nun mein Zimmer zeigen“, flüsterte er dicht an ihrem Ohr, bevor er seine Lippen wieder auf ihren Hals senkte. Unter den sanften Berührungen – sein Mund berührte kaum ihre Haut – erzitterte sie abermals. Sie streichelte mit ihren Fingern durch seine Haare; wickelte einige der geradezu unglaublich weichen Strähnen um den Zeigefinger. Ohne sich von ihr zu lösen, begann er langsam, sie zu seinem Zimmer zu lenken. Sie hatte die Augen geschlossen, doch sie wusste noch etwa, wo sein Zimmer lag – sie hatte sich in der vergangenen Nacht stundenlang darin befunden. Es war das einzige Zimmer, welches sie noch nicht auf die Einrichtung hin betrachtet hatte. Und als er sie schliesslich rückwärts in das Zimmer führte und der Tür einen Stoss gab, sodass sie sich mit einem leisen Klicken schloss, war sie sicher, dass dies vorerst auch so bleiben würde ... ~ ~ ~ ~ Das war das erste Kapitel – ich hoffe, es hat euch gefallen! :) *Kekse verteil* Wer wissen möchte wie das bild aussieht.http://81.169.162.159/kettererkunst/kunst/picm/346/100801751.jpg von J. F. van Dael Kapitel 2: Hinter dem ruhigen Grau... ------------------------------------- So, ich lade das Kapitel schon zum zweiten Mal hoch, da ich noch einige, kleine aber dafür wichtige Dinge überarbeitet habe … Hallo meine Lieben! Ich bin wieder da, und ich habe Kapitel zwei im Gepäck! (Mit dem ich anfangs sehr, sehr gekämpft habe … Ich hoffe wahnsinnig, es ist gelungen! Wenn nicht, kritisiert bitte, damit ich weiss, was ich verbessern kann.) Ich wünsche euch viel Spass beim Lesen und serviere dazu frische Brötchen und gepressten Orangensaft. ~ ~ ~ ~ Als Liliane wieder erwachte, drangen kaum noch Sonnenstrahlen durch die dicken Vorhänge. Sie blieb zuerst noch einige Sekunden so liegen und genoss die Wärme des Bettes, welche sie zu umgeben schien wie die träge Luft an einem feucht-heissen Sommerabend, dann erst wurde ihr bewusst, dass es inzwischen schon später Nachmittag sein musste. Sie setzte sich auf und starrte einen Moment lang verwirrt in das beinahe völlig abgedunkelte Zimmer hinein, bevor sie sich wieder an alles erinnerte. Alain. Alain, mein persönlicher Adonis ... Sie verdrängte diesen Gedanken. Er war nicht ihr Adonis. Sie warf einen Blick auf die etwas zerwühlte Decke neben sich. Alain lag noch neben ihr. Ich habe ihn wohl erschöpft. Der sarkastische Gedanke hatte etwas durchaus Reizvolles an sich ... Auch sie legte sich nun langsam wieder hin – auf die Seite, damit sie ihn ansehen konnte. Und wieder fragte sie sich, weshalb jemand wie er eine so unscheinbare Person wie sie mit sich genommen hatte. Er hätte jede haben können, jede. Du hast Minderwertigkeitskomplexe, flüsterte sie sich selbst zu, doch es half nichts ... Vielleicht hatte sie tatsächlich zu wenig Vertrauen in sich – aber irgendetwas sagte ihr, dass er keinesfalls ehrlich an ihr interessiert sein konnte. Sie verdrängte diese düsteren Gedanken und konzentrierte sich stattdessen wieder auf sein Gesicht. Er sah völlig entspannt aus. Eine blonde Haarsträhne, die etwas heller als die anderen zu sein schien, hing ihm ins Gesicht. Sie zögerte kurz, dann konnte sie nicht widerstehen und streckte die Hand aus, um sie ihm sanft aus dem Gesicht zu streichen. Als ihre kühlen Finger seine warme Haut berührte, öffnete Alain die Augen mit einem Ruck. Sein Ausdruck, als er sie musterte, war so aufmerksam und wach, dass sie zuerst vermutete, er sei schon länger wach gewesen, doch im nächsten Moment ärgerte sie sich über sich selbst. Sie wurde schon paranoid ...! Sie spürte, wie ihr das Blut vor Verlegenheit in die Wangen schoss und ihr Gesicht heiss wurde. Endlich verzog Alain seine Lippen zu einem Lächeln. Er sah sie noch immer fest an, und sie erwiderte den Blick, unfähig, sich irgendwie zu bewegen oder das Wort zu ergreifen. Wieder fürchtete sie, etwas Falsches sagen zu können. Schliesslich setzte Alain sich auf, und Liliane tat es ihm gleich, erleichtert, dass er ihr indirekt zeigte, was sie zu tun hatte. „Hast du gut geschlafen?“, fragte er beiläufig, während er bereits daran war, sich anzuziehen. „Ja“, antwortete sie. Sie fragte nicht ‚Und du?’, denn was konnte sie auch anderes erwarten, als ein Ja seinerseits? Solche Fragen waren eigentlich unnötig; die Antwort war vorhersehbar. Ihr Blick glitt noch einmal über seinen Oberkörper, über seine klar definierten Muskeln, bevor diese unter seinem Pullover verschwanden. Wie schade ... Liliane zog sich ebenfalls wieder an. Der grösste Teil der freudigen Erregung und der Sympathie zu Alain, die sie noch an diesem Morgen verspürte hatte, kaum hatte sie in seine grauen, wundervollen Augen gesehen, war verschwunden. Ja, er war der personifizierte Adonis und ja, er war verdammt gut im Bett, aber nichts desto trotz freute Liliane sich darauf, bald wieder zu Hause zu sein. Sie dachte für sich, dass ihre Freundin Alice, die gesehen hatte, dass sie die Disko mit Alain verlassen hatte, sicherlich brennend interessiert sein würde – an jedem noch so kleinen Detail. Bei diesem Gedanken entwich ihr ein leises Seufzen. „Wieso denn so nachdenklich?“, wurde sie von seiner sanften Stimme aus den Gedanken gerissen. „Ach, ich…“ Ja, toll, brich den Satz unbeendet ab. Das macht einen sehr tollen Eindruck. Liliane verdrängte diese innere, ungeliebte Stimme. „Ich habe mich nur gerade gefragt, wie ich zurück in die Stadt komme.“ Sie erwiderte sein Lächeln. „Könntest du mich vielleicht zu der nächsten U-Bahn-Station bringen?“ Kaum hatte sie zu Ende gesprochen, verblasste Alains Lächeln – wenn auch nur für einen Sekundenbruchteil. „Später“, sagte er leise und fasste nach ihrer Hand. Sie liess zwar zu, dass er ihre Linke ergriff, doch sie spürte selbst, wie ihr Lächeln ein wenig unsicher wurde. „Weisst du, Alain … Ich würde gerne gehen.“ Er lächelte nur weiterhin schweigend und führte sie in das grosse Wohnzimmer. Er setzte sich auf das Sofa und zog sie mit; ihr blieb nichts anderes übrig, als sich ebenfalls zu setzen. Ihre Gedanken rasten. Wieso war er nicht auf ihren Wunsch – ihre Bitte – eingegangen? Sie sah ihm in die Augen, und das beinahe schon vertraute Grau beruhigte sie ein wenig. Sie reagierte über – sie sollte zumindest einmal abwarten, was Alain sagen wollte. „Weisst du, Liliane…“, begann er und gebrauchte somit genau dieselben Worte wie sie zuvor, „… eigentlich habe ich mit ‚besser kennenlernen’ nicht gemeint, dass wir wieder miteinander schlafen. Nicht, dass es mir nicht gefallen hätte, aber ich weiss so gut wie nichts über dich …“ Seine Stimme war gleich geblieben: leise und verlockend. Liliane lächelte automatisch; sie konnte nicht anders. Er wollte sie immer noch besser kennen lernen?! Dies überraschte sie, doch es war eine angenehme Art der Überraschung. Er schien es tatsächlich vollkommen ernst mit ihr zu meinen. „Nun“, sagte sie langsam, „vielleicht kann ich noch eine Stunde bleiben …“ Eine Sekunde lang glaubte sie, Alains Augen in einer seltsamen Mischung aus Zufriedenheit und Gier aufblitzen zu sehen, doch bevor dieser Gedanke völlig ausreifen und den Samen der Furcht in ihrem Kopf säen konnte, war er auch schon verschwunden. Drei Stunden später war es beinahe völlig dunkel. Alain hatte von seinem Butler, dessen Name Liliane noch immer nicht kannte, ein Abendessen organisieren lassen, das um Einiges üppiger gewesen war als das, was sie gewohnt war. Beinahe hatte sie ein schlechtes Gewissen gehabt – sie wollte nicht wissen, was das Drei-Gänge-Menu gekostet hatte. Andererseits spielte es, wenn sie sich seine Villa ansah, sehr wahrscheinlich kaum eine Rolle. Ihr war sehr wohl aufgefallen, dass Alain nur lustlos in seinem Essen herumgestochert und kaum etwas gegessen hatte, doch sie hatte sich nichts weiter dabei gedacht. Sie war viel zu beschäftigt gewesen, ihm etwas über sich zu erzählen. Auf belanglose Fragen war sie eingegangen – sie hatte ihm bereitwillig erzählt, wo sie als Kind gewohnt hatte, wo sie zur Schule gegangen war und wo sie jetzt wohnte – doch sobald die Fragen ein wenig persönlicher geworden waren, hatte sie sie geflissentlich überhört oder ausweichend geantwortet. Zu ihrer grossen Überraschung nahm er das ohne ein Wort des Widerspruchs schon beinahe zufrieden lächelnd hin. Als sie schliesslich zum ersten Mal an diesem Abend einen Blick auf ihre Uhr warf, musste sie erschrocken feststellen, dass es bereits nach acht Uhr war. Sie wand ihre Hand aus der seinen und sagte: „Alain, ich danke dir wirklich für diesen schönen Tag, aber ich sollte nun gehen. Es ist schon so spät …“ Alain schüttelte bestimmt den Kopf und nahm wieder ihre Hand; zog sie zurück aufs Sofa, als sie sich erheben wollte. Nun flammte doch Furcht in ihr auf … kaum mehr als ein zarter Funken, den Alain mit einem einzigen, richtig gewählten Wort hätte auslöschen können … doch das passierte nicht. „Du kannst noch einmal bei mir schlafen“, hauchte er in ihr Ohr, bevor er erst ihren Mundwinkel küsste und sie dann zu sich zog und wieder sehr leidenschaftlich seine Lippen auf die ihren presste. Das ist nicht gut ... Er wird dich nicht gehen lassen!, meldete sich die ungeliebte Stimme wieder zu Wort. Sie meinte jedes Wort todernst. Liliane versuchte, den Gedanken zu verdrängen – natürlich würde er sie gehen lassen ... er musste sie gehen lassen – doch etwas sagte ihr, dass das nicht stimmte. In ihrem Innersten wusste sie, dass es nicht so sein würde. Sie wehrte sich; wehrte sich gegen ihre Erregung und auch gegen ihn, und schliesslich liess er sie los. „Was ist denn los, meine liebste Liliane?“, fragte er. Seine Stimme klang noch immer zuckersüss, doch der Ausdruck seiner Augen hatte sich verändert ... „Bitte“, sagte sie, „ich möchte gerne gehen. Sag mir einfach, in welcher Richtung die Stadt liegt, okay?“ Das letzte Wort klang ein wenig schrill, ein wenig ängstlich, doch es war ihr egal. Sie war verängstigt. Er machte ihr angst. Mit seinen Fingern hatte er noch immer ihre rechte Hand umschlossen. Sie versuchte, sie ihm zu entziehen, doch sein Griff war zu fest. Ihr Verstand, ihre Vernunft, wehrte sich, den Gedanken zu akzeptieren, dass er sie nicht gehen lassen würde – das wäre schlicht nicht logisch gewesen! „Alain, du bist mir wirklich sympathisch ... Ich... ich mag dich“, gestand sie nach einem kurzen Zögern. „Wenn du willst, können wir uns gerne in ein paar Tagen wieder treffen.“ Oder in ein paar Wochen ... Monaten ... Jahren ... oder nie mehr. In diesem Moment, während sie auf seine Antwort wartete, wünschte sie sich nichts sehnlicher, als zu Hause zu sein, in ihrer kleinen Wohnung, im noch kleineren Wohnzimmer. Der Fernseher würde laufen, auch wenn sie sich vermutlich nicht auf die Bilder und Töne konzentrieren, sondern in einem schönen Buch schmökern würde … Es wäre sicher. Sie wäre sicher. Die Wohnung bot Sicherheit. Schutz. Liliane hatte gewusst, dass es keine gute Idee gewesen war, mit ihren Freundinnen zu gehen. Wieso hatte sie sich überreden lassen? Sie mochte keine Diskos ...! Sie spürte, wie langsam die Panik nach ihr griff. Sie konnte nichts dagegen tun. Dann, endlich – es schien ihr, als sei eine Ewigkeit vergangen – antwortete Alain, und im ersten Moment beruhigte sie sich ... sie war sicher, dass er ihr sagen würde, dass er sie nach Hause bringen würde. Doch als sie ihm zuhörte, wurde ihr mit den verstreichenden Sekunden bewusst, dass es nicht das war, was er sagen wollte. „Wenn du wirklich gehen willst, verstehe ich das, liebste Liliane ... auch wenn ich es äusserst schade finde. Erinnerst du dich an das leere Gästezimmer? Würdest du es nicht auch schön finden, es einzurichten, wie es dir beliebt? Du könntest länger hier bleiben ...“ Länger. Was meinte er mit ‚länger’?! Die Panik wollte zurückkommen, doch Liliane drängte sie mit aller Macht zurück. Sie konnte sich keine Panik leisten. „Nein, Alain ... Hör zu, ich... möchte bitte gehen. Jetzt.“ Als sie in Alains Augen sah, biss sie sich auf die Lippe und fügte noch einmal ganz leise hinzu: „Bitte ...“ Dieses leere Zimmer reizte sie plötzlich überhaupt nicht mehr. Er seufzte. „Nein, meine Liliane. Ich fürchte, das wird nicht gehen.“ „Was ... meinst du damit?“ „Ich meine“, sagte er langsam und deutlich, „dass ich will, dass du hier bleibst. Bei mir. Verstehst du jetzt, was ich meine?“ Sie starrte ihn verständnislos an. Ja, sie verstand seine Sätze. Sie hatte jede Silbe überdeutlich wahrgenommen. Der Sinn seiner Worte hatte sich ihr erschlossen. Aber sie verstand trotzdem nicht richtig ... Das konnte er nicht ernst meinen! Er konnte sie nicht einfach hier behalten. Sie riss ihre Hand los und stand auf. Seine Fingernägel kratzen dabei über ihre Haut und hinterliessen rote, schmerzende Striche, doch in diesem Moment nahm sie das gar nicht richtig wahr. Er erhob sich ebenfalls, und ein bösartiges Funkeln hatte sich in seine Augen geschlichen. Oder bildete sie sich das nur ein? Er trat langsam auf sie zu, und jeden seiner Schritte erwiderte sie, indem sie zurückwich, ohne den Blick auch nur eine Sekunde lang von ihm abzuwenden. Sie schüttelte den Kopf. „Alain, das kann nicht dein Ernst sein!“ „Du hast keine Ahnung, wie ernst ich das meine.“ Seltsamerweise stand seine Stimme im völligen Gegensatz zu dem Ausdruck seiner Augen. Sie klang noch immer so sanft und umschmeichelte sie ... Sie liess sich davon nicht beirren. „Ich werde jetzt gehen!“ Mit diesen Worten drehte sie sich um und rannte aus dem Wohnzimmer. Ihre Jacke war noch oben, ebenso ihre Handtasche, aber sie kümmerte sich nicht darum. Sie wollte raus; weg aus diesem Haus, fort von Alain, und das war das Einzige, das wichtig war. Sie wusste es. Sie spürte es einfach. Sie brauchte bestimmt zehn ganze Sekunden, bis sie die grosse Eingangshalle durchquert hatte, doch schliesslich war sie bei der Türe und konnte nach dem Türklinke greifen, und ein Gefühl von grosser Erleichterung durchflutete sie, als ihr bewusst wurde, dass Alain sie scheinbar nicht verfolgt hatte. Er ist irre ... Er ist ein Irrer. Sie drückte die Klinke herunter und riss an der Türe – doch sie liess sich nicht öffnen. Ein Ruck ging durch ihren gesamten Arm, als die Tür so unerwarteten Widerstand leistete. Sie missachtete den Schmerz und drückte gegen die Tür, obwohl sie sicher war, dass man ziehen musste. Natürlich passierte nichts. Die Türe war verschlossen. Liliane biss sich wieder auf die Lippen. Nicht panisch werden, flüsterte sie sich selbst zu, und dann das Mantra, welches ihr Psychiater ihr irgendwann in einer der sinn- und nutzlosen Sitzungen vorgegeben hatte: Ich schaffe das. Alles wird gut. Es gibt keinen Grund für meine Angst. Ich schaffe das. Sie drehte sich um, sodass sie die Türklinke in ihrem Rücken spürte. Alain kam völlig gemächlichen Schrittes durch die Eingangshalle auf sie zugeschlendert. Ihre Angst wurde übermächtig, trotz des Mantras. „Lass mich gehen! Jetzt!“, schrie sie. Alain lächelte nur. Noch immer völlig ruhig. Aus einem der Nebenzimmer trat der Butler. Mit einem einzigen Blick hatte er die Szene erfasst, doch er machte keine Anstalten, Liliane zu helfen. „Gibt es hier ein Problem?“, fragte er. Er hatte eine dunkle Stimme. Sie klang angenehm, aber paradoxerweise nicht ganz so beruhigend wie die von Alain. „Ich... Er... Er will mich nicht gehen lassen! Ich bitte Sie, helfen Sie...“ Sie brach ab, als sie bemerkte, dass der Butler nicht sie ansah. Er hatte seinen Blick fest auf Alain geheftet. Der winkte lässig ab. „Nein, noch nicht. Aber bleib bitte gleich hier, Niclas.“ Niclas. Der Butler hiess also Niclas. Niclas nickte. „Nun, Liliane, du hast mich scheinbar falsch verstanden“, sagte Alain noch immer freundlich. „Du wirst hier bleiben. Bei mir. Und wenn du nicht freiwillig bleibst, werde ich dich dazu zwingen.“ „Was?!“ Liliane begann am ganzen Körper zu zittern. Das konnte er nicht machen; das ging nicht …! Aber er meinte es ernst. Natürlich meinte er es vollkommen ernst. Und ein anderer Teil von ihr rief ihr immer wieder vorwurfsvoll zu: Du wusstest es! Du hättest nicht ausgehen dürfen! Natürlich … Selbstauferlegte Isolation, wie zur Selbstbestrafung ... Das wäre besser gewesen. Der Gedanke hatte etwas Sarkastisches, aber für sich dachte sie, dass es vermutlich stimmte. Liliane begann langsam, sich an der Türe herunter gleiten zu lassen. Stehen konnte sie nicht mehr; ihre Beine waren zu schwach und zitterten zu sehr. Alain kam nun doch zu ihr, so nahe, dass er nur noch einen halben Meter vor ihr stand. Viel zu nahe. Er wollte nach ihrem Arm greifen, und Liliane bezweifelte nicht einmal, dass er ihr tatsächlich nur hoch helfen wollte, doch sie schlug seine Hand zur Seite und machte sich so klein wie möglich. Sie zog die Beine an den Körper und senkte das Gesicht, sodass sie nichts mehr sah, nichts mehr wahrnahm – ausser ihrer eigenen Angst. Sie versuchte, nicht daran zu denken, wie oft sie früher schon so dagesessen war, mit dem Rücken zu einer Wand oder einer Türe ... „Liliane.“ Sie reagierte nicht, doch es gelang ihr nicht, die Stimme auszublenden; dafür war sie ihr noch zu wenig vertraut. „Liliane ...“ Sie spürte eine Hand in ihren Haaren und Finger, die beinahe schon sanft damit spielten. „Liliane, wir können das auf die eine oder andere Weise lösen ... Mir wäre es lieber, du würdest einfach tun, was ich sage. Dann werden wir uns gut verstehen, hörst du?“ Liliane hörte ihn; sie hörte Alains Worte, und sie nahm auch die leise Drohung darin wahr. „Jetzt schau mich an, ja?“ Langsam, ganz langsam, zwang sie sich, den Kopf zu heben, geleitet von Alains starker Hand in ihren Haaren. Sie starrte in seine Augen, und hinter dem ruhigen Grau ... schien nun ein Sturm zu toben. Ein Sturm aus Drohungen und Macht ... Sie senkte den Blick wieder zu Boden. „Liliane!“ Alains Stimme war nun härter. „Du wirst dich mit der Situation arrangieren müssen. Ich glaube, dir ist nicht klar, wie ernst ich es meine. Du hast zwei Möglichkeiten, ja? Ich lasse dir sogar die Wahl, liebste Liliane. Entweder du gehst mit mir, und wir versuchen, über das Ganze vernünftig zu reden.“ Sie schüttelte heftig den Kopf, und Tränen traten in ihre Augen. Noch immer fühlte sie sich verwirrt. Ja, da war Angst, aber die Verwirrung war noch immer da. Er konnte sie nicht hierbehalten; nicht wirklich ... oder? „Oder aber“, fuhr Alain fort, „du gehst mit Niclas in dein Zimmer und sagst ihm, wie du es einrichten willst. Was darf es sein, meine Kleine?“ Meine Kleine ... Sie schluchzte heiser auf und senkte den Kopf wieder zu ihren Beinen hinab. „Lass mich in Ruhe, geh weg!“ Alain seufzte leise. Dann murmelte er etwas, das klang wie ‚Wenn du es anders nicht willst’. Er packte ihre Oberarme und riss sie hoch. Sie taumelte, musste sich auf ihn stützen, um nicht zu fallen. Noch immer konnte sie den grauen Sturm in seinen Augen sehen, und er wiederholte seine Worte von vorhin; nun lauter. „Liliane, wenn du es nicht anders willst ... Wir können es auch auf die andere Art und Weise machen, kein Problem. Dir wird schon noch klar werden, dass es mir ernst ist.“ Dann wandte er sich Niclas zu. „Bring sie in eines der Zimmer und schliess sie dort ein. Ich will ihr Zeit lassen um nachzudenken. Ich werde dann in einigen Stunden nach ihr sehen.“ Irrte sie sich – oder hatte sich dieses Funkeln... dieses gierige Funkeln – noch verstärkt? Ob sie sich nun irrte oder nicht – diese Vorstellung intensivierte ihre Angst noch. Alain lächelte ihr zu, und das Lächeln war überraschenderweise genau so liebevoll wie während all den Stunden vorher. Niclas nickte. Er nahm Liliane am Arm, sanfter als Alain zuvor, und sagte leise: „Bitte Miss, kommen sie mit mir.“ Dann begann er, sie durch die Eingangshalle zu führen – wobei er während der meisten Zeit an ihr zog und zerrte, weil sie nicht mitging. Es war nicht so, dass sie nicht wollte. Das auch, aber das andere Problem war ... dass sie es schlicht nicht konnte. Das Zimmer, in welches sie geführt wurde, war in kühlen Blautönen gehalten. Das Himmelbett, welches in der Mitte des Raumes stand, sah bequem aus ... aber es reizte Liliane absolut nicht. Sie fühlte die Verzweiflung in sich brennen. Alain ... Was wollte er von ihr? Niclas schloss die Türe, als er das Zimmer wieder verlassen hatte. Liliane hörte, wie er den Schlüssel drehte und dann das leise Klicken des Schlosses. Was wollte er? Zitternd, mit unsicheren Beinen, die jeden Moment ihren Dienst zu versagen drohten, ging sie zum Fenster. Auch von diesem Zimmer aus sah sie in der Ferne wieder den Wald und dahinter das Sandsteingebirge. Beides versprach Freiheit. Mit zitternden Fingern griff sie nach der Fensterverriegelung. Sie versuchte, es zu öffnen – doch es bewegte sich keinen Millimeter. Als sie das Fenster genauer ansah, bemerkte sie, dass es sich nur mit einem passenden Schlüssel würde öffnen lassen. Liliane brach weinend auf dem Boden zusammen. Kapitel 3: Die Gefangene eines Monsters --------------------------------------- Vielen lieben Dank für die Favo einträge. Und keine falsche scheu vor Kommis. (Ich beiss euch schon nicht,... jedenfalls nicht ohne grund.) »zwinker« Gruß Severinam ~ ~ ~ ~ Eine ganze Weile sass Liliane nun schon auf dem Fussboden zusammengerollt. Wie lange konnte sie nicht genau sagen ... jegliches Zeitgefühl war ihr verloren gegangen. Wie lange sie wohl schon hier eingesperrt war? Vielleicht zehn Minuten? Oder sogar schon Stunden? Unmöglich, das zu sagen. Ihre Tränen waren schon lange versiegt; waren aufgebraucht ... sie hatte einfach keine mehr übrig. Ihre geschwollenen Augen wollten ihr keinen klaren Blick mehr gewähren, aber es war ihr egal … Sie wusste ohnehin, dass sie, wenn sie aus dem Fenster gesehen hätte, nur mit der Freiheit konfrontiert gewesen wäre, die ihr nun verwehrt war. Ihr zitternder Körper hätte wohl auch einem unbeteiligten Zuschauer gezeigt, welche Ängste sie in diesem Moment ausstand. Von Zeit zu Zeit ging sie die Geschehnisse, die sie in dieses Zimmer gebracht hatten, noch einmal durch, spielte sie in ihren Gedanken nach. Dabei schossen ihr immer mehr Fragen in den Kopf, Fragen die sie quälten, da sie momentan einfach keine Antworten darauf hatte. Hätte sie eher erkennen können, was geschehen würde? Hätte sie sehen müssen, dass Alain offensichtlich geistesgestört war? Was hätte sie tun können, um das Geschehene zu verhindern? ... Was konnte sie jetzt tun? Und das Schlimmste war... sie wusste genau, dass sie nichts tun konnte. Wobei ... vielleicht konnte sie ja doch etwas machen. Nicht zum ersten Mal schweifte ihr Blick nun durch das Zimmer und blieb am gleichen Ort wie schon die letzten Male zuvor hängen. Bemüht, sich zu beruhigen, atmete sie bewusst langsam ein und wieder aus. Es dauerte seine Zeit; immer wieder begann ihr Körper erneut, sich zu verkrampfen. Doch allmählich konnte sie sich soweit entspannen, dass sie sich Gedanken darüber machen konnte, wie sie aus dieser Situation wirklich wieder hinaus gelangen konnte. Sie wusste, dass sie hier nicht bleiben konnte. Sie musste weg, weg von diesem Irren. Wieder schlichen sich ihre Gedanken zu einer Flucht aus dem Fenster, und wieder wandte sich ihr Kopf wie von selbst zu diesem Punkt des Zimmers. Es war nicht sehr hoch. Vielleicht könnte sie sich ja einfach irgendwie hinaus hangeln. Das Problem war nur, dass sie das Fenster öffnen musste. Sie schaute sich nun genauer im Zimmer um. Eine Staffelei stand vor einem der zwei Fenster. Kreidestücke von Ocker bis Rotbraun lagen auf der Ablage und sahen schon sehr mitgenommen aus. Wer auch immer dieses Zimmer bewohnt hatte, hatte wohl sehr viel gezeichnet. Auch sah sie in einem Bücherregal verschiedene Bücher über Kunst und Geschichte, sowie verschiedenste Werke über Anatomie. Doch das interessierte Liliane gerade überhaupt nicht. Sie sah in der Staffelei nur ein Werkzeug. Ein Werkzeug, das ihr bei ihrer Flucht vor dem Verrückten helfen würde. Die Kreide fiel zu Boden, als sie die Staffelei anhob. Liliane trat auf die Kreidestücke, ohne auf das Knirschen unter ihrem Fuss zu achten und knallte die Staffelei mit Schwung gegen das Fenster vor ihr. Unvermittelt fand sie sich auf dem Boden liegend wieder. Die Arme schmerzten durch den Rückstoss, den die Staffelei verursacht hatte, als sie unverrichteter Dinge von dem Fenster abgeprallt war, und das Steissbein durch den Aufprall auf dem Boden ... Vielleicht brauche ich mehr Kraft, dachte Liliane. Sie wollte schon zu einem erneuten Versuch ansetzen, als der Schlüssel im Schloss herumgedreht wurde. Mit der Staffelei in den Händen zog sie sich augenblicklich in eine Ecke des Raumes zurück und wartete auf ihren Besucher. Die Tür öffnete sich schwungvoll. Herein kam niemand Geringeres als der wahnsinnige Adonis höchst persönlich. Mit neutralem Blick hatte er die Situation schnell erfasst. Er kam ein paar Schritte auf sie zu, blieb dann vielleicht einen halben Meter vor ihr stehen. Er unterzog sie einer genauen Musterung, wobei seine Augen wieder ruhig waren und ihren Körper beinahe sanft, liebevoll, abtasteten. Der Sturm war verschwunden, obwohl ganz im Hintergrund ein harter Ausdruck bestehen geblieben war. „Willst du mich damit erschlagen?“ Ein vorsichtiges Lächeln zierte seinen Mund, während seine Augen zu der Staffelei glitten. „Lass mich gehen!“, schrie sie ihn an und rutschte langsam an der Wand herab. Ihre Waffe fiel zu Boden und lag nutzlos neben ihr. Ihr Kampfgeist war vorerst aufgebraucht, und Verzweiflung machte sich in ihr breit. Es schien keinen Ausweg zu geben. Nun überwand er die letzte Distanz zwischen ihnen, setzte sich neben sie und schlang einen Arm um ihre Schultern … Zog sie nah an sich heran und hielt sie geborgen an seiner Brust. Liliane, völlig überrascht über diese plötzliche Berührung, versteifte sich und fand nicht den geringsten Trost in dieser Geste. „Weisst du, liebste Liliane, ich brauche dich. Ich wünschte, ich könnte dich einfach gehen lassen. Aber dann könnte ich dich verlieren, und dazu bist du mir zu wichtig. Ausserdem könnte es gefährlich für mich werden, wenn ich dich gehen liesse. Du wirst mich schon noch verstehen, wenn du dich erstmal beruhigt hast und wir vernünftig über alles reden können.“ Der Klang seiner Stimme sollte sie beruhigen, beschwichtigen, das spürte sie genau, doch sie sah nur einen weiteren Beweis für seinen Irrsinn in diesen Worten. „Was willst du von mir?“ schluchzte sie. Es war offensichtlich, dass es nicht um Sex gehen konnte, denn den hatte er von ihr bereitwillig bekommen. Sie konnte sein Verhalten in keinster Weise nachvollziehen – und selbst wenn; was würde das denn ändern? Sie wäre immer noch seine Gefangene. „Das wirst du erfahren, wenn du bereit bist zuzuhören und aufhörst zu versuchen, mein Eigentum zu zerstören.“ Leichte Verärgerung sprach aus seiner Stimme. Und er sprach weiter: „Das Fenster ist bruchsicher, du wirst dir nur unnötig selbst weh tun, wenn du noch mal versuchen solltest, es zu zerschlagen.“ Erstaunlicherweise konnte sie auch eine Spur von Sorge aus seinen Worten heraushören. Doch der nun wieder kühle Blick seiner Augen liess sie sicher werden, dass sie wohl keine Gnade von ihm zu erwarten hatte. Noch einen kurzen Moment hielt er sie in seinen Armen. Dann verliess er sie wieder und liess ein Häufchen Elend an der Wand zusammen gekauert zurück. Wieder allein, begann sie von Neuem zu zittern. Diesmal jedoch, weil ihr kalt wurde. Der warme Körper von Alain hatte ihr tatsächlich gut getan. Doch der von der Angst ausgelöste Schock forderte nun seinen Tribut. Und jetzt war Alain wieder weg. Zitternd griff sie nach der Decke auf dem Bett und hüllte sich darin ein. Erschöpft fiel sie nach geraumer Zeit in einen leichten Schlaf, aus dem sie immer wieder hoch schreckte. Vollends wach wurde sie, als erneut das Schloss knackte. Alain erwartend warf sie die Decke von sich und sprang auf, jederzeit bereit, sich gegen ihn zu verteidigen, wenn es sein müsste. Sie war noch immer müde und erschöpft, doch ihr Kampfeswille hatte wieder ein wenig Oberhand gewonnen. Doch herein kam nur der Butler, in den Händen ein Tablett balancierend. Er stellte es auf dem kleinen Tisch, links neben dem Bett, ab. „Der Master wünscht, dass sie sich stärken, Miss. Ich rate Ihnen, auf ihn zu hören. Sie werden es brauchen.“ Ohne eine Gefühlsregung drehte er sich wieder um, als die Stimme des Mädchens ihn zurückhielt. „Warum tun sie das? Warum helfen sie diesem Mistkerl?! Er begeht ein Verbrechen, indem er mich hier festhält, und Sie machen sich mitschuldig, wenn sie ihm helfen.“ Für einen kurzen Moment waren Lilianes Gedanken so klar wie ein Bergsee, und keine Angst verklärte ihre Stimme. „Ich habe meine Gründe, Miss. Und meine Loyalitäten gehen Sie nichts an“, entgegnete der Butler mit völlig ruhiger, etwas distanzierter Stimme. So verliess er ihr Zimmer und schloss sorgfältig hinter ihr ab. Draussen war es noch dunkel, doch am Horizont konnte man einen ersten Anflug vom Morgengrauen erkennen. Aus irgendeinem Grund stimmte der Anblick Liliane ein wenig traurig. Für einen kurzen Moment überdeckte die Traurigkeit sogar die Verzweiflung, die Wut und die Angst. Also bin ich jetzt schon zwei Nächte nicht mehr zu Hause gewesen. Ob Alice mich schon vermisst? Hoffnung legte sich wie feiner Nebel auf ihre Gedanken. Vielleicht meldet sie mich bald schon als vermisst, wenn ich mich nicht bei ihr melde und sie mich nicht erreichen kann ... Einen Blick auf das Tablett werfend beschloss sie erstmal, gegen ihre Gefangenschaft zu rebellieren, in dem sie den köstlichen Früchten und dem Joghurt keinerlei Beachtung schenkte. Wieder verging die Zeit ohne ihr Zutun; aus dem Fenster starrend beobachtete sie, wie die Sonne langsam über den Horizont glitt und das bunte Laub der Wälder bestrahlte. Einige der Sonnenstrahlen bahnten sich den Weg durch das Blätterdach und warfen mit Schatten scharfe Kontraste auf die Umgebung. Die sonnenbestrahlten Abschnitte glitzerten ein wenig. Einige der Strahlen drangen gebrochen durch die Fensterscheibe in das Zimmer. Allmählich schoben sich Wolken über den Himmel und zerstörten das malerische Bild, für das Künstler ihren linken Arm gegeben hätten, um es für die Ewigkeit festhalten zu dürfen. Liliane liess sich nicht durch das plötzliche Auftauchen von Niclas, der das Tablett wieder abholte, aus ihrer emotionslosen Starre rütteln. Wortlos ging er wieder. Diese Prozedur wiederholte sich noch mehrmals an diesem Tag. Niclas kam, brachte ihr etwas Essen und holte es später unangetastet wieder ab. Gelegentlich nickte sie ein, während sie dem Wetter dabei zuschaute, wie es seine Macht über das Land ausübte. Der Himmel wurde dunkler und ihre Augen schwerer. In der Nacht schlief sie nicht wirklich; dämmerte mehr vor sich hin. Und als sie glaubte, nie wieder etwas fühlen zu können, betrat er das Zimmer. Diesmal trug er ihre Speise vor sich her und stellte es vor ihr auf dem Boden ab. „Warum hast du nichts gegessen?“ Stumm sah sie zu ihm hinauf, blieb ihm die Antwort schuldig. „Liliane, bitte, du musst etwas zu dir nehmen. Hat dir Niclas das nicht gesagt?“ Seine Stimme klang besorgt und leicht flehend. Es kümmert ihn doch überhaupt nicht, was aus mir wird! Allmählich erwachte 'etwas' in ihr. Sie konnte ihre eigene, trotzige Stimme hören, die ihn anblaffte: „Lass mich hier raus, auf der Stelle! Du hast kein Recht, mich hier festzuhalten!“ Gelassen antwortete ihr Alain. „Doch, liebste Liliane. Ich habe das Recht dazu. Ich lasse mich nicht von euren Gesetzen beherrschen. Aber ich bin eigentlich nicht hier, um mit dir darüber zu diskutieren. Doch keine Sorge, ich tue nur das, was nötig ist. Nicht mehr.“ Diese Worte ließen das 'Etwas' wachsen. Mit welchem Recht stellt er sich über das Gesetz?! Mit welchem Recht hielt er sie fest?! Und unbändige Wut bahnte sich nun den Weg aus ihrem Körper. Sie schnappte sich das Tablett und schleuderte es Alain ins Gesicht. Er konnte noch schützend einen Arm vor seinen Kopf halten, doch der Saft und die belegten Schnittchen verteilten sich grosszügig auf seiner Kleidung. Blitzschnell ergriff er ihren Arm. Sein Griff war schmerzhaft, und so liess sie ihren provisorischen Schläger – das Tablett, das sie noch immer festhielt – fallen. Sie wurde erneut an seine Brust gezogen, und ehe sie sich versah, zog er ihren Kopf in den Nacken. Flüsterte noch schnell in ihr Ohr „Hab keine Angst, du kannst mir wirklich vertrauen“, und kaum, dass sie die Worte vernommen hatte, verspürte sie einen scharfen Schmerz an ihrem Hals. Der Irre beisst mich!, ging es plötzlich durch ihren Kopf. Er ist wirklich wahnsinnig! Und als sie dann auch noch leise Schluckgeräusche vernahm, war es ganz um sie geschehen. Sie schrie. So laut es nur ging, erklang ihr Schrei durch das Haus. Noch einen Moment dieser eigentümlichen Intimität ... und dann liess er von ihr ab. Genüsslich leckte er sich über die Lippen, schaute sie zufrieden an und gab ihr einen dankbaren Kuss auf die Wange. Einige Sekunden lang sah sie ihn aus weit aufgerissenen Augen an, dann versuchte sie, panisch von ihm wegzukommen. Sie hatte vollkommen vergessen, dass sie in der Ecke sass und somit keine Möglichkeit hatte, von Alain zurückzuweichen. Sie versuchte, ihn von sich zu stossen, wollte nur noch weg von diesem Irren, legte all ihre verbliebene Kraft in diesen Stoss, doch Alain packte ihr Handgelenk und sah sie liebevoll an. Er hielt ihr ein Tuch hin, gab endlich ihre Hand frei, und deutete auf die Wunde, die er ihr gebissen hatte. Nach kurzem Zögern verstand sie, griff mit heftig zitternden Fingern nach dem Tuch, da sie erkannt hatte, dass sie nicht weg konnte, und presste es auf ihren Hals. „Dankeschön.“ Überrascht sah sie ihm ins Gesicht. Studierte seine Mimik und erschrak, als er sie anlächelte. Sie hatte es vorher nicht wahrgenommen, aber seine Eckzähne waren ein paar Millimeter länger, als es üblich gewesen wäre. „Ich wusste, du würdest wundervoll schmecken … Können wir jetzt endlich über deine Anwesenheit reden?“ „Habe ich denn eine andere Wahl?“, fragte sie. Ihre Stimme klang schwach und unsicher. Sie hatte keine Ahnung, was sie denken sollte. Alains Lächeln wurde noch ein wenig sanfter, aber sein Tonfall hatte einen klein wenig warnenden Klang angenommen, als er ihr antwortete. „Ja, liebste Liliane, die hast du. Ich kann auch gehen und dich alleine lassen. Dann muss ich jedoch damit rechnen, dass du überhaupt nicht verwirrt bist, keine einzige Frage an mich hast … und dann werde ich gehen, ohne dir das Geringste zu erklären.“ Lilianes Lippen begannen zu zittern. Sie schluckte, dann schüttelte sie den Kopf. „Bleib“, flüsterte sie. Ein kurzes, fast triumphierendes Lächeln überzog sein Gesicht, bevor es verschwunden war. Er griff nach dem Tuch, nahm es ihr aus den Händen und presste es an ihrer Stelle auf die Wunde an ihrem Hals. „Du willst mich wirklich hier gefangen halten?“, fragte sie leise. „Nun, meine liebste Liliane, du könntest es auch als freiwilligen Aufenthalt ansehen. Du würdest es uns beiden um Einiges einfacher machen, wenn du dich nicht so verweigern würdest.“ Sie schüttelte den Kopf. „Du… Du hast mich … gebissen.“ Er streichelte mit seinem Daumen kurz federleicht über ihren Hals. „Ja …“ „Wieso?! Wieso hast du das getan?!“ Ihre Stimme klang nun ein wenig schrill. „Aber meine Liliane, hast du das noch nicht erraten? Ich bin ein Vampir.“ Er schien auf eine Reaktion ihrerseits zu warten, doch er bekam keine. Liliane schwieg und starrte ihn nur stumm an, die Augen noch immer weit aufgerissen. „Nun, jedenfalls wollte ich mit dir über deinen Aufenthalt hier sprechen. Du wirst das freie Zimmer beziehen – du kannst die Einrichtung mit mir planen, ich werde dir jeden Wunsch erfüllen, und…“ „Lass mich los!“, schrie sie ihn plötzlich an. Es waren Sekunden vergangen, bevor sie wirklich realisiert hatte, was er gesagt hatte. Er war … ein … Vampir. Sie war die Gefangene eines Monsters! Sie schlug seine Hand zur Seite. „Lass mich in Ruhe, verschwinde!“ Liliane senkte den Kopf und begann zu schluchzen, am ganzen Körper zitternd. Sie weinte und konnte einfach nicht aufhören. Alain – ihr Adonis – war ein Vampir, er hatte sie gebissen, ihr Blut getrunken … und nun wollte er sie hier festhalten! Als er seine Hand ausstreckte, um sie an der Schulter zu berühren, schrie sie auf und schluchzte noch lauter. Nach einigen Sekunden spürte sie, wie Alain sich erhob. Sie hörte trotz ihres Weinens, wie er das Zimmer durchquerte und dabei auf eine der Zeichenkreiden trat. Das Knirschen schien um so viel lauter als ihr Schluchzen zu sein, obwohl sie genau wusste, dass das nicht stimmte. Schliesslich hörte sie, wie die Türe geöffnet und wieder geschlossen wurde. Alain ist ein Vampir! Ein Vampir ... Der Schlüssel wurde gedreht. Kapitel 4: „Mehr Zeit“ – Aus der Sicht Alains --------------------------------------------- Hey ihr, meine/unsere lieben Leser. Ein ganz lieben dank von Sandfrauchen und mir für die vielen positiven Kommis und selbstverständlich auch für die Favo einträge. Ich wünsch euch viel spaß mit dem neuen Kapi. Den Schlüssel wieder einsteckend, drehte er sich von der Tür weg, von drinnen konnte er noch das Schluchzen hören. Vielleicht war es doch noch zu früh gewesen, es ihr erklären zu wollen, dachte er etwas bitter. Sie ist sehr sensibel – vielleicht … zu sensibel? Mehr Zeit! … Sie braucht mehr Zeit. Sonst ist alles verdorben. Alain lief den langen Flur entlang und ging die Treppe hinunter. „Niclas?“ rief er durch das Erdgeschoss. „Niclas!“ Mit einem Staubwedel in der Hand trat der Butler seinem Herrn entgegen. „Sie wünschen, Sir?“ „Sorge dafür, dass das Mädchen wenigstens etwas Flüssigkeit zu sich nimmt, wenn sie schon die Nahrung verweigert. Wenn es sein muss flöss es ihr mit einem Trichter ein! Hauptsache sie trinkt.“ „Jawohl, Sir.“ Mit einer geschäftigen Bewegung wandte sich der Butler ab. Doch die besorgte Stimme Alains hielt ihn noch einmal zurück. „Äh … Niclas. Vergiss das mit dem Trichter! … Sorge einfach dafür, dass sie nicht verdurstet, ja?“ „Ich weiss, Sir, … Ach Sir … soll ich die frische Kleidung für das Mädchen in ihr Zimmer bringen, oder wollen Sie das übernehmen?“ „Ich denke, im Augenblick wäre es besser, wenn du das übernimmst. Und bring sie auch dazu, ein Bad zu nehmen.“ „Ja, Sir.“ Beide gingen wieder ihrer Beschäftigung nach. Doch konnte sich der Vampir nicht so recht auf seine Papiere konzentrieren, immer wieder huschte ihm das Mädchen durch seinen Kopf. Wie konnte er sie beruhigen? Er wollte nicht, dass sie ihn hasste. Oder schlimmer noch – durch Schock oder Dehydrierung wegstarb! In seinen knapp 200 Jahren hatte er viel Geduld gelernt. Die Mädchen liessen sich eigentlich leichter besänftigen. Sie alle brauchten Geborgenheit, Liebe, Zuneigung, Aufmerksamkeit, jemanden zum Reden,… Nach etwas davon sehnten sie sich immer. Danach suchte er sie aus. Und wie Liliane so verloren in der Diskothek gestanden hatte, hatte er gewusst, dass sie die Richtige war. Doch … hatte er sich vielleicht getäuscht? Konnte es sein, dass ihre seelischen Narben schon zu tief waren? Konnte sie überhaupt noch vertrauen? Irgendjemandem vertrauen? Er musste immer wieder den Kopf schütteln über die Menschen. Da lebten sie in einer riesigen Gemeinschaft, behaupteten, sich um ihre Mitmenschen zu kümmern, doch gleichzeitig fielen jene, die sich nicht dem modernen Wahnsinn anpassen wollten, schlicht durch das soziale Netz und waren somit gezwungen, ihre Zeit alleine – oder beinahe alleine – zu verbringen. Die Gründe waren verschieden, oft waren grosse Schmerzen der Grund für die Ausgrenzung dieser zurückgezogenen Wesen. Manche gingen freiwillig in das Exil, andere wurden dahin gedrängt. Alleine zu sein unter Tausenden, wenn man von Natur aus andere zum Austausch brauchte, war die Hölle. Nichts schien schlimmer sein zu können. Nichts. Soviel hatte er gelernt, seit er sich angewöhnt hatte, immer einen Menschen um sich zu haben. Auch Niclas fühlte sich oft einsam, das war Alain bewusst. Er wusste, dass sein treuer Diener und wahrscheinlich einziger Freund manchmal mehr brauchte als einen Einzelgänger, wie er es war. Sich wieder auf sein Geschäft konzentrierend, kümmerte er sich um den Verkauf eines Gemäldes, welches sein Vater ihm nach seinem Tod vererbt hatte. Das Geld, das er daraus erwirtschaften würde, brauchte er nicht dringend, doch André, gerade Flügge geworden, wollte sich ein Haus am Rande der Stadt kaufen und konnte diese finanzielle Unterstützung gut gebrauchen, bis er sein eigenes Geschäft aufgebaut haben würde. Aber so ganz glücklich war Alain dennoch nicht darüber, dass sich André ausgerechnet hier ansiedeln wollte. Sicher, die Stadt wuchs und wuchs. Aber mit ihm waren es nun schon drei Vampire, die die Stadt bevölkerten. Die Rivalitäten untereinander brachten das Gleichgewicht in Gefahr, und die Sicherheitssysteme machten es immer schwerer, unauffällig zu sein. Die Melodie der „Moldau“ unterbrach seine Gedankengänge. Richtig, Lilians Handtasche und ihr Handy. Daran hatte er ja gar nicht mehr gedacht. Aber das sich jetzt erst jemand bei ihr meldete, nach fast drei Tagen … Er entnahm das Mobiltelefon der schwarzen Handtasche und wartete, bis das Klingeln stoppte. Der Akku war schon fast leer, doch für das Vorhaben Alains würde es reichen. Dem Speicher entnahm er, dass eine Alice angerufen hatte. Auch fand er ausschliesslich Textnachrichten vor, die von dieser stammten. Scheinbar die einzige Freundin Lilianes … Er durchforstete auch die gesendeten SMS. Ihm fiel auf, dass Lilianes Nachrichten oft sehr kurz ausfielen, sehr direkt und unpersönlich. Etwas umständlich drückte er auf den kleinen knöpfen eine Nachricht ein. Mir geht’s gut, brauche Zeit für mich. Lg L. Hoffentlich würde Alice nun die Füsse stillhalten, dachte er. Eine überbesorgte Freundin? Das konnte er jetzt wirklich absolut nicht gebrauchen. Am Nachmittag trat Niclas in das Arbeitszimmer. Eine kleine Schnittwunde auf seinem Unterarm zog Alains Aufmerksamkeit sofort auf den Butler. „Was ist passiert?!“ „Nun … es sieht so aus, als wäre der Kampfgeist des jungen Fräuleins erwacht“, antwortete Niclas. Seine Stimme war vollkommen ruhig. Schmunzelnd betrachtete Alain die kleine Verletzung. „Gut, … Das ist gut. Was genau ist passiert?“ Der Butler liess ein vernehmliches Seufzen erklingen und schaute resignierend zu seinem Freund. „Ich habe ein Bad für das Mädchen eingelassen. Währenddessen wollte sie die Gelegenheit nutzen, um aus dem Zimmer zu entfliehen. Natürlich habe ich sie sofort aufgehalten, aber … Nun, sagen wir es so … wir sollten in Zukunft keine gläsernen Gegenstände, zum Beispiel Handspiegel, mehr offen herumliegen lassen.“ Alain nickte knapp. Wenn Liliane Niclas nun so offen angegriffen hatte, bedeutete das vielleicht, dass sie sich gefangen hatte. Vielleicht war es doch nicht zu früh gewesen, um es ihr mitzuteilen. Vielleicht… „Und wie ist sonst ihr Zustand? Beruhigt sie sich allmählich? Akzeptiert … sie es?“ Der hoffte es wirklich … „Nein Sir, tut mir Leid. Sie hockt nach wie vor in der Ecke, … wenn sie nicht gerade an Flucht denkt oder mit Gegenständen um sich wirft. Sie weint auch noch immer, wenn man ihr zu nahe kommt.“ Alain seufzte. „Ah … Sir? Ich halte es für besser, sie in das leere Zimmer zu stecken; dort kann sie keinen Schaden anrichten.“ Einen nachdenklichen Blick auf Niclas werfend antwortete Alain: „Nein, das wird wohl nicht nötig sein, lass sie nur zerstören was sie will, aber achte darauf das sie sich nicht selbst verletzt. Das Zimmer wirst du ausräumen, sobald es nicht mehr benötigt wird.“ Und zu sich selbst flüsternd … „Es wird Zeit mich davon zu trennen.“ Niclas nickte kurz, dann verliess er das Zimmer mit den Worten „Ich werde später noch einmal nach dem Mädchen sehen, Sir.“ Sofort gehörten Alains Gedanken wieder Liliane. Sie war so wütend gewesen, als er ihr Zimmer zum wiederholten Male betreten hatte, doch gleichzeitig hatte er unterschwellig ihre Angst, ihre Verwirrung und Verzweiflung gespürt. Am liebsten hätte er sie einfach nur in den Arm genommen … doch sie hatte ihm schon deutlich gemacht, dass sie sich dadurch nicht beruhigen liess. Als sie ihm dann das Tablett in das Gesicht geschleudert hatte, war da nur noch Wut gewesen – und er hatte einfach nicht widerstehen können. Er hatte von ihr trinken müssen. Und sie hatte ihn nicht enttäuscht. Dennoch machte er sich Sorgen um sie … Er fragte sich erneut, wie er sie wieder beruhigen konnte. Es war ihm wichtig, dass sie versuchte, ihm zu vertrauen. Diese Gedanken – und dass er sich so intensiv damit beschäftigte – waren neu für ihn … Er hatte es normalerweise ziemlich leicht bei den Mädchen. Die meisten brauchten ihn – und wussten es. Er erinnerte sich, zum ersten Mal seit längerer Zeit, an Jennifer – das erste Mädchen, das er zu sich geholt hatte. „Du… du bist also wirklich ein… ein … Vampir?“ „Ja, Jennifer …“ „Du hast gesagt, ich kann dir vertrauen …!“ „Das kannst du auch.“ Jennifer sah ihn einige Momente schweigend an, dann jedoch wehrte sie sich nicht mehr gegen seine Umarmung; im Gegenteil. Sie drängte sich näher an ihn, schmiegte sich an seine Brust, während er seinen Arm noch fester um sie legte. „Du bist der einzige, der sich seit Langem für mich interessiert …“, flüsterte sie. Er lächelte und hob ihr Kinn mit seinen Fingern an, sodass sie ihm in die Augen sah. Bevor er jedoch etwas sagen konnte, was sie noch weiter beruhigt hätte, ergriff sie die Initiative, was ihn ziemlich überraschte, und verschloss seine Lippen mit einem sanften Kuss. An ihren Wimpern spürte er noch die Nässe ihrer Tränen – sie war verängstigt gewesen; ja … doch diese Emotion war scheinbar bereits vollkommen gewichen. Es überraschte ihn, wie schnell sie sich von seinen gut gewählten Worten hatte beruhigen lassen. Er war mehr als erleichtert, dass sie ihm zu vertrauen schien. Als sie sich voneinander lösten, lächelte sie ihn an, und es war ein so ehrliches Lächeln, wie er es seit gestern; seit er sie zu sich geholt hatte, noch nie in ihrem Gesicht gesehen hatte. Er lächelte zurück. Alain schüttelte den Kopf, um diese Erinnerung loszuwerden. Es war eine schöne Erinnerung, aber sie war nicht mehr als eben das: Eine Erinnerung. Das war vergangen. Es hatte ihn selbst überrascht, wie einfach es gewesen war, eine Beziehung zu Jennifer aufzubauen. Sie hatte ihm alles gegeben, was sie gehabt hatte … Sie hatte sich ihm anvertraut … Aber er wusste, dass es nicht bei allen Mädchen so einfach war wie bei ihr. Liliane war furchtbar verletzlich … und genau das machte sie so wertvoll. Er würde sich ihr Vertrauen erarbeiten müssen, doch das würde es wert sein, das wusste er. Alain widmete sich wieder dem Papierkram, den er dringend zu erledigen hatte und den er, über Lilianes Anwesenheit, ein wenig vernachlässigt hatte. Er unterzeichnete einige Papiere, die er noch nicht bearbeitet hatte, dann legte er den Füller und die Mappe mit den Verträgen zur Seite. Einen Blick auf die Uhr bestätigte ihm, dass Liliane, sollte sie tatsächlich in baden gegangen sein, nun schon seit über einer Stunde im Badezimmer war. Er vermutete stark, dass sie schliesslich trotz ihrer Abneigungen ihm – und Niclas – gegenüber ein Bad genommen hatte – sie hatte es sicherlich bitter nötig gehabt. Nicht nur körperlich – auch rein seelisch hatte es ihr vielleicht geholfen. „Niclas!“, rief er. Einige Sekunden später verstummte das Geräusch des Staubsaugers, und der Butler betrat das Arbeitszimmer. „Sir? Soll ich nach dem Mädchen…“ „Nein. Ich werde selbst nach ihr sehen. Ich werde versuchen, ruhig mir ihr zu reden. Du hast ihr neue Kleidung gebracht?“ „Ja, das habe ich.“ „Gut. Danke. Das wäre dann alles.“ Niclas nickte, verliess das Zimmer. Und Alain ging gemächlichen Schrittes in die Richtung, in welcher das Zimmer, das Liliane gerade noch bewohnte, lag … Als er das Zimmer betrat, sah er sofort, dass Niclas alle spitzen und gläsernen Gegenstände daraus entfernt hatte. Auch das Tablett und der verspritzte Saft und die Schnittchen lagen nicht mehr wild verstreut auf dem Boden. Er trat an die Türe heran, hinter der sich das angrenzende Badezimmer verbarg. Er klopfte … „Liliane?“ Er wartete – doch er erhielt bestimmt über zwanzig Sekunden lang keine Antwort … Kapitel 5: Der Duft von Vanille ------------------------------- Meine lieben, von mir hochgeschätzten Leser (ja ich übertreibe gerne, hab euch aber wirklich lieb) ich bedanke mich für eure super lieben Kommis und hoffe das ihr sandfauchen und mir (diesmal geht die ehre eigentlich zu 100% an sie) wieder euer feedback hinterlasst. ************************** In dem Zimmer meiner Kindheit war ein kalter Wind Zuhaus’ Und obwohl der Ofen glühte, klebte Raureif an der Wand Nur die Arme meiner Mutter hätten mich wohl wärmen können doch kam sie mich nie besuchen […] In dem Zimmer meiner Kindheit lagen Schneelawinen lauernd Und verschütteten den Ausgang für unendlich lange Zeit. Nur mein Vater mit den Augen von der Farbe blauer Gletscher hätte mich noch retten können, doch der Weg war wohl zu weit. (« Feuerkind – Subway to Sally) ************************** Viel spass beim lesen. ~ ~ ~ ~ Der Duft von Vanille Das warme, fast heisse, Wasser schlug kleine Wellen, als Liliane ihre rechte Hand aus der Wanne hob, um sich damit über das Gesicht zu fahren. Die Schweisstropfen auf ihrer Stirn wurden mit der Nässe aus der Wanne vermischt. Sie seufzte leise. Ihre Tränen hatten sich ebenfalls mit dem Wasser vermischt, welches anscheinend mit irgendeinem Zusatz versehen worden war. Das Badezimmer roch leicht nach Vanille, und dieser beständige Duft, der sie umgab, hatte sie mit der Zeit ein wenig beruhigt. Sie schaffte es wieder, klare Gedanken zu fassen. Inzwischen waren ihre Tränen völlig verschwunden; sie hatte keine Kraft mehr zum Weinen. Zumindest vermutete sie das. Liliane wusste nicht, wie viel Zeit vergangen war, seit sie am ganzen Körper zitternd in das angrenzende Bad gegangen war, welches sie bisher nur betreten hatte, um die Toilette zu benutzen. Der Butler – Niclas – hatte ihr Badewasser eingelassen … auf Anweisung des ‚Masters’ hin. Sie schloss für einen Moment die Augen. Alain. Alain, ihr „Adonis“ – Alain, der Vampir. Was wollte er von ihr? Diese Frage liess sie nicht mehr los; sie quälte sie. Weshalb hatte er sie zu sich geholt, weshalb wollte er sie nun bei sich behalten?! Die Fragen hatten sich in ihrem Kopf festgesetzt und schienen sie nicht mehr verlassen zu wollen. Sie biss sich auf die Lippen. Wollte er sie töten? Aber wenn dies in seiner Absicht liegen würde, weshalb hatte er es denn nicht schon getan? Sie schüttelte den Kopf, schloss erneut die Augen. Was sollte sie nun tun? Sie konnte doch nicht hierbleiben … Sie musste einen Weg finden, von hier wegzukommen … Was sollte sie nur tun? Sie verdrängte diese Gedanken mit aller Kraft. Sie wollte jetzt nicht darüber nachdenken. Sie durfte nicht darüber nachdenken, wenn sie sich vollständig beruhigen wollte. Sie liess sich noch etwas tiefer in die grosse Badewanne sinken. Die Bisswunde an ihrem Hals brannte, als sie von dem warmen Wasser bedeckt wurde, doch sie konzentrierte sich einzig und alleine auf den Geruch von Vanille; atmete tief ein und liess sich in ihre tieferen Gedanken sinken … Erinnerungen. Liliane erinnerte sich nicht an allzu viele Dinge ihrer Vergangenheit … doch die, an welche sie sich erinnerte, würden für immer bleiben, das wusste sie. Das Erste, an das sie sich nun erinnerte, war der intensive Geruch nach Vanille, welcher sie begrüsst hatte, als sie die Haustür hinter sich geschlossen hatte. Sie war fünf Jahre alt gewesen. Voller Elan hatte sie die Küche betreten, das Bild, das sie im Kindergarten voller Mühe gemalt hatte, noch in der Hand haltend. Es zeigte ein rotes Haus – etwas schief geraten – und davor drei lachende Menschen … Sie, gemeinsam mit ihren Eltern. Ihre Mutter war am Herd gestanden, in einem Kochtopf rührend, aus welchem der Vanillegeruch noch stärker zu ihr vorgedrungen war. Sie war an ihre Mutter herangetreten, die sich zu ihr umgedreht hatte. „Oh, Liliane, entschuldige bitte … wir haben bereits gegessen. Papi wollte unbedingt schon essen, ja?“ Ihre Mutter hatte fröhlich gesprochen, aber in ihren Augen war keine Fröhlichkeit gewesen, sondern etwas anderes; etwas, das Liliane nicht wirklich kannte. Sie hatte genickt. Die Zeichnung gehoben. „Mami, schau. Für dich.“ Ihre Mutter hatte einen raschen Blick auf das Bild geworfen, nur eine Sekunde lang. Sie hatte genickt. „Sehr schön, Lily.“ Dann hatte sie sich abgewandt, sich wieder dem Dessert zugewandt, und Liliane war enttäuscht in ein anderes Zimmer gegangen … das Arbeitszimmer des Vaters. Er war darin gewesen; wie immer. Er war auf und ab gelaufen, das Telefon in der Hand. „Spinnst du? Du kannst nicht einfach diese Verträge unterzeichnen! Ich werde sie mir ansehen.“ Er hatte sich kurz unterbrochen, hatte sich umgedreht. Liliane hatte ihn erwartungsvoll angesehen. „Liliane, du weisst doch, dass du dieses Zimmer nicht betreten darfst. Geh bitte raus.“ „Aber – ich habe ein Bild…“ „Liliane, geh! Ich muss arbeiten.“ Liliane war gegangen. Ihr Vater konnte nichts dafür, dass er arbeiten musste … Sie hatte das Bild, das niemand interessiert hatte, auf den Küchentisch gelegt, damit ihre Mutter es nehmen konnte. Sie war noch immer am Herd gestanden und hatte sich nicht einmal umgedreht. Liliane schlug die Augen auf. Der Vanillegeruch vom Badewasser umschwebte sie. Gedankenverloren malte sie mit ihrem Finger Muster in das Wasser auf dem Badewannenrand. Sie setzte sich auf – ein wenig Wasser schwappte über den Rand und klatschte mit einem seltsam lauten Geräusch zu Boden – und sah sich noch einmal in dem grossen Raum um. Hier sah es ganz anders aus als in ihrem Bad. Ihr eigenes Bad in ihrer eigenen, kleinen Wohnung war spärlich eingerichtet. Es hatten kaum zwei Menschen gleichzeitig darin Platz. Dagegen mutete dieses Zimmer geradezu wie ein Palast an. Eine Toilette, die wunderschöne, riesige Badewanne, in der problemlos auch zwei Personen Platz gefunden hätten, das Waschbecken, welches in eine steinerne Platte eingelassen war. Geschickt verteilte, runde Lampen waren in die Decke und den Boden eingearbeitet und verteilten ein sanftes Licht. Ein Fenster gab es dafür keines. Der Spiegel über dem Waschbecken war angelaufen. Wieder schloss sie die Augen; liess sich von dem Vanillegeruch einfangen. Liliane war in die dritte Klasse gegangen, als ihr Vater keinen Job mehr gehabt hatte. Seltsamerweise hatte er trotzdem nie Zeit gehabt. Es war Sonntag gewesen. Ihre Mutter war in der Küche gewesen, wo sie sich meistens aufgehalten hatte, auch wenn sie nicht gekocht hatte. Vorsichtig hatte Liliane die Tür zum ehemaligen Arbeitszimmer des Vaters geöffnet, doch bevor sie etwas hatte sagen können, hatte er sie angeschrien: „Stör mich nicht, ich bin am Arbeiten! Ich habe gerade keine Zeit für dich!“ Sie hatte die Tür sofort wieder geschlossen. Einige Sekunden lang hatte sie die Holztür angestarrt, ohne sich zu bewegen, dann war sie langsam in die Küche gegangen. „Mama? Ich habe in der Schule doch dieses Projekt, und ich…“ „Lily. Komm her“, hatte ihre Mutter gesagt, sie angelächelt. Liliane hatte einen Blick auf ihr blaues Auge geworfen, war dann zu ihr gegangen. Ihre Mutter hatte sie in die Arme genommen. Als Liliane hochgesehen hatte, hatten in den Augen ihrer Mutter Tränen geschimmert. „Lily, ich liebe dich, ja?“ Das hatte ihre Mutter oft gesagt. Nach diesen Worten hatte sie Liliane, anstatt ihr zuzuhören, aus der Küche geschoben. Verwirrt war Liliane in ihr Zimmer gegangen und hatte den Aufsatz über ihre Eltern geschrieben. Sie hatte keine gute Note dafür bekommen. Ihre Lehrerin hatte geschrieben, sie habe ihre Eltern vor allem äusserlich beschrieben und somit das Thema verfehlt … Liliane griff nach dem Heisswasserhahn und liess Wasser nach fliessen. Es wurde immer heisser; Dampfschwaden umschwebten sie. Ihre Haut war bereits leicht gerötet. Langsam drehte sie den Hahn wieder zu. Hatte sie Alains Stimme gehört? Sie wusste es nicht, war sich nicht sicher, und das vermeintliche Geräusch wiederholte sich nicht. Teilnahmslos wischte sie sich über die Augen, in denen sich Flüssigkeit angesammelt hatte und dann über die Wangen. Auf ihrer rechten Wange spürte sie eine Träne. Sie hatte nicht gemerkt, dass sie erneut angefangen hatte zu weinen. Sie liess sich wieder zurücksinken. Sie hatte geweint. Sie war sechzehn gewesen, und sie hatte in ihrem Zimmer auf dem Bett gesessen und zum ersten Mal wegen eines Jungen geweint. Robert hatte er geheissen, und sie war in ihn verliebt gewesen. Er hatte sie geküsst – und noch ein wenig mehr … und dann hatte sie erfahren, dass er eine Freundin hatte. Jasmin. Die Schulschönheit mit den guten Noten und den schönen Kleidern und den perfekten Eltern, die sie zum Volleyballtraining brachten und wieder abholten. Andererseits wurde auch ihre Freundin Alice zum Fussballtraining gebracht und wieder abgeholt. Vielleicht war das ja normal … Sie jedenfalls musste alleine zum Schwimmen und wieder nach Hause gehen. Sie hatte sich gewünscht, dass ihre Mutter kommen würde, oder sogar ihr Vater – und sie trösten würde. Aber niemand war gekommen, und schliesslich war Liliane ins Wohnzimmer gegangen, wo ihre Eltern sich aufgehalten hatten. Als ihr Vater sie angesehen hatte; ihre geröteten Augen gesehen hatte, hatte er einzig genervt gewirkt; keine andere Emotion hatte er gezeigt. Sie hatte gewusst, dass er eine andere Frau hatte; er hatte sie zusammen gesehen, aber ihrer Mutter hatte sie nichts davon erzählt. Ihre Mutter war so schon traurig genug gewesen, trotz der Tabletten, die sie jeden Tag genommen hatte. Sie hatte sich gerade mit ihrem Vater gestritten, als Liliane das Wohnzimmer betreten hatte … und ihr Vater hatte ihrer Mutter eine Ohrfeige gegeben. Liliane war zusammengezuckt, anders als ihre Mutter, die kaum reagiert hatte. Manchmal hatte Liliane sich gefragt, weshalb sich ihre Eltern nicht einfach trennten. Sie hatte sich die Tränen aus dem Gesicht gewischt, doch es hatte nichts genützt: sie schien nicht mit dem Weinen aufhören zu können. „Hör auf, sie zu schlagen!“, hatte sie gerufen. Wie mutig sie doch gewesen war … Ihr Vater hatte sich umgedreht, sie wütend angesehen. Kurz darauf hatte sie ebenfalls eine Ohrfeige von ihm gekriegt; die erste bisher. Ihre Mutter hatte das Wohnzimmer verlassen, ohne Liliane anzusehen. Den Satz ‚Ich liebe dich, Liliane’, hatte sie nicht mehr gesagt; nie mehr. Dann war auch Liliane gegangen. Und als sie wieder in ihrem Zimmer gewesen war, hatte sie nicht mehr geweint. „Liliane! Verdammt, antworte mir!“ Sie öffnete die Augen mit einem Ruck. Wieder schwappte Wasser über den Rand der Wanne. Sie sah zur Türe, hörte das heftige Klopfen. „Liliane.“ Alains Stimme. Sie biss sich auf die Lippen, umklammerte mit der Hand den Rand der Badewanne. Alain war hier. Was wollte er? Sie antwortete nicht. „Liliane, bitte antworte mir. Was tust du da drin?“ Seine Stimme klang scharf, doch sie hatte gelernt, auch den Unterton herauszuhören, und Alain klang eindeutig besorgt. Ein ganz kurzes Lächeln glitt über ihre Lippen. Sie hörte ihn gedämpft Seufzen. Er machte sich Sorgen. Um sie. Diese Besorgnis tat ihr gut, obwohl sie sich vor ihm fürchtete … er war ein Vampir. Aber… Aber er sorgte sich. Liliane schöpfte sich heisses Wasser über die Schultern, antwortete ihm nicht. Sie hatte lange gebraucht, bis sie das Gebäude des Psychotherapeuten gefunden gehabt hatte. Es war im Stadtinneren gelegen, und Liliane hatte sich nicht wohl gefühlt unter den vielen Menschen. Es war ihr so vorgekommen, als würde sie von allen angestarrt werden; alle schienen gewusst zu haben, wo sie hinwollte … hinmusste. Sie war vor dem Gebäude stehen geblieben, hatte gezögert. Sollte sie tatsächlich da rein gehen? Wäre Alice hier gewesen, hätte sie sie bestimmt reingezogen. Aber Alice war nicht da gewesen, Alice hatte den Tag bei ihrem Freund verbracht. Sie hatte sich umgesehen. Eine Frau, welche in den Armen ihres Freundes gelegen hatte. Sie hatten sich geküsst, sich angelächelt. Er hatte ihr über die Haare und die Wange gestreichelt, ganz sanft. Eine Mutter, welche ihr kleines Kind – vielleicht vierjährig – in die Arme genommen hatte. Der Vater, der lachend daneben gestanden war und der kleinen Tochter durch die Haare gewuschelt hatte. Liliane hatte jetzt gewusst, dass es tatsächlich normal gewesen war, dass Jasmin von ihren Eltern zum Volleyballunterricht gebracht worden war. Mit zitternden Händen hatte sie sich dazu gezwungen, das Gebäude zu betreten. „… tut mir leid, ich komme jetzt rein!“ Alains Stimme war entschlossen, wieder mit diesem Unterton von Sorge versetzt. Die Türe wurde geöffnet – die Bewegung wirkte energisch – und Liliane strich sich rasch über die Augen und die Wangen. Noch mehr Tränen … sie konnte also doch noch weinen. Mit wenigen Schritten stand der Adonis bei ihr. Er kniete sich vor der Wanne auf den Boden; ungeachtet dessen, dass er Boden nass war, und sah sie scharf an. Doch auch in seinen Augen konnte sie Sorge lesen. Sie presste sich an den anderen Rand der Wange. Sie wollte sich so weit von Alain entfernen, wie sie konnte, wollte jedoch nicht aufstehen. Das Wasser war trüb vom Vanillezusatz, zudem lag noch ein wenig Schaum auf der Wasseroberfläche – sie fühlte sich dadurch ein wenig geschützt. Liliane wollte nicht, dass Alain sie nackt sah; diese Blösse wollte sie sich nicht geben, obwohl ihr nackter Körper kein neuer Anblick für ihn gewesen wäre. Sie wusste nicht, was sie von ihm erwarten musste. „Erinnerungen?“, fragte Alain sanft. Sie zuckte zusammen, als er so unerwartet sprach, doch ihr Herzschlag beruhigte sich rasch wieder. Er schien sie nicht angreifen zu wollen. Als sie keine Antwort auf seine Frage gab, fügte er hinzu: „Du hast geweint …“ „D… Deinetwegen“, murmelte sie, obwohl das nicht vollkommen stimmte. Sie wischte sich noch einmal über das Gesicht. Ihre Hand zitterte heftiger denn zuvor. „Meinetwegen? Hast du Angst vor mir?“ Liliane nickte langsam, obwohl sie nicht mehr wusste, ob das stimmte. Musste sie Angst vor ihm haben? Keine Sekunde später antwortete er auf diese unausgesprochene Frage: „Du musst keine Angst vor mir haben, Liliane. Ich mache keine Anstalten, dich anzugreifen, oder?“ Langsam schüttelte sie den Kopf und hörte sich dann selber fragen: „Kannst du … Gedanken lesen?“ Sie biss sich sofort auf die Lippen; es schien ihr absurd, dies zu fragen, doch immerhin war er ein Vampir – und er hatte ihr auf die Frage geantwortet, die sie sich selbst gestellt hatte. Ein amüsiertes Lächeln liess Alains graue Augen leuchten. „Nein.“ Er schwieg kurz und fragte dann: „Kann ich dein Interesse so interpretieren, dass du dich entschlossen hast, mit mir zu sprechen?“ Liliane erwiderte seinen tiefgehenden Blick schweigend. Etwas sagte ihr, dass sie sich nun tatsächlich nicht vor ihm fürchten musste. Alain wollte nach ihrem Arm greifen. Sie zuckte zurück, doch er sagte ruhig: „Ich möchte dir nur raus helfen. Niclas hat dir neue Kleidung gebracht … Du bist seit über einer Stunde im Badezimmer.“ Liliane sah ihn überrascht an – so lange! Sie nickte zögerlich, und dieses Mal liess sie es zu, dass Alain ganz sanft nach ihrem Arm griff. Sie erhob sich und merkte, wie sie rot wurde, als Alains Blick kurz über ihren Körper glitt. Doch sein Gesichtsausdruck veränderte sich überhaupt nicht; er sah sie sanft an, während sie aus der Wanne auf den kalten, vom Wasser etwas rutschigen Boden stieg. Eine Gänsehaut breitete sich auf ihrer Haut aus. Die Hitze des Wassers fehlte ihr. „Das Wasser war doch viel zu heiss …“, murmelte Alain, während er ihr ein Handtuch um die Schultern legte. Er zog sie kurz näher zu sich, den Arm noch immer um sie gelegt. Dieses Mal dauerte es länger, bis sie sich aus seiner Umarmung befreite, indem sie einen Schritt zurückt machte, und sie musste sich eingestehen, dass sie die Berührung genossen hatte. Sie schluckte. Nicht nur Alains Anwesenheit und die Tatsache, dass sie nicht wusste, was sie von ihm halten sollte, verwirrte sie, auch unter den Erinnerungen, die sie in der Badewanne überkommen waren, litt sie … sie hatte sie verdrängt gehabt … „Liliane…“, begann Alain in beruhigendem Ton, doch sie unterbrach ihn: „Es ist alles in Ordnung“, presste sie hervor, bemüht, sich ihre unterdrückten Tränen nicht anhören zu lassen. Wie die Tränen versuchte sie nun auch, ihre Emotionen zu verstecken. Alle; die Angst, die Verwirrung, die Wut, die Verzweiflung … Sie presste die Lippen zusammen und befahl ihren Händen, zu zittern aufzuhören. Alain musterte sie. „Das solltest du nicht tun“, sagte er. Sie sah ihn verständnislos an, und er erklärte: „Du solltest nicht versuchen, deine Gefühle zu unterdrücken. Im Gegenteil – du solltest sie zulassen.“ Sie schwieg. Sie wusste nicht, was sie dazu hätte sagen können oder sollen. Alain begleitete sie in das Zimmer, welches der Butler scheinbar aufgeräumt hatte. Liliane sah, dass Niclas ihr frische Kleider auf das Bett gelegt hatte. Als sie zögerte, wandte Alain sich tatsächlich von ihr ab und trat an das Fenster, um nach draussen zu sehen. Liliane liess das Handtuch zu Boden fallen. Sie konnte nicht genau sagen, ob die frische, kühle Luft auf ihrer nackten Haut sich gut oder unangenehm anfühlte. Sie zog die Unterwäsche an, dann die Hose, und zum Schluss streifte sie sich das T-Shirt über. Alles passte ihr perfekt. Alain drehte sich wieder zu ihr. Kurz lächelte er, doch als sie die Geste nicht erwiderte, wurde er ernst. Er trat an ihr vorbei und öffnete die Tür des Zimmers. „Bist du hungrig, Liliane?“ Sie nickte. Sie hatte das Essen, das ihr gebracht worden war, nicht angerührt, und sie war nun wirklich ziemlich hungrig. „Ja.“ Ihre Stimme klang ein wenig unsicher, aber nicht mehr ganz so verängstigt wie vor dem Bad. Alain erwiderte ihr Nicken. „Kommst du mit in das Esszimmer? … Ich würde mich darüber freuen.“ Er ‚würde sich darüber freuen’. Liliane sah ihn an. Der Blick aus seinen Augen war nicht mehr so besorgt, aber noch immer sanft. Er schien tatsächlich keinerlei Absicht zu haben, sie zu verletzen … „Okay“, flüsterte sie. Sie hatte laut sprechen wollen, doch mehr schien gerade nicht möglich zu sein. Alain lächelte erneut kurz, nickte dann. Gemeinsam mit ihm trat sie aus dem Zimmer. Während sie noch Richtung Esszimmer gingen, fragte Liliane: „Darf ich … gar nicht raus?“ Sie fürchtete sich vor der Antwort. Sie glaubte, sie schon zu kennen. Er wollte sie bei sich haben; hier, in diesem Haus. Alain warf ihr einen kurzen Blick zu. „Lass und das nachher besprechen“, antwortete er ausweichend. Liliane nickte. Ihr blieb ohnehin nichts anderes übrig … ~ ~ ~ ~ Ach ja, wegen dem Vanilleduft … Vanille soll (angeblich) beruhigen und Kindheitserinnerungen wieder aufleben lassen. Ich dachte mir, das wäre bei Liliane eine interessante Mischung. ;) Deshalb hab ich Vanille ausgesucht … Wollte ich nur noch erwähnt haben. Kapitel 6: Hollywood und Realität --------------------------------- „Was willst du von mir, Alain? Bin ich dein Futtervorrat für schlechte Zeiten?” Liliane konnte wieder etwas klarer denken. Ihr Hunger war gestillt. Der Butler hatte ihr Obst ins Esszimmer gebracht; nur Obst. Es sättigte sie und glich ihren Flüssigkeitshaushalt gleichzeitig aus – durch ihre selbstauferlegte Hungerkur hatte sie ihren Magen geschwächt, und gehaltvollere Nahrung hätte sie wahrscheinlich nur erbrochen. Zornig sass sie nun neben Alain, der versuchte, sie in den Arm zu nehmen, doch sie rückte so weit sie konnte von ihm ab. „Lily, bitte versteh mich nicht falsch, ich mag dich sehr gern und möchte dir so wenig wie möglich weh tun, aber…“ An dieser stelle unterbrach er sich kurz und überlegte. „Bitte bezeichne es nicht so abwertend… Du bist kein Futtervorrat. …Ich werde mich in Zukunft von dir ernähren, ja. Aber … ich werde auch für dich sorgen, ich will dir alles geben, was du brauchst. Ich werde dich vor allen Gefahren beschützen, werde dich ernähren, dich kleiden und … wenn du es zulässt … vielleicht sogar lieben.“ „Lieben …“, schnaubte Liliane. „Du hältst mich gefangen und denkst, für ein paar Annehmlichkeiten kannst du mit einem Menschen machen, was du willst?“ Die Wut in ihrem Bauch konnte sie kaum zurückhalten, doch sie musste sich beherrschen. Liliane wollte nicht zeigen, wie sehr sie ihn in diesem Moment verabscheute, denn sie hoffte immer noch auf eine Fluchtmöglichkeit. Wenn sie zu aggressiv wurde, würde sie ihm womöglich ihre wirklichen Absichten verraten; sie hatte irgendwann in ihrer Kindheit gelernt, ihre Gefühle für sich zu behalten, da sowieso niemand Rücksicht darauf genommen hatte. Sie hatte lediglich zu funktionieren und wurde bestraft, wenn es nicht so mit ihr klappte, wie es sollte – wenn sie zu viel Zeit für sich von ihren Eltern forderte. Also ummantelte sie sich jetzt mit der erzwungenen Selbstbeherrschung, atmete tief ein und aus und beruhigte sich etwas. Jetzt hatte sie die Möglichkeit etwas Kontrolle in ihre Situation zu bringen; das musste sie einfach nutzen. „Aber … warum konntest du nicht einfach fragen, vielleicht wäre ich ja bereit gewesen, regelmässig zu dir zu kommen um dir zu geben was du brauchst. Es gibt doch immer eine Möglichkeit für einen Kompromiss. Und überhaupt … reichen denn Blutkonserven nicht auch? …Da ist doch auch alles drin!“ Etwas verzweifelt unterdrückte sie die Erinnerung an den Biss und musste unwillkürlich schaudern. Es hat weh getan, sehr sogar. Es war nicht zu vergleichen mit dem häufig in Büchern beschriebenen, erotischen ‚Kuss’, es war einfach nur schmerzhaft. Und die Wunde, die Alain ihr zugefügt hatte, schmerzte auch jetzt noch, jedoch brannte sie wenigstens nicht mehr. Niclas hatte ihr eine Heilsalbe drauf getan und sie dann verbunden. Er hatte es sehr professionell gemacht. Er hatte Erfahrung damit, das hatte sie bemerkt. „Nein … weder der Kompromiss ist möglich, noch eine Blutkonserve. Die sind ausserdem mit Konservierungsstoffen versetzt, aber ich benötige frisches Blut direkt aus der Arterie. Nur das kann mich sättigen.“ Nachdenklich sah er sie an. Die Brünette hatte wieder einen ängstlichen Zug in ihrer Mimik, sie fürchtete sich vor seinen Worten. „Wa… Warum?“, stammelte sie, „Warum … ist das nicht möglich … ich meine … der Kompromiss?“ Alain atmete schwer und seufzte leise – wie sollte er ihr das erklären …? „Ich bin anders als ihr Menschen … das verstehst du doch sicher. Ich kann nicht riskieren, dass man auf mich aufmerksam wird. Wenn ich dich gehen lassen würde … mit einem Arrangement wie du es vorgeschlagen hast … dann könntest du jemandem von mir erzählen. Ich könnte dir nicht hundertprozentig vertrauen.“ „Ich würde nichts sagen … ehrlich!“, fiel sie ihm in seine Rede. „Du kannst mir vertrauen.“ Fast panisch wollte sie ihn überzeugen, dass sie keine Gefahr für ihn darstellte. „Liliane …bitte beruhige dich. Es geht nicht. Selbst wenn du es nicht absichtlich tust, dir könnte versehentlich etwas rausrutschen. Glaub mir … ich habe da schon Erfahrung gemacht, und das Risiko ist einfach zu hoch. Es geht nicht nur um mich allein, verstehst du?“ Er brachte wieder etwas Ruhe in das Gespräch und versuchte, Vernunft und Logik einfliessen zu lassen. „Ich muss auch an meine Artgenossen denken. An unsere Sicherheit im Allgemeinen. Jeder von uns ist zum Schutz unserer Art zur höchsten Vorsicht verpflichtet. Es ist unser Gesetz, unsere Existenz vor den Menschen geheim zu halten.“ Alain griff sich die Hand Lilianes und küsste sie sehr sanft, zog sie dann zu sich heran und hievte sie umständlich auf seinen Schoss. „Bitte vergib mir … aber du wirst ab sofort bei mir bleiben. Wenn ich verreise, dann wirst du mich begleiten. Und wenn ich es wünsche dann wirst du mir dein Blut geben. Und dafür, Lily … dafür gebe ich dir alles, was du dir wünschst, was du dir je erträumt hast. Das ist doch ein guter Tausch …“ Die Abkürzung ihres Namens klang aus seinem Mund seltsam … ungewohnt, aber nicht unangenehm … Liliane verdrängte diesen Gedanken und antwortete ihm stattdessen: „Alles, ausser meine Freiheit.“ Die Bitterkeit, die in diesen Worten lag war nicht zu überhören. Und dennoch erntete Liliane einen gehauchten Kuss zur Bestätigung auf ihr Haar. Sie löste sich vorsichtig aus seiner Umarmung und ging zum Fenster. Auch diese waren mit einem Schloss verriegelt und höchstwahrscheinlich auch aus diesem besonderen, bruchfesten Glas. Doch das bemerkte sie nur beiläufig. Viel mehr interessierte sie die plötzlich so anziehende Ferne. Niemals hatte sie ein besonderes Interesse daran gehabt, in den Wäldern spazieren zu gehen, oder draussen etwas Grosses zu unternehmen; immer hatte sie sich gesagt, sie hätte noch ewig Zeit dafür … doch die Wahrheit war viel erschreckender: Sie hatte selten ihre Wohnung verlassen – aus Angst. Angst, dass ihr jemand etwas antun könnte. Viel weniger fürchtete sie einen körperlichen Angriff auf sich, sondern den seelischen Schmerz, jemanden zu mögen, der sie dann wieder einsam zurück liesse, so, wie es ihre Eltern getan hatten. Sie blieb daheim in ihrer schäbigen, kleinen Wohnung und genoss es, niemanden um sich zu haben, der ihr Schmerzen bereiten könnte. Was nahm ihr Alain schon weg? Eigentlich doch nichts, was sie sich nicht selbst schon so lange vorenthalten hatte. Aber dennoch… Es war ihre eigene Entscheidung gewesen, so zu leben. Und was tat der grauäugige Adonis, er zwang sie in einen Käfig. Das war doch ein Unterschied, oder etwa nicht? Einige Minuten stand sie am Fenster und grübelte über das nach, was er ihr erzählt hatte. Doch ihre Augen wurden immer schwerer und schwerer. All die Anspannung der letzten Tage fiel von ihr ab, der gesättigte Magen forderte seine Ruhe und der Schlafmangel seinen Tribut. Langsam sank ihr Kopf auf ihre Brust und einzig Alain verhinderte, dass sie im Stehen einschlief, indem er sie auf seine Arme hob und in ihr Zimmer brachte. Vorsichtig legte er sie auf das Bett und wickelte sie in die warme Decke ein. Sie hatte einen seltsamen Traum. Einen Traum von Fledermäusen, die einen riesigen Käfig bewachten, in dem Hunderte von Menschen eingesperrt waren. Doch keiner von ihnen sah unglücklich aus; im Gegenteil … Sehnsüchtig schauten sie zu den Fledermäusen, die von der Decke einer Höhle immer wieder herabstürzten und zu den Menschen flogen, um sich auf deren Schultern niederzulassen und mit ihnen zu kuscheln. Nur einige wenige wollten die Tiere immer wieder verscheuchen, doch auch zu ihnen kamen die nachtaktiven Geschöpfe, jedoch kratzten und bissen sie sie. Mit einem Mal wandelte sich das ihr dargebotene Bild. Um sie herum lagen nur noch die leblosen Körper der vielen Menschen, und an der Decke hingen lauernd die fetten Leiber der Fledermäuse, zufrieden gurrend. Verschreckt wachte sie auf, ihr Herz raste. Die Sonne krabbelte gemächlich über ihre Bettdecke. Trotz des Alptraums hatte sie sehr lange geschlafen. Zu ihrem Schreck bemerkte sie einen leisen Atemzug, dicht neben sich. „Guten Morgen, Lily.“ Alain lag neben ihr im Bett, oder besser gesagt, darauf … während sie in ihre warme Bettdecke gehüllt und mit angezogenen Beinen in ihre Kissen vergraben da gelegen hatte. So hatte es sich der Blonde auf der Matratze gemütlich gemacht; mit auf einen Ellenbogen gestütztem Kopf lag er auf der Seite und blickte seine Gefangene sanft an. „Warst du die ganze Nacht hier?“ wollte die sie furchtsam wissen. „Nein, war ich nicht. Ich wollte dir deine Privatsphäre gönnen und dich nicht bedrängen.“ Alain blieb wie immer ganz entspannt, seine Ausstrahlung hatte schon zuvor immer diese wissende Ruhe gehabt. Und auch jetzt verkörperte er alles andere als Aggression. Egal wie sehr sie ihn auch versuchte zu provozieren, er war immer vorsichtig und zurückhaltend sogar anschmiegsam. …Nun, fast immer … Als sie ihn in ihrer Wut hatte schlagen wollen, hatte er sie gebissen. Vielleicht eine Art Verteidigungsmechanismus, dachte sie. „Ich wollte dich zum Frühstück holen, … aber du hast so fest geschlafen da wollte ich dich nicht wecken. Bitte entschuldige, das ich dir noch ein wenig zugeschaut habe, ich wollte dich nicht erschrecken.“ Verschlafen und etwas desorientiert blickte sie sich in dem Zimmer um. Er oder Niclas hatte sie wohl am Abend hier hoch geschafft. Sie konnte sich nicht erinnern, hier hin gekommen zu sein. Durch ein Magenknurren wurde sie aus ihren Gedanken gerissen. Lächelnd meinte Alain darauf nur, dass unten alles für sie bereit stehe. Als sie umständlich aufstehen wollte um sich nicht vor ihrem Entführer zu entblössen, musste sie feststellen, dass sie immer noch komplett bekleidet war. „Wer hat mich denn gestern ins Bett gebracht?“ Ihre Stimme zitterte etwas aber nicht aus Angst; es war etwas anderes, etwas, das sie nicht kannte. War es … Vertrauen? Schnell schüttelte sie diesen Gedanken wieder ab. Sie war eine Gefangene; sie konnte hier niemandem vertrauen. „Ich hab dich hoch getragen; du wärst mir vor Müdigkeit fast umgekippt.“ Mit leisem Schalk in der Stimme betrachtete er sie. Sie war verknautscht von der Nacht, der Schlafsand klebte ihr noch in den Augen, und das Haar war ganz verwuschelt. Den Alptraum hatte sie schon ganz vergessen. „Ich… Kann ich mich erst noch waschen und was Frisches anziehen?“ fragte sie schüchtern. „Natürlich. Geh ins Bad, ich hol dir was zum Anziehen.“ Klang da gerade ein Befehl in seinen Worten mit? Nein … da musste sie sich verhört haben. Sie ging ins Bad und tat, was man macht, wenn man morgens aufgestanden ist. Alain klopfte wenig später an die Tür und gab ihr frische Kleidung. Fasziniert beobachtete Liliane, wie Alain vor dem Fenster des Speisezimmers stand und sich die warmen Strahlen der Sonne auf das Gesicht scheinen liess. Unwillkürlich musste sie sich daran erinnern, was man Vampiren nachsagte und schmunzelte heimlich in sich hinein. Vielleicht ist er doch nur ein Irrer der sich für einen Vampir hält, sagte sie sich. Und damit fällt er problemlos unter das Gesetz der Menschen. Sie sah sich um und musste feststellen, dass nur für eine Person gedeckt war – für sie. Liliane erinnerte sich, dass sie ihn nie essen gesehen hatte. Gut er hat eben was gegessen, wenn ich nicht dabei gewesen war. Ausgeschlafen und ihre Ängste im Griff, konnte das Mädchen wieder einigermassen klar denken. Und ihr war bewusst, wie lächerlich Alains Behauptung war; Vampire gab es nicht, sie waren nur Märchenfiguren, welche Erwachsenenfantasien einen Namen geben sollten. „Du bist nicht wirklich ein Vampir, nicht war?“ Frech versuchte sie, Alain in Verlegenheit zu bringen. Er drehte sich zu ihr um und Lächelte sie amüsiert an. „Nein…“, sprach er gerade heraus. Ich wusste es, triumphierte Liliane, er ist nur ein perverser Irrer mit einer zu ausgeprägten Fantasie. „… nicht so, wie ihr Menschen euch meine Rasse vorstellt“, setzte er fort. „Wie … meinst du das? Du hast gesagt, du bist ein Vampir … eben sagst du, du bist es nicht … also, erkläre mir, was du meinst.“ Liliane sah, wie es in Alains Kopf arbeitete. „Hmm, sag mir, wie stellst du dir einen Vampir vor, wenn du alle religiösen Vorurteile aus den letzten Jahrhunderten nicht beachtest, was bleibt dann noch übrig?“, fragte er schliesslich. Das Mädchen überlegte worauf der ‚Adonis’ hinaus wollte, kam aber zu keinem deutlichen Ergebnis und zuckte stattdessen nur mit den Schultern. „Über so etwas hab ich mir nie wirklich Gedanken gemacht. Ich gehöre nicht zu diesen Verrückten, die sich mit dem ganzen übersinnlichen Kram beschäftigen.“ Jetzt lachte Alain herzhaft auf. „Das musst du doch auch gar nicht; sag mir einfach nur, welche Vorstellungen du hast. Na los, jeder Mensch hat schon mal was von Vampiren gehört!“ „Also schön“, flüsterte Liliane zu sich selbst. „Sie trinken Blut, meist von irgendwelchen Jungfrauen, oder?“ Sie musste selbst schmunzeln über dieses Vorurteil; sie wusste nicht mehr, wann, aber sie hatte einmal einen Film gesehen, in dem es genau so gewesen war. Aber jetzt, als ihr das einfiel, erinnerte sie sich allerdings auch wieder daran, dass der Vampir in dem Film Sonnenlicht vertragen hatte. Also nur ein weiteres Vorurteil? Sie fuhr fort: „Das was ich über diese ‚Bluttrinker’ weiss, ist, dass sie unsterblich sein sollen und ihrem Meister gehören und ihm dienen müssen.“ Wieder zuckte sie mit den Schultern. „Das war’s eigentlich schon, und das hab ich aus verschiedenen Filmen…“ „Aus sehr schlechten Filmen“, unterbrach Alain sie, „wenn ich das mal so sagen darf, Lily. Aber ich mache dir keinen Vorwurf. Hollywood spinnt eine Menge zusammen wenn der Tag lang ist. Da seid ihr Konsumenten nur die Opfer wild blühender Fantasien.“ Er schaute sie eindringlich an und sprach dann weiter: „Unsterblichkeit gibt es nicht, Lily.“ Er schmunzelte. „Selbst die ach so unsterblichen Hollywoodgeschöpfe können immer vernichtet werden. Aber … um zurückzukommen zu meiner Art, wir sind langlebiger als ihr Menschen; das kommt wohl von unserer Ernährung. Genau wissen wir es nicht; nur wenige von uns interessieren sich für die Wissenschaft. Aber was wir wissen, ist, dass wir etwa vier Mal so alt werden können wie Menschen.“ Glauben wollte Liliane das nicht so recht, aber verblüfft über seine Eindringlichkeit war sie dennoch. „Jedenfalls sind fast alle Legenden über uns genau das – nichts als Legenden. Es stimmt einzig, dass wir Blut benötigen. Von nichts anderem können wir uns ernähren.“ „Und du meinst, das kauf ich dir einfach so ab? Beweis es doch, hack dir den Arm ab und lass ihn wieder anwachsen …!“ Für die Gefangene ergab Alains Erklärung keinen Sinn; nichts von dem, was er sagte, bestätigte seine Behauptung … sondern zeigte nur, wie tief er in seiner eigenen Welt versponnen war. Doch ihre Gedankengänge wurden von einem lauten Lachen unterbrochen. Alain sass auf der Tischkante nahe ihres Platzes und … lachte sie aus? „Tut mir leid, es ist leider gerade kein Arzt in der Nähe, der mir den Arm wieder annähen könnte. Niclas ist zwar sehr geschickt in der ersten Hilfe, aber ich denke, damit wäre auch er hoffnungslos überfordert.“ Er wandte sich nun direkt an Liliane, nahm ihre Hand und küsste sie, während er ihr tief in die Augen schaute. „Was glaubst du, würde passieren wenn ich dir deinen Arm abschlagen würde, hmm?“ Liliane zitterte vor plötzlicher Panik – er würde doch jetzt nicht auf die Idee kommen, es ausprobieren zu wollen?! „Ich … könnte verbluten … un… und müsste ganz schnell ins Krankenhaus, um ihn eventuell noch zu retten.“ „Stimmt … Und was würde passieren wenn ich das mit einem…“, er überlegte kurz, „ähm … Hund machen würde?“ Verwirrt antwortete sie: „Wahrscheinlich droht ihm dasselbe, aber was hat…“ „Und warum soll das bei mir anders sein?“ Seine Stimme war nun sanft geworden und hatte jede spöttische Färbung verloren. „Also bist du doch ein ganz gewöhnlicher Mensch und kein übernatürliches Wesen!“ Triumphierend hob sie den Kopf und glaubte, nun endlich Alains Argumentation zerschlagen zu haben … als ein lautes Poltern neben ihr sie erschreckt auffahren liess. Alain hatte wütend auf den Tisch geschlagen und dabei den Früchtekorb hinunter gestossen. „Genau das ist dein Denkfehler, Liliane, es gibt nichts Übernatürliches, das ist nur eine Erfindung der Menschen, um sich Dinge zu erklären die sich ihrem Verstand verschliessen oder über den sogenannten Tellerrand hinaus gehen …! Ich habe dich gebissen; die Beweise wirst du noch ein ganzes Weilchen mit dir herumtragen müssen. Glaubst du, meine Zähne sind Attrappen?“, knurrte er sie an; es war kein Geräusch, wie es die menschliche Kehle imstande war zu erzeugen. Nun war sie wieder zu Tode erschrocken – würde er jetzt gewalttätig werden, sie hätte ihm nichts entgegen zu setzen. „Ne… nein, natürlich nicht“, versuchte sie ihn zu beruhigen. Doch das Zittern in ihrer Stimme war nicht zu überhören. Augenblicklich erkannte Alain die Situation und hob beschwichtigend die Hände „Ich glaube, wir wechseln vorläufig das Thema, was meinst du?“ Das Mädchen nickte nur vorsichtig mit dem Kopf. „Du hast doch das leere Zimmer noch nicht vergessen, oder? Es soll dir gehören. Ich will, dass du dich darin wohl fühlst. Sag mir, wie du es haben willst, ich werde dir jeden Wunsch erfüllen.“ Dieser plötzliche Stimmungsumschwung brachte sie vollends durcheinander, und sie starrte Alain nur einige Minuten fassungslos an, bevor sie in sein Spiel einfiel und ihm die gewünschten Informationen gab. Dieser Tag war grotesk, doch wenigstens schien sie wieder etwas Freiraum zu gewinnen, denn Alain liess sie unter den wachsamen Augen Niclas in seiner gut bestückten Bibliothek stöbern, ehe sie am Nachmittag wieder in das Zimmer geschickt wurde, das sie nun schon seit geraumer Zeit unfreiwillig bewohnte. Kapitel 7: Erste Freiheiten --------------------------- Ich zietire hier jetzt mal Sandfrauchen weil sie das immer so toll macht: Liebe Leute, ich möchte mich einmal doch versuchen, kurz zu fassen. ^^ Also, der erste Absatz ist aus Alice’ Sicht; das Ende ist mit ‚***’ gekennzeichnet. Ich danke euch wie immer für eure tollen Kommentare und Severinam für ihre tollen Erklärungen und Ideen per Mail, denn ohne sie hätte ich ja gar nicht weiterschreiben können … Wie immer stammen mindestens 99% Prozent der Ideen von ihr; bis auf den Zeitungsartikel habe dieses Mal ich versucht, diese Ideen umzusetzen. Gut … war’s das? Ich glaube, ja. Tja dann … Dann bleibt mir nur noch Eines: Viel Spass beim Lesen! =) ~ ~ ~ ~ Erste Freiheiten Es kam Alice vor, als lese sie die SMS, die sie von Liliane erhalten hatte, schon zum hundertsten Mal durch. „Mir geht’s gut, brauche Zeit für mich. Lg L.“ … Lilianes Nachrichten fielen zwar immer so kurz und unpersönlich aus, doch hatte diese Kurzmitteilung sie nur für wenige Tage wirklich beruhigen können. Alice’ Gedanken waren immer öfter zu ihrer Freundin abgeschweift; vor allem, nachdem sie nach einigen verstrichenen Tagen versucht hatte, Liliane erst per SMS, dann durch Anrufe auf das Mobiltelefon und das Festnetz, zu erreichen. Ihre Versuche waren ohne Erfolg geblieben, und schliesslich hatte Alice begonnen, sich ernsthaft Sorgen zu machen. Anfangs war sie schlicht wütend gewesen, weil Liliane einfach aus der Disko verschwunden war, ohne ihr zuvor Bescheid gesagt zu haben. Sie sollte es doch längst gewohnt sein – ihre Freundin war schon öfter einfach so verschwunden und hatte sich zurückgezogen; besonders nach solchen Abenden unter vielen Menschen – doch nichtsdestotrotz machte sie sich nun grosse Sorgen. Seit Lilianes SMS waren zwei Wochen vergangen … Sie fragte sich, wo Liliane war, ob es ihr gut ging,… Inzwischen war ihre Besorgnis schon so gross, dass sie beschlossen hatte, bei den Eltern von Liliane nachzufragen, ob sie etwas von ihrer Tochter gehört hatten, oder ob sie vielleicht sogar dort war – obwohl sie das bezweifelte. Aber irgendwo musste Liliane ja sein … die andere Möglichkeit wollte Alice sich gar nicht erst vorstellen. Sie zögerte noch einmal kurz, dann wählte sie die Telefonnummer von Lilianes Eltern. Sie musste einige Sekunden warten, dann hörte sie die Stimme der Mutter: „Ja …?“ „Guten Tag Carla, hier ist Alice.“ „Alice“, wiederholte sie überrascht. „Hallo. Wie geht es dir, was kann ich für dich tun?“ „Mir geht es gut. Ich hoffte, du könntest mir sagen, wo Lily ist? Sie ist nicht vielleicht bei euch?“ „Liliane? Du weisst auch nicht, wo sie ist?!“ Nun hörte Alice leichte Nervosität aus Carlas Stimme. „Wir haben keine Ahnung, wo sie steckt, wir haben schon seit Wochen nichts mehr von ihr gehört und erreichen sie nicht!“ Alice spürte, wie nun echte Angst in ihr aufkam. Auch wenn Liliane schon öfters einige Tage nichts von sich hatte hören lassen – wochenlang … das war noch nie vorgekommen. „Nein, ich habe auch schon nichts mehr von ihr gehört, seit sie alleine aus der Disko verschwunden ist. Ich mache mir solche Sorgen … wir sollten die Polizei verständigen!“ „Ja, wahrscheinlich sollten wir das wirklich“, stimmte Lilianes Mutter sofort zu. „Am besten du kommst zu uns, damit du uns erklären kannst, was genau an jenem Abend passiert ist …“ Nachdem Alice versichert hatte, in einer Stunde bei Lilianes Eltern zu sein, hatten sie das Gespräch beendet. Alice hatte Carla genau angehört, dass sie nun dieselbe Sorge hatte wie auch sie selbst … Sie hatte keine Ahnung, was sie Liliane alles zutrauen musste … *** Liliane war nun schon seit über zwei Wochen bei Alain, und langsam konnte sie eine leise Routine in ihrem … ‚neuen Leben’ ausmachen, obwohl ihr das missfiel. Jedoch musste sie sich eingestehen, dass dies vielleicht auch das Beste war. Denn obwohl sie noch immer auf Rettung hoffte, war ihr inzwischen eigentlich klar geworden, dass sie nicht würde flüchten können. Alain gestand ihr kleinere Freiheiten ein – sie durfte die Nachmittage in der Bibliothek verbringen, die sich als überaus interessant herausgestellt hatte – doch Niclas stand immer in ihrer Nähe … weit genug entfernt, um den Anschein von Privatsphäre zu erwecken, doch nah genug, um sie genau beobachten zu können. Ein Fluchtversuch ihrerseits wäre von Anfang an zum Scheitern verurteilt, da sie entweder in das Zimmer gesperrt war oder ständig überwacht wurde. Während sie die Nachmittage also in der Bibliothek verbrachte oder im Haushalt half, um die immer öfter aufkommende Langeweile zu vertreiben, hatte sie begonnen, die Abende, welche sie mit Alain verbrachte, beinahe zu geniessen. Er verhielt sich ihr gegenüber nicht mehr so zurückhaltend wie zu Beginn, doch seine Annäherungsversuche waren trotzdem nicht zu aufdringlich, und sie ertappte sich immer wieder bei dem Gedanken, dass er eigentlich viel zu nett für einen Entführer war. Auch morgens, wenn er sie zum Frühstück abholte, musste sie zugeben, dass er ein sehr angenehmer Gesprächpartner war. Anfangs waren ihr die Unterhaltungen eher erzwungen erschienen, doch inzwischen redeten sie völlig unbefangen miteinander. Als sie nun jedoch am Tisch sass und an einem Brötchen knabberte, galten ihre Gedanken nicht Alain, sondern Alice … und auch ein wenig ihren Eltern. Wenngleich ihr klar geworden war, dass sie von selbst nicht würde flüchten können, hatte sie immer die Hoffnung gehegt, dass ihre beste Freundin die Polizei informieren würde. Hatte sie das getan? Vermisste sie sie? Und auch ihre Eltern … dachten sie vielleicht an sie? Jetzt, in diesem Moment …? „Du bist so nachdenklich, Lily … woran denkst du?“, fragte Alain. Wie von selbst antwortete sie vollkommen offen: „Ich … frage mich nur, ob Alice und meine Eltern mich vermissen …“ Sie erwartete von Alain nicht unbedingt eine Antwort; schliesslich war er es, der sie hier gefangen hielt, doch sie bekam eine: „Was denkst du denn?“ „Ich… Ich weiss es nicht“, murmelte sie, „Alice vielleicht. Aber meine Eltern? Ich weiss es nicht. Ich … denke nicht.“ Alain nickte leicht. „Haben sie denn einen Grund, dich zu vermissen?“ „Wie meinst du das?“, fragte Liliane, es klang ein wenig schärfer, als es beabsichtig gewesen war. „Versteh mich nicht falsch“, entgegnete Alain sofort, „ich meine nur, ob du denn viel Kontakt mit ihnen hattest. Du hast nie sonderlich viel mit Freunden unternommen, oder? Liliane riss ihr Brötchen in zwei Hälften und schüttelte den Kopf. „Nein, ich … war lieber zu Hause. Ich bin nicht so gerne in Gesellschaft von vielen Leuten. Ich … habe auch nicht viele Freunde. Eigentlich vor allem Alice“, erzählte sie, etwas von sich selbst überrascht, weil sie ihm das einfach so anvertraute „Und weshalb meidest du andere?“, fragte Alain hartnäckig nach. „Hmm“, murmelte sie nur unbestimmt und biss in ihr Brötchen. Was sollte sie ihm antworten? Dass sie nicht gut mit Menschen umgehen konnte? Nachdenklich kauend erinnerte sie sich an ihre Schulzeit … Sie hatte schon in der Schule kaum Freunde gehabt. Meistens hatte sie die Pausen alleine verbracht und den anderen zugesehen, die sich lachend in grossen und kleineren Gruppen die Zeit vertrieben hatten. Es war nicht so gewesen, dass sie nicht versucht hatte, Kontakte zu knüpfen. Sie hatte versucht, mit anderen zu sprechen; oft waren andere auch zu ihr gekommen, um mit ihr zu reden … Aber Liliane hatte nie gewusst, wie sie reagieren sollte, deshalb war sie still geblieben. Sie hatte einfach nicht in diese lockeren, ungezwungenen Gespräche einsteigen können, hatte nie gewusst, was sie sagen sollte; sie kannte es auch gar nicht. Zu Hause wurden nur sehr selten solch lockere Gespräche geführt, und schon gar nicht mit ihr. Irgendwann hatten die anderen es aufgegeben, Liliane war mehr und mehr zur Aussenseiterin geworden, und sie hatte schnell bemerkt, dass es ihr nicht sehr viel ausmachte, alleine zu sein. Sie hatte es nicht anders gekannt, und so war sie auch nicht gestört worden. Einzig Alice hatte viel Zeit mit ihr verbracht, und Liliane hatte sie als Freundin schätzen gelernt, auch wenn sie manchmal von ihr genervt gewesen war … Wenn Alice bemerkt hatte, dass Liliane lieber alleine gewesen wäre, dann hatte sie ihr diese Ruhe zugestanden. So waren sie Freundinnen geworden und auch geblieben … „Lily?“ Alains Stimme riss sie aus ihren Erinnerungen. „Entschuldige“, sagte sie mit einem nervösen Lachen, „ich war in Gedanken.“ Alain nickte nur. Er schien bemerkt zu haben, dass Liliane lieber nicht weiter darüber reden wollte, denn er liess das Thema ‚Alice’ und ‚Freunde’ fallen. Liliane versuchte ebenfalls, nicht mehr darüber nachzudenken, doch die Frage, ob Alice sie vermisste, blieb dennoch. Jenen Nachmittag verbrachte sie wieder in der Bibliothek. Niclas stand an der Türe, mit einem wie immer völlig unbewegten Gesichtsausdruck. Er sah ihr nicht in die Augen, und doch war Liliane sicher, dass sein Blick auf ihr ruhte, sobald sie sich von ihm abgewandt hatte. Sie hatte sich auf einen bequemen Sessel gesetzt sich in den Roman Der Herr der Welt von Jules Verne vertieft. Die Fülle und vor allem Vielseitigkeit der Bücher, die sich in der Bibliothek befanden, hatte sie beeindruckt. Von Philosophischen Schriften des 15. Jahrhunderts reichten die Werke bis zu modernen Thrillern. Sie seufzte leise und legte das Buch zur Seite. Ihr Blick fiel auf den kleinen, runden Tisch vor ihr, auf dem sich diverse Zeitschriften und Tageszeitungen befanden. Aus einer seltsamen Laune heraus griff sie nach der zuoberst liegenden Zeitung, ohne genau zu wissen, weshalb. Normalerweise mied sie Nachrichten, sofern sie es konnte. Es wurde doch ohnehin immer von demselben berichtet – Morde, Anschläge, Terror … Doch nun schlug sie die Zeitung auf und blätterte rasch die erste Seite um, überflog die Schlagzeilen … und blieb bei einem Inserat auf der dritten Seite hängen. Ungläubig verschlang sie die Zeilen, biss sich auf die Lippen, las den Artikel ein zweites Mal, dann ein drittes. »Junge Frau seit Discobesuch spurlos verschwunden Seit etwa 2 Wochen wird die 25-jährige Liliane Kraft aus St. Ives vermisst. Zuletzt wurde sie in der Diskothek New Dark gesehen. Diese verließ sie vermutlich kurz nach ein Uhr nachts. Ob sie in Begleitung war, konnte noch nicht ermittelt werden. In einer SMS an ihre Freundin 2 Tage später, erbat sich die junge Frau Zeit für sich, seitdem wurde kein Lebenszeichen mehr von ihr ausgemacht. Die Vermisste ist 169 cm groß, von normaler Statur mit blassem Teint, sowie mittellangen, dunkelbraunen Haaren. Zuletzt trug sie eine dunkelviolette Bluse und Bluejeans, keinerlei Schmuck. Hinweise nimmt die örtliche Polizeidienststelle entgegen. Die Familie hält die Möglichkeit eines erfolgreichen Suizidversuches für nicht ausgeschlossen.« Mit zitternden Händen liess sie die Zeitung sinken. Dieses Inserat meinte sie! Jemand, vermutlich Alice, hatte die Polizei verständigt … Und trotz dieses Inserates – oder genau deswegen – schwand in diesem Moment all ihre Hoffnung auf Rettung. Sie schluchzte leise auf, als ihr bewusst wurde, dass niemand nach ihr suchen würde; alle würden denken, dass sie sich umgebracht hatte. Wieder einmal rannen Tränen über ihre Wangen. Sie würde nicht gerettet werden … Sie konnte all ihre Freiheitsgedanken aufgeben … Sie warf einen beinahe hilfesuchenden Blick zu Niclas, doch der Butler erwiderte den Blick nur emotionslos wie immer, fragte nicht nach dem Grund ihrer Tränen. Sie würde die Zukunft in Gefangenschaft verbringen. Liliane wischte sich die Tränen aus dem Gesicht. Sie liess sich in dem Sessel zurücksinken. Alle würden denken, dass sie tot war … Und ihr nächster Einfall erschreckte sie zunächst selbst ein wenig: Alle würden sie in Ruhe lassen; niemand würde sie mehr belästigen. Dieser Gedanke schien ihr absurd, doch sie spann ihn weiter … Sie war nicht mehr verpflichtet, sich ab und an bei ihren Eltern zu zeigen. Sie konnten ihr nun egal sein, ohne dass sie deswegen ein schlechtes Gewissen haben musste. Alice würde sie nicht mehr ständig anrufen. Liliane musste ihr nun nicht mehr versichern, dass es ihr gut ging und diese Aussage dadurch bestätigen, dass sie mit ihrer Freundin in irgendwelche Bars und Diskos ging, obwohl sie lieber zu Hause bleiben würde … Sie war von allen anderen, die sich für sie interessieren könnten, befreit. Niemand würde sie vermissen. Und obwohl Lilianes Verzweiflung darüber, dass sie keine Hoffnung auf Rettung mehr hatte, blieb, fühlte sie sich nach einigen Minuten, während denen sie versucht hatte, sich zu beruhigen, tatsächlich ein wenig freier. Wieder vergingen Tage, während denen sich die Routine festigte. Nun, da Liliane wusste, dass sie nicht auf Rettung hoffen konnte, hatte sie es langsam geschafft, ihre Situation zu akzeptieren, obwohl sie damit nicht gerechnet hatte … sie hatte sich irgendwie daran gewöhnt. Sonderlich schwer war es ihr noch nicht einmal gefallen. Sie hatte bemerkt, dass weder ihre Eltern noch Alice ihr sonderlich fehlten. Auch ihre Fluchtpläne hatte sie vergessen; ihr jetziges Leben war zu gemütlich, als dass sie sich wirklich hätte daran stören können. Sie genoss Alains Gesellschaft und die lockeren Gespräche mit ihm immer mehr, und auch der Aspekt, dass sie sich um nichts zu kümmern brauchte, empfand sie als sehr angenehm. Sie hatte es sogar eines Morgens gewagt, Alain wieder einige Frage zu Vampiren zu stellen – so hatte sie auch erfahren, dass es in der Stadt noch zwei weitere Vampire gab; einen weiblichen Vampir und einen männlichen, André. Während sie also beim Frühstück über die verschiedensten Dinge plauderten, widmete sie sich an den Nachmittagen weiterhin der Bibliothek oder der Hausarbeit. Sie vermutete, dass Alain dann geschäftlich zu tun hatte. Die Abende wiederum verbrachte sie mit … ihrem Adonis . Zumeist sassen sie nebeneinander auf dem Sofa im Wohnzimmer und sahen fern. Alains subtile Annäherungsversuche liess sie immer unbekümmerter zu. Eine rasche Umarmung, ein sanfter Kuss auf die Wange, eine wie zufällige Berührung ihrer Haare … Zum Schluss hatte sie sich an diese kurzen Körperkontakte schon beinahe gewöhnt. Eines Abends, als sie wieder gemeinsam im Wohnzimmer sassen, hatte Alain es geschafft, sie zu überreden, sich einen Horrorfilm anzusehen. ES. Sie mochte solche Filme eigentlich überhaupt nicht, doch nachdem Alain ihr mit einem Lächeln versichert hatte, er würde sie schon vor den bösen Monstern beschützen, hatte sie, ebenfalls mit einem unsicheren Lächeln, zugestimmt. Sie bereute es ein wenig … Sie beobachtete den ahnungslosen Jungen auf dem Bildschirm und hätte am liebsten weggesehen … doch sie konnte den Blick nicht abwenden. Ihre Sorge bestätigte sich keine Sekunde später, als tatsächlich eine Hand aus dem Abwasserschacht schoss, um sich fest um das Handgelenk des Jungen zu schliessen, natürlich untermalt mit der dazu passenden markerschütternden Musik. Liliane fuhr erschrocken zusammen; ihr Herz raste und sie konnte nur mühsam einen Schrei unterdrücken. Wie von selbst … griff sie nach Alains Hand. Ihre Finger umklammerten die seinen fest, und nach einem kurzen, überraschten Zögern, erwiderte er den Druck. Sie sah ihn an, und er erwiderte ihren Blick, sanft lächelnd. Sie starrte fassungslos auf ihre Hände. Langsam löste sie ihre Finger von den seinen. Sie hatte nach seiner Hand gegriffen … dieses Mal hatte nicht er die Initiative ergriffen. Sie schüttelte leicht den Kopf; wollte nicht wahrhaben, dass sie das tatsächlich getan hatte. Und doch … Wieso nicht? Immerhin, überlegte sie sich, hatte er sie seit dem Vorfall in dem Zimmer nie mehr gebissen … Er hatte nichts getan, was sie misstrauisch hätte machen müssen; im Gegenteil. Er hatte sich ihr gegenüber … absolut lieb verhalten. Nach einer Weile des Schweigens, die überhaupt nicht unangenehm gewesen war, sagte Alain leise: „Lily, was hältst du davon, wenn wir bald einmal spazieren gehen?“ Überrascht drehte sie sich zu ihm. Sie wusste nicht genau, was sie sagen sollte. „Spazieren? Draussen?“, fragte sie. Er schmunzelte. „Ja, draussen.“ Er strich ihr eine Haarsträhne aus dem Gesicht. „Ich denke, ein wenig frische Luft würde dir gut tun?“ Noch immer überrascht, nickte sie. „Ja. Sehr… Sehr gerne!“ Sie lächelte zaghaft, und er erwiderte die Geste. Einige Sekunden lang sahen sie sich noch in die Augen, dann wandte Liliane den Blick ab, um wieder in den Fernseher zu starren. Sie konnte sich jedoch überhaupt nicht auf den Film konzentrieren … Sie würden nach draussen gehen, an die frische Luft, in die Freiheit …! Einige Tage später machte Alain dieses Versprechen tatsächlich wahr. Er hatte sie zwar abseits jeglicher Zivilisation geführt; sie waren weit entfernt von der Stadt, doch dies störte Liliane nicht im Geringsten. Sie dachte nicht an Flucht … Es tat ihr so unglaublich gut, die frische Luft, die Freiheit überall um sich herum spüren zu können. Sie sprachen kaum miteinander, Liliane war zu beschäftigt damit, alles um sich herum zu bewundern, als würde sie es zum ersten Mal sehen. Die Farben des bunten Laubes, schienen ihr, obwohl es bereits dunkler wurde, viel heller und deutlicher zu sein als jemals zuvor, sie konnte so frei atmen wie schon lange nicht mehr,… Schliesslich blieben sie stehen. Es kam Liliane vor, als wäre nicht viel Zeit vergangen, doch es mussten Stunden gewesen sein … denn direkt vor ihnen ging die Sonne in wunderschönen Farben unter. Es war nicht das erste Mal, dass Liliane einen Sonnenuntergang beobachten konnte, doch sie glaubte, dass es wohl der schönste sein musste … Sie seufzte leise, ein Lächeln hatte sich auf ihr Gesicht geschlichen, ohne dass sie es bemerkt hatte. Das Spiel der Farben vor ihr … und der Wind war stärker geworden; er blies ihr ins Gesicht und trieb ihr Tränen in die Augen, brachte ihre Haare durcheinander … doch es hatte sich nie besser angefühlt. Völlig unerwartet schlang Alain einen Arm um ihre Hüfte und zog sie an sich, küsste sie ganz sanft auf die Wange. Sie vergass alles; sie vergass, dass sie seine Gefangene war, sie vergass, dass sie diese Freiheit nicht ewig haben würde … in diesem Moment schien ihr schlicht alles perfekt. Und nur das war wichtig … Obwohl Liliane zuvor völlig ruhig gewesen war, fühlte sie sich nun plötzlich absolut glücklich und beinahe … ja, euphorisch beschrieb ihr Gefühl vielleicht am besten. Sie lachte leise und wandte den Blick, um Alain anzusehen. Er ergriff ihr Handgelenk und zog sie zu sich. Sie hörte seine Stimme an ihrem Ohr: „Hab keine Angst, Lily – du kannst mir vertrauen“, und dann bohrten sich zum zweiten Mal seine Zähne in ihren Hals. Sie sog scharf die Luft ein, doch sie wehrte sich nicht gegen seinen Griff; sie blieb völlig ruhig. Der Biss war nicht vollkommen überraschend gekommen; ihr war klar gewesen, dass es nur eine Frage der Zeit sein würde, bis er erneut von ihrem Blut trinken würde. Der Schmerz war auch nicht so intensiv wie das letzte Mal – vielleicht nur deshalb, weil sie sich nicht wehrte. Schliesslich löste Alain sich von ihr. Er leckte sich über die Lippen und hauchte erneut einen Kuss auf ihre Wange. „Danke, Lily“, sagte er und lächelte. Zögerlich erwiderte sie das Lächeln. Ihre Hände zitterten ein wenig, doch noch immer war sie ruhig. Weiterhin war Liliane in beinahe unangebracht ausgelassener Stimmung, als sie zurück zu Alains Haus gingen. Die Bisswunde an ihrem Hals pochte unangenehm, doch es störte sie nicht wirklich, dass er sie gebissen hatte. Das einzige, worüber sie sich Gedanken machte, war die Frage, weshalb ihm das wenige Blut reichte. Sie war mehrmals kurz davor zu fragen, doch sie tat es schlussendlich nicht … Alain war immerhin ab und an geschäftlich in der Stadt, wo er viele Menschen traf … Sie wollte gar nicht wissen, ob es vielleicht noch andere gab, von denen er trank – dazu war ihr das Thema Blut irgendwie ein wenig zu unheimlich. Liliane hatte erwartet, dass sich Niclas um die Wunde an ihrem Hals kümmern würde, doch kaum waren sie wieder im Haus, desinfizierte Alain höchstpersönlich die Bisswunde und sorgte dafür, dass sie etwas ass. Schliesslich begleitete er sie sogar zu ihrem Zimmer. Bevor er die Türe schloss, sagte er noch einmal: „Danke, dass du mich hast trinken lassen, ohne dich zu wehren, Lily.“ Zum ersten Mal, seit sie bei ihm war, schloss er die Türe nicht ab, und Liliane war sicher, dass er das tat, weil sie sich nicht gewehrt hatte … Sie befand sich zwar weiterhin unter der Aufsicht Niclas’, doch die Türe wurde nicht mehr verschlossen; eine Tatsache, über die Liliane irgendwie ziemlich froh war. Weitere Wochen vergingen, in denen sie immer öfter Spaziergänge unternahmen. Alain hatte ihr immer mehr, kleinere Freiheiten gewährt. Liliane vermutete dahinter eine Art Belohung, weil sie keine Fluchtversuche oder Ähnliches unternommen hatte. Schliesslich nahm Alain sie sogar in die Stadt. Erneut hatte Liliane das Gefühl, noch nie hier gewesen zu sein. Sie nahm die Stadt ganz anders war; die Farben; die Gerüche … Ihr Adonis beeindruckte sie mit seiner Kenntnis über Kunst – als sie in einem Museum waren, konnte er ihr die verschiedensten Bilder interpretieren, die Auswahl der Farben, welche Künstler gerade am erfolgreichsten waren, … Sie hörte ihm interessiert zu … und musste sich eingestehen, dass sie sich in seiner Anwesenheit unwillkürlich immer wohler fühlte. Kapitel 8: André ---------------- Hallo liebe Leser und Leserinnen, Ich möchte euch ganz Herzlich Danken für eure so tollen Kommis, ich freu mich immer sehr, wenn ihr mir schreibt, was ihr so darüber denkt. Ich wünsche euch viel spass beim lesen. Liebe Grüße Saeverinam ~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~* „Salvador Dalí ist der Hauptvertreter des Surrealismus, er ist einer der bekanntesten Künstler des zwanzigsten Jahrhunderts. Du hast bestimmt schon einige seiner Arbeiten gesehen. Die „Zerrinnende Zeit“ oder auch „Die weichen Uhren“ sind wahrscheinlich die bekanntesten Bilder von ihm.“ Schon seit Stunden erzählte Alain aus dem Leben der Künstler der Bilder, die sie in der städtischen Kunstgalerie betrachteten. Allmählich schwirrte Liliane der Kopf. Pause! , dachte sie, Ich brauche dringend eine Pause. Und während Ihr ‚Adonis’ weiter über Dinge berichtete die er wahrscheinlich selbst erlebt hatte, von Bürgerkriegen und Besuchen von Sigmund Freud, die der berühmte Künstler erlebt hatte und von denen er wohl auch inspiriert wurde, plätscherte das Gehörte nur noch an ihr vorbei, ohne dass sie auch nur noch eine Information aufnehmen konnte. In den Räumen der Galerie hingen sowohl Originale Werke aktueller, als auch Kunstdrucke verschiedenster bereits verstorbener Künstler. Die Bandbreite reichte von Landschaftsbildern in Öl, Kreide oder Kohle, über Aktzeichnungen bis hin zu modernen Klecksen und Strichen. Einige der aussagekräftigsten Originale hatte Alain bereits für sich sichern lassen. Dass Alain ein Kunstsammler war, hatte sich die Braunhaarige bereits denken können; seine Villa war vollgestopft mit antiken Vasen und Bildern aus den verschiedensten Epochen seiner durchlebten Jahre. Auch moderne Malerei zierte seine Wände. Aber der grauäugige Vampir sammelte nicht nur, er handelte auch mit dieser Kunst. Das Geheimnis seines Reichtums waren schlicht seine Langlebigkeit und der Umstand, dass er sehr gut vorausplante. Auch hatte er bereits ein kleines Vermögen geerbt, als seine Eltern gestorben waren. Zwar wurde es zum Grossteil unter seinen jüngeren Geschwistern aufgeteilt, doch da Alain sich zu dem Zeitpunkt bereits eine nicht unbeträchtliche finanzielle Unabhängigkeit erwirtschaftet hatte, hatte er die Bevorzugung seiner Geschwister verschmerzen können. Überhaupt war er ein nicht sehr abhängiges Wesen, das sich selbst mühelos durchschlagen konnte. Auch als die Weltkriege die wirtschaftliche Lage in den Keller gerissen hatten, hatte er sich zu helfen gewusst. Zu jener Zeit hatte er auch leicht Nahrung finden können. Da Alain nie ins Detail ging, vermutete Liliane, dass er sie nicht verängstigen wollte. Völlig in Gedanken und Welt vergessen, stiess Liliane plötzlich gegen einen Körper. Sie wollte sich gerade entschuldigen, als sie dasselbe Knurren vernahm, das sie in Alains Haus schon einem gehört hatte – vor einer Ewigkeit, wie ihr schien. So plötzlich in die Wirklichkeit zurückgeholt, schrak sie auf und sah zu ihrem Entführer, der den Mann, den sie soeben gerammt hatte, bedrohte. „Verschwinde André“, stiess Alain heraus, packte Liliane fest am Arm und wollte sie in Richtung Ausgang ziehen. Wehrlos liess sie sich das gefallen, blickte aber zu dem Fremden zurück, der den sonst so ruhigen Alain, von jetzt auf eben auf die Palme treiben konnte. Sie sah einen … Mann? Doch viel eher war es noch ein Junge, fast noch ein Teenager, der ebenso aggressiv wie auch leicht ängstlich zu dem so ungleichen Paar schaute. „Bitte warte … Vater.“ … Schock. Wie war das, hat er Alain gerade Vater genannt? Sie wollte es kaum glauben, aber dann fiel ihr die Ähnlichkeit zwischen den beiden auf: Dieselbe Nase, die Augen grau, jedoch mit einem schwarzen Rand. Andrés Blick wirkte kühler als Alains, doch seine noch sehr jugendlichen Züge verliehen seinem Äusseren einen frechen Touch. Liliane fragte sich, ob der Junge vor ihr auch schon um die zwei Jahrhunderte alt war, doch ehe sie weiter darüber nachgrübeln konnte, fiel ihr das erste Gespräch über Vampire wieder ein, welches sie mit Alain geführt hatte, und sie überlegte, ob es nicht vielleicht auch ein Klischee war, dass Vampire einmal normale Menschen waren. Sie setzte diese Frage auf ihre Liste der Dinge, die sie gerne von ihm beantwortet haben wollte. „Was willst du?“, maulte Alain. Liliane war erschrocken über seine plötzliche, schlechte Stimmung. So kannte sie den Vampir, der sie meistens sehr höflich und liebevoll behandelte, nicht; selbst als sie ihn hatte schlagen wollen, war er ruhiger geblieben als jetzt mit seinem Sohn. „Ähm … ich wollte mich mal bei dir bedanken …“ „Wofür …?“, fiel ihm der Ältere ins Wort. Verärgert blitzte Alain den Jungen an, und sein Griff um Lilianes Arm wurde fester. Besitz ergreifend schlang er auch noch seinen anderen Arm um ihre Taille und starrte André direkt in die Augen. Eine Vibration in seiner Brust zeugte von seinem nur schwer unterdrückten Knurren. Liliane ahnte allmählich das seine Aggression etwas mit ihr zu tun haben musste. „Für da… das Haus und dass du mich … in der Stadt duldest“, kam es immer leiser werdend aus dem Jungen heraus. „Bedank dich nicht bei mir; geh lieber zu deiner Mutter, die der Meinung ist, dich im Auge behalten zu müssen.“ Liliane die allmählich das Gefühl bekam, in dem Griff ersticken zu müssen, versuchte sich aus dem Klammergriff zu befreien und zog an der Hand, der ihren Oberarm zu zerquetschen drohte. Alain lockerte seinen Griff, ohne sie anzusehen, liess sie aber nicht los. „Lass uns woanders reden, André. Wir versperren den Ausgang. Kennst du das Café Art of live? “ „Was sollen wir denn da? Aber ja, ich weiss, wo das ist“, entgegnete der Junge arrogant. „Wir treffen uns in – sagen wir … zehn Minuten? Ich muss noch kurz was mit Lily besprechen, dann können wir uns unterhalten.“ Nun war das Mädchen überrascht – was wollte der Vampir mit ihr besprechen? Sie hatte keine Idee. André war bereits verschwunden als der Vater des Jungen ihr tief ihn die Augen sah. „Pass bitte auf, dass er dir nicht zu nahe kommt, Lily. Ich kann nicht dafür garantieren, dass er dir nichts tut. Er ist noch jung und unerfahren.“ Liliane erwiderte bloss seinen Blick und nickte zustimmend. Sie sah nicht wirklich eine Gefahr in dem Jungen, aber soviel konnte sie sich denken, dass sie zu tun hatte, was Alain ihr sagte. Auch wenn ihre Freiheit gewachsen war, so war ihr dennoch bewusst, dass sie immer noch eine Gefangene war. Sie glaubte nicht daran, hier in der Stadt auf jemanden zu treffen der sie wiedererkennen würde. Darauf hat Alain schon geachtet, nur zu einem Zeitpunkt hier heraus zu kommen, zu dem ihre Freundin und auch die Familie sie nicht antreffen würden. „Bitte verzeih mir, wenn ich dir eben weh getan habe, das war nicht meine Absicht“, entschuldigte sich der Ältere. „Schon gut...“, flüsterte sie. „Sag mal, ist er wirklich dein Sohn? Ich meine dein leiblicher Sohn?“ Unsicher schaute sie zu Boden und hätte am liebsten ein Loch in die Pflasterfläche gescharrt, aus Angst, etwas Falsches von sich zu geben. Beruhigend strich ihr Alain über die Schultern und hauchte ihr einen Kuss auf das Haar. „Ja, André ist mein leiblicher Sohn. Du musst wissen, dass wir Unseresgleichen nicht allzu lange in unserer Nähe dulden. Geselligkeit liegt nicht in unserer Natur.“ „Aber du lebst doch mit Niclas und mir zusammen? Wir sind doch auch Gesellschaft.“ Fragend blickte sie nun auf und sah ihm direkt ins Gesicht. Alain lächelte leicht und nahm Lilianes Gesicht in seine grosse Hand. Er kam mit seinem Gesicht immer näher an ihres und wollte eben seine Lippen auf ihre drücken, als sie von ihm wegrückte. Nicht sonderlich enttäuscht richtete sich der ‚Adonis’ wieder auf. „Du bist ein Mensch. Die Gesellschaft von Menschen löst keine Revierstreitigkeiten hervor, weil wir euch in unserem Revier wollen. Verstehst du, Lily?“ Vorsichtig sah er sie an und streichelte wieder ihre Wange. „Unsere Reviere umfassen gewöhnlich eine Ortschaft wie eine mittelgrosse Stadt. Hier befinden wir uns in einer Millionenstadt. Sie kann zwei oder drei von uns beherbergen, ohne dass wir uns in die Quere kommen würden. Aber wenn wir uns über den Weg laufen, dann vertragen wir uns üblicherweise nicht.“ „Aber wenn André dein eigenes Kind ist, wieso bist du dann so … so böse zu ihm?“ Liliane sah ihn verständnislos an. „Er ist in erster Linie Konkurrenz; unsere väterlichen Gefühle sind nicht vergleichbar mit denen der Menschen. Ich hab ihm finanzielle Unterstützung angedeihen lassen, das ist für unser Verständnis schon sehr liebenswert. Weisst du, die meisten Väter überlassen ihre Kinder ihren Müttern. Selten haben sie auch Kontakt zu einander. Sie wollen ihn gar nicht. Wir sind eben keine Menschen, vergleich uns nicht miteinander, okay?“ Ehe Liliane auch nur reagieren konnte, holte Alain tief Luft und sprach weiter: „Lass uns gehen, du hast bestimmt Appetit, nachdem ich dich den ganzen Tag durch die Stadt geschleift habe. Und denk nicht, dass mir nicht aufgefallen ist“, lächelt er sie an, „dass du schon lange nichts mehr verstanden hast, was ich dir erzählt habe.“ Das gutmütige Lächeln blieb auf seinen Lippen. „Entschuldige, es war etwas viel auf einmal, nicht wahr? Ich war wohl etwas euphorisch, da hab ich offenbar übertrieben.“ Jetzt sassen sie bereits seit einer halben Stunde in dem Café. Vor jedem stand eine Tasse Kaffee oder ein Glas Apfelsaft. Alain hatte für seine Gefangene einen üppigen Eisbecher bestellt. Genüsslich schleckte Liliane etwas Sahne von der Melonenscheibe, die unter anderem das Glas dekorierte. Sie fühlte sich von dem vielen Obst bereits so voll, dass sie ernsthaft überlegte, das restliche Eis einfach zu ignorieren. Letztlich siegte aber ihre Gier nach dem leckeren Süsszeug. In ihrer Völlerei beobachtete sie die zwei Vampire, wie sie sich angespannt gegenübersassen und sich eher anknurrten, als miteinander zu sprechen. Doch dann ergriff Alain die Initiative und begann, mit dem Jungen zu reden. „Also, warum musst du dich ausgerechnet hier niederlassen?! Rosamunde ist schwanger und wird bald deine Schwester ernähren müssen. In dieser Stadt ist nicht genug Platz für so viele von uns.“ Bemüht, seine Stimme nicht zu laut zu erheben, flüsterte Alain ärgerlich. „Mutter hat es erlaubt; sie sagte, bis ich allein zurechtkomme, darf ich bleiben.“ Die Antwort überraschte nicht sonderlich, denn der ältere Vampir hatte dies bereits erwähnt. Dennoch spiegelte sich Trotz in der Stimme Andrés wider: „Und ausserdem hat sie gesagt, dass du selbst Schuld bist, wenn jetzt etwas Platzmangel herrscht. Du hättest sie nicht schon wieder schwängern brauchen. Es wäre keiner dagewesen, der Interesse an ihr gehabt haben könnte.“ Jetzt horchte Liliane auf: Er ‚hat sie geschwängert’? Und was soll das heissen, niemand anderes hätte Interesse an ihr gehabt?! Das hört sich beinahe so an wie ein karitativer Dienst, den er geleistet hat. Still folgte sie der Debatte zwischen den beiden. „Junge, du bist 20 Jahre alt, klingst aber genau wie einer dieser vorlauten Bengel, die gerade in die Pubertät gekommen sind! Mit deiner Mutter rede ich noch, aber ich will wissen, warum du unfähig bist, selbst … Nahrung zu finden.“ Mit einem kurzen Blick auf Liliane versicherte er sich, dass sie nicht verängstigt wurde. Sie allerdings wurde immer neugieriger und vergass auf halbem Weg zu ihrem Mund den mit Vanilleeis und Sahne beladenen Löffel, der nun in der Luft stehen blieb und drohte auf den Tisch zu tropfen. „Rosamunde hatte noch nie Probleme mit ihrem Nachwuchs – du bist definitiv ein Kind dieser Zeit. Völlig hilflos und verwöhnt.“ Das klang ziemlich verächtlich. „Ich bin nicht hilflos, ich habe nur nicht soviel Glück wie du.“ Mit diesen Worten sah André Liliane aus den Augenwinkeln an und nickte kaum merklich in ihre Richtung. Dann wandte er sich dem Mädchen zu: „Wo habt ihr euch eigentlich kennen gelernt … äh … Lily? Richtig?“ Von oben herab sah er sie nun direkt an und lächelte süsslich. Doch bevor sie antworten konnte, mischte sich Alain ein. „Das geht dich nichts an. … Komm Lily, lass uns gehen!“ Das war keine Bitte, das hörte Liliane sofort. Ihr Eisbecher war schon fast aufgegessen, und sie war der Meinung, sich nun durch die Gegend kugeln zu können, statt laufen zu müssen. Doch wenn sie an die Rückfahrt in ihr Gefängnis dachte, überwältigte sie das brennende Verlangen, noch ein Weilchen spazieren zu gehen. Doch der resolute Klang Alains sonst so angenehmen Stimme veranlasste sie, besser keine Wünsche zu äussern. Doch fiel ihr sehnsüchtiger Blick auf den mit Laub bestreuten Park, der sich gleich neben dem Platz mit dem Café, der Galerie und dem angrenzendem Theater befand. Zu ihrem Glück war Alain ein aufmerksamer Beobachter und lenkte seufzend seinen Schritt in die Richtung. Die Bäume waren inzwischen kahl geworden, und das Blattwerk wurde von gelangweilten Helfern zusammen gefegt. Kinder waren kaum zu sehen, obwohl das Wetter sonnig und mild war. Die wenigen, die man sehen konnte, traten Kastanien wie Fussbälle vor sich her – anders als in Lilianes Kindheit, als die wertvollen Früchte für den Zoo gesammelt oder lustige Tierchen daraus gebastelt wurden. Die milde Luft geniessend und immer wieder ihr Gesicht in die warme Sonne haltend, dachte sie über die vergangene Zeit nach. Erst als Alain sie gefangen genommen hatte, war ihr richtig bewusst geworden, was für ein elendes Leben sie bisher geführt hatte. Während sie über ihrer Vergangenheit brütete, führte Alain sie durch den Park. Sie schwiegen, doch es war nicht unangenehm. Er hielt sie galant am Arm und stützte sie, wenn sie stolperte, weil sie in ihrer Unaufmerksamkeit eine Wurzel übersah. Allmählich wurde sie müde. Die ganzen Informationen, die sie über den Tag aufgenommen hatte, schwirrten ihr nun immer mal wieder durch den Kopf; besonders die Ereignisse mit André liessen ihre Gedanken immer wieder kreisen. Aus heiterem Himmel tauchte ebendieser auf ihrer freien Seite auf. Er musste ihnen gefolgt sein, denn zufällig konnte er die beiden unmöglich gefunden haben, dafür war der Park einfach zu gross. Alain regte sich auf ihrer anderen Seite, und wieder vernahm sie ein leises Knurren. „Vater? Ich habe hier ein Telefongespräch für dich.“ Er reichte Alain an Lilianes Nase vorbei ein Handy. Dieser griff misstrauisch danach. „Ja bitte?“ Während er dem Teilnehmer am anderen Ende lauschte, löste sich sein Arm von ihrem, und er verlangsamte seinen Schritt. Etwas verwundert bemerkte Liliane wie sich nun Andrés Arm um ihre Taille schlang und er den Schritt etwas beschleunigte. Sich an Alains Warnung erinnernd, zögerte sie, sich einfach mit ziehen zu lassen, doch der Druck um ihre Hüfte nahm kaum merklich zu und zog sie auf einen schmalen Pfad zwischen einem Wäldchen, der von dem grossen Hauptweg abführte. Dann begann der junge Vampir zu sprechen. „Und … Lily? Wie lange lebst du nun schon mit Alain? Wie ist es so für dich seinen ‚Appetit’ zu befriedigen? Befriedigst du ihn auch noch auf andere Weise?“ Er lächelte sie nun anzüglich an. Liliane fühlte sich immer unwohler in ihrer Haut; die Anwesenheit des jungen Mannes wurde ihr immer unangenehmer. Sie sah sich nach Alain um, konnte ihn aber nicht entdecken. Sie hoffte dass er das Gespräch bald beenden würde und sie aus den Klauen seines Sohnes befreien würde. Sie ging nicht auf seine Fragen ein und ignorierte ihn so gut wie möglich. Erst als er stehen blieb und sie mit seinen kalten Augen musterte, nahm sie wieder richtig Notiz von dem Vampir. Mit seiner freien Hand strich er nun über ihre Haare, und er drückte sich gegen ihre Hüfte. Lasziv liess er seine an ihrer kreisen. Das Mädchen versuchte sich aus seinem Griff zu winden und seiner eindeutigen Forderung zu entkommen. Leider quittierte André ihre Bemühungen damit, dass er ihr grob ins Haar griff und so schmerzhaft ihre Flucht verhinderte. Jetzt bekam das Mädchen angst … in keinem Moment ihrer Gefangenschaft bei Alain hatte sie echte Gewalt befürchten müssen, auch wenn sie oft Gegenteiliges erwartet hatte. Doch nun im harten Griff des Jungen, fürchtete sie, dass er ihr Schlimmeres antun wollte, als sie nur ein wenig zu ärgern. „Hast du etwa angst vor mir?“, grinste André sie an. „Du brauchst nicht mehr Angst zu haben, als vor ihm“, endete er und nickte hinter sich in die Richtung, aus der sie gekommen waren. „Weisst du, du hättest es einfach haben können, aber du wolltest ja unbedingt zu deinem heiss geliebten Alain zurück. Glaubst du, er wird dich beschützen? Du solltest ihm nicht mehr trauen als einem hungrigen Tiger, ebenso, wie du mir nicht traust.“ Mit diesen Worten zerrte er das Mädchen hinter einen Baum und presste seine Lippen schmerzhaft auf ihren Mund. Jetzt begann sie, sich zu wehren und versuchte, ihn von sich zu stossen, doch der junge Vampir rückte nicht einen Millimeter von ihr ab. Seine Lippen wanderten nun über ihr Gesicht. Verängstigt und ahnend, dass er sich nehmen würde, was er ihr kurz zuvor schon angeboten hatte, wollte sie schreien und um Hilfe rufen. Ihr Kopf wurde nun grob zur Seite gedreht, und feuchte Lippen strichen über ihren Hals. Schlagartig wurde ihr bewusst, dass André nichts Sexuelles im Sinne hatte. Den Schmerz des Bisses erwartend, wimmerte das Mädchen auf… …als der Körper des Jungen von ihr gezogen wurde. Heulend rutschte sie am Baum herunter und hörte eine wilde Prügelei mit Lauten, die sie nur von kämpfenden Hunden her kannte. Bis ihr bewusst wurde, dass dies die Gelegenheit war, um sich von ihrem Entführer zu befreien, war es schon beinahe zu spät. Sie richtete sich auf und betrachtete kurz das wilde Knäuel aus Armen und Beinen, die sich in einander verhakt zu haben schienen und stolperte zurück auf den Pfad. Gerade als sie anfangen wollte zu rennen, wie noch nie zuvor in ihrem Leben, wurde sie auch schon von hinten ergriffen und an eine ihr inzwischen sehr bekannte Brust gedrückt. „Tut mir Leid, Lily, auch wenn André gerade sehr unhöflich zu dir war, kann ich dir das nicht erlauben.“ Mit einem Arm um ihre Schultern geschlungen gingen sie nun geradewegs zum Ausgang des Parks. „Wir fahren jetzt nach Hause, das war genug Aufregung für einen Tag …“ Leicht zitternd von dem Schrecken, den sie eben erlebt hatte, gehorchte sie ihm ohne zu zögern, nur froh darüber, dass sie von dem wilden Jungen weg gekommen war. „André ist sehr hungrig, ich hätte seinen Versuch, dich von mir zu trennen, erkennen müssen. Ich werde ihn in nächster Zeit etwas unterrichten, seine Mutter war offenbar nicht dazu in der Lage, ihn anständig zu erziehen“ Alain erzählte seine Pläne in einem nüchternem Ton, der ihr einen Schauer über den Rücken jagte. „Heisst das, du bringst ihm bei, wie er sich an andere Menschen heran machen kann um an deren Blut zu kommen?“ Der Gedanke entsetzte sie. Was würde wohl mit denen passieren, die seinen Hunger befriedigen müssen, würden sie getötet werden, oder würde er sie dann genauso gefangen halten wie Alain mich …? Alain betrachtete kurz ihr Gesicht, bevor er vor dem metallic-blauen Sportwagen anhielt, mit dem sie heute Vormittag in die Stadt gefahren waren. „Ja, genau das heisst es.“ Seine Stimme hatte noch immer einen neutralen Klang, doch sein Blick war vorsichtig auf sie gerichtet. Sie hatte jedoch kaum eine andere Wahl, als das Gehörte einfach hinzunehmen. Doch eine brennende Frage musste sie loswerden. „Was genau wirst du ihm beibringen?“ Liliane musste schlucken. „Wie er jemanden gefangen nehmen kann, so wie du mich gefangen hältst?“ Lange schwieg der Grauäugige, und Liliane erwartete schon keine Antwort mehr. Er schob sie auf den Beifahrersitz seines teuren Wagens und verriegelte die Tür von aussen. Liliane ahnte, dass die Kindersicherung eingeschaltet war, um ihr ein Weglaufen zu erschweren. Doch dann endlich fing er zu sprechen an. „Du weisst, es ist für uns unerlässlich, Geheimhaltung zu wahren. Ich bringe ihm die sicherste Methode bei, wie er sich ernähren kann, ohne grosses Aufsehen zu erregen. Die Aktion vorhin war unüberlegt von ihm. Selbst wenn ich nicht dazwischen gegangen wäre, es hätte jederzeit jemand vorbei kommen können, der uns Ärger gemacht hätte. … Also ja, Lily, ich bringe ihm bei, wie er jemanden zu sich … nach Hause lo… holen kann.“ In diesem Moment fühlte Liliane sich sehr dumm; ihr war der Ausrutscher nicht entgangen, und sie wusste genau, was er gemeint hatte. Sie war in Alains Netz gegangen, wie eine Fliege sich in den Fäden einer Spinne verfing. Sich allmählich von dem Schock des Angriffs erholend, starrte sie blicklos aus dem Fenster und unterdrückte ihre Tränen. Die an ihr vorbeiziehende Landschaft, die zwischen der Stadt und dem Wohnsitz ihres Vampirs lag, schläferte sie ein. Ihre letzten Gedanken, bevor sie in Morpheus Welt glitt, galten dem Mann neben ihr, der sie vor seinem Sohn beschützt hatte und von dem sie wusste, dass sie sich auch vor ihm in Acht nehmen musste. Kapitel 9: Verstand und Gefühl ------------------------------ Hallo Leute einen ganz lieben Dank für eure vielen Kommis. Ich hoffe mal ihr habt wieder so viel spass mit dem neuen Kap das Sandfrauchen diesmal geschrieben hat.^^ gruß S. ******** Eine sanfte Berührung an der Schulter wecke Liliane aus dem angenehmen Schlaf, in den sie gefallen war. Sie öffnete träge die Augen und sah, dass Alain vor der geöffneten Beifahrertür des Sportwagens stand. „Wir sind wieder zu Hause, Lily.“ Zu Hause. Sie nickte und stieg aus. An Alains Seite betrat sie das grosse Haus. Sie sah ihn an, und er erwiderte ihren Blick lächelnd. Trotzdem hatte sie das Gefühl, dass ihr 'Adonis' angespannter war als noch zuvor, als sie in die Stadt gefahren waren. Sie vermutete stark, dass es mit dem Zusammentreffen mit André zu tun hatte. Niclas betrat die Eingangshalle, kaum das Alain die Haustür hinter ihnen wieder geschlossen hatte. Er nahm Liliane den Mantel ab und hängte ihn an die Garderobe. Liliane achtete kaum darauf; sie sah Alain an, der sich ihr zugewandt hatte: „Lily, du wirst dir den Rest des Nachmittags bestimmt in der Bibliothek vertreiben können? Ich habe noch einige wichtige Telefonate zu erledigen ...“ Er sah sie fragend an, und sie nickte rasch. Es kam ihr gerade recht; sie wollte alleine sein, sie wollte nachdenken ... „Ja, kein Problem“, antwortete sie. Alain lächelte kurz und küsste sie sanft auf die Wange, bevor er sich abwandte und den Flur entlang ging, an dessen Ende sein Arbeitszimmer lag. „Sie gehen in die Bibliothek, Miss?“, fragte Niclas nach, als Alain gegangen war. „Ja“, sie nickte. „Aber ich kann auch alleine...“ Sie brach ab, als der Butler ihr einen Blick zuwarf, der aussagte, dass er sie nicht unbeaufsichtigt lassen würde. Seufzend ging sie Richtung Bibliothek, sich bewusst, dass Niclas ihr einmal mehr folgte. Als könne ich flüchten ... Ich hätte doch ohnehin keine Chance, dachte sie bitter und war im nächsten Moment überrascht von ihrem eigenen Überlegungen. Sie hatte lange nicht mehr an Flucht gedacht, seit Wochen nicht mehr. Um zur Bibliothek zu gelangen, musste sie an Alains Arbeitszimmer vorbeigehen, und als sie die nur angelehnte Tür passierte, hörte sie seine Worte. Er sprach mit etwas erhobener Stimme; er klang wütend ... „Rosamunde, ich weiss nicht, was du bei dem Jungen falsch gemacht hast, aber... Hör mir doch erst einmal zu!“ Ohne dass sie es richtig bemerkt hatte, war sie stehen geblieben. Erst als Niclas ihren Arm ergriff und sie sanft weiterschob, richtete sie ihre Aufmerksamkeit wieder auf den Flur. „Der Master wird Sie über seine Telefonate in Kenntnis setzen, wenn er möchte, dass Sie darüber Bescheid wissen, Miss“, erklärte der Butler bestimmt. Liliane ging weiter, ohne ihm eine Antwort zu geben, und betrat die Bibliothek. Sofort begann sie, zwischen den Regalen umher zu schlendern. Sie hätte gerne weiter zugehört, was Alain der Mutter seines Sohnes zu sagen hatte ... Die Begegnung mit André hatte sie sehr nachdenklich gestimmt. Sie hatte ihr wieder bewusst gemacht, dass sie die Gefangene von Alain war, nicht mehr. Er mochte ihr Freiheiten geben; sie konnte spazieren gehen ... doch sie blieb trotzdem seine Gefangene. Sie durfte nicht vergessen, dass er sie gefangen hielt, dass er es war, der sie einsperrte. Sie blieb bei einem Regal stehen und warf einen Blick aus dem nächstgelegenen Fenster. Freiheit. Sie schüttelte den Kopf. Ihr Blick glitt flüchtig über die Buchrücken. Sie hielt inne und besah sich einige der Bücher genauer. Jane Austen. Alain war im Besitz aller Jane Austen-Romane. Sie lächelte und fuhr mit ihren Fingern über die Einbände der Bücher. Sie erinnerten sie an ihre Jugendzeit. Sie hatte die Romane immer sehr gerne gelesen. Sie zögerte und nahm dann 'Verstand und Gefühl' aus dem Regal und machte es sich damit auf dem Sofa gemütlich. Sie begann zu lesen, doch ihre Gedanken glitten immer wieder zu Alain ab. Sie schlug das Buch zu, den Finger als Lesezeichen zwischen die Seiten geklemmt. Sie sah Niclas an, der ihren Blick erwiderte, freundlich aber desinteressiert. Sie seufzte leise. „Woher kennen Sie Alain?“, versuchte sie es mit Smalltalk, ahnend, dass sich der Butler nicht darauf einlassen würde. Tatsächlich schüttelte er nur den Kopf. „Miss, ich bin damit beauftragt, Sie zu beaufsichtigen. Gespräche jeglicher Art gehören nicht zu meiner Aufgabe.“ Frustriert senkte sie den Blick und versuchte wieder, sich auf Jane Austens Zeilen zu konzentrieren ... doch erneut scheiterte sie an den Gedanken an ihren 'Adonis'. Der Fernseher lief an diesem Abend, doch weder Liliane noch Alain konzentrierten sich wirklich darauf. Während Alain in die Zeitung vertieft war, hatte Liliane 'Verstand und Gefühl' aus der Bibliothek mitgenommen. Alain hatte lächelnd einen Blick auf den Titel des Buches geworfen und sie dann in Ruhe gelassen – vielleicht hatte er gespürt, dass sie in Gedanken war. Noch immer schaffte sie es nicht, einzig und allein den Worten zu folgen, zumal sie jetzt direkt neben dem Mann sass, der sie so beschäftigte ... Er hatte es wieder geschafft, automatisch eine angenehme Atmosphäre zu schaffen, doch sie fragte sich trotzdem, was er in ihr eigentlich sah. War sie nur Nahrung für ihn? „Lily, worüber denkst du nach?“ Sie hob den Blick von dem Buch und sah Alain fragend an. „Was meinst du?“ Er lachte kurz. Sein Lachen war angenehm ... doch sie verdrängte diesen Gedanken sofort. Er hält mich gefangen. Sie durfte das wirklich nicht vergessen ... „Ach, Lily, du hast seit bestimmt zehn Minuten die Seite nicht umgeblättert ...“, erklärte er seine Frage. Sein Blick hatte etwas beinahe Besorgtes. „Ich...“ Sie brach ab und dachte kurz darüber nach, ob sie ihm wirklich sagen sollte, woran sie dachte. Schliesslich antwortete sie ihm: „Ich ... möchte offen reden. Du... Ich bin deine Gefangene! Du... du hast mir einfach meine Freiheit genommen. Ich... ich kann jetzt doch nicht einfach...“ Sie brach ab und schüttelte den Kopf. Sie wusste nicht, wie sie das, was sie dachte und fühlte, hätte formulieren können und hoffte, dass Alain verstand, was sie meinte. Er seufzte und legte die Zeitung beiseite. „Hör mir zu, Liliane ... Ich habe dir schon einmal gesagt, dass du deinen Aufenthalt nicht als Gefangenschaft ansehen musst. Du kannst mein Gast sein. Ich nehme an, du erinnerst dich auch daran, dass ich zu dir gesagt habe, dass ich dir nicht weh tun möchte.“ Er streichelte ihr sanft über das Haar und sprach schliesslich weiter: „Ausserdem, meine Lily ... Wie definierst du Freiheit? Ist Freiheit für dich, überall hingehen zu können, wohin du möchtest ... und es doch nicht zu tun? Denn das war es doch, was du getan hast.“ Sie sah ihn ungläubig an, und er lächelte. „Ich dachte, wir wollten offen reden?“, flüsterte er an ihrem Ohr, bevor er sie, wie schon oft an den vergangenen Abenden, zärtlich auf die Wange küsste. Sie schloss kurz die Augen. Sie konnte es sich nicht erklären, doch die Berührung hatte intimer gewirkt, als die Male zuvor. Und überrascht musste sie sich eingestehen, dass seine Worte sie nicht verletzt hatten oder wütend hatten werden lassen. Seine Stimme war sanft gewesen, und seltsamerweise sogar ein wenig beruhigend. Irgendwie hatte er doch Recht ... Sie antwortete ihm nicht mehr, sondern senkte ihren Blick wieder auf die Buchseite; sie konnte sich nun tatsächlich besser darauf konzentrieren ... „Nur im Kultkino ...“ Liliane blendete die Stimme des Werbesprechers aus, doch nach wenigen Sekunden wurde sie wieder darauf aufmerksam, und ihr Blick flog regelrecht zum Bildschirm, als sie aus dem Fernseher den Titel des Buches, welches sie gerade las, hörte. „Neuverfilmung von 'Verstand und Gefühl', basierend auf dem Roman von Jane Austen.“ Sie betrachtete die Filmausschnitte, und ein Lächeln überzog ihr Gesicht. Sie hatte schon vor Monaten von der geplanten Neuverfilmung gehört, und sie liebte dieses Buch ... Ihr Blick war dem 'Adonis' nicht entgangen. „Willst du dir diesen Film ansehen, Lily? Wenn du möchtest, können wir ins Kino.“ Sie erwiderte seinen Blick, noch immer lächelnd. „Ja, sehr gerne“, sagte sie. Er erwiderte ihr Lächeln, und als er einen Arm um ihre Schulter legte, befreite sie sich trotz ihrer vorherigen Zweifel an ihrem 'Aufenthalt' bei ihm, nicht aus der Umarmung. Das Kultkino lag im Künstlerviertel, nicht weit vom Museum entfernt, in welchem sie die Bekanntschaft mit André gemacht hatte. Lilianes Hand lag locker in Alains, während sie durch die Gassen schlenderten und das Mädchen die Künstlercafés bewunderte. Sie hatte dieses Viertel immer schon irgendwie romantisch gefunden. Alain warf ihr einen raschen Blick zu und lächelte sie an. Sie lächelte zurück. Nach der Begegnung mit seinem Sohn und der erneuten Einsicht, dass sie nur seine Gefangene war, hatte sie zuerst vorgehabt, ihn nicht mehr an sich heranzulassen ... doch es war ihr nicht möglich gewesen; schlicht und einfach, weil Alain netter und fürsorglicher denn je gewesen war. Sie konnte einfach nicht glauben, dass er ihr etwas Böses wollte. Er war ganz anders als sein Sohn ... Sie passierten eine Säule, an der verschiedenste Filmplakate klebten, auch das von 'Verstand und Gefühl'. Erneut lächelte sie automatisch. „Du magst Jane Austen“, sagte Alain. Es war keine Frage gewesen, trotzdem nickte sie. „Ja, sehr sogar. Früher habe ich ihre Bücher sehr oft gelesen. Ihre Bücher sind so ... romantisch. Ich konnte mich immer richtig darin verlieren. Ich hatte immer die Vorstellung, irgendwann würde ich wie Elizabeth Darcy meinen Traummann finden, und mein Leben würde perfekt sein“, erklärte sie ihre Vorliebe für die Autorin. Im nächsten Moment bereits fragte sie sich, weshalb sie ihm all diese Dinge so einfach anvertraute. Anvertraute ... Vertraute sie diesem Mann? Nicht zum ersten Mal fragte sie sich das. War das, was sie ihm entgegenbrachte, tatsächlich Vertrauen ...? Sie wartete noch auf eine Reaktion seinerseits auf ihre Worte ... und als er nichts sagte, lachte sie, es klang jedoch gekünstelt. „Eine geradezu lächerlich naive Vorstellung, nicht wahr?“, fragte sie betont heiter. Doch er schüttelte den Kopf. „Nein, das finde ich nicht“, entgegnete er. Er lächelte, als sie ihn überrascht ansah. Er hat ein schönes Lächeln. Er war wirklich ein ... Adonis. Doch diesen Gedanken wollte sie nicht mehr haben, sie sollte ihn nicht mehr haben. Sie verdrängte ihn, doch als Alain ihre Hand fester hielt, war sie sich ziemlich sicher, dass er wusste, woran sie gedacht hatte. Der Kartenverkauf für den Film würde erst in zwanzig Minuten beginnen, deshalb setzten sie sich unweit des Kinos auf eine Bank. Alain streichelte geradezu beiläufig ihren Arm, und Liliane musste sich widerwillig eingestehen, dass sie die sanfte Berührung genoss. Wieder hatte er es geschafft – sie fühlte sich in seiner Anwesenheit einfach wohl; sie wusste nicht, wie er das schaffte. Doch plötzlich bemerkte sie, wie sich die Atmosphäre veränderte; angespannter wurde. Neben ihr setzte Alain sich kerzengerade auf. Seine Finger verschwanden von ihrem Arm, stattdessen umfasste er ihre Hüfte und setzte sie sich auf den Schoss, wobei er sie in einer angenehm sanften Umarmung an sich zog. Bevor sie fragen konnte, was das sollte, wusste sie es. André kam auf sie zu, überheblich lächelnd. „Vater“, begrüsste er Alain knapp. Dann wandte er sich ihr zu und lächelte süffisant. „Lily.“ Die einzige Antwort, die er bekam, bestand aus einem warnenden Knurren. Als er darauf nicht reagierte, sagte Alain scharf: „Verschwinde von hier, André.“ Sein Sohn schüttelte den Kopf, er wirkte nun wütend. „Du hast dich bei Mutter über mich beschwert?“ „Ich habe ihr nur erzählt, dass sie es scheinbar gänzlich versäumt hat, dich anständig zu erziehen. Was wir nun davon haben ist ein verzogener, unselbständiger...“ André fiel seinem Vater ins Wort: „Ich bin weder unselbständig, noch verzogen!“, zischte er. Er warf Liliane einen aggressiven Blick zu, und sie presste sich automatisch noch dichter an Alain. Er legte ihr eine Hand in den Nacken und küsste sie auf die Wange – verdächtig nahe an ihrem Mundwinkel. Sein Sohn wirkte nicht begeistert ob dieser Geste. „Was wolltest du letztes Mal überhaupt von mir, André? Und was suchst du schon wieder hier?!“ André erwiderte den Blick seines Vaters zornig. „Dass wir uns getroffen haben, war nur ein Zufall. Ich wollte Nahrung beschaffen. Aber wie ich dir bereits sagte, ich habe nicht so viel Glück wie du.“ Alain fuhr mit seinem Daumen sanft über Lilians Hand und warf ihr einen besorgten Blick zu, doch Andrés Erklärung, er habe 'Nahrung' beschaffen wollen, schüchterte sie nicht ein. Ihr Adonis lachte, als er sich wieder seinem Sohn zuwandte, es hatte einen herablassenden Unterton. „Junge, das hat nichts mit Glück zu tun.“ Er schüttelte den Kopf, als er sah, wie André interessiert einer jungen, hübschen Blondine nachsah. „Du gehst es falsch an. Aber dies ist kaum der richtige Zeitpunkt, um das zu besprechen. Also verschwinde von hier, wir reden ein anderes Mal.“ André wirkte noch immer wütend, doch er hob betont beiläufig die Schultern. „Wie du meinst, Vater.“ Erneut würdigte er Alain kaum eines Blickes, während er stattdessen Liliane anstarrte. Sie fühlte sich unter seinen Blicken unwohl und griff nun ihrerseits nach der Hand ihres 'Adonis', umschloss sie fest. Der Blick des Jungen wurde ein wenig überrascht, und auch Alain sah sie forschend an, lächelte dann. „Also, Junge ... wir gehen.“ Er erhob sich und zog Liliane sofort wieder fest an sich, indem er ihr eine Hand um die Hüfte schlang. Sie begannen, Richtung Kino zu gehen, und wenn Liliane sich nicht sehr täuschte, zischte Alain seinem Sohn zu: „Und glaube mir, du würdest es bereuen, wenn du Liliane noch einmal anfassen würdest.“ André starrte den beiden nach, folgte ihnen jedoch nicht. Alain lockerte seinen Griff um ihre Hüfte ein wenig, doch sie entfernte sich nicht von ihm. Sie dachte unwillkürlich an seine Worte, dass sie sich nicht als Gefangene betrachten musste, wenn sie nicht wollte. Als er wieder sanft über ihre Hand streichelte, lächelte sie ganz leicht. Kapitel 10: Höhen und Tiefen - Aus der Sicht Alains --------------------------------------------------- Nach langer wartezeit freu ich mich euch endlich das neue Kap presentieren zu dürfen. ... Tada *********************** Der Winter hauchte allmählich seinen letzten eisigen Atem aus. Der Schnee schmolz und die ersten Krokusse steckten ihre Köpfchen aus dem Erdreich. Und immer häufiger trieb Alain seine Gefangene hinaus in den Garten, in die Sonne. Er konnte zusehen wie Lilianes Gesicht an Farbe gewann, ihre grauen Wangen rosig erblühten. Ihre Lust auf Unternehmungen stieg, während ihre Abneigung gegen ihn immer deutlicher schwand. Alain konnte ihre erwachende Lebensfreude gerade zu riechen, und immer häufiger wagte das Mädchen ihm seine Wünsche zu äussern. Wie sie so da saß, im Sonnenlicht badend, und genussvoll ihren Kaffee trank, stieg auch sein Appetit auf sie. Er erinnerte sich an den süssen Geschmack ihres Blutes, als er das erste Mal eine kleine Probe von ihr genommen hatte. Ihre Wut war so köstlich gewesen, wenn auch nicht sehr gehaltvoll nach ihren Tagen des Fastens. Er hätte sich damals nicht so gehen lassen dürfen, und doch war es ein reiner Genuss gewesen ... und seinem Ziel hatte es letztendlich auch nicht geschadet. Versonnen betrachtete er seinen großen Garten, in dem das Leben gerade erst neu erwachte, und hing seinen Gedanken nach. „Wollen wir nicht etwas spazieren gehen?“, kam es überraschend von Liliane. „Ich langweile mich sonst noch zu Tode.“ Das sind ja ganz neue Töne , dachte sich Alain. Wenn sie sich jetzt schon langweilt... er brachte den Gedanken nicht zu Ende, doch ein gewisse Vorfreude breitete sich in ihm aus. „Was denn, du hast doch die Bibliothek noch gar nicht durchgelesen.“ Einen kleinen Anflug von Spott konnte sich Alain nicht verkneifen, hatte Liliane doch die meiste Zeit des Winters mit Lesen verbracht, wenn er sie nicht gezwungen hatte, etwas mit ihm zu unternehmen. Die Besuche in der Stadt zum Beispiel; sicher hatte die Begegnung mit seinem Sohn sie ein wenig erschreckt. Doch hatte er ihr versichert, dass ein Angriff wie der im späten Herbst des letzten Jahres, nicht wieder passieren würde. Dafür hatte Alain gesorgt. Er hatte seinem Sohn den versprochenen Unterricht erteilt, und auch wenn André noch immer seine Hilfe benötigte, so war der Junge doch nicht mehr so hungrig, dass er sich einfach auf Liliane stürzen würde. Er konnte sehen, wie sie kurz das Gesicht verzog, doch schien sie ansonsten seine kleine Bemerkung zu ignorieren und erwiderte nur: „Lass uns in den Wald gehen, ja?“ Auch das würde er ihr noch beibringen müssen – ihre Verärgerung nicht zurückzuhalten „Also schön, ich sag Niclas Bescheid, dass er dir einen kleinen Imbiss bereiten soll.“ Und damit erhob sich der Vampir von seinem Platz und reichte dem Mädchen die Hand, um ihr aufzuhelfen. Gemeinsam gingen sie zurück ins Haus. Sie verschwand in ihr Zimmer, das sie eigens für sie eingerichtet hatten. Alain hatte es fasziniert, mit welchem Elan sie Ihre Wünsche geäussert hatte; obwohl sie damals sonst noch sehr zurückhaltend und eingeschüchtert gewesen war, schien es für sie nichts spannenderes gegeben zu haben, als die Möbel auszusuchen. Einige hatten extra von einem Antiquitätenhändler beschafft werden müssen; ihr Geschmack ähnelte sehr dem einer mittelalterlichen Prinzessin, die in ihrem Burgzimmer auf die Rettung durch einen tapferen Ritter wartete. Schnell beauftragte er seinen Freund mit dem Imbiss und machte sich dann selbst für den Tag fertig. Mit dem Auto fuhren sie eine knappe halbe Stunde zu einem kleinen Parkplatz am Waldrand. Ein kleines Picknick und eine Decke waren in einem Rucksack, den Alain galanter Weise für das Mädchen trug. Darauf würde sich Liliane stürzen können, sobald sie einen geeigneten Rastplatz gefunden hätten. Um sie herum lag die Natur noch im Tiefschlaf. Der Wald war noch bitterkalt, und nur vereinzelt steckten ein paar Frühjahrsblüher ihre Köpfchen sehnsüchtig ins Licht. Vögel zwitscherten schon in den Ästen und buhlten um ihre Partner. Eine kleine Herde Rehe wurde von der Unterhaltung, die die beiden führten, aufgescheucht und suchten vorsichtshalber das Weite. Dem Pfad folgend, begegneten sie keiner Menschenseele, dafür war es wohl noch zu kalt. Doch konnten sie Spuren gelegentlicher Spaziergänger ausmachen. Bierflaschen, an Ästen aufgehängt, zeugten von den Besuchen so mancher Jugendlicher. Schöner Anblick... , dachte Alain, nicht ohne den Sarkasmus in seinem Gesicht zur Schau zu stellen. Als sie an einem kleinen Tümpel vorbei kamen, war Liliane so begeistert, dass es ihm schien als würde sie am liebsten hinein gespringen, doch ihr Mantel den sie immer noch trug, war Beweis genug, dass es noch überhaupt keine gute Idee gewesen wäre und sie sich wohl nur eine schlimme Lungenentzündung geholt hätte. Alain registrierte ihren Übermut nicht ohne einen Hauch von Genugtuung, und doch freute es ihn, dass sie aus ihrer Lethargie heraus gefunden hatte und begann zu geniessen. Fast schon wie ein junges Reh hüpfte sie auf und ab, und ihre Energie steckte auch den Vampir an. Zu einem Fangespiel herausgefordert, jagte er sie nun durch den Wald, gönnte ihr immer wieder einen kleinen Vorsprung und überraschte sie dann von Hinten und warf sie auf den Boden, um sie zu necken ... und verteilte spielerische Bisse auf ihren Hals. Doch abrupt erstarrte Liliane, ihr Lachen erstarb. Alain war klar, was in ihr vorging; sie glaubte, er würde von ihr trinken wollen. Er ließ augenblicklich von ihr ab, stand auf und half auch dem Mädchen zurück auf die Beine. „Ich entschuldige mich nicht dafür, dich erschreckt zu haben, du musst dich daran gewöhnen, dass ich von dir trinken werde, wenn mir danach ist.“ sein Ton klang leicht angesäuert, so hatte sie ihm doch die Stimmung verdorben ... auch er mit seinen zweihundert Jahren mochte es noch, sich hin und wieder wie ein kleiner Junge zu fühlen. Dazu hatte sie ihn angeregt, und seine Tat eben war reiner Übermut gewesen. Mit einem zaghaften „Mhm...“ bestätigte Liliane das Gehörte und ging weiter. Schweigend liefen sie nun nebeneinander her, bis sie auf eine kleine Lichtung stießen, die von einem umgestürzten Baum geteilt wurde. Grünes Moos überwucherte den Stamm und ließ ihn weich und einladend wirken. „Wollen wir hier rasten, Lily? Du hast inzwischen doch bestimmt Hunger, oder?“, fragte der Grauäugige. Liliane sah sich kurz um und fand auch deutlich Gefallen an dem Fleck. Alain breitete die Decke auf einer Pfütze aus reinem Licht aus und verteilte die Döschen und Schalen mit dem Essen sorgfältig darauf. Er setzte sich an einem Zipfel hin und bedeutete ihr, es ihm gleich zu tun. Er nahm eine Gabel in die Hand, nahm den Deckel einer Schale ab und lud etwas von deren gelb-weissen Inhalt darauf. „Mach den Mund auf, Lily. Ich möchte dich gerne füttern“, grinste er sie keck an. Seufzend kam sie seiner Bitte nach und öffnete den Mund. Der Eiersalat musste köstlich sein, denn Liliane schloss zufrieden die Augen und Kaute. Alain verwöhnte sie nur mit den Besten Schlemmereien, und er konnte sehen wie sie immer wieder von dem intensiven Geschmack der Leckereien, die er extra für sie besorgen liess, überwältigt wurde. Als nächstes folgte ein Stück Lammbraten den sie anscheinend mit derselben Begeisterung auf ihrer Zunge zergehen ließ. So folgte Delikatesse um Delikatesse, und er genoss den Anblick ihres verzückten Gesichtsausdruckes bei jedem Bissen den sie aß. Das Obst, das er für sie einfliegen ließ, welches Sonnen gereift gepflückt wurde, besaß ein so intensives Aroma - so verriet Liliane es ihm einmal bei einem Frühstück - dass es sie für die billigen Supermarktprodukte für immer verdarb. Nach scheinbar unendlicher Zeit des Genusses, verweigerte sie den nächsten Happen und sank vollkommen gesättigt, müde gegen seine Brust. Sie schloss die Augen und ließ die warmen Strahlen der Sonne gegen ihr Gesicht scheinen. „Ist es nicht zu kalt, um jetzt zu schlafen?“, fragte Alain. Doch Liliane zuckte nur mit den Schultern und entgegnete. „Ist im Moment egal, ich bin einfach nur Knülle“ Noch einige Zeit verharrten sie in dieser Position. Er die Beine gespreizt ausgestreckt, auf seine Ellenbogen gestützt, den Kopf in ihrem Haar vergraben. Sie dösend an seine Brust gelehnt im Schneidesitz zwischen seine Beine geklemmt. Doch als die Sonne ihre Bahn weiter zog und die Bäume ihre langen Schatten auf ihr gemütliches Plätzchen warfen, fröstelten beide. Einstimmig erhoben sie sich und räumten die Reste des Picknicks wieder ein. Schweigend nahmen sie den Weg zurück zum Parkplatz. Träge ließ sich Alain von seiner Gefangenen führen, die es, wie es ihm schien, nun nicht mehr erwarten konnte, zum Auto zurück zu kommen. Er bemerkte ihr gelegentliches Gähnen und ahnte, dass sie während der Fahrt wohl einschlafen würde. Er hatte schon oft mitbekommen, dass sie das Fahren beruhigte, und wie ein Baby schlummerte sie genauso oft auf ihrem Platz ein, mit dem Kopf an die Fensterscheibe gelehnt. Doch kurz bevor sie den Parkplatz erreichten, blieb Liliane plötzlich stehen. Alain wollte sie schon mit sich ziehen, als er bemerkte, dass ihre Augen auf einen bestimmten Punkt fixiert waren. Mit einer misstrauischen Kopfbewegung folgte er ihrem Blick ... und fand ein schwarz- weißes Bündel mit braunen Tupfen. (http://www.bernersennen.biz/Galerie/images/bg24_gr.jpg ) Es lag kraftlos auf dem Waldboden hinter einem Busch, an einen dünnen Baum gebunden. Alain konnte gar nicht so schnell gucken ,wie Liliane zu dem kleinen Etwas hinüber rannte und sich davor auf den Waldboden fallen liess. „Oh Gott, Alain er lebt noch!“ Völlig aufgelöst blickte sie zu ihm hinauf. Ihr hilfloser Blick machte ihn weich, und er setzte sich ebenfalls zu ihr und berührte den Welpen am Kopf. Müde öffnete das Tier die dunklen Knopfaugen. „Er muss schon vor Tagen hier ausgesetzt worden sein. Er sieht ganz abgemagert aus.“ Selbst Ihn ließ dieser Anblick menschlicher Grausamkeit nicht kalt. Er streifte mit einer flinken Bewegung den Rucksack ab und holte Lilianes Wasserflasche heraus. „Lily, halt mal bitte deine Hände zu einer Schale; mal sehen, ob er etwas trinkt“, wies er das Mädchen an. Doch stattdessen griff sie in den Rucksack und holte eine von den Plastikdöschen heraus und schüttete den Inhalt zu Boden. „Das ist besser“, meinte sie nur und hielt Alain das Gefäß hin, um es von ihm mit dem Wasser füllen zu lassen. Und welche Erleichterung, zaghaft versuchte der kraftlose Hund, daraus zu schlecken, doch war sein Kopf viel zu schwer für diese Aufgabe. „Was machen wir denn jetzt mit dem Kleinen?“ Alain bemerkte, dass das Mädchen den Tränen nahe war, und weil auch er nicht begreifen konnte, wie Menschen zu so etwas fähig sein konnten, griff er beherzt zu der Leine und löste sie von dem Baum. Er hob das kleine Bündel auf und ging damit geradewegs zu seinem Auto. „Wir nehmen ihn mit.“ Er sprach mit resoluter Stimme, niemand hätte in diesem Moment gewagt ihm zu widersprechen. Liliane schien seine Entschlossenheit in diesem Moment mehr als willkommen zu heißen. Im Auto übergab der Vampir seine lebende Fracht dem Mädchen, die den kleinen Körper schützend auf ihren Schoss legte und ihn in einen warmen Kokon aus Armen einhüllte. Alain beschloss, auf Nummer sicher zu gehen und sofort zu einem Tierarzt zu fahren. Liliane wollte den Welpen nicht mehr aus den Händen lassen, und so öffnete Alain ihr die Beifahrertür und half ihr, umständlich aus dem Wagen zu steigen. Eigentlich wollte er sie nur ungern mit hinein nehmen; am liebsten wäre es ihm gewesen, wenn er sie vorsichtshalber in den Wagen eingeschlossen hätte, doch sah er auch die Besorgnis um das Leben des kleinen Wesens in ihren Augen und vertraute darauf dass es für sie wichtiger war, dass der Welpe gut versorgt wurde, als ihre Freiheit oder – schlimmer noch – die Welt vor ihm und Seinesgleichen zu warnen. Schnell erkannte die Sprechstundenhilfe den Notfall, und so wurden sie vorgezogen. An einem Tropf bekam der Bernersennenwelpe, wie der Tierarzt sie aufklärte, eine Kochsalzlösung zugeführt. Sein Kreislauf musste wieder in Ordnung gebracht werden, und sein Körper war ganz ausgekühlt. Der Arzt meinte zu Liliane, die sich nur schweren Herzens von dem Tier trennen konnte, um es in einen mit einer Wärmelampe beleuchteten Zwinger zu setzen, dass er wahrscheinlich erst vor einem Tag dort ausgesetzt worden sein musste. Mehrere Nächte bei den noch immer sehr kalten Temperaturen hätte das Tier wohl nicht überlebt. Nur Widerwillig ließ sich das Mädchen von Alain zurück zum Auto führen. „Der Arzt hat gesagt, dass er sich meldet, wenn sich der Zustand des Hundes ändert“, versuchte Alain sie zu beruhigen, doch Liliane machte auch weiterhin einen nervösen Eindruck und schielte immer wieder zur Praxis zurück. „Komm jetzt, Mädchen, hier können wir erst mal nichts mehr tun.“ Somit verfrachtete er Liliane zurück in sein Sportwagen und fuhr zurück zu seinem Anwesen. Er beobachtete sie dabei, wie sie sich abwesend in ihr Zimmer zurückzog. Er selbst machte sich über einige Einfuhrpapiere her. Der Tag, der mit einer geladenen Energie begonnen hatte, wie sie nur der Frühling zustande bringen konnte, verpuffte träge in einem kalten Orange am Firmament. ********************* So sieht ein Bernersennenwelpe aus: (http://www.bernersennen.biz/Galerie/images/bg24_gr.jpg ) die idee einen Hund einzuführen hatte Kapitel 11: Gesellschaft für Lily --------------------------------- So meine Lieben Leser/inen, es ist leider wieder ein recht kurzes Kapitel geworden aber im Moment fehlt uns beiden die Rechte inspiration weil wir an einem Punkt der geschichte angelangt sind den ich/wir leider nicht gut genug durchgeplant haben. Aber ich gelobe besserung. Ach ja dieses Kapitel ist zu je einer Hefte von Sandfrauchen und mir geschrieben worden. (nur für die, die es interessiert) Viel spass nun beim lesen.^^ Gruß Severinam ******** Gesellschaft für Lilly Die ganze Nacht wälzte sich Liliane nur hin und her. In den wenigen Phasen, in denen sie tatsächlich schlief, träumte sie von weinenden Hunden und bissigen Fledermäusen ... und gelegentlich von ihrer Familie ... die nun zu Hause saß und jubelnd ihre Freiheit von ihr feierte. Total verschlafen, das Kopfkissen noch immer im Gesicht, betrat sie am Morgen das Esszimmer. Alain saß wie immer mit der allmorgendlichen Zeitung in der Hand am Tisch und begrüßte sie strahlend, zog aber einen Mundwinkel amüsiert nach oben, als er ihr in das Gesicht blickte und die zerzausten Haare und die unübersehbaren Abdrücke des Kopfkissens registrierte. „Keine gute Nacht gehabt, Lilly?“, neckte er das Mädchen. Sie wollte zum Sprechen ansetzen, entschied sich dann jedoch dafür, es bei einem einfachen Schulterzucken zu belassen. Sie setzte sich an den Frühstückstisch und griff nach ihrem Glas Orangensaft und einem Fruchtjoghurt. Am liebsten wäre sie zurück auf ihre Matratze gesunken und hätte den ganzen Tag verschlafen; sie war müde und fühlte sich erschöpft, als hätte sie nicht einmal drei oder vier Stunden lang geschlafen. Doch sie hoffte auf eine gute Nachricht von dem Tierarzt und sprang jedes mal auf, wenn das Telefon klingelte. Für gewöhnlich waren es jedoch nur Geschäftspartner ihres... Nun, was war er denn inzwischen für sie? Wie eine Gefangene fühlte sie sich schon seit einiger Zeit nicht mehr. Niclas beobachtete sie zwar noch immer auf Schritt und Tritt, doch hatte sie sich so sehr daran gewöhnt, einen zweiten Schatten zu haben, dass es ihr gar nichts mehr ausmachte. Und von Alain fühlte sie sich auf eine unwirkliche Weise ... beschützt. Noch immer rieten ihr ihre Instinkte, ihm nicht zu vertrauen, und doch ... hatte er nicht bewiesen, dass er auf sie Acht gab und dafür sorgen wollte, dass ihr nichts zustiess? War er nicht immer um ihr Wohlbefinden besorgt? War es nicht sogar so, dass sie ihn dafür liebte, dass er ihr all diese Dinge gezeigt hatte, von denen sie früher immer nur gesagt hatte, dass sie sie später einmal machen würde? Ja, Alain zwang sie zu den Dingen, die sie schon immer einmal hatte tun wollen, aber nie gewagt hatte, tatsächlich zu erkunden. Ihre Eltern hatten sie immer auf ein anderes Mal vertröstet. Schatz wir haben jetzt keine Zeit dafür, ein anderes Mal, okay? … Liebling, das musst du doch einsehen, wir haben jetzt nicht das Geld dafür, das machen wir, wenn es uns wieder besser geht, ein anderes Mal, okay? …ein anderes Mal... ...heute geht es nicht... ein anderes Mal... ...EIN ANDERES MAL. Es hatte nie „ein anderes Mal“ gegeben; nicht für sie und ihre Wünsche. Alain hingegen, er hatte immer Zeit für sie – ein Wort, und ihre Wünsche wurden umgesetzt. Und mit diesem Gedanken wagte sie es zu fragen: „Sag mal, Alain, was wird wohl aus dem Hund werden, wenn er überlebt...? I... Ich meine... er würde doch ins Tierheim gesteckt werden, oder?“ Mit einem beinahe schon treu doofen Hundeblick schaute sie den Vampir an. Und sie konnte ein kleines, verschmitztes Lächeln über seine Lippen huschen sehen, bevor er ihr emotionslos antwortete. „Na ja, so jung, wie das Tier ist, denke ich, findet der Kleine schnell einen neuen Besitzer, also mach dir keine Sorgen. Er wird schon nicht in einem Zwinger versauern.“ „Aber was ist, wenn sie dort doch keinen neuen... ähm... Besitzer für ihn finden? Oder schlimmer noch – was, wenn er genauso schlecht behandelt wird wie von den vorigen Besitzern? Der Kleine ist doch schon traumatisiert.“ Nun stellte Alain sein Amüsement ganz offen zur Schau. „Und? Worauf willst du hinaus?“ „Naja...“ Hände ringend suchte Liliane nach den richtigen Worten und stammelte dabei vor sich hin. „Weißt du... ähm, du hast doch diesen großen Garten... und auch im Haus... ich meine, es ist doch so viel Platz hier...“ Lächelnd unterbrach Alain sie bei ihren Wortfindungsschwierigkeiten und nahm ihr ihre eigentliche Frage ab. „Du möchtest wissen, ob wir den Hund zu uns nehmen können?“ Sie nickte nur und schaute ihn erleichtert an. „Weißt du denn überhaupt, wie groß so ein Hund werden kann? Und außerdem ist es ein Hütehund, ein familientauglicher, gemütlicher Hütehund zwar, aber immerhin. Weißt du, was das bedeutet? Ist dir klar, dass er bis zu 70 cm hoch werden kann? Wenn er mal auf die Idee kommen sollte, dich anzuspringen – gut, das kommt bei der Rasse eher nicht vor – dann begräbt er dich unter etwa fünfzig Kilo. Und ganz wichtig ... er wird dich und mich bewachen wollen, das liegt in seiner Natur. Kommst du damit klar?“ Alain schaute sie skeptisch an, lächelte aber als er ihre plötzliche Unsicherheit bemerkte. Wehmütig senkte sie den Blick und murmelte ein kaum verständliches „Dann eben nicht“ in sich hinein. Daraufhin spürte sie eine warme Hand auf ihrer eigenen, die nicht die Kaffeetasse umklammert hielt. „Das sollte kein Nein sein, Lilly, nur eine Frage, ob du weißt, worauf du dich mit einem Bernersennenhund einläßt.“ Alains Stimme sprach ganz dicht an ihrem Ohr, seine Worte klangen warm und sanft. Er hatte sich zu ihr gelehnt und lächelte sie an. „Dann nehmen wir ihn also?“ Liliane war auf einmal ganz aufgeregt und war versucht, Alain glücklich um den Hals zu fallen. Sie hielt sich aber mit aller Macht zurück. „Wenn du es dir gut überlegt hast? Und ich mich auch an seiner Erziehung beteiligen darf?“ Liliane war nun nicht mehr zu halten und strahlte Alain glücklich an. „Ahhh ... Ich hab mir immer einen Hund gewünscht, danke, danke, danke!“ Und schon lag sie in den Armen ihres Entführers. Doch war die Umarmung nicht von ihr aus gekommen – Alain hatte sie an sich gezogen und drückte sie an sich. „Erschrecke nicht Lilly, du hast nichts zu befürchten. Du kannst mir vertrauen“, hörte sie seine rasch gesprochenen Worte. Und ehe Lilly noch in irgendeiner Weise reagieren konnte, spürte sie auch schon den Biss. Überwältigt von ihrer Freude, aber auch überrascht über Alains plötzlichen Überfall, ließ sie ihn gewähren und entspannte sich, so gut es ihr möglich war, während sie seinen Schluckgeräuschen lauschte. Er trinkt immer von mir, wenn ich gerade etwas anderes im Kopf habe, kam ihr nun der Gedanke. Ob er das tut, weil ich dann nicht so einen großen Schmerz dabei empfinde? Doch nachfragen traute sie sich noch immer nicht. Als Alain von ihr ab ließ, fühlte sie sich etwas schlapp; der Schlafmangel der letzten Nacht und der Blutverlust von eben nagten gewaltig an ihren Kräften. Und so ließ sie sich nur zu gerne ohne Widerstand von dem Vampir nach oben in ihr Zimmer bringen, wo er sich liebevoll um ihre Wunde kümmerte und ihr etwas Wasser einflößte. Nach einer Weile, während der sie mit dem Rücken an Alain gelehnt auf ihrem Bett gesessen hatte, fielen ihr die Augen immer öfter für Sekunden zu. Sie versuchte, wach zu bleiben, öffnete immer wieder die Augen, doch schließlich glitt sie, erschöpft von dem Schlafmangel, in einen ruhigen Schlaf, der dieses Mal völlig Traumlos war. Liliane erwachte, als sie die Stimme ihres 'Adonis' aus dem Flur hörte. Sie seufzte leise und setzte sich auf, um festzustellen, dass sie in ihrem Bett lag, die Decke über sich ausgebreitet. Alain musste sie hingelegt haben. Bei diesem Gedanken lächelte sie kurz, unwillkürlich. Nun konzentrierte sie sich auf die Worte, die aus dem Flur zu ihr drangen. Alain schien zu telefonieren. „Ich verstehe“, hörte sie seine Worte. „Ja, natürlich. Ja. Ich danke Ihnen, dass Sie mich gleich davon unterrichtet haben. Auf wiederhören.“ Langsam kam Alain wieder zu ihr ins Zimmer. Er setzte sich neben sie auf das Bett und legte ihr einen Arm um die Schulter. Liliane hatte nie gefragt, mit wem Alain seine Telefonate führte – meistens waren es ohnehin nur Geschäftspartner; außerdem hätte sie sich wahrscheinlich auch nicht getraut, danach zu fragen … doch jetzt sah sie ihn fragend an und wollte sich gerade erkundigen, mit wem er gesprochen hatte, als Alain ihr zuvor kam, indem er sagte: „Das war der Tierarzt.“ „Oh!“ Liliane lächelte und sah ihn erwartungsvoll an, doch ihr Lächeln verblasste, als sie seinen ernsten Gesichtsausdruck registrierte. „Geht... Geht es dem Kleinen besser?“ Alain schüttelte den Kopf. „Nein, Lilly. Hör zu … der Welpe war wohl einfach zu schwach. Der Arzt hat mich davon in Kenntnis gesetzt, dass er die Nacht nicht überlebt hat.“ Liliane sah ihn verständnislos an. „A... Aber...“ Sie brach ab. Der Welpe war tot. Er war gestorben, weil jemand so grausam gewesen war, ihn auszusetzen! Sie spürte, wie Tränen in ihre Augen traten. Sie blinzelte rasch, doch als sie Alain ansah und bemerkte, wie besorgt sein Blick war, konnte sie die Tränen nicht mehr zurückhalten. Sie schluchzte leise und fühlte im nächsten Moment, wie Alain sie an sich zog. Sie lehnte ihre Stirn an seine Brust und weinte weiter, obwohl sie eigentlich aufhören wollte. Sie konnte einfach nicht. Sie hatte sich so darauf gefreut, einen Hund zu besitzen, wie sie es sich immer gewünscht hatte … und nun war der Welpe tot. Alain streichelte sanft ihren Hinterkopf, fuhr durch ihre Haare und redete leise und beruhigend auf sie ein. Und nach einigen Augenblicken spürte Liliane, wie sie tatsächlich ruhiger wurde. Zitternd setzte sie sich wieder gerade hin. Sie spürte weiterhin Alains Blick auf sich, doch sie achtete nicht darauf, sondern wischte sich stumm die Tränen aus den Augen. „Lilly? Vielleicht...“ Sie schüttelte rasch den Kopf. „Ich … geh in die Bibliothek. Okay?“ Er musterte sie kurz, dann nickte er jedoch nur. Sie löste sich aus seiner Umarmung, obwohl sie ihr eigentlich gut tat, und verließ das Zimmer, um in die Bibliothek zu gehen. Sie nahm kein Buch zur Hand, sie saß einfach nur auf dem Sofa und starrte vor sich hin. Sie hätte jetzt wirklich keine Lust gehabt, irgendeinen Ausflug mit Alain zu unternehmen oder Ähnliches. Sie wollte alleine sein. Liliane hätte nicht gedacht, dass sie so traurig sein würde, weil ein Welpe, der noch nicht einmal wirklich zu ihr gehört hatte, starb. Und doch fühlte sie sich nun total … elendig. Wieder füllten sich ihre Augen mit Tränen, die sie, obwohl sie es wollte, nicht zurückdrängen konnte. Am späten Nachmittag des nächsten Tages saß sie im Wohnzimmer. So richtig wusste sie nichts mit sich anzufangen. Der Fernseher lief, und doch konnte sie sich nicht auf den Film konzentrieren. Sie sah auf die Uhr; Alain würde bestimmt ebenfalls bald kommen. Tatsächlich betrat er das Zimmer nur etwa zehn Minuten später. Er setzte sich neben sie und legte wieder einen Arm um sie; sie war diese Bewegung inzwischen schon beinahe gewohnt und genoss die Berührung. „Was hast du heute Nachmittag getan, Lilly?“, fragte er. Er selbst war während des gesamten Nachmittags geschäftlich in der Stadt gewesen. „Ich … war in der Bibliothek“, murmelte sie. „Was hast du gelesen?“, fragte er weiter nach. Sie hob stumm die Schultern. In einigen Büchern hatte sie herum geblättert, aber den Hund konnte sie einfach nicht vergessen. „Du bist sehr traurig wegen dem Welpen, nicht wahr?“, fragte er. Sie nickte langsam. „Ja, weißt du, ich... Ich wollte doch immer schon einen Hund haben … um den ich mich hätte kümmern können, das wäre … toll gewesen.“ Sie biss sich auf die Lippen. „Der Welpe tut mir auch Leid, Lilly … aber es gibt noch viele andere Tiere, die ebenfalls kein Zuhause haben.“ „Ja, ich weiß“, murmelte sie, hob dann den Blick, um Alain fragend anzusehen. „Weshalb...“ Er unterbrach sie: „Niclas, komm doch bitte!“, rief er Richtung Türe. Sein Butler betrat den Raum, auf den Armen trug er … einen kleinen Welpen. Liliane starrte erst Niclas, dann Alain verständnislos an. „Was...“ Sie brach ab, als Niclas ihr den kleinen Hund auf den Schoss setzte. Der Welpe sah aus tiefschwarzen Augen zu ihr auf. Langsam begann sie, ihn zu streicheln, und ein breites Lächeln schlich sich auf ihr Gesicht. Sie sah, dass auch dieser Welpe ein Bernersennenhund war, sie vermutete jedoch, dass es ein Mischling war. Der Kleine war vollkommen schwarz-weiß, nur am Kopf hatte er drei hellbraune Tupfen. „Der Kleine wurde im Tierheim abgegeben, wie ich heute Nachmittag erfahren habe“, sagte Alain leise. „Du warst so unglücklich … Ich dachte mir, wir können ihn bei uns aufnehmen. Natürlich nur … wenn du willst.“ Liliane drehte den Oberkörper zu Alain, den Welpen noch immer auf dem Schoss, ihn mit einer Hand streichelnd. Mit dem anderen Arm umarmte sie ihn stürmisch. „Danke!“, sagte sie überglücklich, und ehe sie überlegen konnte, was sie tat, hatte sie ihn in ihrer Euphorie auch schon kurz auf die Wange geküsst. „Danke“, wiederholte sie, während sie den Welpen weiterhin mit der einen Hand festhielt. Kapitel 12: Bella Italia ------------------------ Hallo liebe Leser! Ich kann euch endlich wieder ein neues Kapitel präsentieren. Ich entschuldige mich für die lange Wartezeit ... Sandfrauchen und ich leiden bezüglich dieser Story leider gerade beide unter einem „KreaTief“ ... das Kapitel ist auch wieder dementsprechend kurz geworden, doch ich hoffe, es gefällt euch. Der Anfang ist von mir, etwas mehr als die Hälfte von Sandfrauchen. ~*~*~*~*~*~*~*~*~ Wochen vergingen, und Liliane und Alain widmeten ihre ganze Aufmerksamkeit dem kleinen Hund, den Lily ‚Teddy’ genannt hatte und seinem Namen alle ehre machte, denn er wuchs schnell heran und wurde größer und größer. Alain übernahm vorwiegend die Erziehung, während Liliane sein Spielgefährte wurde. Zu dritt gingen sie spazieren, auch wenn die kleinen Beinchen des lebenden Fellknäuels keine allzu langen Strecken zuließen. Alain besorgte ein ganz spezielles Geschirr für den Bernersennenhund, damit er sich an seine zukünftige Aufgabe besser gewöhnen konnte. Niclas schien weniger glücklich über das neue Mitglied dieser speziellen Wohngemeinschaft zu sein. Kein Wunder, oblag ihm schließlich die Aufgabe, den Dreck, den der Kleine verursachte, zu beseitigen. Doch dank Alains guten Erziehungsmethoden, war der Hund schnell stubenrein. Auch für Liliane gewann die Zeit ihrer Gefangenschaft ganz neue Qualitäten. So wurde sie nun jeden Morgen von einer kühlen, feuchten Nase geweckt. Das Verhältnis zwischen Alain und Liliane wurde zusehends lockerer, unbekümmerter. Oft plauschten die zwei über die niedliche Tollpatschigkeit, die der Hund mit großen runden Augen an den Tag legte. Es war deutlich, dass beiden einen Narren an dem Tier gefressen hatten, und so verwöhnten sie ihn mit dem köstlichsten Fleisch, das der Markt zu bieten hatte. Für Alain kam es nicht in Frage, dass sein Besitz, wie er sich manchmal gegenüber Niclas äußerte, billige, minderwertige Nahrung zu Essen bekommen würde. Während die Tage und auch die Nächte immer wärmer wurde und die Natur wieder zum vollen Leben erwachte, wandelte sich das Verhältnis zwischen dem Vampir und dem Mädchen zu einem freundschaftlichen Vertrauen. „Wie, du findest, ich sollte mal wieder neue Kleidung kaufen? Und warum ausgerechnet in Florenz?“, giftete Liliane an einem leicht verregneten Morgen. Der graue Himmel hatte sie nur träge aus dem Bett steigen lassen, und wäre Teddy nicht von Alain an ihr Bett geführt worden, dann hätte sie wahrscheinlich den ganzen Tag unter der warmen Bettdecke verbracht. Nun saß sie missmutig am Frühstückstisch. Soeben war ihr eröffnet worden, dass sie keine angemessenen Sachen zum Anziehen hätte und dass Alain deswegen plante, mit ihr zu verreisen ... nach Italien. Angeblich, weil es dort die beste Haute Couture gab, die sich der Vampir nur vorstellen konnte. „Du bist ein eingebildeter Snob, Alain, weißt du das? Niclas hat mir doch erst ein paar Klamotten aus der Stadt mitgebracht, das reicht doch.“ Erstaunt hob Alain eine Augenbraue. „Du sollst aber keine billigen Lumpen tragen, wenn ich mit dir ausgehe.“ „Billige Lumpen? Du nennst 149 Euro teure Blusen billige Lumpen?“, ereiferte sich Liliane, „Sag mal wo lebst du denn?“ Streit zwischen den beiden war auch nichts Neues mehr seit einiger Zeit. Besonders wenn es sich um finanzielle Werte handelte, gingen die Meinungen der beiden stark auseinander. Alain, der vom Tage seiner Geburt in Wohlstand gelebt hatte; der nie auch nur einmal auf etwas hatte verzichten müssen, was sich irgendwie mit Geld kaufen ließ ... und im Gegensatz dazu Liliane, die ihr Leben lang mit ihrem Geld hatte haushalten müssen. „Ach, hör auf, dir Sorgen wegen dem bisschen Geld zu machen. Wir fahren morgen und damit Schluss jetzt.“ Weniger verärgert als mehr belustigt, wollte der Vampir weiterem Protest seiner Gefangenen vorbeugen, doch Lilianes neu erwachtes Selbstvertrauen machte ihm da einen gewaltigen Strich durch die Rechnung. „So einfach machst du dir das also; wenn ich nicht deiner Meinung bin, verbietest du mir also den Mund? Oder was war das eben? Hast du nicht gesagt, du erfüllst mir jeden Wusch?“ Total aufgebracht holte Liliane tief Luft. „Und ich wünsche mir keine Kleidung aus Florenz!“ „Tut mir Leid, Lily, dir das sagen zu müssen, aber manchmal muss ich dich wirklich zu deinem Glück zwingen.“ So ging es an diesem Morgen noch eine ganze Weile weiter, bis es Zeit war, Teddy an die Leine zu nehmen und mit ihm Gassi zu gehen. Liliane mochte es, mit Teddy spazieren zu gehen, ebenso, wie sie es auch mochte, dass Alain sie begleitete. Anfangs hatte sie sich noch gewünscht, alleine mit dem Hund spazieren zu gehen, um in Ruhe ihren Gedanken nachhängen zu können. Alain jedoch hatte sie immer beharrlich begleitet, vermutlich, weil er befürchtete, sie könne sonst einen Fluchtversuch unternehmen, und inzwischen war ihr das nur Recht. Sie genoss es, ihre Zeit mit ihm und Teddy zu verbringen, zumal während diesen Spaziergängen immer eine wundervoll friedliche Stimmung herrschte. Auch an diesem Tag verebbte ihr Streit, sobald sie das Haus verlassen hatten. Liliane war zwar nicht einverstanden mit Alains Plänen, doch sie hatte nicht vor, sich mit ihm weiterzustreiten, während sie mit Teddy unterwegs waren. Liliane bemerkte selbst, dass es ihr gut tat, dass sie jemanden hatte, um den sie sich kümmern konnte. Ihr Selbstvertrauen war gewachsen, sie wagte es nun auch öfter, ihre Meinung zu äußern, auch wenn es vielleicht nicht dieselbe war, die Alain hatte, und diese Tatsache, wie sie sich überlegt hatte, hatte sie eigentlich auch Alain zu verdanken. Es war irgendwie sehr ... süß von ihm gewesen, dass er – nur ihretwegen – einen anderen Hund aus dem Tierheim geholt hatte. Sie wickelte sich die Leine noch einmal um die Hand und warf ihrem Adonis einen kurzen Seitenblick zu. Dieser beobachtete, wie Teddy interessiert an einer weggeworfenen Flasche schnupperte, jedoch sehr bald das Interesse verlor und gemütlich auf eine zerrissene Plastiktüte zuging, die etwas entfernt in einem Gebüsch hing. Liliane grinste unwillkürlich ob der offensichtlichen Neugier des Hundes. Alain trat näher an sie heran, und nach einer Weile ergriff er ihre freie Hand. Liliane ließ es geschehen, sie verspürte auch kein Unbehagen, oder das Bedürfnis, von ihm wegzugehen, eher im Gegenteil ... inzwischen genoss sie seine beinahe flüchtigen, liebevollen Berührungen. Trotz der eigentlich lockeren Stimmung spürte Liliane, wie sie etwas angespannter und fast schon nervös wurde, als sie sich einer bestimmten Straße näherten. Die Strecke, die sie sich als Spazierstrecke angewöhnt hatten, war ideal, um einen Hund Gassi zu führen – die Straßen waren nicht übermäßig befahren, und am Rand des Gehsteigs stand immer mal wieder der eine oder andere Baum – und Liliane mochte diesen Weg … eigentlich ... doch diese eine Gasse, die sie dafür entlanggehen musste, hasste sie regelrecht. Der Besitzer des zweiten Hauses, besaß nämlich ebenfalls einen Hund. Einen ziemlich großen, furchteinflössenden Hund, der zu allem Übel auch noch laut knurrte, bellte ... und der nicht angebunden war. Als sie das erste Mal vorbeigegangen waren, war Liliane fürchterlich erschrocken und war sofort zurückgewichen, in der sicheren Annahme, der Hund würde sich auf sie oder Teddy stürzen ... Doch die Gartentür war verschlossen gewesen, und der Hund lediglich wild knurrend vor dem Zaun stehen geblieben. Alain hatte etwas von ‚typisch Wachhund’ gemurmelt, seinen Arm um sie gelegt und sie weitergezogen. Auch an diesem Tag raste der andere Hund auf den Zaun zu, blieb davor stehen und bellte und knurrte die drei sich ihm Nähernden schon von einigen Metern Entfernung aus an. Bis heute war die Tür noch immer verschlossen gewesen, doch Liliane konnte den Gedanken und die ängstliche Frage, was geschehen würde, wenn die Tür mal nicht verschlossen wäre, nicht ganz aus ihrem Kopf verdrängen. Sie beschleunigte ihre Schritte, bis sie das Haus passiert hatten und das Bellen allmählich leiser wurde, erst dann verfiel sie wieder in das ursprüngliche Tempo. Sie warf einen Blick zu Teddy. Der hatte das aggressive Verhalten des anderen Hundes von Anfang an überraschend locker aufgenommen. Er war beim ersten Mal zwar zusammengeschreckt, und er zuckte noch immer ein wenig zusammen, betrachtete den anderen Hund mit einem Blick, der auf Liliane misstrauisch wirkte, und folgte ihr ohne zu zögern, wenn sie schneller ging, doch Liliane glaubte, dass Teddy selbst weniger Angst hatte, als sie. Sie verdrängte diese Gedanken, als Alain plötzlich ihre Finger streichelte und übertrieben beiläufig fragte: „Bist du überhaupt schon einmal verreist?“ „Ähm“, sie schwieg kurz. „Also, nein. Meine Eltern hatten nie ... Geld, oder genug Zeit dafür. ... Also noch nicht so richtig.“ Ihre Stimme wurde immer leiser, sie vermutete schon, worauf er es abgesehen hatte. „Aber Lily, es ist doch schade, immer im selben Land zu bleiben. Was für eine Verschwendung. Du hast gar keine Ahnung, wie schön fremde Länder sein können.“ „Ach ja? Welche denn zum Beispiel?“, fragte sie. Alain lachte, als er ihre trotzige Stimme hörte. „Bella Italia, zum Beispiel.“ Sie schnaubte. „Was ist in Italien schön? Das Land? Oder nur die teure Kleidung?“ Alain seufzte. „Lily, du kannst es aber auch wirklich kompliziert machen.“ „Ich mache gar nichts kompliziert. Ich möchte nur nicht verreisen, um anschließend mit irgendwelchen teuren, unnötigen Kleidern wieder nach Hause zu kommen“, murmelte sie. Bevor Alain antworten oder gar widersprechen konnte, fügte sie hinzu: „Und überhaupt ... was ist denn so lange mit Teddy?“ Alain sah sie fragend an, und sie erklärte: „Naja, wer geht denn mit ihm spazieren? Wir können ihn doch nicht mitnehmen ... Und ... jemand muss mit ihm spielen.“ Alain schmunzelte. „Ich bin sicher, Niclas wird dich gebührend vertreten und sich um Teddy kümmern.“ „Aber ... Teddy ist doch mich gewöhnt. Er würde mich bestimmt schrecklich vermissen.“ Sie sah ihn mit ihrem besten Hundeblick an. Nun verwandelte sich Alains Schmunzeln in ein amüsiertes Lachen. „Dieser Blick ist ja wirklich herzzerreißend.“ Er musterte sie lange, und sie glaubte schon, gewonnen zu haben, als er leise hinzufügte: „Ich bleibe trotzdem bei meiner Meinung. Morgen fahren wir.“ Verstimmt beschleunigte sie ihre Schritte wieder ein wenig, hatte jedoch vergessen, dass Alain ihre Hand hielt. Er zog sie zu sich zurück und küsste sie auf die Wange. „Ach Lily, du solltest dich darauf freuen. Und vielleicht ... möchte ich die Gelegenheit ja auch dazu nutzen, um einfach etwas Zeit mit dir zu verbringen.“ Er lächelte. Liliane starrte ihn überrascht an und konnte ihren Blick sekundenlang nicht von ihm nehmen, bevor sie auch lächelte. Mensch, Liliane, benimm dich nicht wie ein Schulmädchen!, versuchte sie sich selbst zur Vernunft zu bringen, doch so ganz klappte es nicht. Sie war es inzwischen ja eigentlich gewohnt, dass Alain so lieb zu ihr war, und doch fühlte sie sich ein wenig geschmeichelt. Und eigentlich hatte er ja Recht: Sie war noch nie verreist, sie sollte diese Möglichkeit nutzen ... sie konnte in Italien ja immer noch dafür sorgen, dass er nicht zu viel Geld für ihre Kleidung ausgab ... Mit diesen Gedanken ging sie weiter, und als sie wieder zu Hause waren, wandte sie sich an Alain und nickte langsam. „Dann ... dann fahren wir morgen?“ Wieder lächelte er, bevor er bestätigte und Niclas rief, damit er ihr beim Kofferpacken helfen konnte. „Komm schon, Lily. Das sieht bestimmt...“ „Nein, bestimmt nicht!“ Sie schüttelte entgeistert den Kopf. Niclas hatte ihr am vergangenen Abend mit dem Packen geholfen, und als sie im Bett gelegen war, hatte sie sehr lange nicht einschlafen können. Ihre Nervosität hatte immer mehr zugenommen. Sie wusste nicht einmal, weshalb sie nervös war. Sie sollte sich darauf freuen, zum ersten Mal zu verreisen, und doch war da diese Nervosität. Sie wusste nicht, was sie erwartete, und sie wusste auch nicht, wie die Atmosphäre zwischen ihr und Alain sein würde. Doch ihre Bedenken waren scheinbar unnötig gewesen, denn Italien war wirklich schön, das Wetter war hervorragend, und die Stimmung zwischen den beiden war mindestens genauso gut wie auch zu Hause. Sie waren am frühen Morgen losgefahren und hatten Florenz Mitte Nachmittag erreicht. Alain hatte ihr erst ein wenig die Stadt gezeigt, und jetzt befanden sie sich in irgendeiner Einkaufsstraße in einer teuren Boutique. Liliane fühlte sich zwar ziemlich fehl am Platz, doch die Verkäuferinnen kümmerten sich wirklich sehr aufmerksam um sie. Alain versuchte gerade, sie dazu zu überreden, ein dunkelrotes Kleid anzuziehen. Ein Kleid – ausgerechnet sie! „Nein, Alain, bitte, das steht mir doch überhaupt nicht.“ Alain seufzte. „Lily bitte, das kannst du gar nicht wissen. Nun probiere es schon an.“ Die Verkäuferin pflichtete ihm mit einem euphorischen Nicken bei, obwohl Liliane bezweifelte, dass sie auch nur ein Wort verstanden hatte, dann begann sie auf die beiden einzureden, erst auf Italienisch, dann in holprigem Englisch. „Komm schon, Lily ... probiere es an“, bat Alain noch einmal. Sie seufzte und warf einen misstrauischen Blick auf das Kleid. „Wie teuer ist es überhaupt?“ „Lass das nur meine Sorge sein.“ Mit diesen Worten drückte Alain ihr das Kleid in die Hand und schob sie in eine Umkleidekabine. Kurz darauf stand sie in dem roten Kleid, das ihr kaum bis zu den Knien reichte, vor Alain. Die Verkäuferin nickte immer wieder. Auch Alain schien zufrieden. „Na also“, sagte er, „Sieht doch gut aus.“ „Meinst du?“ Liliane warf einen zweifelnden Blick in den Spiegel. „Ich weiß nicht ...“ „Lily, du hast nur zu wenig Selbstvertrauen.“ Er wandte sich an die Verkäuferin und nickte. „Wir nehmen es.“ Das schien sie zu verstehen, denn sie lächelte breit. „Molto bene“, sagte sie und war noch ein wenig freundlich als zu Beginn. Zehn Minuten später verließen sie die Boutique mit einer Tasche, in der das rote Kleid und ein Beleg war, den Liliane nicht angeschaut hatte. Sie hatte sich bemüht, nicht mit zu bekommen, wie teuer das Kleidungsstück gewesen war, denn sie vermutete stark, dass die 149 Euro teuren Blusen noch um Einiges günstiger gewesen waren ... Sie gingen noch etwas weiter durch die Straßen, und Alain erklärte ihr Einiges über die Architektur in Italien und speziell Florenz, doch sie konnte sich gar nicht richtig darauf konzentrieren. Die ganzen Eindrücke der ihr fremden Stadt hatten sie ermüdet, und sie musste ein Gähnen unterdrücken. Alain schien bald zu bemerken, dass sie sich vor Müdigkeit nicht richtig konzentrieren konnte, denn er führte sie bald in ein italienisches Restaurant, in welchem sie eine der leckeren Pizzas aß, für die das Land so bekannt war, und danach gingen sie in ihr Hotel. Es war ein Fünfsternehotel, und sie nahm an, dass eine einzige Nacht schon furchtbar teuer war – nichts anderes hatte sie von Alain erwartet. Was sie jedoch nicht erwartet hatte, war, dass das Zimmer nur mit einem Doppelbett bestückt war. Sie biss sich auf die Lippen und zögerte etwas unentschlossen, nachdem sie sich umgezogen hatte, doch schlussendlich gab sie sich einen Ruck. Sie hatte keinen Grund für Hemmungen, mit Alain im selben Bett zu schlafen – bis auf die kleinen Küsse, und dass er manchmal nach ihrer Hand griff, hatte er keine körperlichen Annäherungen mehr gemacht. Sie deckte sich also zu und schloss die Augen, als Alain das Licht gelöscht hatte. Sie lauschte seinen gleichmäßigen Atemzügen neben ihr, doch sie konnte nicht so recht einschlafen. Sie dachte an Teddy, an die teure Boutique und das rote Kleid ... und sie war furchtbar müde, doch der Schlaf kam einfach nicht. Schließlich, nach einigem Zögern, kuschelte sie sich, ohne noch viel zu überlegen, dicht an Alain, der sofort einen Arm um sie legte. Sofort fühlte sie sich beschützt, und nach wenigen Minuten schlief sie ein. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)