Weihnachten - wirklich das Fest der Liebe? von dark_shadow ================================================================================ Kapitel 1: Tim's Weihnachten ---------------------------- Es ist kurz vor Weihnachten. Überall in der Stadt hängt schon die Weihnachtsbeleuchtung und auf dem großen Marktplatz steht ein Weihnachtsbaum, mindestens 3 Meter hoch, mit Lichtern und Sternen behängt, übt er eine weihnachtliche Stimmung auf die Menschen aus, die an ihm vorbei schlendern. Ein paar Schneeflocken tanzen im Wind. Sie fallen zu Boden und bilden eine Schneedecke von wenigen Zentimetern Höhe. Der Weihnachtsmarkt ist auch schon aufgebaut. An vielen Stellen stehen die Leute und trinken genüsslich ihren Glühwein. Leise tönt Weihnachtsmusik aus den Lautsprechern an den Ständen. Sie hüllt die Besucher in eine wohlig-warme Atmosphäre, obwohl eine Temperatur von ein paar Grad unter Null herrscht. So marschiert an diesem Tage auch Tim durch die Altstadt. Er ist 16 und ganz alleine in der Stadt unterwegs. Seine Eltern sind zu Hause und bereiten alles für Weihnachten vor. Tim zieht seine Kappe tiefer ins Gesicht, steckt seine Hände tiefer in die Taschen und versucht sich warm zu halten. Der Weihnachtsmarkt interessiert ihn heute nicht so sehr. Vor zwei Wochen war er hier schon. Nicht allein, sondern mit seinen Freunden. Er genoss die Zeit, aber heute ist es ihm egal. Er schlendert einfach weiter und zwängt sich durch eine Menge von Glühwein trinkenden Erwachsenen. Tim hört ihr Lachen, ihre Freude, aber geht einfach weiter, ohne auch nur einmal kurz aufzublicken oder zu lächeln. Er weiß genau, wo er hin muss. Tim stapft durch den nassen Schnee, der noch am Boden liegt. Er hebt leicht seinen Kopf und kann sein Ziel schon sehen. Er beschleunigt seine Schritte, muss aber kurz vor einer roten Ampel warten. Dann ist er auch fast schon da. Er geht die leichte Steigung zur Brücke hoch. Sie ist eine sehr alte Steinbrücke. Ihr Geländer besteht auch aus Steinen, von einem Meter Höhe und einem halben Meter Breite. Als er in der Mitte der Brücke ist, bleibt er stehen. Er schaut nach vorne und zurück. Kein anderer Mensch ist zu sehen. Sie sind sicher alle am Weihnachtsmarkt. Oder ihnen ist zu kalt, um aus dem Haus zu gehen. Tim zieht die Hände aus seinen Taschen und öffnet seine Jacke. Aus der Innenseite holt er einen Brief heraus. Er holt einen Tesastreifen aus seiner Tasche und klebt den Brief auf das Geländer der Brücke. Ihm rollt eine Träne übers Gesicht. Wie in Trance steigt er auf das Geländer der Brücke. Tim nimmt seine Mütze und wirft sie die Brücke hinunter. Wie eine große, schwere Schneeflocke taumelt sie im Wind, bis sie dann in das eiskalte Wasser unter der Brücke fällt. Tim zieht auch nun seine Jacke aus und wirft sie hinterher. Jetzt steht er nur noch mit seiner Jeans, seinen Stiefeln und seinem Pullover auf der Brücke. Ein kalter Windzug umstreift ihn. Dann schreit er in die Ferne: „Ist es das, was du willst Gott? Willst du sehen, wie ich leide, Tag für Tag, jeden Augenblick meines weiteren Lebens? Ist es wirklich das?“ Ihm steigen dabei die Tränen in die Augen. Seine Sicht verschwimmt, aber er ruft weiter. „Warum? Warum nimmst du mir alles, was ich Liebe? Du bist an allem Schuld, warum erlöst du mich nicht von den Qualen, die mich Tag für Tag aufs Neue heimsuchen? Es heißt doch, dass du der Erlöser bist, aber warum erlöst du mich nicht?“ Tim schluchtzt. Mit dem Ärmel wischt er seine Tränen aus dem Gesicht. Er hört kurz hin, aber es kommt keine Antwort. Dann schreit er weiter: „Du hast mir wirklich alles genommen, was mir wichtig ist. Es heißt doch, dass Weihnachten das Fest der Liebe ist, aber für mich gibt es keine Liebe. Meine Eltern wollen sich scheiden lassen. Und du! Du unternimmst nichts dagegen.“ Er schluchtzt. „Ja, hörst du. Scheiden. Sie wollen sich trennen. Für immer und ewig. Nie wieder zusammensein. Nie wieder in meinem Leben werden wir gemeinsam Weihnachten feiern. Hast du gehört? Nie, nie wieder.“ Er senkt den Kopf und fügt leise hinzu: „Nie wieder, in meinem gottverdammten Leben.“ Er atmet tief durch, wehrt sich gegen seine Tränen, kann aber nicht. Sie fließen über sein Gesicht, wie das Wasser unter der Brücke hindurchfließt. Langsam hat er sich wieder gefangen. Tim richtet seinen Kopf zum Himmel und schreit, wie er es noch nie getan hat. „Aber damit nicht genug. Du hast mir meine große Liebe genommen. Vor nicht einmal einer Woche, als ich sie zum Schulball eingeladen habe. Da kam einfach mein bester Freund und wollte mit ihr tanzen. Ich hab es zugelassen. Mir nichts dabei gedacht. Und dann. Weißt du was dann daraus wurde?? Sie sind dann gemeinsam nach Hause gegangen. Mich haben sie einfach stehen gelassen. Weißt du wie das Schmerzt.“ Er fällt auf die Knie, vergräbt sein Gesicht in seinen Händen und heult: „Weißt du wie das ist, die Person, die man liebt, an seinen Freund zu verlieren? Es würde einem nie in den Sinn kommen, dass der beste Freund und die große Liebe ....“ Ihm bleibt das Wort im Hals stecken. Er nimmt den Kopf aus seinen Händen und richtet seinen Blick zum Himmel. „Und das alles vor Weihnachten. Dem schönsten Fest überhaupt. Dem Fest der Liebe.“ Leicht wankend richtet er sich dann ganz auf. Er steht wieder mit seinen Füßen auf dem Geländer und schaut sich um. Nun sind ein paar Passanten auf ihn aufmerksam geworden. Von Weitem hört er schon die Sirene der Polizei. Tim grinst: „Auch das wird mich jetzt nicht aufhalten können.“ Er stellt sich an den Rand und sieht nach unten auf das Wasser. Die Spitzen seiner Stiefel sehen schon über den Rand des Geländers hinaus. Tim macht sich steif wie ein Brett und lässt sich nach vorne kippen. Wie in Zeitlupe, so erscheint es ihm, kippt er langsam nach vorne. Immer noch mit Tränen in den Augen betet er zu Gott: „Gott, warum hast du es so weit kommen lassen? Warum nur? Warum hast du mir alles genommen, was ich liebe?“ Fadenscheinig zieht sein ganzes Leben an ihm vorbei. Er erlebt die letzten Tage noch einmal. Den ganzen Schmerz, den sein bester Freund ihm zugefügt hat. Den Schmerz, seine große Liebe ausgerechnet an seinen Freund zu verlieren. Den Schmerz, von allen allein gelassen worden zu sein. Wie in Zeitlupe sieht er das Wasser auf sich zukommen. Kopfvoraus taucht er in das eiskalte Wasser ein. Umgeben von unzähligen Luftbläschen taucht Tim nach unten. Er will nicht, dass ihn sein Instinkt an die Oberfläche bringt. Er will nicht weiterleben, nach all dem. Langsam meldet sich sein Reflex. Er wehrt sich dagegen, das Wasser einzuatmen, aber es gelingt nicht. Seine Lungen füllen sich mit dem eiskalten Wasser. Nach kurzer Zeit ist aber alles vorbei. Die Polizei überbringt den Eltern den Brief des Sohnes. Seine Eltern öffnen ihn. Sie können es nicht verstehen, brechen zusammen und weinen. Ihr Sohn hinterließ ihnen 4 Worte. „Es tut mir leid.“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)