Chalk 'n Cheese von Ryoko-san (Wenn man das Unerkannte entdeckt) ================================================================================ Kapitel 6: Planung ------------------ „Emily.“ Seine Stimme war fest, trotz des erschreckten Gesichtsausdrucks. „Tu, was deine Eltern dir sagen. Geh.“ Emily verzog das Gesicht. „Was? Ich möchte aber bei dir -“ „Geh!“, befahl er, nun lauter und senkte wütend den Kopf. Emily wich erschrocken zurück. Was war nur los mit ihm? Was hatte sie denn getan, dass er so reagierte!? „Du bleibst jetzt wirklich die ganze Zeit hier, klar?“, ermahnte ihre Mutter sie hektisch und zog sie auf eine Couch in der Ecke der Bar. „Warum? Was soll das, Mama?“ „Emily … es ist nur zu deinem Schutz, glaub mir.“ Ihre Mutter hatte die Augen geschlossen. „WAS ist zu meinem Schutz? Du lässt mich keine Sekunde aus den Augen als wäre ich ein Kleinkind!“, sagte sie aufgebracht und ihre Hände waren zu Fäusten geballt. „Es kommen genug junge Leute unter die Räder, mein Schatz. Und diese Stones sind eh kein Umgang für dich“, versuchte sie sie zu beruhigen und legte ihr eine Hand auf die linke Faust, doch Emily scheuchte sie weg. „Mama, ich mag ihn, klar? Ich entscheide immer noch, mit wem ich Umgang habe und mit wem nicht!“ Ihre Augen glühten förmlich vor Wut. „In dem Fall leider nicht, Süße.“ Ihre Mutter lächelte sie an. Ein falsches Lächeln. Nun stand Emily aufrecht und sie hatte wütende Tränen in den Augen stehen. „Ich bin volljährig. Du hast mir nichts mehr zu sagen.“ Christopher stand in einigen Metern Entfernung und beobachtete die beiden unauffällig, während er an einem Glas Champagner nippte. Robin versuchte sich ernsthaft in Konversation mit einem, aber sein ironischer Unterton war kaum zu überhören. Doch Chris wusste nicht recht, was er von Emilys Auftreten auf DIESEM Event halten sollte. Weshalb war sie hier und wusste sie, was genau für eine Veranstaltung das hier war? Wer waren ihre Eltern, dass sie solche Aufmerksamkeit von den anderen Gästen bekamen? Und dann sah er, dass Emily wutentbrannt aus der Bar verschwand. Sie stieg sofort in den offenstehenden Lift und die Türen schlossen sich so schnell, dass keiner ihrer Eltern sie erreichen konnte, die panisch und wütend hinter ihr her gestürzt waren. Er stellte sein Glas ab und verschwand unauffällig … Emily rannte panisch aus dem Hotel und achtete weder auf vorbeilaufende Gäste noch darauf, dass es draußen begonnen hatte zu regnen, als sie nasstriefend die dunklen Straßen entlanglief. Wut und Enttäuschung trieben sie voran und durch den Regenschleier schien sie nur noch ein verwaschener hell rosa Farbfleck zu sein. Wieso hielten ihre Eltern sie seit neuestem so fern von Menschen? Sie musste bei ihnen bleiben … Junge Leute kamen oft unter die Räder … ja, aber schon seit Anbeginn der Zeit! Warum wurden sie gerade jetzt so panisch? Hatte das nicht alles erst mit Christopher begonnen? War er der Grund für alles? Aber er tat doch niemandem etwas … Sie wurde langsamer und auf einmal kam ihr ein seltsamer Gedanke, der aber alles erklären würde. Wussten ihre Eltern, dass er und Robin Vampire waren? Nun blieb Emily mitten im Regen stehen und schaute auf den nassen Boden, an dem kleine Rinnsale entstanden und zwischen den Steinen umher flossen. Das ergab tatsächlich Sinn. Wenn sie wussten, dass er ein Vampir war, wollten sie natürlich nicht die Gefahr eingehen, dass ihr etwas passieren könnte. Aber das würde nie funktionieren. Sie konnten Emily nicht von ihm abhalten. Niemals. Und plötzlich wurde sie von zwei Armen von hinten sanft, aber fest umschlungen. „Lauf nicht weg, Emily.“ Christophers Stimme klang traurig, so nah an ihrem Ohr. Sie schüttelte den Kopf. „Meine Eltern …“, begann sie. „Haben völlig recht“, endete er. Sie drehte sich erschrocken um und er ließ von ihr ab. „Womit haben sie recht?“, fragte sie stirnrunzelnd. Und dann begannen seine Augen rot zu leuchten, doch er blieb stehen wo er war. „Ich bin gefährlich. Robin ist noch gefährlicher.“ Er verzog kein Gesicht. Emily lachte abschätzig und drehte sich mit dem Rücken zu ihm. „Ich liebe die Gefahr. Das weißt du doch.“ Sie drehte ihren Kopf leicht zu ihm zurück. „Ich bin volljährig und weiß genau, was ich tue. Keine Ahnung, wieso, aber es ist wirklich so. Kein jugendlicher Leichtsinn oder Fehleinschätzung. Ich stehe 100% zu dem, was ich sage und tue.“ „Wenn du dich da mal nicht täuschst …“ Und dann spürte sie, dass er direkt hinter ihr stand und sie drehte sich zu ihm herum. Seine Augen leuchteten immer noch gefährlich rot, doch sie hatte keine Angst und blickte ihn unverhohlen an. Tränen mischten sich unaufhörlich mit dem Regen. „Emily …“ Er war im Zwiespalt mit sich selbst. Einerseits wusste er nicht, was genau Emilys Eltern wussten und wer genau sie waren, andererseits wollte er auf keinen Fall von Emily getrennt sein, was es auch kosten sollte. Doch auf keinen Fall wollte er sie gefährden. Und er wusste eben nicht, zu was ihre Eltern fähig waren, um sie zu schützen. „Vielleicht sollten wir uns eine Weile nicht sehen, bis deine Eltern sich wieder beruhigt haben.“ Emily riss ihre Augen auf. „Nein! Das nützt eh nichts, wir sehen uns in der Schule. Und heute … wieso heute eigentlich?“ Sie sah ihn fragend an. „Ähm … das war … ich weiß nicht …“ „War DAS etwa die Vorladung, wo man euch …?“ Christopher nickte. Emily wich einen Schritt zurück und starrte ins Nichts. Ihre Eltern mussten davon gewusst haben. Das es keine normale Party war. Deswegen verhielten sie sich auch so seltsam. Es waren alles Vampire dort gewesen und … sie nicht!? Ergab das Sinn? „Chris … Weißt du etwas über meine Eltern?“, fragte sie ihn schließlich und ihre Augen flackerten panisch. Er schüttelte den Kopf. „Dort waren alles nur Vampire, richtig?“ Er nickte. „Aber …“ Emily wurde hektisch und sie sah hinter Christopher, ob sie nicht verfolgt wurden. „Sie müssen doch davon gewusst haben! Deswegen haben sie sich auch so komisch benommen. Sie haben Angst um mich. Aber warum haben sie keine Angst gehabt!?“ „Emily, was sind deine Eltern von Beruf?“, fragte Christopher ernst, aber ruhig. Sie sah ihn perplex an. „Sie sind beide im Büro einer weltweiten Firma tätig. Keine Ahnung, wo genau hier in London. Wieso?“ Sie kam wieder näher und legte die Hände krampfhaft an seine Brust. „Ich weiß nicht, ehrlich. Ich dachte nur …“ Er sah zur Seite und räusperte sich, als Emily ihn krampfhaft zusammen zucken spürte. Seine Augen waren weit aufgerissen und er war unbeweglich. „Chris? Chris! Was ist los?“ Sie wollte ihn gerade berühren, als… „Christopher James Stone“, knurrte eine dunkle Männerstimme hinter den beiden. Emily erstarrte ebenfalls und sah zitternd über Christophers Schulter. Dort standen zwei Männer in Schwarz gekleidet und dahinter Emilys Eltern mit ernsten Gesichtern. Sie merkte, dass Chris sich nicht bewegen konnte und erblickte die rot leuchtenden Augen des linken Mannes in Schwarz. „Emily, Liebes, komm hierher, los.“ Ihre Mutter streckte eine Hand nach ihr aus. Doch Emily bewegte sich keinen Millimeter und starrte nur voller Panik ihre Eltern an. Wieso taten sie das? Was wussten sie genau? Sie bekam keinen Ton heraus, obwohl sie sie anschreien wollte, sie verhören wollte, was ihnen das Recht hierzu gab. „Ms Brucker, sie hören besser auf ihre Eltern.“ Der rechte Mann in Schwarz kam ein paar Schritte auf sie zu. Sie stellte sich mit einem Schritt vor Christopher. „Wagt es ja nicht, ihm etwas anzutun! Das lasse ich nicht zu!“ Sie versuchte, ihr Gesicht so wütend wie möglich aussehen zu lassen und streckte die Arme mit geballten Fäusten aus. Der Mann in Schwarz zuckte zurück und sah verunsichert zu Emilys Eltern zurück. Beide nickten. Was bedeutete das jetzt wieder!? Der Mann ging wieder langsam auf sie zu. „NEIN!“, schrie sie ihm entgegen und wie durch einen unsichtbaren Schlag flog er einige Meter nach hinten und schlug mit voller Wucht am Boden auf. Erschrocken wand Emily sich um, ob Christopher etwas getan hatte, doch er war immer noch wie gelähmt. Ihre Eltern waren sprachlos. „Emily, hast du etwa …?“ Ihre Mutter klang hoffnungsvoll und ängstlich zugleich. Emily zog ihre Augenbrauen fragend hoch. „Hab ich was?“ Sie bewegte sich immer noch nicht vom Fleck und erwartete eine Antwort. Doch jetzt schritt ihr Vater ein. „Zu gegebener Zeit erklären wir es dir. Komm jetzt.“ Er klang gelassen. „Ich gehe nicht ohne ihn weg! Vergesst es!“ Emily nahm seine steife Hand und er wurde wieder beweglich, obwohl der schwarzgekleidete Mann noch immer mit seinen rot glühenden Augen dastand und verdattert aufblickte, als seine Kräfte nicht mehr zu wirken schienen. „… Emily.“ Christopher sah sie über die Schulter hinweg an. „Ich will dir keine Probleme bereiten“, gab sie schließlich zu und drückte seine Hand leicht. „Wir sehen uns in der Schule?“ Er nickte nur und verschwand dann in der Dunkelheit. Emily ging wütend auf ihre Eltern zu. „Kleines … tut uns leid.“ Ihr Vater legte ihr im vorbeigehen eine Hand auf die Schulter und zog sie direkt zurück. Er keuchte wütend auf, als er verbrannte Stellen an seiner Handfläche entdeckte. „Schatz, weiß sie es schon?“, fragte Eva ihren Mann. „Nein. Sie ist sich nichts dergleichen bewusst. Aber sie grübelt, das habe ich sehen können. Sie versteht uns einfach nicht.“ „Verständlich. Langsam aber sicher müssen wir …“ „Ja.“ Albert nickte. „Die Zeit scheint zu kommen. Und am besten, bevor sie diesem Stone-Jungen näher kommen kann.“ Eva nickte ernst und sah ihrer Tochter nach. Emily eilte schnellen Schrittes voller Wut nach Hause. Dort angekommen, warf sie ihre Schuhe in die Ecke, zog sich unbeholfen und ungeduldig um und verschwand unter der Bettdecke in ihrem Bett. Sie war immer noch klatschnass, fror aber kein bisschen und konnte erst recht nicht schlafen. Zu viele Gedanken kreisten in ihrem Kopf. Sie war ihren Eltern immer so nahe gewesen, konnte ihnen alles erzählen und sie fingen sie immer wieder schützend auf. Doch heute Abend waren sie ihr entfernter als jemals zuvor. Beinahe wie Fremde. Diese Vorstellung machte ihr Angst. Sie waren doch beide ganz normale Menschen, wie sie auch. Trotzdem waren sie dort auf dieser Vampirfeier eingeladen und haben Emily auch noch mitgeschleift. Warum nur!? Wussten sie wirklich nichts von Vampiren oder verstellten sie sich? Doch wenn sie nichts davon wüssten, hätten sie sich niemals so benommen. Nie und nimmer. Also stand es fest: Eva und Albert hatten etwas mit der Vampirwelt zu tun. Und Emily hatte nie etwas bemerkt. Garnichts, um ganz genau zu sein. Und weil Vampire so gefährlich waren, wollten sie ihre Tochter beschützen. Verständlich, sogar für Emily. Doch sie wussten ja nicht, was Emily schon getan hatte … und das sollten sie auch nicht erfahren. Sie wollte nichts weiter verraten, was Christopher schaden konnte und musste einfach so tun, als wüsste sie nicht, was er war. Also durfte sie auch nicht allzu sehr bei ihren Eltern nachhaken und einfach abwarten. Doch ihre Eltern verrieten nichts. Das Thema wurde fallen gelassen. Sie fragten Emily nichts, sondern verhielten sich beinahe wie immer, wie eine ganz normale Familie. Das waren sie ja eigentlich auch. Die sonnigen Tage häuften sich fast wochenlang, obwohl der Winter unaufhörlich näher kam und Emily sah Christopher nie, als würde er nicht existieren. Sie trafen sich auch sonst nicht nach der Schule. Emily machte gegenüber ihren Eltern und Freunden keine Anstalten, ihn treffen zu wollen – äußerlich. Ihre Gedanken kreisten jedoch täglich um die Hoffnung, ihn sehen zu können und wurden jede Nacht, wenn sie im Bett lag, enttäuscht. Es gab kein Lebenszeichen von ihm. Doch sie hatte sich fest vorgenommen, dieses Thema erst einmal ruhen zu lassen, bis ihre Eltern es nicht mehr von ihr erwarten würden. Vielleicht dachten sie, es wäre aus zwischen den beiden, wo nie etwas hätte beginnen dürfen. Sie sahen ihre Tochter nur stets mit Anna und Tom ausgehen, Hausaufgaben machen und lernen, Videospiele spielen … alltägliche Sachen, die eine normale junge Erwachsene eben so tat und das schien sie zu beruhigen. Ein weiterer, sonniger Tag brach an und der Deutschkurs, in dem auch Anna, Tom und Emily waren, versammelte sich an diesem Morgen aufgeregt schnatternd im Klassenraum. Sie wollten heute den Skiurlaub in den deutschen Alpen in München planen. Tom war Kurssprecher und versuchte, die Menge zum Schweigen zu bringen. „So, LEUTE“, rief er und alles wurde still. „Danke. Also, wir wollten uns ja heute mal um die Skifahrt kümmern. Habt ihr alle schon das Geld auf das entsprechende Konto überwiesen?“ Einige nickten, andere bejahten laut. „Gut. Ihr wisst, dass wir am 20.11. fahren und das morgens früh um 6 Uhr. Seid also pünktlich, oder ihr bleibt hier. Der Zug wartet nicht.“ Emily sah ihn bewundernd an. Er konnte so gut vor vielen Leuten sprechen und sie konnte ihn sich sehr gut als Lehrer vorstellen. Aber er sprach nicht gelangweilt, sondern richtig motiviert und man hörte ihm gerne zu. Auch Anna hing an seinen Lippen, als Emily sie von der Seite aus beobachtete. Sie grinste in sich hinein. Die beiden waren mehr als ineinander verliebt, das sah sogar in Blinder. Doch Anna traute sich nicht, es ihm zu sagen und Tom spielte den Unnahbaren, der jede haben konnte. Wieso nur!? Es wäre doch so einfach für die beiden … aber sie machten es sich absichtlich schwer. Im Gegensatz zu ihr und Chris. Wäre es doch auch nur so leicht für die beiden. Doch es gab viel schwerwiegendere Probleme, die ihre Gefühle ins Abseits drängten und für unwichtig erschienen ließen. Wenn sie doch konkreteres wüsste … Aber Eva und Albert schwiegen dieses Thema so gut wie tot. Sie seufzte gedankenverloren und wurde prompt von Tom erwischt. „Emily, hast du einen Vorschlag für unsere Planung?“ Er grinste sie an. Sie verzog den Mund, antwortete aber: „Ich bin für eine große Schneeballschlacht!“ Keiner sagte etwas, doch alle starrten sie ungläubig an. „Oder auch nicht“, murmelte sie und schämte sich für diese kindische Idee. „Wie wär’s mit einer Schnitzeljagd? Dürfte im Schnee doch etwas besonderes sein, oder?“, schlug Anna mindestens genauso kindisch vor. Doch diesmal ging ein Raunen um und Tom nickte lächelnd. „Gute Idee, Anna. Dann darfst du auch überlegen, wie wir das machen sollen.“ Anna streckte ihm die Zunge raus und wandte sich zu Emily um. „Hilfst du mir mit der Planung?“, flehte sie. „Klar“, willigte Emily lachend ein. „Danke!“ Anna umarmte sie stürmisch und sie fuhren mit der Planung fort. Ob Christopher mitfahren würde? Er war ebenfalls in ihrem Deutschkurs. Und irgendwer musste ihn ja benachrichtigen. Doch Emily wurde aus den Gedanken gerissen, als Tom erwähnte, dass er Christopher angerufen hatte deswegen und der zugesagt hatte. Ihr Herz schlug mit einem Mal höher. Er kam mit? Sie würden sich wiedersehen? Nach schier endlos langen Wochen!? Sie musste ihre Jubelschreie zurückhalten und fing nur wie blöd an zu Grinsen. Endlich konnten sie sich wiedersehen, ohne verdächtig zu wirken. „Wie viele Tage sind es noch bis zum 20.?“, fragte sie Anna schnell. „Rechne doch. Heute ist der 10., also noch 10 Tage.“ Anna schlug sich gespielt auf die Stirn und tätschelte Emily den Kopf. „Armes Ding, Mathe ist echt nicht deins.“ „Nein“, lachte Emily überschwänglich. 10 Tage … wie unglaublich lang. Und der Wetterbericht zeigte kein einziges Tief an. Es war wie verteufelt. Als würde der Himmel ebenfalls nicht wollen, dass sich die beiden vorher in der Schule treffen konnten. Als es zur Pause läutete, saßen Emily, Anna und Tom wie immer an ihrem Tisch und aßen ihr Mittagessen. „Uhm, was glaubt ihr, kriegen wir in Deutschland da unten zu essen?“, fragte Anna beiläufig und biss von ihrem Apfel ab. „Würstchen, denke ich … und Brot und …“ Tom grübelte. „Halt dieses typische Bergessen, oder?“ „Brezeln …“, schwärmte Emily. Die mochte sie besonders, aber hier in der Gegend gab es nie besonders leckere davon. „Oh ja!“, stimmte Tom ein. Doch Emily driftete wieder einmal zu Christopher ab, während Anna und Tom weiter diskutierten und Pläne für die Fahrt machten. Dann fiel ihr mit einem Mal siedend heiß ein, was sie die ganze Woche über vergessen hatte und sie stand so schnell auf, dass ihr Stuhl umkippte. Anna und Tom sahen sie verwirrt an. „Was ist los, Emi?“ Emily war rot geworden und stammelte nur „I-ich muss weg … entschuldigt ihr mich im Unterricht? Sind ja nur noch zwei Stunden.“ Und ohne eine Antwort abzuwarten lief sie so schnell es ging aus der Schule und den Feldweg entlang, an dem sie wirklich Vollgas gab und innerhalb von fünf Minuten stand sie schnaufend an dem nur allzu gut bekannten Eisentor, das Eindringlinge von dem Haus abhalten sollte, was etwa 20 Meter entfernt stand. Sie drückte mit aller Macht gegen das Tor, was sich quietschend öffnete und lief den Weg entlang bis zur Eingangstür, an der sie zögernd stehen blieb. Es war fast Mitte des Monats. Zeit des Vollmonds. Christopher war dann noch ungezähmter, wenn er durstig war und sie hatten sich schon solange nicht mehr gesehen … Emily fasste sich mutig ein Herz und klopfte dreimal laut gegen die schwere, reichverzierte Holztür. Man hörte nichts von innen. Ob sie schon zu spät kam!? „Chris! Mach auf!“ Nichts. Wollte er sie nicht rein lassen? War es deswegen …? „Chris! Bitte! Oder Robin!“ Und bevor sie das nächste Mal klopfen konnte, öffnete sich die Tür, als wäre sie nie geschlossen gewesen und Robin stand nur in Boxershirts vor ihr. „Hey … was gibt’s? Es ist mitten in der Nacht.“ Er klang zu ihrer Überraschung mal nicht ganz so mürrisch wie sonst, obwohl er die Augen zusammen gekniffen hatte und müde aussah. „Sorry, ich wollte euch nicht wecken.“ Sie wich einen Schritt zurück. „Euch? Ich bin allein.“ Er rieb sich das linke Auge. „Wo ist denn Christopher?“, fragte sie verdattert. „Weg. Keine Ahnung, wohin. Aber schon seit gestern etwa.“ Emily stutzte. Wo war er denn hingegangen? „Und wann kommt er wieder?“, fragte sie gelassen. „Keine Ahnung. Mir egal.“ Emily seufzte und drehte sich herum, als sie am Handgelenk festgehalten wurde. „Willst du nicht noch etwas bleiben? Ich könnte mal wieder Gesellschaft vertragen.“ Emily stockte der Atem. Bitte!? Gesellschaft? Er? Oder wollte er sie nur benutzen und aussaugen? Aber sie wollte ihn schon seit langem besser verstehen und drehte sich langsam um. „Gut.“ Sie nickte und lächelte leicht. Er ließ sie eintreten und ging sich umziehen. Er war also doch zivilisiert, dachte Emily und musste kichern. Sie setzte sich auf die eine Sofahälfte und sah zu den Fotos hinüber, die den Kaminsims zierten. Irgendwann musste sie auch mal ein Foto mit sich und Chris machen. Dann hatte sie ihn wenigstens immer bei sich, wenn sie mal getrennt wurden wie jetzt gerade. „So, Madame, da bin ich.“ Robin glitt elegant an ihr vorbei und setzte sich mit ein bisschen Abstand neben sie. Doch anstatt ein Gespräch zu beginnen, stützte er seinen Kopf auf seiner Hand ab und starrte sie beinahe an. Emily fühlte sich mit einem Mal recht unwohl und räusperte sich. „Also, gibt’s etwas … das du bereden magst?“, fragte sie distanziert und fummelte nervös an ihren Händen herum. Er grinste in seine Hand hinein. „Nein, eigentlich nicht so. Ich dachte, du möchtest vielleicht reden.“ Emily sah ihn etwas verwirrt an. „Also … ich … was hat Chris gemacht die ganze Zeit?“ Robin stutzte und sah hinaus in den Garten, der ziemlich hoch gewachsen war. „Nichts.“ Seine karge Antwort verwunderte Emily. „Nichts heißt … gar nichts? Oder überhaupt nichts?“, hakte sie nervös nach. „Kein bisschen irgendetwas. Da es ja immer so sonnig draußen ist, konnte er nichts machen.“ „Aber … du?“ „Ja, ich gehe raus, egal bei welchem Wetter. Ich bin doch gern … unter Menschen.“ Er grinste. Emily machte einen verächtlichen Ton. „Aber er hat doch nicht diese paar Wochen nur hier drinnen verbracht und rein gar nichts getan!?“, bohrte sie weiter nach und setzte sich lockerer hin. Robin seufzte und rollte mit den Augen. „Ist das so schwer zu kapieren? Müsst ihr Menschen denn immer etwas tun? Nein, er hat NICHTS getan. Lag entweder im Bett oder saß hier auf der Couch. Hat aber nichts großartig gesprochen und auch kaum etwas gegessen. Und erst recht nichts getrunken. Besteht ja nur auf dein Blut.“ „Ich bestehe darauf“, korrigierte sie ihn. „Sonst matert er sich ja nur selbst, bis er schließlich den Verstand verliert und jemand unschuldiges angreift.“ „Genau.“ Sie schwiegen wieder, bis Emily die Sache mit der Vorladung einfiel. „Ach ja, was genau hast DU eigentlich auf dem Treffen zu suchen gehabt?“, kam Robin ihr zuvor und sie stutzte. „Ich war mit meinen Eltern da. Ein Arbeitskollege hatte wohl Jubiläum oder sowas.“ Robin sah sie scharf an. „Mhm“, machte er nur. „Aber es war nur ein Vorwand, oder? Es waren alles Vampire außer mir und meinen Eltern, richtig?“, sprudelte es nun aus ihr heraus und sie hatte sich ein Stück nach vorn gebeugt. „Absolut. Alle außer dir … und deinen Eltern.“ Er schnaubte, doch Emily registrierte es nicht wirklich. „Aber warum wollen sie mich von Chris fernhalten? Ich verstehe es einfach nicht …“, sagte sie mehr zu sich selbst als zu Robin und schüttelte den Kopf. Robin schmunzelte und hob ihr Gesicht an. „Vielleicht …“ Sie sah auf und blickte in seine glühend roten Augen, die nur ein paar Zentimeter von ihren entfernt waren. „Weil wir gefährlich sind? Könnte ein Grund sein, meinst du nicht auch?“ Er grinste und seine Fangzähne kamen zum Vorschein. Doch sie hatte keine Angst und sah ihn weiter fest an. „Aber nur, weil sie nicht wissen, was ich alles über Chris weiß, oder?“ Robin ließ von ihr ab, doch seine Augen glühten weiterhin. „Da gibt es soviel mehr, dass du sicher nicht weißt. Aber das wird auch kein normaler Mensch einfach so erfahren. Also mach dir darüber mal keine Gedanken.“ „Aber -“, entgegnete sie, doch konnte nicht weiterreden, da Robin sie rücklings umgeworfen hatte und sie mit dem Oberkörper über der Sofalehne schwebte und sich an ihm festkrallte. „Ich hab doch gesagt, dass es dich nichts angeht, oder?“ Sein Gesicht endete kurz über ihrer Brust und er starrte ihren Hals gierig an. Emily erinnerte sich daran, wie sie von ihm schon einmal gebissen wurde und dass es wehtat, anders als bei Christopher. „Robin, nicht“, keuchte sie, doch der hatte schon seine Zähne gebleckt und fuhr mit seiner Zunge über ihr Schlüsselbein bis hoch zu ihrer Pulsschlagader, die bedrohlich laut pochte und für ihn noch mehr Grund zum Beißen bot. Als er gerade seine Zähne an ihrem Hals ansetzte, hielt er inne und sah sie an. Für einen Menschen war sie eigentlich recht hübsch, doch ihr Blut war auch außergewöhnlich. Es war nicht normal, dass es jetzt schon so intensiv roch. Doch das war auch alles. Vielleicht hatte sie sich anders ernährt oder es war Christophers Einfluss, dass sie so stark duftete. Und als er schließlich zubeißen wollte, ließ ihn ein brennender Schmerz zurückweichen und er fiel zurück ins Sofa. Emily spürte nur, wie er von ihr gewichen war und sah ängstlich auf. „Ich geh besser.“ Sie stand hektisch auf. „Warte! Was genau bist du eigentlich?“, rief Robin ihr keuchend hinterher, als sie schon fast bei der Tür war. Emily stoppte und drehte sich missmutig um. „Was ich bin? Ein Mensch … oder was meinst du?“ Er sah verärgert aus. „Ein Mensch, der so stark riechendes Blut hat und einen verbrennen kann!? Niemals.“ Er schüttelte verächtlich den Kopf. Blut? Brennen? Was meinte er? Emily sah auf ihre Hände, doch sie waren ganz normal. Als sie wieder aufblickte, stand Robin vor ihr. „Raus mit der Sprache. Bist du eine Hexe oder sowas?“ Er sah sie ernst an und sie wich einen Schritt zurück. „Hexe? Ich hab keine Ahnung … sag du’s mir!“ Sie sah ihn unverhohlen an und wurde unruhig. „Du veralberst mich, nicht? Du musst doch wissen, wer und was du bist.“ Er ballte seine Hände zu Fäusten. Emily wich erneut zurück. „Nein, wirklich nicht, Robin. Ich habe keine speziellen Fähigkeiten. Kann ich jetzt gehen?“ Er schnaubte und ließ sie durch. Sie verabschiedete ihn und lief durch den Vorgarten. „Ich finde noch raus, wer du bist, Emily Brucker.“ Robin verschwand daraufhin wieder im Haus und es war wieder still. Emily trottete in unbestimmte Richtungen. Sie musste einfach nur nachdenken. Was hatte Robin gemeint, wer sie wirklich war? Und sie hatte ihn verbrannt, aber an ihren Händen war nichts zu sehen. Seltsam … Doch dann fielen ihr die vielen Male ein, als Vampire vor ihr zurückgeschreckt waren und sie nicht wusste warum. Robin, als er sie das erste Mal angegriffen hatte, war fauchend vor ihr zurückgewichen. Das war nicht Christophers verdienst. Er hatte zu weit an der Haustür gestanden, um ihn wegzuschleudern. Und dann nochmal in der Schule, wo Robin sie entdeckt hatte und er seine Hand schlagartig von ihr wegriss und meinte, sie habe wohl Zaubertricks angewendet. Aber wieso passierte es nur ihm? Christopher berührte sie doch auch und hatte keine Schmerzen!? Hexe … warum sollte sie eine Hexe sein? Nie hatte etwas auf so eine Art Wesen in ihr hingewiesen. Lächerlich. Kopfschüttelnd lief sie durch die Straßen und nach einer halben Ewigkeit drehte sie um und ging schließlich mit lauter ungeklärten Fragen nach Hause. Die Sonne war inzwischen hinter Wolken verschwunden, die laut Wetterbericht erst in der Nacht kommen sollten. Es wurde kälter und der Wind heftiger. Emily hechtete die Straße entlang und war froh, als sie im warmen Treppenhaus ankam. Ihre Eltern waren noch nicht Zuhause und sie kochte sich eine Tomatensuppe. Hunger hatte sie zwar nicht wirklich, aber sie musste sich aufwärmen nach dem langen, eisigen Spaziergang. Doch ihr schmeckte die Suppe kaum. Ihr Kopf tat schon beinahe weh von all den drängenden Ungewissheiten, die nicht geklärt wurden. Und warum war Christopher einfach weg? Wo war er denn hingegangen, ohne Robin davon zu erzählen!? Suchte er sich etwa Unschuldige zum trinken? All diese Fragen quälten sie die ganze Zeit und sie war damit allein. Die Sonne war an den kommenden Tagen wieder voll und ganz da und erstrahlte alles in hellstem Licht. Der Deutschkurs fieberte mit Ungeduld auf den Skiurlaub hin. Alle bis auf Emily. Es war kein schlechtes Wetter für den Süden Deutschlands angesagt und das volle drei Tage lang nicht – die Zeit, in der sie dort waren. Also würde Christopher wohl doch nicht mitkommen. Es war der Tag vor der Abreise gekommen und da alle Kurse morgen ihre Reise begannen, hatten sie früher Unterrichtsschluss. Dabei wollte Emily doch nichts mehr als Ablenkung von ihren Sorgen und Fragen, die nicht abnahmen. Als sie aus dem Fenster sah, war es mal wieder bewölkt gewesen, doch sie hoffte nicht darauf, Christopher zu sehen. Am besten machte sie sich erst gar keine Hoffnungen, dann würde sie auch nicht enttäuscht werden. „Und, schon gepackt, Emily?“ Tom klopfte ihr freudestrahlend auf die Schulter, während sie die Treppen ins Foyer hinuntergingen. Emily erwiderte sein Lächeln zaghaft. „Ja, so halbwegs. Will heute so groß nix mehr zu tun haben, daher hab ich das gestern Abend schon gemacht.“ „Ich noch nicht“, seufzte Anna. „Ich weiß gar nicht, wie viel ich mitnehmen soll …“ „Du packst das schon!“, munterte Emily sie auf und sie blieb abrupt am Treppenabsatz stehen, nachdem sie aus der Schule rauskamen. Ihr fiel die Tasche von der Schulter und Anna und Tom starrten sie perplex an. Er war wieder da. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)