The Hellman von Shub_Niggurath (The new Messiah) ================================================================================ Prolog: Prolog in der Ich-Form ------------------------------ Als ich ein kleiner Junge war, hat mich mein Vater bei der Hand genommen und gesagt: „Heute gehst du nicht in den Kindergarten.“ Da fragte ich, warum und er erzählte, dass heute ein toller Paradezug durch die Straßen der Stadt ziehen würde, was nur alle hundert Jahre zu einem besonderen Anlass passieren würde. Er meinte, ich müsse dieses wichtige Ereignis sehen und er ignorierte meine Angst vor Clowns und meine Fragen, warum Mama und meine Schwester nicht mitkamen, wenn diese Parade so besonders war. Papa war komisch an diesem Tag. Nicht wie üblich zerquetschte er fast meine Hand, wenn er sie hielt. Seine Haltung war nicht so aufrecht und stolz wie immer, sondern er ließ die Schultern hängen. Seine sonst kalten, blauen Augen waren traurig und irgendwie ängstlich. Ich glaube, er hatte auch Angst vor den Clowns. Und so etwas Besonders schien diese Parade auch nicht gewesen zu sein. Denn außer uns waren nur wenige Zuschauer da und all diese waren nur Leute, die zufällig vorbeigekommen waren. Es schien, als ob mein Papa und ich die einzigen waren, die gezielt hergekommen waren, und, dass nur mein Vater gewusst hatte, dass diese Parade überhaupt stattfand. Obwohl ich die ganze Zeit nicht von der Seite meines Papas wich, wollte ich unbedingt weg. Ich hatte doch schon Angst vor den normalen Clowns, und so gruselten mich jene dieser Parade, die schwarz geschminkt waren, nicht lächelten und Schwerter, Pistolen und andere Waffen in den Händen hielten, noch mehr. Mein Papa mochte es nicht, wenn ich Schwäche zeigte und so unterließ ich jeden ängstlichen Gesichtszug und versuchte nicht zu sehr seine Hand zu drücken. Er wusste, wenn ich seine Hand umklammerte, hatte ich Angst. Aber irgendwie schien heute mein Papa keine Lust zu haben seine Schwäche zu verbergen. Er seufzte und würgte regelrecht die Worte heraus: „Mein Sohn, wenn du erwachsen bist, willst du dann Menschen retten?“ Ich nickte. Ich wollte Arzt werden. „Willst du Retter der Gebrochenen sein?“ Ich nickte. Ich wollte Knochenbrüche heilen. „Willst du Beschützer der Schwachen sein?“ Ich nickte. Ich wollte Krebs heilen. „Willst du Verteidiger der Verdammten sein?“ Ich schüttelte den Kopf, weil ich nicht verstand, worauf er hinauswollte. Er seufzte wieder: „Weißt du, dass du einmal Lasten tragen musst, die nur der stärkste Mann der Welt tragen könnte, du aber immer ein Mensch und kein Held bist.“ Ich verstand das nicht. „Und du weißt, dass ich eines Tages, nicht mehr da sein werde.“ Ich verstand das auch nicht – aber welcher vierjährige denkt schon an den Tod? Auf einmal bannte mich der Anblick eines Mädchens auf einem Paradewagen, die ihr Gesicht mit einer Maske verdeckte, wie man sie in Venedig oft sieht. Sie hantierte tanzend mit einem Gewehr herum. „Man wird dir Bürden zuteilen, unter denen am liebsten zerbrechen würdest. Man wird dich mit Dämonen konfrontieren, die dein Innerstes nach außen kehren. Man wird dich zwingen, deinen Richtern, deinen Klägern und deinen Henkern zu helfen. Man wird dich hassen, demütigen, foltern und jagen.“ Er strich mir mit der anderen Hand über den Kopf: „Doch versprich mir eines, halte durch.“ Das Mädchen richtete den Lauf des Gewehres auf uns und ich verzog erschrocken das Gesicht. Die Waffe sah so echt aus. Papa nahm seine Hand von meinem Schopf und sagte: „Auch wenn ich in deinem kurzen Leben kein guter Vater gewesen bin, auch wenn du mir nicht glauben wirst, dass ich ab nun für dich da wäre, werde ich dir versprechen, dass ich immer in deiner Nähe sein werde, wenn auch nur als guter Geist, wenn du mir versprichst, dass du niemals aufgeben wirst.“ Ich richtete meinen Blick auf den Boden und nickte. Da ertönte plötzlich ein Schuss. Anscheinend war das Gewehr dieses verkleideten Mädchens wirklich echt gewesen. Ich zuckte zusammen, kniff die Augen zu und kam nicht darum herum, die Hand meines Vaters so fest zu drücken, wie ich konnte. Er schimpfte nicht wegen meiner Schwäche, doch als Strafe ließ er meine Hand los. „Nicht“, murmelte ich und sah zu meinem Vater, dessen lebloser Körper gerade rückwärts auf den Boden gefallen war. Die Kugel, die das Mädchen abgeschossen hatte, hatte ihn an der Stirn getroffen. Kapitel 1: Joshua Nazara ist tot -------------------------------- Er klopfte mit seinen schwarz lackierten Fingernägel auf die Tischplatte, kaute mit seinen vom vielen Rauchen gelben Zähnen auf seinen Lippen, und starrte auf den Sekundenzeiger der Uhr über der Tafel, dessen Ticken das einzige war, was er hörte, alles andere nahm er nur als undefinierbares Rauschen wahr, bis schließlich endlich ein Läuten den Unterricht beendete. Es schien eine halbe Ewigkeit gedauert zu haben, aber nun konnte er endlich diesen Möchtegern-Literatur-Experten die Meinung geigen. Der Lehrer schien nicht zu merken, dass Joshua auf ihn zustampfte, während die anderen Schüler aus der Klasse rannten. „Was soll das?“, fauchte er und knallte dem Lehrer die Schularbeit auf den Tisch, die seit kurzem ein großes, rotes „F“ zierte. „Ich hab das nicht verdient!“ Der Lehrer Kern hob die Augen, hörte aber nicht auf seine Unterlagen in die Aktentasche zu schlichten, während er sagte: „In meinen Augen schon.“ Joshua schüttelte den Kopf. „Können Sie mir dann wenigstens eine nachvollziehbare Begründung geben?“ „Sie schreiben wir ein Vierjähriger.“ „Das war doch auch meine Absicht. Ich war schließlich vier, als das passiert ist.“ Anscheinend hatte der Lehrer diese Offensichtlichkeit nicht herauslesen können, denn sein Blick war überrascht. Joshua fragte sich, was nur aus den Bildungsanstalten geworden war, wenn ein Lehrer ihnen etwas über Shakespeare und Joyce referierte, ohne anscheinend in der Lage zu sein, die Intuitionen seiner Schüler zu erkennen. „Nun, dann korrigiere ich mich – sie schreiben wie ein vierjähriger der versucht Adalbert Stifter zu imitieren. Die Gemeinsamkeit – beide können es nicht.“ „Wer zum Teufel ist Adalbert Stifter?“, platzt Joshua heraus. Der Lehrer verdrehte die Augen. „Tut mir leid, dass ich nicht das Interesse für französische Literatur aufbringen kann, wie Sie, aber... jetzt weiß ich es! Sie haben mich schlecht benotet, weil ich mich nur für englischsprachige Literatur interessiere.“ Kern rieb sich seine Schläfen. „Erstens, Adalbert Stifter war Österreicher, zweitens, nein. Ihr Text war wirklich mehr als miserabel. Schlechte Sprache, schlechter Stil, schlechte Rechtschreibung.“ „Es sind nur sechs Rechtschreibfehler und ein Grammatikfehler!“ „Nein, es waren acht zu vier.“ Bis jetzt hatte der Lehrer nicht an Joshuas Mathematikschwäche geglaubt, doch nun tat er es. „Außerdem war das Thema ein innerer Monolog über persönliche Auseinandersetzung mit dem Tod und nicht ‚Autobiographische Anekdoten über traumatische Ereignisse’.“ „Haben Sie es überhaupt gelesen? Ich beschreibe, wie mein Vater gestorben ist.“ Wieder machte er eine genervte Geste. „Wissen sie überhaupt, was der Unterschied zwischen einen inneren Monolog und einer Erzählung aus der Ich-Perspektive ist?“ Joshua fragte sich erneut, was aus den Bildungsanstalten geworden war, wenn ein Lehrer bei Schularbeiten etwas voraussetzen durfte, das gar nicht Thema des Unterrichts gewesen war. „Haben Sie verstanden, worauf ich raus will – Themaverfehlung ersten Grades!“ Der Lehrer stand auf, und warf dabei fast den Sessel um. Ihn ganz umzuwerfen war für eine kleine, schmächtige Figur wie diesen Mann nicht möglich. Joshua seufzte. „Können Sie mir dann wenigstens nicht anrechnen, dass ich etwas äußerst Persönliches beschrieben habe. Ich war noch nie so ehrlich!“ Jetzt platzte Kern der Kragen. Er ballte die Fäuste und schrie regelrecht: „Sie behandeln dieses Thema in Gedichten, die Sie im Internet veröffentlichen und versuchen mit dieser Geschichte bei jedem Mitleid zu erregen! Und jetzt reden Sie mir ein, dass Sie extra für mich ehrlich geworden sind!?“ „Und?“ „Ach Gott, lassen Sie mich in Ruhe!“ Kern drehte sich um, wobei er mit seiner riesigen Aktentasche ein Glas Wasser vom Tisch fegte, was ihn aber nicht weiter kümmerte und er stampfte aus dem Klassenraum. Was Joshua aber nicht davon abhielt, ihn zu folgen, um ihn weiter zu löchern. „Können Sie mir dann wenigstens sagen, ob ich positiv gewesen wäre, wenn das Thema ein... traumatischer Erlebnisaufsatz gewesen wäre? Unerwarteterweise blieb der Lehrer stehen, weswegen Joshua gegen seine Fersen trat. Der Lehrer Kern verdrehte die Augen. Er wusste, wenn er jetzt diesem nervtötenden Schüler nicht sagte, was eigentlich Sache war, würde ihn dieser Lümmel für immer zur Last fallen. „Nein. Zehn schwere Fehler, schlechter Stil, schlechte Sprache – aufgrund dessen werde ich Ihnen niemals glauben können, dass Ihr Vater tatsächlich diese letzten Worte gesprochen hat und dieses... Drama sich tatsächlich so abgespielt hat, wenn ich damals nicht Zeuge gewesen wäre.“ Pause. Er holte tief Luft und brüllte so laut, dass der ganze Gang es hörte: „Auch, wenn Sie es nicht glauben können, da Sie ja so sehr von ihrem literarischen Können überzeugt sind – Sie...“ „...haben kein Talent.“ Eigentlich erwartete er ein mitleidiges „Och“ von Rachel, doch ihre Mundwinkel zogen sich langsam nach oben und sie fing laut an zu lachen. Joshua verzog das Gesicht und warf die Zigarette, die er bis zum Filter geraucht hatte, auf die Straße. „Daran ist gar nichts lustig.“ „Tut mir Leid“, kicherte sie und wippte wie immer beim Lachen auf und ab. „Aber... ich weiß auch nicht... liegt wahrscheinlich daran, dass irgendwo was Wahres dahinter steckt.“ Sie holte tief Luft und riss sich zusammen. „Ehrlich, verglichen mit dem, was du sonst schreibst sind deine Schularbeitenaufsätze immer unter aller Sau.“ „Aber gemessen am Niveau der Nullen aus meiner Klasse, ist das hier nobelpreisverdächtig.“ Er schnippte gegen das Papier, das Rachel gerade mit einem Auge begutachtete. Das andere war auf Joshua gerichtet. Sie zuckte mit den Achseln. „Ich kenne das Niveau deines Kurses nicht. Aber ehrlich gesagt, ich hätte dir auch ein F dafür gegeben.“ Noch ehe Joshua Einspruch erheben konnte, fügte sie hinzu: „Solche Rechtschreibfehler erwartet man von Immigranten, die erst ein Jahr Kontakt mit der englischen Sprache haben.“ Er verdrehte die Augen und zündete sich die nächste Zigarette an. „Heißt das, du bist auf der Seite von diesem Wichser?“ „Teufel, nein... oder zumindest in der Hinsicht, dass ich das F unterstütze. Aber ich würde nie sagen, dass du kein Talent hast.“ Endlich war der belustigte Ton aus ihrer Stimme verschwunden. „Überhaupt, wie kann man einem Schüler so etwas ins Gesicht spucken. Ist es nicht Aufgabe einer Bildungsanstalt die Schüler zu fördern und zu inspirieren, anstatt zu demütigen und zu demotivieren.“ Joshua verzieh ihr in diesem Moment, dass sie ihn zuerst ausgelacht hatte, denn ihre miserable Meinung von den heutigen Schulen entsprach genau der seinen. Wegen dieser und anderer Meinungsübereinstimmungen war er schon so lange mit ihr zusammen. Sie gefiel ihm nämlich nicht. Er hatte sich immer eine Freundin mit dem Aussehen eines Supermodels gewünscht. Langes, dichtes Haar, große Augen, Schmollmund, groß, schlank – Rachel war das genau Gegenteil. Klein, mollig mit auslandendem Hinterteil und minimaler Oberweite, sowie ein wenig ungepflegt, war sie sicher keine um die man ihn beneidete. Bevor sie sich bei einer Schulfeier das erste Mal unterhalten hatten, mied er sie, weil sie ihn angeekelt hatte, doch während des Gespräches erkannte er, dass sie genau die Art von Freundin war, die er brauchte, denn sie war selbstsicher, klug und, auch wenn man es ihr nicht ansah, überaus optimistisch. Genau letzteres brauchte er, wenn man seinen melancholischen Charakter betrachtete. Immer, wenn er sich an seine frühere Meinung über sie zurückerinnerte, hasste er sich dafür so oberflächlich gewesen zu sein. Dabei hatte ausgerechnet er immer dafür gepredigt, sich nicht von Äußerlichkeiten irritieren zu lassen. Noch am Abend der ersten Unterhaltung waren sie das erste Mal im Bett gelandet und seither zusammen. Anfangs hatte er die Beziehung nur als Freundschaft mit Sex gesehen, doch nun, wo er all ihre Gemeinsamkeiten erkannt hatten, wusste er, dass er sie liebte. Nur leider hatte er keine Ahnung, ob sie dasselbe empfand. „Ich glaube, ich bin ihm unsympathisch“, antwortete Joshua ihr. Rachel zuckte mit den Achseln, und las sich die Schularbeit das zweite Mal durch. „Mag sein. Konservativ und oberflächlich wie er ist, wird er wahrscheinlich Probleme mit einem gepiercten und tattoovierten Jungen, der Schottenröcke trägt und sich schwarz schminkt, haben.“ „Dich mag er aber. Und du bist auch nicht gerade die Traumschwiegertochter eines Erzkonservativen.“ „Tja, ich habe eben Talent“, kicherte sie und als sie merkte, dass Joshua den Witz gar nicht lustig fand, umarmte sie ihn und legte ihren Kopf auf seine Schulter. „Nimm’s nicht so tragisch, hat es eben ein erzkonservativer Schullehrer auf dich abgesehen. Deswegen wird dir noch lange nicht der Weg zur Uni versperrt werden. Der Rest der Lehrerschaft mag dich schließlich.“ „Schon möglich, aber Englisch und Literatur sind eben die einzigen Fächer, für die ich mich auch begeistern kann. Und wenn man eben für seine Anstrengungen nicht belohnt wird, ist das mehr als frustrierend.“ „Auch, wenn wir beide der festen Überzeugung sind, dass Herr Kern keine Ahnung hat, wovon er unterrichtet?“ „Es hilft nicht viel, sich so was einzureden.“ Er zündete sich die nächste Zigarette an. „Mal ehrlich, ich hab das Gefühl, dass ich in meinem ganzen Leben nur Leuten begegne, die mich zu Boden drücken wollen.“ Rachel schlug ihn daraufhin auf den Hinterkopf. „Du bist natürlich eine Ausnahme.“ Darauf lächelte sie zufrieden. „Darf ich dir einen Ratschlag geben? Hör auf so selbstmitleidig zu sein. Jeder hat mit Menschen zu kämpfen, die einen demotivieren. Also scheiß auf die Meinung dieser Trottel und Kopf hoch.“ Als ob man Rachels Theorie beweisen wolle, schmiss man in diesem Moment einen halbvollen Pappbecher auf die beiden und ehe sich Joshua und Rachel versehen konnte, stanken die beiden nach Kaffe. Joshua sah angewidert auf seinen nassen Kilt und blickte dann auf den braungebrannten Schönling mit dem durchtrainierten Körper, dessen Gesicht ein breites Grinsen zierte. Nach einer Beleidigung, die keiner von beiden akustisch verstand, verschwand er. Rachel hob den Mittelfinger. Aber irgendwie war diese Attacke nicht das schlimmste, denn auf der anderen Straßenseite hatte ein Pärchen das Geschehen beobachtet, das überhaupt nicht zusammen passte. Der Mann, etwa sechsundzwanzig, mit blonden, langen Haaren und einer Art Schlafmütze auf dem Kopf, konnte sich vor Lachen kaum mehr halten. Auch wenn er keinen Beweis hatte, wusste Joshua, dass der Typ ihn und Rachel auslachte. Die Frau, eine blasse, schwarzhaarige Schönheit, zeigte jedoch keine Regung. Nicht nur wegen der Unterschiedlichen Ausstrahlung konnte man die beiden als Freaks bezeichnen. Joshua verdrehte die Augen. Jetzt wurde er schon sogar in den Augen von Exzentrikern, also von seiner eigenen Liga, ein Spottobjekt. Rachel wusste nicht, wie sie sonst auf Joshuas vorwurfsvolle Mimik reagieren sollte, und zuckte mit ihrem gewohnt zynischen Lächeln die Schultern. „Quod erat demonstrandum?“ Joshua verdrehte die Augen. „Okay, Themenwechsel. Weißt du schon, ob du am Wochenende sturmfreie hast?“ Das leidliche Thema des achtzehnten Geburtstags. Rachel hatte Verwandte in Deutschland, wo man eben nicht mit einundzwanzig, sondern schon mit achtzehn volljährig war, weswegen sie seinen Geburtstag in zwei Tagen als groß gefeiert sehen wollte. Doch Joshua hatte keine Lust auf eine großartige Party. Er hatte schließlich nicht einmal genug Freunde, für die er eine großartige Party veranstalten wollte. Neben Rachel zählte er nur seinen introvertierten Freund Paul zu seinem Freundeskreis, doch ob der seinen Computer zugunsten sozialer Kontakte verlassen würde, war fraglich. Nur diese beiden, und sonst niemanden, wollte er zu seinem Geburtstag sehen, niemals würde er die Sportler- und Chaerleader-Heinis an seinem Tag um sich herum akzeptieren. Und erst recht nicht diesen fünfzehnjährigen Nachbartrottel, der versuchte in die selbe Subkultur wie Joshua zu wandern, doch keine Ahnung hatte, was dahinter steckte außer die Farbe schwarz, der Totenkopf und das Petruskreuz. Höchstens noch seine Schwester würde er bei seiner Feier akzeptieren, wenn sie ihm versprach, nicht den ganzen Alkohol alleine zu trinken. Beziehungsweise wenn sie versprach nie wieder einen Tropfen Alkohol zu trinken. Doch ihm gefiel der Themenwechsel. So konnte er ihr klar machen, dass er heute eigentlich geplant hatte, irgendwo in der Öffentlichkeit mit ihr zu poppen, doch dann war das Thema Schularbeit angesprochen worden, und seine Geilheit war verschwunden. Aber nun kroch sie langsam wieder hoch, wenn er daran dachte, was er eigentlich an seinem Geburtstag vorhatte. „Mutter wird sicher nicht da sein, aber Angela wird uns auf die Nerven fallen.“ „Ich mag deine Schwester.“ „Ja, wenn man mir nicht ihr zusammenleben muss.“ Rachel kicherte wieder. Manchmal ging es ihm auf den Nerv, dass sie immer lachen musste, wenn er etwas ernst meinte. Er legte ihren Arm um sie. „Aber weißt du was, sie wird uns gar nicht stören, denn ich werde dich und mich in meinem Zimmer einsperren, Räucherstäbchen und Kerzen anzünden, die Fenster verdunkeln, und das Bett zu unserem Nest der Sünden machen.“ Woraufhin er ihren Hals küsste. Und wieder kicherte sie, doch durch das leichte Stöhnen als Unterton gefiel es ihm. „Die Idee gefällt mir.“ Pause. „Aber, nur wenn du mir versprichst nachher ein Fläschchen Absinth zu öffnen.“ Er lächelte, er hatte sic schon längst eine angeschafft, und hängte ihr einen leidenschaftlichen Kuss an die Lippen. Man sah ihnen zu. Beide mochten es, beobachtet zu werden, besonders von Leuten, die sie für Jünger Satans, oder sie für solche Freaks hielten, dass sie angewidert waren. Doch dieses seltsame Pärchen, das aus dem blonden Mann und blassen Frau bestand, starrte noch immer durchlöchernd auf sie, dass ihm die Nackenhaare zu Berge standen. Als er die Hitze ihres Körpers regelrecht in sich aufsog, läutete plötzlich das Handy in der Tasche seines Kapuzenpullovers, den er trotz der Frühlingshitze trug. Er riss sich regelrecht von Rachel los und knurrte, nach dem Abheben, in einer wütenden Tonlage, auch wenn er gar nicht gelesen hatte, wer ihn und warum man ihn eigentlich störte: „Was’n los?“ „Angela?“, flüsterte Rachel. „Schlimmer – Nein, Mutter, ich hab schon Schulschluss. Bei Rachel. Weil wir seit anderthalb Jahren zusammen sind. Wieso? Aber... Okay. Wieso soll ich nicht auflegen? Kannst du mir nicht alles erklären, wenn ich zuhause bin. Keine Zeit, okay. Warte.“ Er setzte sich auf, drückte Rachel einen Kuss auf die Wange, und flüsterte ihr neben den Worten, dass seine Mutter mal wieder vom Teufel geritten worden war, einen Abschied zu. Während er sich auf den Weg heim machte, erklärte ihm seine Mutter genauer, was sie von ihm wollte. Und das einzige, was ihm dazu einfiel, war: „Hast du...“ „...nicht mehr alle Tassen im Schrank?“, schrie er seine Schwester an, als er sie in seinem Zimmer auffand, mit der Absinthflasche in der Hand, die er für seinen Geburtstag um einen überteuerten Preis gekauft hatte. „Ich war trocken. Und was anderes Alkoholisches haben wir grad nicht.“ „Wieso gehst du dann nicht einfach um die Ecke in den Supermarkt und kaufst dir einen Wodka wie sonst.“ „Blasen an den Füßen“, war ihre schlechte Ausrede. Joshua verdrehte die Augen und nahm ihr die Flasche weg um das wenige zu retten, was sie noch nicht weg getrunken hatte. Angela lachte nur über ihn: „Entspann dich, Grufti-Bruder! Ich zahl dir eine neue.“ Er schniefte. Weil sie ja Geld hatte. Früher hatte sie sich ihren Luxus damit verdient Wertsachen heimlich im Internet zu versteigern, doch seitdem ihre Mutter dies herausgefundne hatte, waren die drei von achtzehn Stücken, die übrig geblieben waren, in einem Tresor in einer Bank verwahrt. Seither war Angela konstant pleite. Joshua zeigte auf die Tür. „Raus aus meinem Zimmer.“ Mit einem grinsen, nickte sie. „Ich bekomme hier sowieso Angst. Dass du unter all den Totenköpfen schlafen kannst.“ „Raus!“ „Schon gut.“ Sie war schon so betrunken, dass sie nicht mehr stehen, geschweige denn geradeaus gehen konnte. Nicht aus Mitleid, sondern weil er sie so schnell wie möglich loswerden wollte, stützte Joshua Angela beim Gehen, und geleitete sie in ihr Zimmer. Dreiundzwanzig Jahre war sie alt und schon eine Alkoholikerin, die ihre Familie beschiss. Sie war hochbegabt, sie hätte es problemlos nach Yale geschafft, doch nach ihrer Abschlussfeier hatte sie beschlossen, ihr Leben lieber zu einer riesigen Party zu machen, die sie sich nur mit der lieben Schwester Alkohol einbilden konnte. Ein Entzug hatte nicht geholfen, und ihre Mutter hatte sie schon oft rauswerfen wollen. Doch weil sich Frau Nazara dann doch nicht so hartherzig sein konnte, ihre eigentlich hilflose Tochter auf der Straße sterben zu lassen, wohnte sie noch immer im Einfamilienhaus. Irgendwie schien der Betrunkenen-Gang seiner Schwester ihn angesteckt zu haben, sodass er selbst nur mehr wanken konnte. Er setzte sich auf seinen Schreibtischsessel, schnappte sich die Fernbedienung seines CD-Players, die immer auf dem Schreibtisch lag, und drückte auf Play. Er wusste nicht, welche CD gerade rotierte, doch er war zu faul zum Wechseln. Zum Glück stellte sich heraus, dass die Musik gerade seine Stimmung unterstrich. Nachdem er sich einige Nummern plan- und gedankenlos mit dem Drehsessel im Kreis gedreht hatte, griff er nach einem Block. Er besaß Massen an Heften und Blöcken, doch nie hatte er genug, immer waren sie schon beschrieben oder mit Skizzen von einem Superhelden im Kilt, der noch keinen Namen hatte, beschmiert. Er musste drei Hefte durchblättern, bis er endlich eines fand, das nur zur Hälfte beschrieben war. „Innere Monolog...“ murmelte er. Joshua neigte zu Selbstgesprächen, wenn er niemanden zu reden hatte. „Wenn er mir den Unterschied erklärt hätte... Aber ich kann das... auch wenn ich nicht weiß, was das ist.“ Mit Kugelschreibern verhielt es sich ähnlich wie mit Blöcken. Duzende besaß er, aber nur zwei oder drei funktionierten. Als er endlich zu schreiben begann, war schon die Hälfte der CD durchgespielt, und er drückte auf Replay, ehe er ansetzte: Während ich hier sitze und schreibe, erkenne ich, dass mich das Kratzen des Kugelschreibers auf dem Papier nicht so beruhigt, wie es ich es erhofft hatte. Gibt mir das Schreiben oft das Gefühl, dass es meinen inneren Seelenschmerz heilt, hilft es mir nun nicht über das Gefühl der Einsamkeit hinweg. Vielleicht weil mir gerade zu viel auf der Seele liegt, um alles an einem Abend auf Papier zu bringen. Eine Zusammenfassung würde wahrscheinlich nicht reichen, denke ich. Ich kann es aber dennoch versuchen. 1. Es gibt keinen Menschen auf der Welt, der mir so viel bedeutet wie Rachel Simmons. Für niemanden würde ich eher meine Hand ins Feuer legen, als für sie. Für niemanden würde ich so viel tun, wie für sie. Jeden will ich enttäuschen, außer ihr. Doch genau das ist das Fundament einer Reihe von Ängsten – ich will alles tun, um sie glücklich zu machen. Ich will immer perfekt für sie sein. Sie ist der festen Überzeugung, dass ich meinen achtzehnten Geburtstag in zwei Tagen großartig feiern muss, sie wünscht sich eine Party. Ich will eigentlich gar nicht feiern, am liebsten würde ich diesen Tag verpennen. Doch das hieße, ich würde sie enttäuschen. Und das will ich nicht. Ich kann diesem Perfektionsdruck, den ich ihretwegen habe, nicht entkommen. 2. Aber wahrscheinlich werde ich gar nicht feiern können, weil meine Mutter unbedingt ein Familienfest machen will. Die komplette Bagage, Tante, Onkel, Cousins, Cousinen, Großeltern. Sogar die Eltern meines Vaters, die immer meckern, dass ich mir endlich anständige Klamotten, sprich keinen Kilt, tragen sollte. Obwohl meine Mutter für die schottische Hälfte meiner selbst verantwortlich ist, ist es ihr peinlich, dass ich immer einen Kilt trage. Vor allem, da sie noch immer Eindruck gegenüber ihrer snobistischen Schwiegereltern machen will, die sie hasst, die ich hasse. Ich habe mit ihr Länge mal Breite diskutiert, dass ich, wenn schon unter Gesellschaft, meinen Geburtstag mit meiner Freundin verbringen möchte. Sie hat es nicht verstanden, denn die Familie ist wichtiger als eine Freundin. Und da sie Rachel partout nicht leiden kann, darf sie natürlich auch nicht zu dieser Familienfeier mitkommen. Ich verstehe nicht, warum meine Mutter ausgerechnet heuer auf die Idee kommt, dass die Familie ein so wichtiges Gut ist, wenn sie schon jede Ausrede benutzt um die Weihnachtsfeiern zu schwänzen. Warum hat diese herumtriebige Anwältin überhaupt einmal Zeit für ihren Sohn? 3. Ich hasse den Rest meiner Familie sowieso. Sie bestehen nur aus Leuten, die nicht verstehen, dass ich jetzt noch keine Lust habe mich der Gesellschaft anzupassen, wenn ich das später, wenn ich einmal Arzt bin, sicherlich tun muss. Am widerlichsten sind meine Football-Cousins Christopher und Anthony, die meinen, sie dürften mich anspucken, mein Onkel väterlicherseits, der mich immer als Transvestit beschimpft, und natürlich meine Großeltern väterlicherseits. Der einzige coole ist der Vater meiner Mutter, doch seit einem Schlaganfall kann er nicht mehr sprechen. 4. Ich befinde mich nun in einem Zwiespalt von gar nicht Feiern wollen und den Geburtstag mit Menschen verbringen, die mir auf die Nerven gehen. 5. Ich fühle mich zu dumm für das Medizinstudium. 6. Seine Meinung sollte mir eigentlich egal sein, dennoch bereitet mir das Urteil vom Lehrer Kern über meine Schreibkünste Bauchschmerzen. Rachel hatte zwar Recht, ich bin immer schlechter, wenn ich unter Druck schreiben muss, doch viele freiwillige Texte, die nicht in einer Stresssituation entstanden, bewertete Kern nicht anders. Ja gut, er ist ein Trottel, doch sein Doktortitel wird nicht von ungefähr kommen, er wird schon seine Fähigkeiten im Interpretieren von Texten haben.............Ich kann nicht fassen, dass ich das Schreibe – erkennt man hier meine Selbstzweifel! Da dachte, ich hätte ein Talent auf literarischer Ebene und nun wird sie von einem Menschen, den man nicht kennt und von dem man nicht gekannt wird, mir nichts dir nichts zerstört. Nur wegen ihm, um zu beweisen, dass ich etwas schreiben kann, von dem ich nicht genau weiß, was es ist, konstruiere ich diesen inneren Monolog... 7. Es ist ein Fehler gewesen, den Tod meines Vaters derartig detailgetreu wiedergegeben zu haben. Denn jetzt habe ich wieder Alpträume deswegen. 8. Wieso kann meine verdammte Schwester nicht endlich die Finger von diesem Gift namens Alkohol lassen? Und wenn sie uns schon mit ihrer Sucht zur Last fällt, warum kann sie dann nicht wenigstens von meinem Gut fernbleiben? 9. Immer wieder frage ich mich, warum überhaupt eine Rangordnung in Schulen existieren muss. Im Grunde hatte ich nie etwas persönlich gegen meine Mitschüler, aber sie etwas gegen mich. Aber sie äußern sich nie, wenn ich frage, was für ein Problem sie eigentlich haben, sie scheinen jedenfalls mich so sehr zu hassen, dass es ihnen Spaß macht, mich zu stoßen und zu schlagen. Dabei habe ich nur eine etwas andere Denkweise. Ich blicke nicht auf sie herab, weil sie sich über zu wenige Dinge Gedanken machen, aber sie blicken trotz meiner Toleranz auf mich herab. Ich akzeptiere es, wenn ich ihnen nicht sympathisch bin, aber warum müssen sie mich dann quälen und schauen nicht einfach weg? 10. Und wieso zum Teufel sind die Menschen, denen ich sympathisch bin, Kinder, die noch nicht zwischen Gut und Böse unterscheiden können? Oder anders gesagt: warum muss dieser verdammte Lenny mir immer am Rockzipfel hängen? 11. Und paranoid werde ich auch noch, denn ich hatte das Gefühl dieses komische Paar, das heute Nachmittag mich und Rachel beim rummachen beobachtet hat, hätte mich auf Schritt und Tritt verfolgt. 12. Und warum ist Paul sein Computer wichtiger, als soziale Kontakte. Warum hebt er nicht einmal mehr von Telefon ab? Ich kann nicht mehr... „...weiter schreiben“, murmelte Joshua. Und das sagte er nicht, weil es schwerer wurde den Ballast abzuladen, als ihn weiter zu tragen, sondern weil er erkannte, dass es verdammt kompliziert war, etwas zu schreiben, von dem man nur vermutete, was es war, aber nicht wusste, was es war, und sich deswegen immer fragte, ob man die gestellte Aufgabe überhaupt erfüllte. Noch dazu war heute sein Schreibstil komisch. Als ob man schon einige Seiten und biographische Daten von ihm kennen würde, andere nicht. Als ob er sich jemanden beschreiben würde, der ihn seit heute Mittag beobachten würde. Außerdem verabscheute er das Selbstmitleid, das er gerade zu Papier brachte. Wütend riss er das Papier aus dem Block, zerknitterte es und schmiss ihn in den Mistkübel. Mit einem lauten Knall landete seine Stirn auf dem Schreibtisch und er stöhnte, weil es mehr wehtat, als er gerechnet hatte. In der ersten Stunde schon hatte sie eine SMS von Joshua bekommen, dass er heute nicht in die Schule kommen konnte, weil er seine Schwester ins Krankenhaus bringen musste, da sie von der Treppe gestürzt war. Schwer verletzt war sie eigentlich nicht, aber Maria, die Mutter der beiden, hatte darauf bestanden, dass sie von Ärzten auf eine Gehirnerschütterung untersucht wurde. Sie hatte ihm zurück geschrieben, dass sie ihn abholen, oder besuchen würde, je nachdem ob er sich nach Schulschluss noch mit Angela im Krankenhaus befände, oder nicht. Ohne sich großartig zu konzentrieren, schrieb sie das mit was Lehrer Kern über Tennessee Williams diktierte. Das hasste sie am meisten an seinem Unterricht, dass er ihnen immer vorschrieb, was sie über einen Dichter zu denken hatten. Die Vorstellung, dass der werte Herr keine Ahnung hatte, wovon er unterrichtete, half nicht viel. Zum Glück war diese die letzte Stunde, per SMS hatte sie Joshua vor kurzem gefragt, ob er noch im Krankenhaus wäre. Bis jetzt hatte er noch nicht zurück geschrieben. Der Unterricht endete, obwohl sie so schnell wie möglich aus der Schule wollte, wartete sie, bis die ganzen Mitläufer, die sie hasste, an ihr vorbeigezogen waren. Eine Idiotin mit dem Namen Cristina murmelte: „Wahrscheinlich ist sie mit ihrem fetten Arsch stecken geblieben.“ Und so laut, dass sie verstehen konnte fauchte sie: „Besser ein fetter Arsch, als ein molekülgroßes Gehirn.“ Darauf lachte Cristina nur. Als ob so eine Beleidigung eine Einserschülerin verletzen würde. Mal wieder musste Rachel einsehen, dass Äußerungen wie die Christinas sie mehr verletzten, als sie zugeben würde. „Miss Simmons, dürfte ich dich einen Augenblick sprechen.“ Als Kern sie ansprach, bereute sie es endgültig, so lange gewartet zu haben. Sie faucht: „Sehen Sie nicht ein, dass ich mich bei so einem dämlichen Spruch verteidigen muss.“ „Was für ein dämlicher Spruch?“ Rachel seufzte erleichtert auf. Kern war dafür bekannt, Sarkasmus mit Nachsitzen zu bestrafen. Gut, dass er sie nun doch nicht gehört hatte. „Nichts.“ Zum Glück interessierte es Kern gar nicht, was sie damit gemeint hatte. „Würdest du bitte nach vorne kommen?“ Sie gehorchte. „Aber schnell, ich hab es nämlich eilig.“ „Es wird schnell gehen.“ Aus seiner Aktentasche, die größer als er selbst war, holte er fünf Zettel heraus. Rachel erkannte an der Handschrift, dass es sich um einen ihrer Texte handelte. Sie schluckte. Hoffentlich hatte er nicht zu negativ auf den Dialog zweier Frauen reagiert, die darüber diskutierten, dass Frauen Sex immer passiv hinnehmen müssen. „Es tut mir leid, wenn meine Ehrlichkeit nicht in Ihr konservatives Denken hineinpasst, aber wenn Sie deswegen glauben, sie müssten mich deswegen zum Schulpsychiater schicken, haben Sie sich geschnitten. Ich werde niemals...“ „Bitte was?“, unterbrach der Lehrer Rachel, nachdem er kurz ihre Anschuldigungen hatte aufnehmen müssen. „Heißt das, Sie machen sich keine Sorgen über den ‚Dialog der Passivobjekte.’“ Kern schüttelte den Kopf. „Nein, Sorgen mache ich mir schon lange keine mehr, denn ich kenne schlimmere Texte von dir. Allerdings wollte ich tatsächlich über einen Essay von dir sprechen, nämlich ‚Warum wir schweigen’.“ „Ach, der Blödsinn...“ „Das ist gar kein Blödsinn. Die wirklich tollen Parallelen zu Wittgenstein haben mir außerordentlich gut gefallen.“ Rachel wusste gar nicht, dass sie in dieser flüchtigen Arbeit Parallelen zu Wittgenstein gezogen hatte, aber sie widersprach nicht. Wenn er so etwas hinaus lesen wollte, würde sie ihn nicht aufhalten. „Ehrlich gesagt fand ich die Arbeit fast schon zu gut für eine sechzehnjährige.“ „Ich hab das aber selbst geschrieben.“ „Was? Warum bildest du dir immer sofort persönliche Angriffe ein? Ich wollte nur fragen, ob du dein Einverständnis gibst, dass ein guter Freund von mir den Essay in eine Anthologie veröffentlichen wird.“ Auf einmal zierte ein riesiges Grinsen Rachels Gesicht. Sie hatte sich immer um Anerkennung für ihre schriftstellerische Arbeit gewünscht, und nun bekam sie sie endlich. Da sie so überwältigt war, konnte sie nur nicken. „Ich wusste, dass du einwilligen würdest.“ Er saß mittlerweile nicht mehr hinter dem Schreibtisch, sondern war aufgestanden. Der kleine Mann mit dem Spitzbart hatte die Hände in den Sakkotaschen vergraben, spielte mit irgendetwas darin und ging wie ein Tiger um Rachel herum. Dies machte sie nervös, doch wie immer überspielte sie ihre Ängste. Außerdem war die Freude über das Veröffentlichungsangebot noch immer überwiegend. „Ich wollte noch eine andere Kleinigkeit mit dir bereden.“ Sie seufzte. „Ich wusste es, Sie halten mich für verrückt.“ Darauf lachte der Lehrer. „Natürlich, aber jeder gute Literat ist ein wenig irre, sieh es als Kompliment. Das Thema streift aber ihre Verrücktheit ein wenig. Es geht nämlich um Joshua Nazara.“ Rachel verzog das Gesicht. „Wollen Sie sich eventuell bei mir dafür rechtfertigen, dass sie sagten, er hätte kein Talent? Würden Sie das bitte mit ihm persönlich besprechen. Ihre Meinung hat ihm im Übrigen sehr getroffen.“ „Tja, dann wird er sich noch längere Zeit verletzt fühlen, ich werde meine Meinung, dass er ein Versager ist, nicht zurücknehmen.“ Rachel wollte einen Einwand erbringen, doch Kern ließ dies nicht zu: „Ich mache mir Sorgen um dich. Er ist ein schlechter Umgang und könnte deine beispiellose Kreativität hemmen, wie nichts anderes.“ Rachel stampfte auf und fauchte: „Wie können Sie so etwas sagen? Sie kennen ihn doch gar nicht.“ Kern kratzte sich an der Wange. „Doch, doch, ich kenne ihn besser als er sich selbst und weiß mehr über ihn, als er über sich selbst. Nicht nur in Bezug auf seinen verstorbenen Vater.“ Rachel verzog das Gesicht. Es war ein offenes Geheimnis, dass Kern bei der Ermordung von Joseph Nazara anwesend gewesen war, doch dass er als stinknormaler Zeuge unter vielen mehr in Erfahrung gebracht hatte, als die Familienangehörigen, war zweifelhaft. „Glaub mir, Rachel Simmons, es ist besser für dich, wenn du in Zukunft nichts mehr mit ihm zu tun hast.“ Sie verdrehte die Augen. „Schwachsinn.“ „Kein Schwachsinn. Der Junge ist ein gefährliches Individuum, das all seinen Freunden und Verwandten großes Leid zufügt und es in Zukunft weiterhin tun wird.“ Er legte seine Hand auf Rachels Schulter, was sie anekelte, doch sie konnte ihn nicht abschütteln. „Früher oder später, wirst du wegen ihm sterben.“ Auch wenn sie sich einbildete, dass diese Hirnwichse, die dieser Mensch von sich gab, sie nicht berührte, lief es ihr doch kalt den Rücken herunter. Eventuell lag es an der Stimme Kerns. Er flüsterte nur und stieß so heftig Atem aus, dass Rachel das Gefühl hatte, ein Bulle würde neben ihr schnaufen. „Ich verspreche dir, wenn du mir heute noch versprichst, dass du nie wieder mit Joshua reden wirst, ihn nicht einmal ansehen wirst, wirst du den heutigen Tag noch überleben.“ Endlich konnte sich Rachel aus ihrer Paralyse reißen. Sie schüttelte mit einer ausholenden Geste Kerns Hand von ihrer Schulter und schrie. Sie wollte eigentlich nicht schreien, aber anscheinend hatte die Unsicherheit seit langem Kontrolle über sie gewonnen: „Stehen Sie unter Drogen? Was fällt Ihnen ein solche ... perversen Äußerungen von sich zu geben... und sich in mein Privatleben einzumischen! Das erfährt der Direktor! Der wird Sie feuern.“ Rachel wollte wütend aus dem Klassenraum stampfen, doch durch einen unerklärlichen Grund ging plötzlich die Türe vor ihrer Nase zu. Ein Windstoß? Egal. Sie drehte am Türknauf, doch der rührte sich keinen Zentimeter. Abgeschlossen? Wie das? „Das heißt, du hast nicht vor Joshua Nazara im Stich zu lassen?“ Sie drehte sich zu dem kleinen Mann um. Der plötzlich nicht mehr so harmlos aussah, wie üblich. Seine Augen glühten gelb, die Pupille war verschwunden. Ein unnatürlich breites Grinsen offenbarte das Gebiss eines Rotweilers. Sein Gesicht war von einem Schatten erfasst worden, der diese Aspekte betonte, sodass Rachel nur auf sie blicken konnte. Wodurch sich eine Angst in ihr aufbaute, die sie noch nie so heftig gespürt hatte. Und irgendwie hatte sie plötzlich die Gewissheit, mit einer Macht zu tun zu haben, die sie nicht verstehen konnte. In seiner Hand hielt der Dämon Kern ein Messer. Eines mit einer verdammt großen Klinge, das auf sie gerichtet war. Rachel wollte schreien, doch sie war wieder wie paralysiert. Ängstlich presste sie ihren Rücken gegen die Wand und zitterte unweigerlich. „Tja, muss ich wohl meine Drohung einhalten. Da du weiterhin zu deinem Joshua hältst, musst du die Strafe dafür zahlen.“ Auch seine Stimme hatte sich verändert. Aus dem sonstigen Quieken war eine dröhnende Bassstimme geworden, die den ganzen Raum zum Erbeben zu bringen schien. Rachel holte tief Luft, betete, dass sie sich aus ihrer Todesangst zumindest für eine Sekunde reißen konnte, damit sie etwas sagen würde, was sie nie zu sagen vermutet hätte: „Ich will meine Meinung noch ändern!“ Es klappte! Nur leider ergab sich nicht der gewünschte Effekt. „Zu spät.“ Er war mindestens zwei Meter von ihr entfernt. Er hätte gar nicht berühren können. Aber als er mit dem Messer ausholte, berührte die Klinge ihren Hals. Die Klinge war groß, und sie war scharf, aber ihr Erfolg hätte nie so groß sein können, dass dem über zwei Meter entferntem Mädchen gleich der Kopf abgeschnitten werden würde. Doch darüber konnte sich Rachel nur mehr in der Hölle darüber Gedanken machen. Denn das unmögliche war passiert. Eine Blutfontäne schoss in die Höhe, als ihr Kopf auf dem Boden gelandet war. Sie war tot. Ihr letzter Gesichtsaudruck spiegelte die blanke Angst wieder. Kern schüttelte sich. Das Dämonische aus seinem Gesicht verwand, das Messer warf er auf den Boden. Er nahm seine Aktentasche, und öffnete die Tür, ging aus dem Klassenraum, die Leiche ließ er unberührt liegen. Jeder, der auch nur kurz hineinschaute, sah das Blut und den toten Körper, doch das interessierte... ...ihn nicht. Besonders dann nicht, wenn es dieser dumme Nachbarjunge Leonard Brighton es erzählte. Deswegen hatte er auch nicht gar nicht zugehört. „Ich meine, muss ich mir so etwas wirklich gefallen lassen?“ Auch wenn Joshua keine Ahnung hatte, wovon der fünfzehnjährige geredet hatte, nickte er einfach. „Findest du es dann fair, dass der Lehrer nur mich bestraft und Curtis nicht?“ Wer zu Teufel war Curtis? Trotz des Unwissens nickte er und versteckte unter einem Gähnen die Aussage, dass der Lehrer sich unfair gegenüber Lenny verhalten hatte, und dieser Curtis eigentlich aus der Schule verweisen gehört. „Weißt du was, ich wünschte mir manchmal, dass ich wie Faust einen Pakt mit den Teufel eingehen könnte, doch ich würde mir nicht ewige Jugend, Reichtum und eine schöne Frau wünschen, sondern ich würde alle diese Idioten ins Exil schicken, wo sie auf ewig zu leiden hätten.“ Hätte Joshua zugehört, hätte er darüber gelacht, doch da er zu sehr neben sich stand um auch nur irgendwie auf die Worte des Zwerges einzugehen, bestätigte er, dass er das selbe tun würde, wenn er an seiner Stelle wäre, auch wenn Joshua niemals einen Pakt mit Satan eingehen würde, und erst recht nicht an die Hölle glaubte. Satan und Hölle waren für ein Symbol des Widerstandes und hatten absolut keine religiöse Bedeutung. Er war Atheist, es existierte für ihn wieder Gott noch der Teufel. Joshua rieb sich die Schläfen. Er konnte die quietschende Stimmbruchstimme von Leonard Brighton auch in normalen Zustand nicht ertragen, doch mit der Müdigkeit auf den Schultern, die er nun trug, war sie noch schrecklicher zu ertragen. Seine Schwester ins Krankenhaus zu bringen war nämlich eine anstrengendere Tätigkeit gewesen, als sich seine Mutter jemals vorstellen konnte. Angela hatte sich nämlich mit Händen und Füßen gewehrt das Krankenhaus zu betreten. Der Sturz, wegen dem sie hingebracht worden war, hatte außer ein paar blauen Flecken, keine Schäden verursacht, doch weil sie sich so hysterisch benommen hatte, hatte man beschlossen sie einen Tag im Krankenhaus zu behalten. Joshua hatte keine Ahnung, was sie dort mit ihr machen würden, ob man sie in die psychiatrische einweisen oder auf Zwangsentzug setzen würde, doch er war froh, dass er einen Tag lang seine Alkoholikerschwester los war. Leider würde er diese freie Zeit eher verpennen, als feiern, er wollte in sein Bett und auf der Stelle einschlafen. Doch jetzt quasselte ihn dieser dumme Nachbarjunge voll, während er, mittlerweile ein wenig panisch, seinen Schlüssel suchte, den er zuletzt in der Tasche seines Kapuzenpullovers gespürt hatte. Leider hatte er so viel Kram in den Taschen, dass er das zierliche Ding zwischen Handy, Geldbörse, MP3-Player, Minigetränkeflasche und Zigarettenpackung nicht fand. Hoffentlich hatte er ihn nicht verloren, sonst saß er im Stiegenhaus fest. „Jetzt mal im Ernst, wieso glaubt die Kirche noch Anhänger ihres lieben Gottes finden zu können, wenn Gott solche Arschlöcher wie Curtis produziert.“ Lange würde er dieses Gefasel nicht mehr aushalten. „Und Satan hat dann Mitleid mit den netten Menschen und bestraft dann die, die sie geärgert haben.“ „HA!“, platze Joshua heraus, und betrachtete glücklich den Schlüssel, den er gerade gefunden hatte. Leonard war zusammengeschreckt. Bevor der Zwerg auch noch irgendetwas sagen konnte, sperrte Joshua hastig die Tür auf und faselte irgendetwas von wegen, dass er keine Zeit hatte, weil er etwas für die Schule nachholen musste. „Kann ich vielleicht morgen...“ Obwohl er Unhöflichkeit hasste, knallte er dem Kind dennoch die Tür vor der Nase zu. Der kleine Wichser klopfte ein paar Mal gegen die Tür und rief Joshuas Namen, was diesen aber kalt ließ. Das Klopfen war zwar ein unangenehmes Geräusch, die Türglocke erst recht, aber irgendwann würde der Idiot schon die Geduld verlieren und verschwinden. Joshua warf auf die Couch sich im Wohnzimmer, welche das bequemste Möbelstück im Apartment, doch nur selten zu genießen war, da sonst immer Angela oder seine Mutter oder gar beide um ihn herumschwirrten. Er drehte den Fernseher an, es zwar neunzehn Uhr, um diese Uhrzeit lief die einzige intelligente Sendung im lokalen Nachrichtenkanal. Auf diesen schaltete er. Ein wenig Information über das aktuelle Tagesgeschehen würde schon nicht schaden, die meisten Leute meinten eh, er würde viel zu wenig Interesse am Welt- und Stadtgeschehen zeigen. Das erste Bild, das er sah, war das seiner Schule. Eine Stimme aus dem Off, deren Erzählung er mitten im Satz angestaltet hatte, faselte irgendetwas von einem brutalen Mord eines Lehrers an einer Schülerin. Joshua wurde hellhörig. Auch wenn er sich sicher war, dass er die Ermordete nicht kennen würde, berührt es einem doch sehr, wenn ein Mord an der eigenen Schule geschah. Insgeheim verfluchte er seine Schwester, dass sie ihn heute vom Schultag abgehalten hatte, dieses Massaker hätte er tatsächlich gerne gesehen. Den Mörder erkannte er jedenfalls, obwohl sein Gesicht verschwommen worden war und sein Name nicht genannt wurde – es war der Lehrer Kern. Er grinste, auch wenn es ihn entsetzte. Kern war der letzte gewesen, dem er die Tat zugetraut hätte. Er beurteilte zwar ungerecht, schickte Schüler wegen kleinster Vergehen, worunter auch harmloser Sarkasmus und das Lärmen mit Schulmaterial fiel, zum Nachsitzen, aber er konnte sich oft nicht durchsetzen und erst recht nicht laut werden. Joshua fragte sich, von welchem Teufel er geritten worden war. Die Nachrichten zeigten eine Aufnahme, wie er von der Polizei abgeführt wurde. Er sprach dabei kein Wort, noch wehrte er sich in irgendeiner Weise. Doch es dauerte, bis der Name der Ermordeten genannt wurde – eine gewisse Rachel S. Joshua schluckte. Obwohl es anscheinend zu persönlich für das Fernsehen war, das Gesicht eines Mörders zu zeigen, war es anscheinend okay das Foto des Opfers zu zeigen. Joshua sah in diesem Augenblick das letzte Mal das Mondgesicht, das überbreite Grinsen und die braunen Augen seiner Rachel – und das auf dem Fernseherbildschirm. Er glaubte, dass in diesem Moment sein Herz zum Stillstand gekommen war. Doch er war zu perplex um seinen Puls zu testen. Jedenfalls bemerkte er irgendwie, dass tatsächlich sein Atem ausgesetzt hatte. Seine Rachel? Die erste Regung setzte nach zehn Minuten ein, als der Bericht schon längst zu Ende gegangen war. Erst zitterten seine Hände, und dann bebte sein ganzer Körper. Seine Rachel? Seine Rachel war vom Lehrer Kern umgebracht worden? Dann schrie er. So lange und so laut, dass er heiser wurde. Seine Rachel? Dann platzten aus seinen Augen regelrecht die Tränen heraus. Er krallte seine für einen Jungen zu langen Nägel in seine nackten Oberschenkel um den Schmerz zu überspielen, es half nichts. Er schmiss sich auf den Boden, schrie und weinte solange weiter, bis irgendwer kommen würde, um ihn ohnmächtig zu schlagen. Seine Rachel! Seine Rachel war vom Lehrer Kern umgebracht worden! Der erste, dem die Schreie Sorgen bereiteten, war nicht Leonard Brighton, der einzige der sich gerade in dem Wohnbau aufhielt, weil er seinen coolen Nachbarn für einen Teufelsanbeter hielt, weswegen er glaubte Joshuas Geschrei sein Teil einer Art satanischem Ritual. Der erste, dem die Schreie Sorgen bereiteten, war ein exzentrisch aussehender Blondschopf, der mit seiner schwarz gekleideten Gattin in einer schwarzen Limousine saß, von der er aus die Wohnung der Familie Nazara beobachtete. Als das Geschrei begonnen hatten, wollte er aus dem Auto springen und dem schon genug geprügeltem Jungen helfen, doch seine Frau packte ihm am Kragen und er kam nicht los. „Ich weiß“, murmelte er. „Doch es ist unsere Aufgabe ihn zu beschützen.“ Sie schüttelte den Kopf. Nicht davor, hätte sie gesagt, wenn sie sprechen würde. „Woher weißt du, dass da oben kein Dämon versucht ihn zu vergewaltigen und dabei die Kehle durchzuschneiden?“ Sie machte nie auch nur eine Regung mehr als notwenig und auf diese Frage, die er sich selbst beantworten konnte, wenn er auch nur mal eine Minute nachdenken würde, ohne sich dabei von seiner Panik leiten zu lassen, würde sie als Antwort nicht einmal blinzeln. Die beiden spürten jede kleine paranormale Regung auf zweihundert Kilometer – einen Dämonenangriff zehn Meter entfernt war ein Kinderspiel. Er seufzte: „Wir haben alles umgebracht, was ihn auch nur irgendwie direkt umbringen würde. Wetten, sie haben jetzt Angst. Und wetten, sie versuchen es jetzt auf indirekte Weise.“ Auch so eine Frage ließ sich mit nur einem rationalen Gedankengängen von selbst beantworten. Das war keine Regung wert. Sie wusste, dass ihr panischer Gatte, der diesen Auftrag am liebsten ausgeschlagen hätte, nun keine produktiven Erkenntnisse mehr liefern, geschweige denn einen vernünftigen Satz sagen würde. Hart wie sie war, drehte sie sich von ihm weg und las in der Zeitschrift weiter, die sie nicht so sehr ablenkte, dass von hier aus keine Hydra umbringen könnte. „Du würdest auch gelassen bleiben, wenn er sterben würde“, knurrte der Blondschopf und streckte seinen Kopf aus dem Autofenster - eigentlich war diese Handlung viel auffälliger, als man ihnen erlaubt hatte. War es doch schon schlimm genug, dass Joshua neulich einen Blick geworfen hatte. Doch die Frau mit den Schwarzen Haaren sagte nichts. Die nächsten zwanzig Stunden würde schon nichts schief laufen. Leider sollte sie sich das erste Mal seit Jahren irren, denn eine introvertierte Person wie sie hatte eben keine Ahnung von der Psyche eines jungen Mannes, dessen Vater vor seinen Augen erschossen worden war, dessen Mutter ihn hasste, dessen Schwester eine Alkoholikerin war und dessen Freundin gerade geköpft worden war. Sein Abschiedsbrief war der: Nun weiß ich, dass es keinen Sinn macht, mich zu fragen, warum mir das widerfährt. Nun weiß ich, dass ich nichts tun kann, um all das rückgängig zu machen. Ich weiß aber, dass ich diesem Scheiß ein Ende setzen kann. *** Ich weiß nicht, warum mein Vater sterben musste. Ich weiß nicht, warum Angela Alkoholikerin ist und meine Mutter mich ausnutzt. Ich weiß nicht, warum mir Rachel genommen worden ist. Ich weiß nicht, warum alle Menschen, die ich liebe, sterben müssen, und ich weiß nicht, warum alle, die ich lieben sollte, mich nicht lieben und alles tun, damit ich sie nicht mehr liebe. Ich weiß aber, dass ich der Faktor ihres Todes ich bin und sein werde. Ich weiß, dass es immer Menschen geben wird, wegen denen ich hassen muss. *** Mein Vater nahm mich zu dieser Parade mit und bat mich durchzuhalten, auch wenn ich nicht der stärkste Mann der Welt bin. Ich kann dieses Versprechen nicht halten. Im Prinzip bin ich doch nur ein kleiner, dummer Junge, dem die natürliche Ordnung der Dinge einen schmerzenden Platz zugewiesen hat, und kein Held, der das alles tragen kann. *** Ich fühle mich unnötig, ich fühle mich fehl am Platz. Denn irgendwie habe ich das Gefühl, dass man mich woanders sehen will. Oder mich gar nicht haben will. *** Ich habe Angst weiterzuleben. Ich habe Angst noch mehr Menschen zu verlieren und weiter alleine durch die Welt zu gehen. Ich kann nicht mehr. Und ich kann nicht weiter schreiben, denn die Worte, die mir nun durch den Kopf gehen, wünschte ich nie gedacht zu haben und kann sie niemals zu Papier bringen. *** Ich bin ein Versager. Ich will nicht mehr leben. *** Tut mir Leid, Papa Um Punkt Mitternacht sprang Joshua von der Fensterbank und landete direkt vor den Füßen von Toraria und Jonathan Letherman, die ihn eigentlich vor den Tod hätten bewahren müssen. Gabriel X. Paradiso legte den Zettel mit dem Abschiedstext, den er hatte stehlen lassen, noch bevor Joshuas Mutter erfahren konnte, dass ihr Sohn tot war, bei Seite, wobei er sich bei dem Gedanken erwischte, dass der Junge das dichterische Talent einer Kartoffel hatte, doch seine Augen vermittelten die Stimmung, in der sich gerade befand: nackte Wut, wegen der er am liebsten den beiden gegenübersitzenden Personen die Köpfe abgerissen hätte, wenn sie so etwas getötet hätte. „Das war Toris Idee!“, platze Jonathan Letherman heraus. „Sie sagte, nur vor paranormalen Einwirkungen sollen wir ihn beschützen.“ In diesem Zusammenhang zeigte das ausdruckslose Gesicht von Toraria Letherman ausnahmsweise so etwas wie eine Emotion – diese Fehlkalkulation war ihr tatsächlich mehr als peinlich. Gabriel X. Paradiso ignorierte Jonathan: „Siebzehn Jahre lang läuft alles gut. Siebzehn Jahre lang haben wir all die Dämonen von ihm fernhalten können. Es gab Opfer, aber er blieb am Leben, aufgrund der Handlung eines senilen Greises, der sich gelegentlich immaterialisiert. Und dann übertrage ich die Aufgabe an zwei talentierte Killermaschinen, die jung im Kopf sind, und was passiert – vierzehn Stunden vor der Verkündung geht der Schwachkopf übern Jordan. Erklärt mir bitte, warum ihr es geschafft habt, Satans schlimmste Söldner abzuwehren, aber ihn nicht vor dem Selbstmord zu bewahren!?“ Jonathan zeigte noch immer auf seine Gattin, doch an eine verbale Schuldzuweisung dachte er nicht: „Nun ähm, woher sollten wir wissen, dass der Junge Depressionen hat... hatte? Man hat uns keine Hinweise darauf gegeben.“ „Seht ihn euch an – wer sich so anzieht und so einen Dreck schreibt muss unter Depressionen leiden! Ich hab gedacht, ihr habt so etwas wie gesunden Menschenverstand.“ Gabriel X. Paradiso musterte die beiden genau. Und dabei fragte er sich, wie er auf die Idee gekommen war, den beiden gesunden Menschenverstand zuzuschreiben. Der Alb Jonathan Letherman auf der einen Seite, der Kleidung an hatte, die wie ein Schlafanzug aussah und nun fast zu weinen schien, und die Magierin Toraria Letherman auf der anderen Seite, die kein Wort sprach und keine Emotionen zu haben schien, und deren Stammbaum so von Inzest verseucht war, dass sie ihre eigene Mutter sein könnte. Jonathan senkte den Kopf. „Tut uns leid. Tut uns wirklich leid.“ Toraria nickte sogar zustimmend. Gabriel X. Paradiso versenkte das Gesicht in den Händen. „Schon okay. Sehen wir das ganze einmal objektiv – Wir, nicht ihr. WIR haben einen Fehler gemacht. WIR dachten, die Feinde würden nur Angriffe direkt auf Joshua versuchen, doch wir haben die Tatsache übersehen, dass sie seine Psyche angreifen könnten und werden und ihn so in den Selbstmord treiben. Bringt ja auch Vorteile für die – Selbstmörder haben keine Chance in den Himmel zu kommen, was ihn automatisch auf ihre Seite bringt.“ Gabriel X Paradiso wurde gerade das komplette Ausmaß dieser Fehlberechnung bewusst. „Es war vor allem mein Fehler, dass diese Möglichkeit übersehen wurde. Noch dazu habe ich euch beauftragt, dass ihr so verdeckt bleiben müsst, dass er euch nicht einmal sieht – ihr hab euch nur an die Regeln gehalten, die Kontrolle seines psychischen Zustandes fiele eindeutig in die Kategorie des ‚Sich Zeigen.’ Also, wir alle haben Fehler gemacht. Es ist nicht nur eure Schuld.“ Jonathan seufzte, doch Erleichterung war keine zu bemerken. Auch Torarias Gesicht zeugte noch immer von der kaum sehbaren Mimik der Blamage. „Wir können nichts, daran ändern. Der Messias ist tot.“ Pause. „Der Messias ist tot.“ Noch längere Pause. „Und vermutlich in der Hölle. Wir müssen jetzt genau überlegen, wie wir fortschreiten sollten“, sagte Gabriel X. Paradiso. Doch der einzige Gedanke den er hatte, war: JOSHUA NAZARA IST TOT! Kapitel 2: Descensus Christi ad Inferos --------------------------------------- Als Joshua langsam die Augen öffnete, fragte er sich erst, ob er gerade aus einem grauenhaften Albtraum erwacht war, ehe er die er schrecklichsten Kopfschmerzen bemerkte, die er je gespürt hatte. Er setzte sich auf, glaubte, dass sein Gehirn in seinem Schädel auf und ab hüpfte. Er rieb sich die Schläfen, und während er auf seinen Kilt starrte, bemerkte er, dass sein Blickfeld vollkommen verschwommen war. Was er sich nun am meisten wünschte, war eine Zigarette. Anscheinend war er in seiner Tageskleidung schlafen gegangen. Alles – Geld, Handy, Schlüssel, Ausweis – befand sich noch in der Pullovertasche, wo er auch die Zigaretten herauszog. Leider hatte er nur ein kaputtes Feuerzeug bei sich, jedoch waren die Kopfschmerzen zu stark um ein anderes in seinem chaotischen Zimmer zu suchen, also versuchte er erst sein Glück mit diesem, auf dem ein Totenkopf und eine nackte Frau abgebildet waren. Während er hektisch den Feuerstein anregte, resümierte er den Tag, der nur verschwommen in seinem Gedächtnis zurückgeblieben war: Schwester ins Krankenhaus gebracht – mit Leonard Birghton gesprochen – erfahren, dass Rachel ermordet worden war – geschrieen – geweint – vom Fensterbrett gesprungen. Mittlerweile war er sich sicher, dass mindestens die Hälfe von diesen grässlichen Ereignissen Teil eines Traumes gewesen sein mussten, schließlich war das Finale zu unlogisch. Er konnte nicht aus dem Fenster gesprungen sein, ohne größere Schäden als Kopfschmerzen zu haben. Doch wo hatte nun der Traum angefangen? Wahrscheinlich nach seinem Gespräch mit dem Giftzwerg aus der Nachbarschaft. Er erinnerte sich, danach hatte er sich todmüde aufs Sofa gelegt. Er musste von Rachels Tod geträumt haben. Die Verzweiflung, die er in diesem Traum gespürt hatte, saß noch immer tief in seinem Knochenmark. So real hatte er noch nie geträumt. Irgendwie hatte er das Bedürfnis sich zu vergewissern, ob Rachel wirklich in Ordnung war. Die Zigarette war noch immer nicht angezündet. Egal, die Kontaktaufnahme mit seiner Freundin war nun wichtiger. Joshua zog das Handy aus der Pullovertasche. Kein Empfang. Komisch, in dem Apartment hatte er sonst immer vollen. Er legte das Handy bei Seite, wandte dabei seinen Kopf um. Und vor seinen Augen erschien plötzlich eine Flamme aus einem Sturmfeuerzeug. Joshua zuckte zusammen. Noch dazu wurden die Kopfschmerzen stärker. Er hätte nicht gedacht, dass eine Steigerung noch möglich war. „Willst du nun Feuer, oder nicht?“ Joshua kannte die Frauenstimme nicht, doch sein Appetit auf seine Zigarette war so groß, dass er sich erst wunderte, nachdem er den ersten Zug genommen hatte. Er rollte die Augen nach oben, der Anblick klarte und sah die Dame. Er kannte sie genau so wenig, wie ihre Stimme. Überhaupt – ein vergleichbar schönes Gesicht hatte er noch nie gesehen. Ihr Teint war dunkel, wie der einer Lateinamerikanerin, ihre Augen jedoch strahlend blau. Schwarzes, dichtes, lockiges Haar hing ihr über die Schultern, über die Brüste, die nur mit einem knappen Leder-BH bedeckt waren. Mit ihren feuerroten, glänzenden, vollen Lippen lächelte sie, ein wenig zynisch, aber es war dennoch angenehm und wohltuend. Ihr Gesicht war jugendlich, aber deswegen war sie noch lange keine Kindfrau. Ihre Fingernägel waren lang, aber gepflegt. Ihre Figur war perfekt – große, wohlgeformte, aber natürliche Brüste, schmale Taille, aber weibliche Hüften, kein Gramm Fett, aber sie war kein Knochengerüst. Ihre Haut glänzte, und würde sicherlich für die angenehmste Berührung seines Lebens verantwortlich sein. Trotz des wahrlich schönen Anblickes, schrie Joshua panisch: „Wer zum Teufel bist du?“ Keine Sekunde später: „Der Teufel.“ „Was?“ „Der Teufel.“ Sie steckte das Sturmfeuerzeug in die Tasche ihrer knappen Hotpants. „Nun ja, eigentlich Teufel in Vertretung, aber da mein Gatte schon seit dem Südenfall der Menschheit durchpennt und da ich schon so lange die Stellvertretung innehabe, hab ich mir die Herrschaft quasi ersessen.“ Joshua war so perplex, dass er für zehn Sekunden die Kopfschmerzen nicht bemerkte und seine Zigarette vergaß. War das ein schlechter Geburtstagsscherz? Hatte Paul ihm eine Nutte geschickt? Er sah sich um, und zu seinem Entsetzen erkannte er, dass er sich gar nicht in seinem Zimmer im elterlichen Heim befand. Er befand sich in einem feuerroten Raum, ohne Tür, ohne Fenster, ohne Einrichtung, außer einer Streckbank, auf der er saß. Joshua richtete seinen Blick auf die Frau. „Wo bin ich?“ „Hölle. Und ich bin der Teufel.“ Er ignorierte die Antwort. „Wie komme ich hier her?“ „Du bist gestorben. Aus dem Fenster geplumpst. Absichtlich.“ Das machte ihn hellhörig. Es kam die Erinnerung hoch, die er zuerst für einen Traum gehalten hatte. „Das ist jetzt ein schlechter Scherz...“ Die Frau zuckte mit den Achseln. „Ich kann’s auch nie nachvollziehen, wenn ein Mensch Selbstmord begeht, aber ich beklag mich nicht, denn siebzig Prozent der Sklaven machen Selbstmörder aus.“ Er schluckte. „Das kann nicht wahr sein.“ „Doch.“ „NEIN!“ Joshua sprang von der Streckbank auf, und taumelte aufgrund der Kopfschmerzen, doch er riss sich zusammen und glotzte die Frau wütend an. Trotz seines Zornes kam er nicht darum herum sie attraktiv zu finden. „Sag mir, dass das nicht wahr ist!“ Die Frau verdrehte die Augen. „Weißt du was, ich hab weder die Zeit noch die Lust mich mit dir über das Wesen der Wahrheit zu diskutieren. Wenn wir hier fertig sind, kannst du dich gerne mit Immanuel Kant, René Descartes oder Ernst von Glasersfeld unterhalten, die haben heute zufällig frei. Aber jetzt unterhältst du dich mit mir!“ Sie hatte eine schreckliche Autorität. Joshuas Angriffslust und seine Gier nach Antworten auf die Fragen waren mit diesen wenigen Worten niedergeschlagen worden, er gab nach, er ignorierte seine Wünsche, und nickte. Das stellte die Dame zufrieden. Sie reichte ihm die Hand. „Mein Name ist Lillith. Eigentlich nennen mich hier alle Ihre Majestät, Eure Hoheit und so ein Blödsinn, aber du darfst mich mit meinem Namen anreden.“ Er erwiderte die Geste. Ihre Haut fühlte sich genau so sanft an, wie er erwartet hatte. „Josh...“ „Joshua Nazara, ich weiß.“ Er sah sie überrascht an. „Schau nicht so belämmert. Ich bin der Teufel, ich weiß alles.“ Pause. „Du stehst wohl ganz schön unter Schock, oder?“ Joshua nickte. Diese Frau zwang ihn mit ihrer Autorität dazu die Wahrheit zu sagen. „Tja, tut mir Leid, ich werde darauf echt keine Rücksicht nehmen. Ich meine, ich bin der Teufel, denkst du wirklich, ich würde deine Schwächen nicht ausnutzen?“ Spätestens jetzt erkannte er, dass er absolut unterlegen war. Indirekt akzeptierte er auch somit, dass er gestorben war. Dass er Selbstmord begangen hatte. Wahrscheinlich aus Verzweiflung aufgrund Rachels Tod, doch er konnte sich nicht mehr an die genauen Beweggründe erinnern. Vielleicht war auch seine Schwester Schuld. Oder Lenny. Oder seine Eltern, sein Vater im Besonderen. War sein Vater nicht schon seit Jahren tot? Irgendwie waren plötzlich wichtige Details aus seinem Gedächtnis regelrecht ausradiert worden. An die Summe seiner Gefühle erinnerte er sich noch, doch das spezifische war verschwunden. Er warf seine Zigarette auf den Boden, trat sie aus, und sah der Frau, Lillith, in die Augen. „Was willst du von mir?“ Eine neutrale Frage, so schnell musste er seine Niederlage auch nicht eingestehen, auch wenn sie sie wahrscheinlich eh schon bemerkt hatte. „Dich endgültig zu seinem von uns machen.“ „Wer uns?“ „Die Hölle, Blitzmerker. Dämonen, in deiner Sprache. Leider ein sehr negativ behafteter Begriff, in unserer Sprache ist er neutraler. Sogar homophon zu eurem Wort ‚Engel’. Aber ich schweife ab... wahrscheinlich deswegen, weil ich keine Ahnung habe, wie ich beginnen soll. Ähm... die Sache ist relativ kompliziert. Ach, ähm...“ Sie kratzte sich am Kopf. Trotz ihres Stotterns gab es kein Zeichen von Unsicherheit. „Was weißt du über dich?“ Joshua verzog das Gesicht. Er hatte keine Ahnung, was er sagen sollte. Lillith trieb ihn mit einer Geste an. „Sag irgendwas. Alter, Eltern, sexuelle Vorlieben? Egal, ob ich es wissen könnte, oder nicht.“ Er schnaufte und würde erst Antworten, wenn er die nächste Zigarette rauchen würde. Lillith gab ihm wieder Feuer. „Mein Name ist Joshua Nazara und hasse es ‚Josh’ genannt zu werden. Augenscheinlich bin ich am Tag meines achtzehnten Geburtstages gestorben. Ich habe... hatte... eine Freundin, sie heißt Rachel Simmons. Ich bin starker Raucher. Ich versuche mich als Dichter und Schriftsteller. Amerikanischer Staatsbürger, spreche nur Englisch. Ich bin Atheist. Ich habe eine Schwester namens Angela, dreiundzwanzig, sie ist Alkoholikerin. Meine Mutter heißt Maria Nazara, gebürtige MacMeriam, mit achtzehn aus Schottland die USA ausgewandert, von Beruf Rechtsanwältin, römisch-katholisch, elf Jahre jünger als mein Vater, Joseph Nazara. Ein jüdischer Onkologe, sieht mir nicht ähnlich, als ich vier war im Alter von 43 bei einer Parade verstorben, wovon ich Zeuge wurde, Mörder bis heute nicht gefunden.“ Er nahm einen Zug. „Ich mag Metal, Literatur, moderne Kunst, Comics, spiele gerne Squash, mag Schach, rauche hin und wieder Marihuana. Ich hasse die Schule, neunzig Prozent der Menschheit, Mathematik und Physik, Religionen, meine Familie, Fernseh....“ „Schon gut, schon gut.“ Lillith fuhr sich über die Augen. „Hab ich alles schon gewusst. Ähm... du hast also keine Ahnung, dass du zu Höherem bestimmt sein könntest.“ Er sah sie fragend an. „Nicht mal der kleinste Verdacht? Nie irgendwelche komischen Leute um dich gesehen, Blitze während die Sonne schien, Kobolde, Drachen, ein großes, grünes Wesen mit Tentakeln im Gesicht?“ „Nein.“ „Scheiße.“ Pause. Sie gestikulierte wirr herum und setzte einige Male zum Reden an, bis sie schließlich eine von Joshuas Zigaretten klaute, und daraufhin wusste, was sie zu sagen hatte: „Ich red einfach Tachelles mit dir.“ Sie holte tief Luft. „Joshua, du bist der nächste Messias nach Jesus Christus.“ Über das Neue Testament kann man streiten. „Sprache von Proleten für Proleten“ meinen einige Philologen der Lebenden. Damit mögen sie im Großen und Ganzen Recht haben, doch das soll nicht unser Streitthema sein. Uns interessiert, was im Neuen Testament eigentlich geschrieben steht. „Es enthält Erzählungen über Wort- und Tathandlungen des Jesus Christus und ausgewählter, erster Jünger, insbesondere den Aposteln“ – so wird das Neue Testament in einem Internet-Lexikon beschrieben. Tatsache ist, man muss den Autoren zugestehen, dass sie den Wortlaut des Messias getroffen haben und seine Taten gut eingefangen haben. Doch die Beweggründe, den Hintergrund, die ganze Tragik um das Leben und Tod dieses armen Mannes wurden vollkommen aus dem Zusammenhang gerissen. Sprich, das Äußere ist korrekt, das Innere ist Humbug. Dies mag zwar auch daran liegen, dass Jesus selbst nicht alles über seine Bestimmung wusste und somit sich selbst falsch dargestellt hat, doch das soll später behandelt werden. Die Legende, er sei von einer Jungfrau geboren worden, kann man so bestätigen. Allerdings ist es ein Irrtum, dass er der „Sohn Gottes“ ist. Er hat überhaupt keinen Vater, die Mutter, sie heißt immer Maria in verschiedenen Sprachen und Variationen, hat ihn aus sich selbst herausgeboren. Solche biologischen Wunder passieren alle tausend Jahre. Jesus war allerdings der erste, der nicht als Missgeburt aus dem Mutterleib herauskam. Noch bevor Adam das Licht der Welt erblickte, wurde nach einem langen Friedensgespräch zwischen Gott und Satan, schließlich der Pakt geschlossen, dass die Waffen, abgesehen von kleinen, für die Ordnung der Dinge kaum spürbaren Konflikten wie der zweite Weltkrieg, solange niedergelegt werden, bis ein solches Kind das Licht Welt erblick. Denn dieses Wunderkind ist mit einer solchen Macht ausgestattet, dass es den Kampf endgültig zur Entscheidung bringen kann. Kann, nicht muss. Wie wir aus dem Ende des Jesus Christi erfahren, kann auch weiterhin ein Unentschieden bestehen. Jedenfalls, dieses Wunderkind muss sich für eine Seite entscheiden – dieses geschieht nicht freiwillig. Je nachdem, wie er sich charakterlich und moralisch entwickelt, zieht ihn seine eigene Lebenseinstellung auf die passende Seite. Wird er zum „schlechten“ Menschen, wird ein Ereignis passieren, dass ihn vor seinem achtzehnten Geburtstag töten wird. Schließlich wird er sich in der Hölle wieder finden, ausgebildet werden und an deren Seite kämpfen, den Himmel vernichten und das Reich der Lebenden unterwerfen. Überlebt er seinen achtzehnen Geburtstag, wird er von Engeln besucht, die ihn seine letzten Lebensjahre auf den Pfad der Tugend führen werden, sodass das Wunderkind nach einem natürlichen Tod die Hölle zerschlagen und die Erde erlösen wird. Trotz dieser mehr oder weniger schicksalhaften Entscheidung ist es den Parteien nicht unmöglich in seine Entwicklung einzugreifen. Die Hölle demütigt ihn, führt ihn in Versuchung, macht ihm die Sünde schmackhaft, versucht gar ihn zu töten. Der Himmel baut ihn auf, schenkt ihm die richtigen Freunde, versucht ihn zu beschützen. Vor dem achtzehnten Geburtstag können, dürfen, sollen beide Parteien eingreifen - Jesus Christus konnte vom Himmel überzeugt werden. Doch das heißt noch lange nicht, dass die Hölle deswegen dem Untergang geweiht ist. Ein natürlicher Tod des Wunderkindes ist erforderlich, dass er für den Himmel kämpfen darf und die Hölle darf alles daran setzen ihn ermorden zu lassen. Der Teufel und sein Gefolge hat es damals geschafft seine eigenen Jünger gegen ihn aufzuhetzen und ihm so sein trauriges Ende zu bescheren. Jetzt vegetiert der Kleine zwar im Himmel vor sich hin, lebt in absoluter Glückseeligkeit, doch die entscheidende Schlacht kann er nicht mehr führen. Wie es zum Mord an ihn kam – Nur ein wenig Populismus und war er schon vielen Leuten ein Dorn im Auge, sodass sie seinen Tod forderten. Der Himmel konnte denn Anhängern leicht vorspielen, er sei ein Held gewesen, doch in Wahrheit wurden auch sie zu Marionetten, die mit wenigen Worten und Behauptungen dazu gebracht werden konnten ihn zu hassen, ohne genau eine Begründung für ihren Groll gegen diesen armen jungen Mann zu finden. Man vergleiche die Leugnung des Petrus. Frag einen, der die Kreuzigung von Jesus Christus gefordert hat, er wird dir nicht sagen können, warum, so auch der erste Papst. Dass ein religiöser Kult um Jesus Christus aufgebaut wurde, war ein unbeabsichtigter Nebeneffekt, vermutlich lag es an der tragischen Art, wie er gestorben ist, und dass er im Endeffekt doch zähe und mutige Jünger hatte. Aber wäre der Kerl eines natürlichen Todes gestorben, hätte sich kein Schwein für ihn interessiert, geschweige denn ihn als Religionsgründer bezeichnet. Ironisch an der Sache ist jedoch, dass dieser Martyrertod dem Satan zu verdanken ist, einer Figur, die seine Anhänger hassen. Wie gesagt, Jesus entschied sich für die Seite des Himmels. Dass es zu den ganzen Gleichnissen und heiligen Taten kam, war aber seine eigene Entscheidung. Er hätte das Gute nicht schon zu Lebzeiten unter den Menschen verbreiten müssen, nach der letzten Schlacht, die wohl oder übel für den Himmel ausgegangen wäre, denn der Mann war zu perfekt, als dass er als Krieger und Feldherr versagt hätte, hätte die Menschheit automatisch die Gesinnung des Himmels angenommen. Vielleicht haben auch die Engel ihm diesen Ratschlag gegeben, doch im Prinzip ist diese Frage egal. Durch das eigene Geschwafel war es für die Hölle jedenfalls einfacher die Menschheit gegen ihn aufzuhetzen. Vielleicht hat er auch seine Bestimmung falsch verstanden, nachdem die Engel sie ihm erklärt haben. Man muss nämlich sagen, dass die Aufklärung nicht unparteiisch ablaufen kann. Gerade der Himmel neigt dazu sich besser darzustellen, als er eigentlich ist. Vermutlich gilt dies auch für die Hölle, aber aus ihrer Perspektive ist das auch mit Allmacht nur schwer zu beurteilen. „Sprich, das was ich dir eben gesagt habe, kann stimmen, muss es aber nicht, es kommt auf die Sichtweise an. Doch im Prinzip ist die ganze Hintergrundgeschichte auch egal, das Schicksal hat dich zu uns geführt und in ein paar Jahren musst du uns in die letzte Schlacht anführen.“ Als sie fertig geredet hatte, lag Joshua auf dem Boden. Die Informationen waren zu heftig gewesen, er war müde, uns seine Kopfschmerzen machten sich auch wieder bemerkbar. Leider hatte er während der Schilderung alle Zigaretten aufgeraucht, jetzt sehnte er sich noch mehr nach einer. Lillith legte den Kopf zur Seite. „Du hast es besser aufgenommen, als ich eigentlich vermutet habe.“ „Ich will sterben“, jammerte Joshua. „Geht nicht, du bist schon tot.“ Sie beugte sich zu ihm herunter und tätschelte ihm lächelnd an der Stirn. „Ruh dich aus, kleiner Mann, ich lasse dich auch gerne eine Stunde alleine, wenn du dir alles alleine noch einmal durch den Kopf gehen lassen willst. Wünschst du dir etwas?“ „Medikamente gegen Kopfschmerzen.“ Sie nickte. „Zigaretten. Und einen Stift und einen Block.“ Lillith schnaufte. Nach dem Tod kannte man sich selbst prinzipiell immer besser, als man es zu Lebzeiten konnte. Deswegen musste sich Joshua auch fragen, warum er eigentlich Selbstmord begangen hatte. Als er auf dem Fenstersims gestanden hatte, war er noch der festen Überzeugung gewesen, er täte es, weil er ohne Rachel nicht mehr leben könnte. Und jetzt sah er seine Familie als weiteren möglichen Faktor, wahrscheinlich sogar als den eigentlich ausschlaggebenden. Aber trotz dieser radikalen Erkenntnis, hier sich noch immer für einen Dichter und Schriftsteller, auch wenn sein „Talent“ noch ausbaubedürftig war. Aber nach Höllenschock drückte sie ihm diese Meinung lieber nichts ins Gesicht. Sie fasste sich zwischen die eng zusammengepressten Brüste und holte die gewünschten Utensilien heraus. Joshua konnte es sich nicht verkneifen ihr dabei auf die Oberweite zu glotzen. „Angenehme Ruhe“, sprach Lillith. Sie schnippte und eine riesige Stichflamme aus dem Boden umfasste ihren Körper. Das Licht brannte in den Augen Joshua kniff die Augen zusammen. Nachdem er sie wieder öffnete war die attraktive verschwunden. Joshua nahm auf der Stelle die Tabletten ein. Und tatsächlich, die Kopfschmerzen waren weg! Um sich zu vergewissern lag er noch ein paar Minuten auf dem Boden. Schließlich zündete er eine Zigarette an und fing, auf dem Rücken liegend, zu schreiben an, auch wenn in dieser Handschrift seine Schrift noch grässlicher war, als sonst: WHAT THE FUCK!?! Das kann doch nicht sein!!! Das ist doch alles nicht wahr! Das kann nicht real sein! Das kann... Verdammt, ich könnte stundenlang schreiben, wie sehr mich diese Situation gerade überfordert und wie sehr ich nicht glauben kann, dass dieser Scheißdreck wahr ist, aber irgendetwas in mir sagt, dass dieser groteske Blödsinn realer ist, als alles, was ich bisher empfunden habe, über mich gedacht habe. Ich habe das Gefühl, dass ich selbst nie realer war, dass mein eigener Körper sich nie so wahrhaftig angefühlt hat. Es ist regelrecht so, dass ich meine Gedanken und Vorstellungen fast anfassen kann. Ich meine, ich habe mir vorgestellt, wie ich diese Frau, die sich als der Teufel bezeichnet, flach gelegt habe, und weiß plötzlich nicht mehr, ob das nun eine Fantasie gewesen ist, oder eine reale Begebenheit. Doch ich fühle mich de facto nicht so, als ob ich gerade Sex gehabt hätte, außerdem spricht die Tatsache dagegen, dass ich noch vollständig angezogen bin, und keine Erinnerung habe, mich an- oder ausgezogen zu haben. Was zum... Scheiße, was schreibe ich da gerade für einen Blödsinn? Wieso versuche ich gerade meine Gefühle und Gedanken in Worte zu fassen, obwohl ich es nicht kann? Ich kann dieses überwältigende Irgendwas, das gerade passiert, nicht beschreiben. Irgendwie glaube ich, ich habe kein Talent... Wieso zum Teufel schreibe ich diesen Dreck? Bin ich nicht mehr selbstsicher gegenüber meiner schriftstellerischen Fertigkeit? Wo ist mein Selbstbewusstsein? Dieser Ort hat etwas so Magisches an sich. Er zwingt einen irgendwie zur Selbsterkenntnis. Fuck... Gott, was schreib ich da von Magie, negiere ich nicht solche Phänomene? Gott, ich glaube... „Dein Weltbild ist gerade zusammengestürzt“, sprach eine Stimme aus dem Off. Drei Sekunden später erschien wieder die Flamme, welche Joshua diesmal anzusehen ertrug. Lillith erschien wieder. Einiges hatte sich an ihr verändert. Ihre Haare waren nun dunkelblond, sie trug eine Brille, und die Kleidung war von sexy auf bieder gewechselt. Aber es war eindeutig Lillith, er hätte diese Ausstrahlung blind wieder erkannt. „Das passiert allen. Man erholt sich hier allerdings auch leicht von jedem Schock. Und man fühlt sich schneller zu einem Menschen verbunden. Geht es dir besser?“ Joshua nickte. Er war überrascht, dass sie schon wieder da war. Die Stunde, die sie ihm versprochen hatte, war sicher noch nicht vergangen. Laut seiner Uhr allerdings schon. „Ach, erstens, es ist noch so klug hier das Wort ‚Gott’ zu benutzen. Zweitens, wir haben miteinander geschlafen, als ich dir die Geschichte von Jesus erzählt habe.“ Er riss die Augen auf, wollte eigentlich etwas sagen, aber er wusste nicht was, also biss er sich auf die Lippen. „Die Sache mit Wahrnehmung, Erinnerung und Empfindung läuft hier etwas anderes, alles ist hier etwas erweitert. Du brauchst eine Zeit lang, bis du dich daran gewöhnst.“ Dann kicherte sie. Joshua wusste noch immer nicht, was er sagen sollte, also kaute er auf seinen Lippen. Schweigen war gut. Besser war, überhaupt gar nichts zu tun. Und am besten war es anscheinend nicht einmal zu denken. Lillith reichte ihm die Hand. „Komm mit, ich führe dich rum. Deine neue Heimat.“ Joshua zögerte. Nichts sagen, nichts tun, nicht denken. Sie lachte, und ihr Lachen war ein sehr angenehmes Geräusch. „Keine Angst.“ Schon wieder unterlag er. Joshua nahm ihre Hand, und das, was er jetzt spürte, müsste einem Hirnschlag gleichgekommen. Als der Schmerz verschwunden war, riss er sich von Lilliths Hand los. Was zu dem nachteiligen Effekt führte, dass er auf den Hintern fiel. Die Dame amüsierte sich wieder. Und ihre Klamotten hatten sich schon wieder verändert. Sie sah aus, wie Maria Antoinette, wie sie in seinem Geschichtsschulbuch abgebildet war. „Das beeindruckt die Untertanen“, erklärte sie. Mir einer Geste bat sie Joshua sich umzusehen. Er stand auf, sah sich um. Und wusste nicht, ob ihn der Anblick faszinieren, oder schockieren sollte. Es sah hier genau so aus, wie in schlechten Horrorfilmen die Hölle gerne dargestellt wurde. Das Innere eines Vulkans stellte man sich ähnlich vor. Die beiden standen auf einer Steinbrücke, die über einen Lavasee führte. Der Dampf und die Hitze trieb Joshua Tränen in die Augen und ließ ihn schwindelig werden. Doch er erkannte die vielen Wesen, die hier schufteten, oder an Foltermaschinen gekettet waren. Es waren eigenartige Kreaturen. Sie als Brandopfer, Mutanten oder Missbildungen, wenn sie überhaupt humanoid wirkten, zu bezeichnen, war eine Untertreibung. Viele hatten zwei oder drei Extremitäten mehr, verformte Köpfe, oder waren mit Metall oder Pflanzen verschmolzen. Einige Lebewesen, wenn man sie bezeichnen konnte, schienen aus Flüssigmetall zu bestehen. Und manche sahen aus, wie perverse Hybriden von Reptil und Säugetier. So faszinierend es war, ihm wurde schlecht von dem Anblick. Ob nun der Ekel daran schuld war, oder die überwältigende Wahrnehmung konnte er nicht ausmachen. „Die Waffenschmiede“, sagte Lillith und ging los. Joshua folgte anstandslos. „Zuerst wird man dir die passenden Waffen zurechtmachen. Prototypen gibt es schon, du musst sie nur mehr testen.“ Lillith wandte sich zu einem großen Mann-ähnlichem Wesen, dessen Körper vollständig mit Nadeln übersäht, aber ansonsten nackt war, zu. Er schwang eine Peitsche. Mit einem lauten Knall berührten die drei Enden jeweils einen Rücken eines Arbeiters. „Tantalizer! Schieb das Schert rüber.“ Die groteske Figur gehorchte und binnen einem Sekundenbruchteil hatte sie das Schwert in der Hand. „Tantalizer ist ein Sklave des Schenkers, ein Mensch, der ohne zu sterben in die Hölle gelangte und dem unterworfen ist, der ihm etwas schenkt. Binnen dreißig Jahren hat er sich zum besten Waffenschmied hochschenken lassen. Jetzt bin ich seine Herrin.“ Sie kicherte und reichte Joshua das Schwert. Nach einem kurzen Zögern nahm er die Waffe, die aus glänzendem Silber bestand, die Flammen spiegelten sich einwandfrei darin. Es fühlte sich toll an, der Griff passte perfekt in seine Hand. Es war leicht und obwohl er noch nie ein Schwert in seiner Hand gehalten hatte, fühlt es sich sehr vertraut an. Er betrachtete sein Spiegelbild darin – noch nie hatte er sich für so hübsch gehalten. Von seiner eigenen Schönheit verführt, berührte er kurz und leicht die Schneide. Sofort blutete er. „Passt besser zu dir, als ich erwartet hätte. Der Tantalizer ist eben ein Spezialist.“ Sie warf dem Nadel-Mann ein Lächeln zu, was er nicht bemerkte, er scheuchte weiter seine Sklaven. Aufgrund ihres Lächelns, fragte sich Joshua, ob sie mit ihm eine Affäre hatte. „Deine Knarre bekommst du später. Ich will dir jemanden vorstellen, der für die nächsten fünf Jahre dein Trainer und deine Ansprechperson sein wird.“ Mit einer Geste bat sie Joshua mitzukommen. Er folgte. „Sein Name ist Erik der Rote. Als er vor ungefähr tausend Jahren starb, fing er hier als kleiner Soldat an. Heute gilt er als einer der besten Ausbilder und Strategen, welche die Hölle zu bieten hat. Aus seiner Schule kommen die fähigsten Rekruten, sie alle machen Karriere. Seine Methoden sind zwar hart, aber er hat auch viel Verständnis und kennt die Limits seiner Schützlinge...“ Während sie redete, wobei sie den Mann sehr lang und schwärmerisch beschrieb, sicher auch einer ihrer Liebhaber, machte sich Joshua ein Bild von ihm. Er stellte sich einen drei Meter großen Recken, mit roter Haut, wildem, blonden Haar, acht Armen und einem Schlangenschwanz vor, der in Fellklamotten auftrat. Sein Gebiss würde sicher mit Reißzähnen versehen sein, seine Augen wütend rot glühen, eventuell trug er als Talisman einen abgerissenen Kopf mit sich. Doch Erik der Rote sah ganz anders aus. Die einzige Überseinstimmung war, dass er groß war. Doch er wirkte harmlos, fast freundlich mit seinem alten Gesicht, in seinem Anzug, mit dem Spazierstock und dem Hut, der die Augen dank seinem Schatten verdeckte. Joshua und Lillith hatten mittlerweile die Waffenschmiede verlassen und waren durch eine Tür (keine Teleportation, oder was auch immer die Teufelin ihm vorhin angetan hatte!) in eine Art Büro getreten. Von draußen hörte man aber noch immer die Geräusche des Sklavenbetriebes. Vorhin war Joshua das Geschrei der Arbeiter gar nicht aufgefallen, aber nun dröhnte es umso lauter in seinen Ohren. „Ist das der werte Herr Messias?“ Die Stimme Eriks dem Roten war unangenehm. Sehr hoch, sehr leise, sehr gruselig. Lillith nickte. Joshua reichte ihm die Hand, doch der alte Sack dachte nicht einmal daran sie zu nehmen. „Habt Ihr ihm schon alles geklärt, Eure Majestät.“ „Nur, was ich für wichtig hielt. Den Rest überlasse ich Ihnen.“ Sie tätschelte Joshuas Schulter. „Ich lass euch jetzt alleine. Falls du Fragen hast, wende dich an Erik, und wenn er dir nicht antworten kann, ruf einfach meinen Namen. Auch, wenn es dir nur um Sex geht.“ Sie berührte seine Nasenspitze. „Du bist eigentlich ganz süß.“ Joshua biss sich auf die Lippen. Da er noch immer Zweifel daran hatte, dass er mit der Teufelin geschlafen hatte, hätte er das Angebot jetzt schon gerne angenommen, doch vor seinem vermeidlichen Ausbilder wollte er sich lieber zusammenreißen. Sie verschwand mit Hilfe dieser Flamme. Joshua und Erik der Rote waren alleine. Eine unangenehme Stille zwischen den beiden herrschte. Mit verschränkten Armen lehnte sich Erik der Rote gegen den Schreibtisch, der Schatten des Hutes versteckte noch immer seine Augen. Er schmunzelte. Joshua fragte sich, was so lustig war. „Keine Ahnung von Paranormalem scheinst du zu haben. Armer, kleiner Thor. Sonstige Mitglieder unserer Gemeinschaft hatten mindestens kleinsten Kontakt mit einem der unsrigen. Aber du – du bist eine Jungfrau.“ Joshua errötete. „Doch ein Schwert hältst du schon in deinen Händen. Kannst du es halten, kannst du es führen?“ Joshua nickte. Bei der Sprache, die der Herr wählte, hatte er Angst sich mit seiner Wortwahl zu blamieren. Noch dazu bekam er, wenn er nervös war, einen aufgesetzten, schottischen Akzent. Vor Lillith war ihm das egal gewesen, schließlich hatte sich nicht gerade majestätisch ausgedrückt, aber dieser Kerl ließ ihn ungebildet wirken. Er hätte besser nicht bejahen sollen. Erik der Rote hob den Kopf und Joshua blickte in seine Augen. Jetzt sah er das übermenschliche, das dämonische an ihm – aus dem Schatten herausblitzende, rot glühende Augen. Er war so gebannt von diesem Anblick, dass er die sichelförmige Schneide gar nicht sah, die Erik der Rote auf ihn zu warf. Im letzten Moment riss er das Schwert in die Höhe, zuckte zusammen. Die Klinge prallte an der Schneide ab, doch der Gegenstoß war so stark, dass Joshua mal wieder auf sein Gesäß viel. „Großartig.“ Erik der Rote hatte wieder das Gesicht gesenkt und die Augen waren wieder verdeckt. Go...Teufel sei dank, dachte Joshua und stemmte sich in die Höhe. Die Sichel erschien in der Hand des Roten. „Perfekt war dein Reflex, doch grazil war nicht. Doch mit Übung der Kunst lässt sich das Problem leicht lösen.“ Pause. „Dein Schwert passt zu dir, du kannst es führen, nur leichte Befremdlichkeit bemerke ich in deinen Augen. Ich erkenne, an dir muss man viel arbeiten, doch du bist leicht zu formen. Deine Vielseitigkeit ist eines Messias würdig.“ Joshua starrte seinen Ausbilder perplex an. Das alles hatte er aus einem Reflex herausgelesen? Erik der Rote deutete hinter sich und Joshua entdeckte einen Türknauf, der aber zu keiner Tür gehören zu schien. Sein Ausbilder behauptete aber Gegenteiliges: „Hinter dem Portal befindet sich ein Raum. In diesem steht ein Bett. Leg dich nieder, schlaf dich aus, mit der Übung beginnen wir erst morgen. Schlaf gut, stärke dich, erhole dich vom ersten Tag in der Hölle. Morgen wird ein schwerer Tag für dich.“ Die Dunkelheit wurde von einem Licht zerstört, ausgehend von einem großen Loch in der Mauer, das langsam größer wurde – tatsächlich öffnete sich gerade ein Portal. Joshua fühle sich von dem Licht nahezu magisch angezogen. Magie?... ja, das hier war Magie. Ohne sich von Erik dem Roten zu verabschieden schritt er auf das Licht zu. Als er über die Schwelle trat, fiel er, fiel in ein Wolkenmeer. Er hätte nie gedacht, dass dieser Ort auch schöne Seiten haben könnte, außer dieser begehrenswerten Frau namens Lillith, die der Teufel war. Doch so bequemer, als der weiche Untergrund, auf dem er landete, konnte er im Himmel auch nicht sein Im Gedanken an Lillith und seinem Abstieg in die Unterwelt, schlief er ein. Und am nächste Tag begann der Weg der Tortur. Körperliche Anstrengungen, die zu Schmerzen führte, deren Nachwirkungen er für immer spüren sollte. Lillith hatte Recht gehabt, Erik der Rote war ein harter Ausbilder. Doch in seiner Sache hatte sie sich geirrt, sein Ausbilder erkannte die Grenzen seiner Schüler nicht. So oft Joshua ihn anflehte mit den harten Kraftübungen aufzuhören, so oft verweigerte der alte Sack es ihm die Übung zu beenden, ihm zu helfen, als Strafe für jeden Mucks schien er das Niveau zu erhöhen, auch wenn Joshua es nicht halten konnte. Psychologischem Terror war Erik der Rote auch nicht abgeneigt. Doch trotz der immer höheren Ansprüche hatte Joshua das Gefühl, dass er niemals besser wurde. Er hatte das Gefühl, gar nicht gut sein. Erik der Rote äußerte sich nie über Joshuas Talent, doch Begeisterung er zeigte er keine. Und man konnte nicht sagen, dass Erik der Rote ein Wesen war, das nicht sagte, was es dachte, dass nicht tat, was wollte, das nicht zweigte, was es fühlte. Und das schlimmste war, Joshua war alleine. Man schien ihm keinen Kontakt zu anderen Höllenbewohnern zu erlauben, niemand hatte er mit dem er reden konnten, denn Lillith kam ein- von fünzigmal, die man sie rief. Joshua hatte keine Idee, warum dies so war, und Antworten auf diese Fragen gab man ihm auch nicht. Doch jeden Tag sagte er sich, dass die erste Ausbildungszeit auf fünf Jahre begrenzt war, dann müsste er seine erste Prüfung auf der Erde bestehen. Je nach Erfolg durfte er aufsteigen, oder musste die ersten fünf Trainingsjahre wiederholen. Den ganzen Scheiß noch einmal machen, wollte Joshua nicht. Doch er beschloss, für den Auftrag länger als die Bestzeit zu brauchen. Die Bestzeit war für den Aufstieg in die nächste Trainingsstufe nicht erforderlich. Bevor er die Prüfung in Angriff nehmen wollte, wollte er sich lange ausruhen, vielleicht auch wenig Kontakt mit Menschen haben. Doch auch wenn Lillith und sein Ausbilder behaupteten, dass die Zeit hier genau so schnell verging, wie auf der Erde, nahm er sie noch immer anders wahr, sodass sich die fünf Jahre wie tausend anfühlten. Jeden Tag freute er sich mehr auf seine Prüfung unter den Lebenden. Hätte Joshua in die Zukunft blicken können, wäre er vorsichtiger mit seinen Wünschen gewesen. Kapitel 3: Der Mann aus der Hölle --------------------------------- Der Tag war so anstrengend gewesen, wie der Tag davor, worüber er sich glücklich schätzte, denn eine weitere Steigerung des Schwierigkeitsgrades hätte er nicht mehr ertragen. Zwar dachte er das täglich, doch irgendwann musste es auch ein Ende geben. Täglich hieß es schwerere Gewichte zu stemmen, täglich längere Routen zu rennen, täglich mehr Blitze abzuwehren, täglich mehr Kampf-Dummies zu töten. Der mathematische Unendlichkeitsbegriff hatte ihn immer überfordert, aber nun glaubte langsam er diese begreifen zu können. Er warf sich auf sein Wolkenbett, das er mittlerweile als nicht mehr weicher als ein normales Bett empfand. Allgemein zusammengefasst, konnte man sagen, er habe sich schon an die Wahrnehmung in dieser Sphäre gewöhnt. Ihm war gar nicht aufgefallen, dass er sich auf ein Kuvert gelegt hatte – nachdem er es gehörig zerknittert hatte, zog er es unter seinem Rücken hervor. Das Kuvert war schwarz. In goldenen Lettern war dick und verschnörkelt war Wort PRÜFUNGSAUFGABE als Relief zu sehen. Er grinste vor sich hin. Endlich waren die fünf Jahre um! Und er dachte, dass dieser Zeitraum niemals vergehen würde. Doch alles hat ein Ende. Und in einem Kreislauf befand er sich zum Glück nicht. Kichernd öffnete er es und zog das ebenfalls schwarze Papier heraus. Auch darauf war die Schrift golden, und geschrieben von (er konnte es nicht fassen) Lilliths Hand, doch der Wortlaut erinnerte eher an Erik dem Roten: Schnell ist die Zeit vergangen und aus dem unbeholfenen Jüngling ohne Kenntnis seiner Kräfte und seines Talents wurde ein fähiger Krieger, der zum Aufstieg in den nächsten Rang des Militärs als würdig zu sehen ist. Nun liegt es aber an dir zu beweisen, dass du würdig bist und das Gelernte auch einsetzen kannst. Und dazu musst einen Auftrag in der Welt der Lebenden meistern. Die Aufgabenstellung ist im Beilegenden Zettel formuliert. Wenn du dich bereit siehst, sprich die Worte „Ascendo ad Terram“ und du wirst dich in wenigen Sekunden an dem Ort befinden, wo du einst aus dem Leben geschieden bist. Wir erwarten von dir ein erfolgreiches Ergebnis und ein baldiges Wiedersehen. Gezeichnet, Lillith und Erik der Rote Aufgabe: MORD Opfer: LIAM CHRISTOPHER WARRICK Klassifizierung: MENSCH Alter: 24 Aufenthaltsort: USA, KEIN BESTIMMTER WOHNSITZ, KEIN BESTIMMTER AKTIONSBEREICH Begründung: MENSCH, DER OHNE TALENT ZU PARANORMALEN FÄHIGKEITEN ZUR WELT KAM UND SICH AUCH KEINE UNNATÜRLICH ANEIGNETE– HATTE SCHON IN SEINER KINDHEIT MEHRFACH KOTAKT MIT DÄMONEN, VAMPIREN, ENGELN UND ANDEREN PARANORMALEN WESEN – HOLTE SICH AUS UNBEKANNTEN QUELLEN KENNTNISSE ÜBER DIE EXISTENZ VON HIMMEL UND HIMMEL – MISSINTERPRETATION DER QUELLEN – SIEHT SICH NUN ALS „KÄMPFER GEGEN DIE PARANORMALE ÜBERMACHT“, WIE ER ES SELBST BEZEICHNET – MITTELS PARANORMALER WAFFEN, DIE ER SEINEN OPFERN ABNIMMT, TÖTETE ER OFT UNGERECHTFERTIG MEHRERE UNSERER ART UND HAT VOR DIESER TÄTIGKEIT NOCH LÄNGER NACHZUEGEHN Mindestzeit: UNBEGRENZT Höchstzeit: 2 JAHRE Erlaubte Mittel: KÖRPEREIGENE KRÄFTE, UNBEGRENZT, SOLANGE DIE VORBEHALTE BEACHTET WERDEN – DAS SCHWERT „DISCORDIA“ – DIE 10MM AUTO PISTOLENPATRONE „ERIS“ Gestattet: SOZIALE KONTAKTE, AUCH MIT DER GEGENSEITE – GELEGENHEITSBERUFE – NENNUNG DES WIRKLICHEN NAMENS, DA UNAUFFÄLLIG Vorbehalte: PARANORMALE FÄHIGKEITEN DÜRFEN NICHT FÜR MENSCHEN ERKENNTLICH SEIN – DIE GEGENSEITE DARF NICHT ERFAHREN, DASS SIE ES MIT DEM MESSIAS ZU TUN HABEN Unterschrift: JOSHUA NAZARA „Ascedo ad Terram“, sagte er erst drei Tage später. Er wollte nicht, aber irgendwann musste er bereit sein... Manchmal denkt man, man hätte schon alles gesehen, doch dann machen einem die eigenen Träume einen Strich durch die Rechnung. Der Anblick einer Kreatur hatte ihn noch nie so in Panik versetzt, dabei hatte er in seinem fast 500 Jahre dauernden Leben schon einige Monster aus der Hölle, der Erde und des Himmels gesehen. Doch, hätte diese Kreatur existiert, wäre sie aus keiner der drei Sphären gekommen, dazu war seine Aura zu surreal – es stammte aus einer anderen Welt. Einer unbegreiflichen Welt, die man nicht verstehen konnte, wenn man nicht wahnsinnig war. Dabei konnte er nicht einmal sagen, was an dieser Kreatur so angsteinflößend war. Er konnte nicht sagen, wie es aussah, sah es irgendwie nicht einmal. Er konnte nicht sagen, was es tat, ob es etwas tat, ob es ihm etwas antun wollte. Er spürte es nur. Er spürte, wie es ihn anglotzte, er spürte wie es auf ihn näher kam, er spürte wie es nach ihm greifen wollte. Er spürte, wie es etwas sagte, doch diese Stimme, wenn man dieses Dröhnen überhaupt als Stimme bezeichnen konnte, platzte ihm halb den Kopf zum Platzen. Gegen seinen Willen musste er schreien, als wenn man ihm einen Speer durch die Brust gebohrt hätte. Jonathan Letherman riss die Augen auf. Schweißgebadet setzte er sich in seinem Bett auf. Sein Atem ging schwer, mit einer Hand hielt er sich die Stirn, mit der anderen, krallte er sich in die Bettdecke. Seine Frau schlief neben ihm. Wie immer lag sie auf dem Rücken, die Decke bis über die Brust gezogen und die Hände an der Luft beim Bauch verschränkt. Ihr Atmen war fast unbemerkbar. Er hasste es sie zu wecken, da dies sehr schmerzhaft enden konnte. Dennoch tippte er sie an, die Panik wegen diesem Alptraum saß noch immer so tief in seinen Knochen, dass er nun jemanden zum Reden brauchte. Nach der kurzen Berührung öffnete Toraria Letherman sofort die Augen und schaute Jonathan direkt in die Augen. „Tut leid, Tori, aber ich hatte gerade einen Scheiß-Traum.“ Sie blinzelte. „Du auch?“ Es kam oft vor, dass Ehepaare unterschiedlicher paranormaler Art die gleichen Träume hatten. Warum, wusste nicht einmal ihr Boss. Tori aber verzog keine Mine, was ein nein bedeutete. Jonathan schnaufte. Sein Körper war so von Schweiß bedeckt, dass er sich vor sich selbst ekelte. Selbst wenn er wieder einschlafen wollte, würde er mit diesem klebrigen Körper nicht einschlagen können. „Ich geh kurz duschen“, gab er bescheid und stand auf. Toraria reagierte, indem sie ihre grünen Augen auf die Decke richtete. Sie beschloss jetzt noch nicht wieder einzuschlafen, sie wollte warten, bis ihr Ehemann zurückkam. Duschen half gegen viel, nicht nur gegen Schmutz. Jonathan konnte sich auch damit einige Probleme quasi von der Seele spülen. Das Haus, in dem die beiden wohnten, war keine Villa, aber größer als ein Einfamilienhaus. Es hatte zwei Stöcke, mit je fünf Zimmern. Als die beiden ihr Heim eingerichtet hatten, wurden die Verantwortung Zimmer gerecht aufgeteilt. Dementsprechend war eine Hälfte, wie es Toris Art war, steril und dunkel eingerichtet, während die andere Hälfte, wie es Jonathans Art eben war, farbenfroh war und vor Schnickschnack überging. Von moderner Einrichtung konnte nicht die Rede sein. Dazu kam noch ein Raum, an dem die paranormalen Utensilien aufbewahrt waren. Von außen wirkte es nicht anders als die anderen Gebäude der suburbanen Gegend, doch die Nachbarn, zu denen Jonathan gelegentlich Kontakt suchte, weil er hoffte, so weniger verdächtig zu wirken, kamen meistens nicht wieder. Lag wohl daran, dass Tori das Vorzimmer zur Einrichtung verantwortet worden war. Leider befand sich nur im unteren Stockwerk eine Dusche. Gähnend ging Jonathan die Treppen herunter. Es war dunkel und noch dazu war seine Sicht noch von der Müdigkeit eingeschränkt. So kam es, dass der neben die Treppe trat. Mit einem Schrei fiel er herunter. Toraria hörte sein Gebrüll ohne Anstrengung. Sie schnaufte. Wieso hatte sie ihn noch einmal geheiratet? „Nix passiert“, rief er ihr zu. Tori hatte Zweifel daran. Tatsächlich hatte er Kratzer abbekommen. Wovon, konnte er sich nicht erklären, doch an seiner Brust bluteten zwei Linien, die sich überschnitten. Jonathan wischte das Blut weg. Die Wunden gingen nicht tief, doch es hörte nicht auf zu bluten. Auch nach dem zweiten Wegwischen fing es wieder an zu rinnen, noch dazu stärker als zuvor. Woran zum Teufel hatte er sich geschnitten? Es musste etwas Paranormales sein. Egal, im Badezimmer würde er sicher ein Heilmittel finden. Er torkelte. Als er endlich das Bad erreicht hatte, lehnte er sich gegen den Türstück. Er tastete nach dem Lichtschalter. Das Bad war so eingerichtet, dass man, wenn man hineinging, sofort in ein Ganzkörperspiegelbild blickte. Als Jonathan sein Spiegelbild sah, wurde er auf der Stelle hellwach. Aber das hieß noch lange nicht, dass er einen klaren Gedanken fassen konnte. Die Wunde hatte aufgehört zu bluten. Doch stattdessen glühte sie gelb auf. Narben glühten nicht, es gab keine paranormale Technik dafür. Doch es gab eine Ausnahme – und zwar im Zusammenhang mit dem Messias. Jonathan schrie den Namen seiner Gattin. Toraria verdrehte die Augen. So leicht konnte man ihren Gatten aus der Fassung bringen. Nachdem sie ihn ein wenig hatte schreien lassen, stand sie auf. Es war ein komisches Gefühl den Boden zu berühren. Obwohl seine Schuhsolen fünf Zentimeter dick waren, spürte er jeden Sprung und jede Erhebung des Betonbodens, auch wenn diese nur minimal waren. Doch das war die einzige Wahrnehmungsveränderung, die er nach seinem Aufstieg von der Hölle in die Sphäre der Lebenden stark bemerkte. Er sah die Nacht, wie er sie vor fünf Jahren gesehen hatte, er sah die Straßenlichter genau so hell, wie damals, er hörte die Geräusche der Großstadt nicht anders und empfand sie genau so nervig wie früher. Mitten in der Nacht war Joshua dort gelandet, wo sein Leben ein Ende genommen hatte – unter dem Fenster seines ehemaligen Zimmers im elterlichen Apartment. Doch die Gegend war nicht wieder zuerkennen. War dieses Viertel als Versammlungspunkt der reichen Oberschicht zu seinen Lebzeiten bekannt, deutete nun gar nichts mehr auf ein luxuriöses Leben. Die sauberen Gebäude waren nun heruntergekommen und mit Spraydosen verunstaltet worden, die Fenster bis in den zweiten Stock eingeschlagen. Die Müllabfuhr schien hier keinen Dienst mehr zu haben. Ratten quiekten, und eine streunende Katze suchte in einer Mülltonne nach Futter. Die Autos, wenn überhaupt welche vorbeifuhren, waren keine teuren Modelle, sondern Schrottkisten, die Geräusche von sich gaben, als ob die Karren gleich explodieren würden. Oder es waren Polizeiwagen. Der einzige Mensch, der sich auf der Straße befand, war ein alter Penner, der sitzend gegen eine Mauer gelehnt schlief und den Inhalt einer Whiskeyflasche auf seinen Schritt schüttete (wobei allerdings nichts auszuschließen war, dass Kerl sich angepinkelt hatte). Joshua fragte sich, wie zum Teufel diese Gegend binnen fünf Jahren so heruntergekommen war. Hatte man ihn beschissen, und es war doch ein längerer Zeitraum gewesen? Eine Zeitung widerlegte die Vermutung. Egal, diese Welt sollte ihn nicht mehr interessieren, Hauptsache er konnte irgendwann seine Prüfung bestehen. Doch es interessierte ihn, ob seine Mutter und seine Schwester noch hier lebten. Eigentlich war die Frage absurd, seine Mutter war eine so versnobte Persönlichkeit, dass sie schon beim kleinsten Anzeichen einer Niveausenkung weggezogen sein wird. Aber dennoch konnte er der Versuchung nicht widerstehen, bei den kleinen Namensschildchen neben den Türklingen nachzuschauen. Er fand den Namen Nazara. Joshua schluckte. Was zum Teufel konnte seine Mutter gehalten hier gehalten haben? Und ehe er erkannte, was er tat, hatte er schon angeläutet. Er bereute, was sollte er nun sagen. Hallo Mama, ich bin von den Toten auferstanden. Aber ob die Anlage überhaupt noch funktionierte? Wahrscheinlich nicht. Doch. „Ja“, sagte eine müde Stimme. Joshua brauchte sich trotz der miesen Qualität nicht anstrengen und Angelas zu erkennen. Joshua erstarrte. Verdammt, was sollte er sagen? „Wer da?“, fragte sie, schon etwas gereizter. „Mark Furlong“. Der Name vom letzten Liebhaber seiner Mutter. Er verstellte seine Stimme nahe zu lächerlich tief. „Ist Maria zu sprechen?“ „Maria wohnt hier nicht mehr, du Arschloch.“ Also doch, das passte zu seiner Mutter. Und es passte zu ihr, dass sie Angela allein gelassen hatte. „Was machst du überhaupt hier? Hat sie dir vor ’ner Ewigkeit nicht klar gemacht, dass sie dich nie wieder sehen will?“ Angelas Stimme war überraschend klar und gradlinig. Sie war nicht betrunken. Joshua fragte sich, was sie zum Entzug überredet hatte. Sein Tod? „Halt die Klappe, du Saufnase!“ So hatte Mark immer mit ihr gesprochen, so hatte Mark sie immer genannt. „Dann such ich sie eben alleine!“ Er drehte sich um und stampfte weg, ging weit. Das Bild der Gegend veränderte sich nicht, blieb immer gleich elend. Gerne hätte er mit Angela gesprochen. Aber wie sollte er ihr erklären, dass er von den Toten auferstanden war? Selbst wenn ihm die Erwähnung seiner wahren Herkunft nicht verboten worden wäre, hätte er Angela nicht damit konfrontieren können. Was sagte man überhaupt, wenn man jemanden sagte, man sei gestorben und nun aus der Hölle als Reinkarnation von Jesus Christus zurück gekommen um einen Mann zu ermorden, der Selbstjustiz ausübte. Und selbst wenn er passende Worte fand, sie würde es nicht glauben, oder einen wesentlichen Schock erleiden. Nein, so sehr er sich wünschte mit seiner Schwester zu reden, er konnte Angela die Wahrheit nicht antun. Die Luft ermüdete ihn. Auch wenn die Stadt sich nie für ihre reine, unverpestete Luft ausgezeichnete hatte, war sie im Vergleich zur Hölle ein Waldgebiet. Das Einatmen dieses Sauerstoffes war anstrengender, als alles andere. Auch wenn er das Gerücht kannte, dass frische Luft ermüdend war, hatte er nicht damit gerechnet, dass ausgerechnet dies ihm die meiste Kraft rauben würde. Mit schweren Lidern suchte er sich eine halbwegs reine Gasse aus, wo er sich hinsetzte. Zwischen all den Obdachlosen würde ein Kerl im Kilt, der dort pennte, nicht auffallen. Die Nacht war kalt. Nicht darauf achtend, ob jemand ihn beobachtete, schnippte er und eine Mülltonne ging in Flammen auf. Einer der ersten Tricks, die ihn Erik der Rote beigebracht hatte. Danach fiel er sofort in einen tiefen, aber traumlosen Schlaf... ...der nur zehn Minuten dauerte. „Hey, du.“ Der Mann stocherte mit seinem Gehstock an Joshua herum. „Transe, weg da.“ Joshua geriet nur zaghaft aus seinem Schlaf. Er setzte sich auf. Dabei hatte er gar nicht gemerkt, dass er beim Pennen in eine Liegestellung gefallen war. Mit schlaftrunkenen Augen schaute er den Mann in Lumpen an, der so erzaust und schmutzig war, dass Joshua nicht schätzen konnte, wie alt er war. „Weg da. Das ist meine Gasse.“ Er rieb sich die Augen. „Verziehung. Ich bin neu.“ „Merkt man. Wie alt bist du denn?“ „Achtze... Dreiundzwanzig.“ „Achtzehndreiundzwanzig?“ „Nein. Dreiundzwanzig.“ „Ah so.“ Der Mann ging näher an ihn heran, damit er Joshuas Gesicht im Flammenlicht besser betrachten konnte. „Schaust aber aus, als ob du schon einigen erlebt hast.“ Daraufhin fuhr sich Joshua über das Gesicht. Er hatte schon längere Zeit sein Gesicht nicht mehr berührt. Wie uneben es war. „Ja, ich mein die Narben“, ergänzte der Typ. Wahrscheinlich hatte nicht nur sein Gesicht, sondern sein ganzer Körper durch die Übungen von Erik dem Roten mehr abbekommen, als er vermutet hatte. Er zuckte mit den Achseln. Der Mann starrte ihn an. „Checkst du nicht, was ich will? Ich will wissen woher die sind?“ Joshua verzog das Gesicht. An dem Penner konnte er sein Talent zum Lügen ertesten. „Mein Vater hat mich verprügelt.“ Sorry, Joseph, dachte er. „Wie lautet dein Name?“ „Al.“ Pause. „Nur Al. Kein Nachname.“ Er setzte sich neben ihn. Anscheinend war sein Wunsch Joshua zu vertreiben verflogen. Einsamkeit? Er holte eine Flasche unter seinem Mantel hervor, trank einen Schluck und reichte sie dann Joshua. „Wodka. Willst?“ Joshua schüttelte den Kopf. Er wollte schlafen. „Weißt was, ich teil mir heute meine Gasse mit dir. Du schaust so fertig aus. Außerdem haste ein schickes Feuer gemacht.“ Joshua nickte. „Pennst du das erste Mal in den Straßen dieser Gegend?“ Joshua nickte. „Weißte, dieses Viertel gilt mittlerweile als eines der gefährlichsten, und schlimmsten der USA. Dabei war es mal das Reichenviertel schlechthin. Doch dann kam es zu einer Vergewaltigung, mehreren Morden, mehreren Diebstählen binnen einer Woche, dazu noch einige Bettler, die hier das große Geld rochen. Deswegen sind die Reichen alle schnell...“ Es war eigentlich recht interessant, was der Typ da erzähle. Doch Joshua war zu müde, um ihm länger zuzuhören. Mitten im Als Satz schlief er ein. Der Mann redete weiter, anscheinend hatte er gar nicht gemerkt, dass ihm gar nicht mehr zugehört wurde. Hatte die Nacht ausgesehen, wie er sie kannte, so war der Tag doch von einigen Veränderungen durchzogen. Jedoch sah er die Welt nicht unmittelbar anders. Er sah nur mehr... Er war nun selbst ein paranormales Wesen. Deswegen sah er nun die paranormalen Phänomene in der Sphäre der Lebenden, die dem rein menschlichen Auge verborgen bleiben. Und das waren mehr, als man hätte vermuten können. Aus dem Fenster des halbwegs reinlich aussehenden Hauses, hing eine sich windende Tentakel die nach Tauben peitschte. Vor der Haustür saß ein Gnom mit roter Zipfelmütze, der sich einen Spaß daraus machte, Passanten ein Bein zu stellen. Die alte Dame auf der anderen Straßenseite führte keinen Hund an der Leine, sondern einen anderthalb Meter großen Leguan, der Flammen aus seinen Nasenlöchern blies, aber dennoch glaubte die Greisin, dass sie sich einen Pudel als Haustier hielt. Es marschierte ein Mädchen durch die Straße, deren Haare brannten. Ein Managertyp mit Federflügeln lachte in sein Handy. Ein Zeitungsverkäufer, der kein Gesicht hatte und dessen Stimme zu einem bizarren Quieken verzerrt war, versuchte seine Ware an den Mann zu bringen. Eine Hausfrau hing kein Leintuch am Fenster zum Trocknen, sondern eine zerrinnende Uhr. Joshua starrte mit offenem Mund auf dieses Szenario. Er war zwar abstrusere Anblicke aus der Hölle gewohnt, doch diese seltsamen Dinge in einer Welt zu sehen, wo er sie vorher nicht wahrgenommen hatte, war ein Anblick, der ihn doch überwältigte. „Was schaust den so bescheuert, Freak!“, brüllte ihm eine arrogante Männerstimme zu. Wenigstens hatten sich die Menschen nicht verändert. Menschen? Joshua musste feststellen, dass der Typ, der ihn angepöbelt hatte, einen Löwenschwanz hatte. Er vertrat sich die Beine, vielleicht würde ein Streifzug durch dieses bizarre Szenario sein Erstaunen mildern. Besser wurde es nicht. Denn jetzt sah er die Bedrohungen. Von Weiten sah die Kreatur wie ein riesiger Eber, mindestens drei Meter groß, mit unnatürlich langen Haaren aus, die auf dem Boden schleiften, doch je näher sie kam, umso deutlicher wurden die Unterschiede. Seine weißen Augen hatten keine Iris und keine Pupille, stattdessen krochen Würmer heraus. Mit seinem langen Kuhschwanz peitschte er umher. Eine meterlange Zunge hing aus dem Maul heraus, schleckte den Boden ab, die unteren Zähne reichten bis über die Stirn hinauf, während die oberen Scheidezähne sich wie die Elfenbeinzähne eines Elefanten wanden. Er atmete stinkenden Rauch aus seinen Nasenlöchern aus. Sein Maul bewegte sich und Laute kamen heraus. Er sprach, doch in einer Sprache die Joshua nicht erkannte. Doch auch ohne ihn zu verstehen, wusste Joshua, es handelte sich um Flüche. In all seiner schrecklichen Pracht marschierte das riesige Vieh auf der befahrenen Straße entlang. Für die Fahrer wie Luft, sie fuhren durch in hindurch. Es war ein seltsamer Anblick, wie die Autos zum einen Ende hinein fuhren, verschwanden und dann unbeschadet am anderen Ende herauskamen. Doch auch wenn sie es nicht wussten, er beeinflusste sie. Jeder, der in Berührung mit diesem Monster kam, fühlte auf der Stellung eine Wallung von Angst und Unbehagen, bemerkbar an Schüttelfrosten und verängstigten Gesichtsausdrucken. Fasziniert schaute Joshua auf das Vieh und wusste nicht, ob er es einfach ziehen lassen, oder Kontakt aufnehmen sollte. Die Frage erübrigte sich von selbst, als der Eber Joshua bemerkte. Perplex winkte er ihm nur. Die Kreaturen, denen er in der Hölle begegnetet war, waren alle humanoid gewesen. Wie ging er also mit einem rein tierischen Wesen um, das noch dazu nicht in seiner Zunge sprach? „Hallo“, murmelte er. Eine Passantin, die sich angesprochen fühlte, ging in schnellen Schritten weiter. Die Reaktion des Ebers war ein Schnaufen, das Joshua auf den Boden warf. „Was zum... hey, ich hab dir nichts getan!“, fauchte er das Vieh an. Den Eber interessierte sein Einwand nicht. Er holte mit seinem Schwanz aus, versuchte den am Boden liegenden Jungen zu treffen. Joshua konnte noch im letzten Moment ausweichen. Während Joshua Staub und Steine aufwirbeln, ein Loch im Boden entstehen sah, bemerkten die Passanten nichts. Sie fragten sich nur, warum ein Wirrkopf auf dem Boden herumrollte. Er wollte eigentlich nicht, doch Joshua musste sich wehren. Wenn er doch nur wüsste, was für eine Kreatur das hier war, wie stark sie war, was für Fähigkeiten sie besaß. Auf gut Glück sollte er am besten das versuchen, was er am besten konnte... am besten etwas, was er auch beherrschte, wenn dieses Vieh mit dem peitschenden Schwanz ihn davon abhielt sich aufzurichten. Als hinge sein Leben davon ab, peitschte das Tier mit seinem Schwanz umher, doch da es umso hektischer wurde, je mehr Fehlschläge es fabrizierte, desto ungenauer wurden seine Versuche. Und so schaffte es Joshua schließlich wieder auf die Beine zu kommen. Er schnippte dreimal. Drei Fellbüschel an Rücken, Gesicht und Hintern des Ebers gingen Flammen auf. Die Kreatur gab einen Schrei wie ein Adler von sich. Es schüttelte sich, die Flammen gingen aus, doch Joshua hatte genug Zeit sich seine nächsten Schritte zu überlegen. Dummerweise ärgerte er sich zu lange darüber, dass er das Monster auch im Liegen so hätte attackieren können... aber es war sein erster Kampf gegen jemanden, der kein Kampf-Dummie war, da durfte man noch seine Fehler machen. Erik der Rote war zwar anderer Meinung, aber der würde ihn schon nicht beobachten. Joshua zog sein Schwert Discordia. Er schwang es einmal, und vertrieb so den Rauch, den der Eber auf ihn blies. Er schlug mit der Faust in der Luft, der entstandene Windstoß traf den Eber im Gesicht, war so stark gewesen, dass er leicht taumelte. Anscheinend keine sehr starke Kreatur. Zum Glück. „Wenn du mir nicht auf der Stelle sagst, was du gegen mich hast, kenne ich kein Mitleid mehr!“, brüllte Joshua dem Vieh zu. Der Eber zeigte sich unbeeindruckt. Doch noch immer etwas damisch von dem Schlag, holte er mit seinem Schwanz aus, wollte Joshua von hinten überraschen, doch dieser hörte die Gefahr und sprang in die Höhe. Der Kuhschwanz zog unter seinen Füßen vorbei. Und als er von vorne kam, raste er in Joshuas Schwert. Der Schwanz war ab und der Eber schrie. Überraschend viel Blut spritzte aus der Wunde und regnete auf Joshua, der angeekelt das Gesicht verzog. „Du widerliches...“ Er brach ab, weil er einsah, dass man mit dem Vieh nicht reden konnte. Noch ehe der Eber eine Rauchwolke auf ihn pusten konnte, sprang Joshua in die Höhe. Ein wenig Konzentration genügte und er sprang hoch genug um auf dem Rücken des Ebers zu gelangen. Für die Menschen sah es jedoch aus, als ob er nur einen Meter hoch und weit gesprungen wäre. Die Kreatur krächzte, als es das unliebe Wesen aus der Hölle auf seinem Rücken spürte. Die einzige Möglichkeit, wie er ihn losgeworden wäre, wäre ihn mit dem Schwanz herunterzuschlagen. Doch der war nun weg. Seine einzige effektive Waffe war weg. Joshua hob das Schwert. Hoffentlich traf er eine Schlagader. Er stach zu. Der Eber kreischte wieder. Obwohl er keine lebenswichtige Ader getroffen hatte, glaubte das Vieh nun dem Untergang geweiht zu sein. Er wandte sich, schüttelte sich. Joshua versenkte das Schwert tiefer in das Fleisch des Monsters, umklammerte das Heft, denn das Fell unter seinen Füßen hatte er mittlerweile verloren. Hielt er sich nicht fest, flog er herunter. Und ein Sturz aus drei Metern war schmerzhaft. Mittlerweile hatte der Eber eingesehen, dass die Nervensäge nur loswurde, wenn er sich umwarf. Joshua ahnte nicht, was das Tier plante, doch er sah die Menschenmenge die sich um ihn herum versammelt hatte. Was glaubten sie, machte er gerade? Was sahen sie? Er sollte so schnell wie möglich das Spiel beenden. Konzentration. Erik der Rote hatte ihn immer gerügt, wenn Blitze abschleuderte, denn das Ergebnis war nie zu seiner Zufriedenheit gewesen. Joshua hatte aber nie verstanden warum. Deswegen beschloss er jetzt es einfach zu versuchen und auf ein gutes Ergebnis zu hoffen. Er spürte seine Hände heiß werden, er sah schon die Blitze um seine Hände herum zucken. Noch immer hielt er das Heft des Schwertes umklammert. Alles an Discordia bestand aus Metall. Und so leitete er die Blitze in den Körper des Ebers. Im Fallen schrie der Eber. Doch dieser Klagelaut war nur von kurzer Dauer. Es zerriss das Vieh von Innen. Zum Glück konnte kein Mensch sehen, wie Blut, zerfetzte Organe, Muskeln und Knochen die Gegend noch mehr verunstalteten und auch die Schaulustigen, die Joshuas vermeidliches Benehmen analysierten, trafen. Joshua landete mit beiden Füßen auf den Boden, verlor aber fast das Gleichgewicht. Er steckte das Schwert zurück in die Scheide. Er wischte sich Schweiß von der Stirn, seufzte, und fragte sich, warum diese Kreatur ihn ungerechtfertigt attackiert hatte. Viel Zeit um Antworten zu finden, hatte er nicht. Das Vieh war zwar zerstört, doch leider existierte weiterhin die Blitzkugel, mit der Joshua sie umgebracht hatte. Wie ein Luftballon schwebte sie in der Luft... Deswegen war also Erik der Rote immer unzufrieden gewesen... Das Monster hatte zwar die Menschen nicht verletzen können, doch die Blitzkugel würde. Noch ehe Joshua überlegen konnte, wie er sie aus dem Weg schaffen konnte, verlor sie ihren Halt in der Luft. Sie stürzte direkt auf eine junge Frau mit roten Zöpfen zu. „Vorsicht!“, schrie Joshua. Er raste auf den Rotschopf zu, packte sie an der Hüfte. Mit viel Schwung zerrte er sie von ihrem Stehplatz weg, gerade noch rechtzeitig, denn die Blitzkugel schlug auf. Mehr Schaden, als ein unwesentliches Schlagloch auf dem Bürgersteig, hinterließ sie nicht. War die Rettung unnötig gewesen? Joshua redete sich ein, dass seine Waffen auf Menschen eine verheerendere Wirkung haben könnten, als auf Beton. Die rothaarige Frau lächelte Joshua an. „Danke“, sagte sie. Er verzog das Gesicht. Hatte sie etwas bemerkt. Auf einmal fingen die Zuschauer an zu klatschen. Einige Leute unterhielten sich. Joshua glaubte einige Male das Wort „Kunstimprovisation“ oder „Improvisationstanz“ zu hören. Bitte? Was auch immer er gemacht hatte, konnte niemals mit einem Akt der Kunst vergleichbar gewesen sein... Interessant, wie Menschen paranormale Ereignisse wahrnehmen... Das Mädchen ließ ihn los. „Danke, dass ich mitwirken durfte. Du hast echt Talent“, sagte sie. Die Menge löste sich auf und einige Passanten drückten Joshua Münzen oder Geldscheine in die Hand. „Trittst du wieder auf?“, fragte sie. Wäre er gerade nicht in so einem perplexen Zustand gewesen, hätte Joshua bejaht, denn das Mädchen hätte ihm sicher gefallen und wahrscheinlich hätte er sich mit dieser Lüge ein weiteres Treffen erhofft. Doch er war zu überwältigt um seiner Begierde freien Lauf zu lassen. „Sorry, war einmalig.“ Das Geld zählend, ließ er das Mädchen einfach stehen. Es waren tatsächlich dreiunddreißig Dollar und neunzehn Cent. Als nächstens duschte er. Paranormales Blut konnte man nur mit paranormalem Wasser von sich und der Kleidung waschen. Paranormales Wasser konnte er nur aus den eigenen Fingerspitzen gewinnen. Auf der Toilette eines Diners, wo er die Hälfte seines „Einkommens“ ausgab, wuscht er sich auf dem WC. Er verursachte eine Überschwemmung, die zum Glück für Menschen nicht sichtbar war. Das nächste Mal, an dem er seine Fähigkeiten war am Abend, als gerade ein Juwelier am Schließen war. Warum ein teurer Juwelier in dieser Gegend überhaupt noch sesshaft war, war Joshua ein Rätsel. Jedenfalls passierte das, was irgendwann passieren musste. Der alte Mann wollte gerade absperren, als zwei große Typen, ganz in schwarz gekleidet und mit Motorradhelmen auf den Köpfen, die das Gesicht verdeckten, auf ihn zustürzten. Der eine ergriff ihn von hinten, hielt ihm den Mund zu und drückte ihm seine Faust in den Magen. Die andere Unbekannte bedrohte ihn mit einer Pistole. Man brauchte kein Spezialist sein um zu wissen, was die beiden wollten. Joshua saß auf dem Dach des gegenüberliegenden Hauses. Warum niemand, außer ihm, etwas sah oder sehen wollte, konnte er nur vermuten. Und selbst diese Vermutungen waren schlecht. Egal, wichtig war eher die Frage, ob er eingreifen, oder einfach nur weiter zusehen sollte. Die beiden brauchten außer der Knarre keine Argumente, um den Alten zu überreden. Er sperrte das Schloss wieder auf. Joshua tat er leid. Auch wenn er teures Geschäft hatte, sah der Kerl nicht vermögend aus. Außerdem widersprach es seinem Gerechtigkeitssinn, dass zwei durchtrainierte Typen wie diese Verbrecher einen alten, hageren Mann angriffen. Er seufzte. Sich einzumischen hatte man ihm nicht verboten, man durfte nur nicht merken, dass hier Paranormales geschah. Und wenn er seine Erfahrungen richtig einschätzen konnte, würde die Wahrnehmung der Menschen eh so gedreht werden, als ob sie etwas „Normales“ sähen. Was Lillith und Erik der Rote davon denken würden, wenn sie erfuhren, dass er denen helfen wollte, die er eines Tages vernichten sollte. Egal, sie würden ihn schon nicht beobachten. Dank einer Handbewegung war das Schloss nun nicht mehr aufzusperren. Die Verbrecher fragten was los sei und der alte Mann geriet in Erklärungsnotstand. Die Männer unter dem Motorradhelm wurden laut, der mit der Waffe richtete den Lauf auf die Stirn des Opfers. Drücke ab. Joshua brauchte nicht viel Anstrengung um die Kugel zum Stecken bleiben zu zwingen. Der vermeintliche Schütze wurde aggressiv. Er schüttelte die Pistole, drückte noch einige Male mehr ab, doch nie kam eine Kugel herausgeschossen. Mit der Sicherung herumzuspielen brachte auch nicht viel. Wütend warf er sie auf den Boden. In dem Moment löste Joshua den Schuss aus und die Kugel traf das Bein des Verbrechers. Während sich der eine auf dem Boden wand, ließ der andere vor Überraschung den alten Mann los. Dieser ergriff sofort die Flucht, warnte die beiden, dass er die Polizei holen würde. Der, der heil geblieben war, entschied sich, seinem Partner nicht zu helfen und rannte weg. Der verletzte schrie ihm obszöne Flüche hinterher, hielt sich das Bein, versuchte vergebens die Blutung zu stillen und schrie den Tränen nahe herum, bis die Polizei kam, und ihn verhaftete. Joshua grinste selbstzufrieden. Und dieses Grinsen war auch dann noch nicht verschwunden, als Joshua kurz nach Mitternacht in der Gasse wieder erschien, wo er letzte Nacht übernachtet hatte. Al war schon anwesend. Er trank Wodka. „Da bist du ja wieder. Hab ich dir nicht gesagt, dass das meine Gasse ist.“ Joshua seufzte enttäuscht, denn seine Vermutung war gewesen, dass Al ihn neben sich akzeptieren würde, da er die Einsamkeit scheute, doch er hörte trotzdem nicht zu grinsen auf. So nützlich hatte er sich nämlich schon lange nicht mehr gefühlt, die Abneigung eines Penners würde ihm sicher nicht Laune verderben. „Gut, dann geh ich eben wieder.“ „Wart mal! War nicht böse gemeint.“ Er klapste zweimal mit der Hand neben sich. „Komm her, du findest eh keine freie Gasse mehr.“ Joshua nahm das Angebot gerne an. Also scheute der Mann doch die Einsamkeit. Irgendwie mochte er diese Gasse. Es mochte blöd klingen, aber hier konnte er sich vorstellen mehrere Tage oder Wochen, bis Liam Warrick getötet und somit die Prüfung bestanden hatte, zu verbringen. Al störte ihn nicht, er war sogar eine Bereicherung. Außerdem wohnte seine Schwester einige Häuserblocks weiter, vielleicht sah er sie einmal. „Warum grinst du so blöd?“, fragte Al. „Ich hatte heute einen guten Tag.“ „Wieso das denn?“ „Ich hab dreiunddreißig Dollar erbettelt.“ Zwar unfreiwillig, aber es war wenigstens eine gute Ausrede. „Und davon einen guten Pfannkuchen gegessen.“ Das Essen in der Hölle war nämlich schrecklich. Wäre er Vegetarier gewesen, wäre er verhungert, denn nur rohes Fleisch wurde dort aufgetischt. „Willst ’nen Schluck, zum Feiern?“ Al reichte ihm die Flasche. Von Gläsern konnte er hier nur träumen. Wer wusste, was er sich für eine Krankheit er sich einfangen würde, wenn er aus derselben Mündung wie ein alter Penner trank. Er nahm sie trotzdem. Sterben würde er nicht so schnell, er war schließlich schon tot. Joshua schüttelte sich. Er hatte vergessen, wie ekelhaft purer Wodka schmeckte. Al lachte. Daneben erklang noch ein komisches Rascheln. „Hörst du das auch?“ „Was?“ „Das Geräusch.“ „Nur die Autos.“ Al lachte noch einmal laut auf. „Bist du von dem kleinen Schluck schon betrunken.“ Sicher nicht. Doch dieses Rascheln war nicht zu ignorieren. Und er sah schließlich dinge, die normalen Menschen verborgen blieben – mit der Akustik verhielt es sich wahrscheinlich nicht anders. Er blickte zu dem Alten, und sah neben einem Gesicht eine Mischung aus Pflanze und Reptil die Mauer herunterkrabbeln. Er kannte die Viecher aus der Hölle. Tausende von ihnen hatte er bei seinen Übungen vernichtet. Das markante an diesen kleinen Biestern war, dass sie am liebsten Menschenhirne fraßen. Das Gesicht sah aus, wie die Blüte einer Dahlie, doch anstelle von Blütenstaub in der Mitte befand sich ein Maul mit tausenden kleinen Reißzähnen. Das Vieh riss gerade sein Maul auf, fauchte, wollte in Als Kopf beißen. In letzter Sekunde zog Joshua sein Schwert und stach dem Vieh ins Maul. Mit seinen Saugknöpfen an den Füßen haftete sich die Wesen an der Mauer fest. Joshua brauchte gehörig Kraft um es von der Mauer zu zerren. „Mensch, Josh, ich dachte du wolltest mich gerade umbringen“, keuchte Al und hielt sich die Brust, als erlitte er gerade einen Herzinfarkt. „Ich hab nur eine Ratte umgebracht“, erklärte er. Das Vieh war hinüber. Er zog den Kadaver vom Schwert herunter, wobei es eine eklige Schleimspur hinterließ. Angewidert warf er es so weit weg wie möglich. „Das ist keine Ratte, das war eine Taube.“ „Egal, Ungeziefer bleibt Ungeziefer.“ „Wenn du meinst. Aber gute Reflexe hast du. Und ein scharfes Messer.“ „Danke.“ Er säuberte mit seinem Kilt die Klinge. „Würdest du mir einen Gefallen tun, und mich nicht Josh nennen. Ich heiße Joshua. So wie du nur Al heißt.“ „Geht klar.“ Wie gut, dass das Silber glänzende Schwert nur für ein banales Messer gehalten wurde. Und, dass dieses Pflanzenreptil als Taube gesehen worden war. Er steckte das Schwert zurück in die Scheide. Er lehnte sich zurück und schaute in den Himmel. Die Nacht war klar, die Sterne boten einen friedlichen Anblick, sodass man gar nicht vermuten würde, dass das hier eine verdammt beschissene Gegend war, in der sehr viele beschissene Ungeheuer herumgeisterten. Er grinste selbstzufrieden. Hatte er heute wirklich drei gute Taten begangen, oder redete er sich das nur ein? Er beantwortete sich selbst die Frage einfach mit „Ja“. Jonathan hatte schon ein verdammt schlechtes Gefühl im Bauch gehabt, als er die Nachricht erhalten hatte, dass er und seine Gattin beim Chef geladen waren. Als er das Gebäude betreten hatte, war das schlechte Gefühl zur Übelkeit geworden. Und als er nun Gabriel X. Paradiso gegenübersaß, wollte er am liebsten Kotzen. Wie konnte Tori nur so gelassen sein? Sie war genau so am Ungehorsam beteiligt wie er, und würde dieselbe Rüge bekommen, wenn das Delikt aufflog. „Wir haben ein Problem.“ Pause. „Und ich glaube, dass ihr etwas damit zu tun habt.“ Jonathan schluckte und schaute seine Frau an, die regungslos mit verschränkten Armen neben ihm saß. Sie war schon einmal von Gabriel X. Paradiso bestraft worden und selbst sie hatte damals Regungen des Schmerzes nicht unterdrücken können. Hätte sie auch nur den geringsten Verdacht auf eine Bestrafung gehabt, hätte man es ihr angesehen. Wahrscheinlich wusste sie mal wieder etwas, was er nicht einmal erahnte. Dennoch konnte er seine Nervosität nicht unterdrücken. „Heute, um die Mittagszeit herum, wurde ein Klagegeist vernichtet.“ Jonathan seufzte erleichtert auf. „Ist was, Mr. Letherman?“ Fehler. „Nein, nein, gar nichts. Alles okay, reden Sie weiter.“ Als ob das den Verdacht vernichten würde... Gabriel X. Paradiso sah ihn durchdringend an, kam wieder zu seinem alten Thema zurück, würde ihn aber sicher wieder darauf ansprechen. „Erstens, man kennt eure Abneigung gegenüber Klagegeistern. Zweitens, in dem Gebiet hattet ihr um diese Uhrzeit Einsatz. Drittens, wurden Frequenzen aus der Hölle wahrgenommen.“ Pause. „Ihr könnt mir also nicht erklären, dass ihr nichts damit zu tun habt, und erst recht, dass ihr nichts bemerkt habt.“ Jonathan richtete seine Augen auf seine Gattin. Wie sehr er sich wünschte, dass sie zumindest manchmal das Wort ergreifen würde. Er würde sich nun sicher versprechen. „Wir hassen Klagegeister.“ Der Chef strich sich durchs graue Haar. „Deswegen dürft ihr sie aber noch lange nicht umbringen.“ „Haben wir auch nicht.“ „Aber zugelassen, dass er umgebracht wird.“ „Wir haben nichts mitbekommen.“ „Halten Sie die Schnauze, Letherman. Mit solchen Aussagen werden Sie die Klage nicht von sich abweisen können.“ Pause. „Noch einmal, Kreaturen aus der Hölle waren am Werk. Wesentlich schwächere Wesen als ihr haben aus weiterer Entfernung diese Aktivität bemerkt. Warum ihr nicht? Und selbst wenn, warum habt ihr nicht eingegriffen?“ Jonathan wusste, dass Schlagfertigkeit gegenüber Gabriel X. Paradiso keine schönen Folgen hatte. Er wusste aber nicht, was er sonst sagen sollte: „Haben Sie es gespürt?“ Der Chef verdrehte die Augen. „Ich spüre selbst die Hölle von hier, ja, aber ich hab es nicht erkennen können, weil es mir schwer fällt die Sphären zu unterscheiden.“ Es war schwer zu erkennen, ob dies eine schlechte Ausrede war, oder ernst gemeint. „Tja, hm, wir haben aber trotzdem nichts gemerkt. Vielleicht war’s dieser, äh, „Kämpfer gegen die paranormale Übermacht“, oder wie der sich nennt, der benutzt ja oft Waffen aus der Hölle.“ „Der war’s nicht. Der agiert nur nachts.“ Pause. „Noch einmal, warum habt ihr nicht eingegriffen?“ Am besten war es standhaft zu bleiben. „Wir haben’s nicht gemerkt.“ „Lügner.“ „Wir haben nichts gemerkt.“ Danach herrschte kurz Stille. Gabriel X. Paradiso und Jonathan starrten Toraria mit heruntergeklapptem Unterkiefer an. Hatte sie gerade wirklich gesprochen? „Wiederholen Sie das bitte.“ Keine Antwort. Gabriel X. Paradiso hätte dies von Anfang an vermuten können, aber er brauchte keine Wiederholung der Aussage, einmal reichte. Und dass sie gesprochen hatte, hatte die Situation geändert, er wusste nur nicht in welche Richtung. Sie sprach nur, wenn es unausweichbar war. Doch der Zweck hinter der Aussage war fragwürdig, wollte sie ihre Unschuld betonen, oder ihn ablenken. Leider war er unfähig in ihren Augen zu lesen, was sie wollte. Er hasste das an diesem Weib – man wusste nie, was sie dachte, was sie wollte, was sie empfand. Gabriel X. Paradiso schnaufte. „Okay, selbst wenn ihr nichts mitbekommen habt, so glaube ich nicht, dass ihr absolut ahnungslos gewesen seid. Was habt ihr zu verbergen?“ Jonathan schluckte. „Ach, was soll’s ihr habt recht, wie unwichtig ist schon die Aktivität der Sphäre die vor hat die Sphäre der Lebenden zu zerstören, den Himmel zu besetzen und die restlichen Überlebenden einer Diktatur zu unterwerfen. Was wir hier machen, ist nur Zeitverschwendung.“ „Genau!“, platze Jonathan heraus. Er packte seine Gattin am Oberarm. „Komm, Tori, der Chef hat uns entlassen.“ Sie ließ sich vom Sessel zerren. So schnell er konnte schleppte er sie zur Tür hinaus, und nach einer kurzen Verabschiedung knallte er die Tür hinter sich zu. Das Procedere hatte kaum zehn Sekunden gedauert. Gabriel X. Paradiso starrte mit großen Augen auf die fliehenden Gestalten. Seine umgekehrte Psychologie war ein Schuss in den Ofen gewesen. „Toriiii“, jammerte Jonathan als sie an dem einzigen Ort angekommen waren, an dem der Chef sie nicht ausspionieren konnte – ihr Heim. „Ich halte den Druck nicht mehr aus.“ Sie zeigte sich erwartungsgemäß unbeeindruckt. „Wir müssen es ihm sagen. Wir müssen es Gabriel sagen!“ Jonathan ließ sich auf das Sofa fallen und bedeckte die Augen mit den Händen. „Meine Narbe tut mir weh, ich vergehe vor schlechtem Gewissen, ich hab Schiss davor, was Gabriel macht, wenn er erfährt, dass der Messias wieder auf Erden wandelt und wir davon wussten. Wir müssen es ihm sagen.“ Toraria schüttelte den Kopf. „Was soll das heißen! Versetz dich mal in meine Position! Ich bin von Natur aus nervös, sensibel, ängstlich und wehleidig, und ich hab“, er zog den weit dehnbaren Kragen seines Hemdes bis zum Baunabel, „das da!“ Jonathan deutete auf das Kreuz auf seiner Brust, achtsam die sensible Wunde nicht zu berühren. Entweder blutete die Narbe, oder sie glühte. Gerade vergrößerte sich ein Blutkreuz auf dem Verband, den Jonathan sicherheitshalber um die Brust gebunden hatte, falls die Wunde unerwartet zu bluten anfangen sollte. Wie eben. Toraria warf ihrem Gatten einen Blick zu, der aussagte: „Das wirst du schon aushalten.“ Jonathan fauchte darauf. „Und das steh ich nur durch, weil du meinst, man könnte den Messias doch noch auf unsere Seite ziehen, was aber nicht mehr möglich ist, sobald Gabriel weiß, dass man zu ihm Kontakt haben kann, der ihn darauf umzubringen versuchen wird.“ Pause. „Woher willst du Gabriels Reaktion voraussehen können. Er mag zwar ein von Solipsismus und Egomanie getriebener Sturkopf sein, aber Mann, mit der Messias-Problematik war er noch nie so stark konfrontiert, wie jetzt. Vielleicht reagiert und agiert er ganz anders.“ Sie zeigte sich unbeeindruckt. Er setzte sich auf. „Ich geh in mein Bett. Ich muss schlafen. Ich will nur mehr schlafen und nie wieder aufwachen.“ Er raufte sich die Haare, als er die Treppen hoch stieg. Toraria aß gemütlich ihre Pizza fertig. Aber trotzdem erschlich ein Gefühl der Besorgnis ihren Kopf. Irgendetwas musste sie unternehmen. Er nannte sich „The Hellman“. Sein Verhalten resultierte aus der Tatsache, dass es ihn schockierte, dass viel mehr paranormale Gestalten in der Sphäre der Lebenden herumgeisterten, als er sich je hätte vorstellen konnte. Da er die Erde in seiner Ausbildungszeit nicht mit den Augen eines Paranormalen hatte sehen dürfen, stellte er sie sich immer im Großen und Ganzen unberührt von paranormalen Ereignissen vor – doch nun erkannte er, dass genau das Gegenteil der Fall war. Joshua wollte das nicht. Er wünschte sich eine Sphäre, die vollkommen verschont von diesem Wahnsinn verschont blieb. Oder: dass die den Paranormalen unterlegenen Menschen von diesen Wahnsinnigen geschützt werden. Und deswegen sah er sich, solange er Liam Warrick noch nicht gefunden hatte, dazu berufen die Hilflosen vor diesem Wahnsinn zu beschützen. Als maskierter Held. Als unbekannter Helfer, der keinen Namen, nur ein Cognomen hatte. Wie einer der Superhelden, die er bis zu seinem Tod irgendwie verehrt hatte. Und so sinnvoll hatte sich seine Existenz noch nie angefühlt, auch nicht, als er seine tragende Rolle erfahren hatte. Und im Grunde war dies der größte Faktor, warum er den Unterlegenen haft – die Selbstzufriedenheit, die man verspürte, wenn man sich einredete, Gutes getan zu haben. Es mag nämlich widersprüchlich erscheinen, dass derjenige, der die Menschheit vernichten und/oder unterwerfen sollte, plötzlich zu deren Helfer und Retter wird. Jedoch erscheint dies nur, solange man glaubt, dass diese Samaritertätigkeit wirklich des guten Willens wegen gemacht werden, und nicht des Egoismus' wegen. Letzteres war bei Joshua der Fall. Er handelte, weil er sich gut, groß und mächtig fühlen wollte. Im Prinzip war ihm egal, wen er vor wem rettete, solange man ihm ein Danke schenkte. So gesehen handelte er sicher nicht gut. Hellman... Irgendwie fand er den Namen bescheuert, aber ihm war nichts Besseres eingefallen. Außerdem, welcher Superheld hatte keinen bescheuerten Namen? Er konnte wenigstens auf einen gut klingenden Vor- und Nachnamen stolz sein. Außerdem fragte eh so gut wie niemand, wer ihm da gerade aus der Patsche geholfen hatte. Eine Woche befand er sich schon auf seinen Zug durch die Straßen, half, wo er konnte, wie er am besten konnte. Und es machte ihm Spaß. So viel Spaß, dass er Liam Warrick irgendwie verdrängte, obwohl er schon kurz vor seine Abreise mehrere Pläne entworfen hatte, wie man eine Person fand, deren Aufenthaltsort ständig variierte und nicht einmal einen festen Wohnsitz hatte. Alle waren vergessen, seine Prüfung aus dem Gedächtnis verdrängt und er würde die in den nächsten zwei Jahren, die ihm zum Bestehen zur Verfügung gestellt worden waren, eher der Heldentätigkeit nachgehen, als an seine Ausbildung zu denken... ... wäre ihm Liam Warrick nicht über den Weg gelaufen. Jede Nacht sah nicht nur gleich aus, sie gestaltete sich auch gleich. Er streifte umher, suchte nach Unterdrückten, rettete sie und kam zwischen ein und fünf Uhr in seine Gasse zurück, wo Al sich entweder alkoholisierte oder schon schlief. Seine Schwester hatte er bisher noch nicht getroffen. Einerseits hoffte er, dass er ihr eines Tages aus der Patsche helfen konnte, andererseits fürchtete er sich vor diesem Ereignis, weil sie ihn wohl oder übel erkennen würde, und er dann in Erklärungsnotstand geraten würde. Joshua saß auf dem Balkon einer unbewohnten Wohnung, stützte sich auf das Gitter. An diesem Ort bekam er am besten mit, was sich in der Gegend abspielte. Er stützte sich auf das Gelände, starrte auf den Sternenhimmel, der ausgerechnet hier fast permanent klar war, und konzentrierte sich auf die Geräusche, welche die Umgebung absonderte, ohne einen Gedanken zu verschwenden. Er befand sich einer Art Meditationszustand, den Erik der Rote ihm beigebracht hatte, damit er seine Sinneswahrnehmung verstärken konnte. In dieser Sphäre funktionierte der Trick irgendwie leichter. In Wahrheit stand er siebenundvierzig Minuten und wartete auf einen Hilferuf, doch kam es ihm dank dieser Meditation wie nur ein paar kurze Sekunden vor. Es war der Schrei einer jungen Frau. Kaum hundert Meter war sie von hier entfernt. Joshua riss sich aus dem Trancezustand. Er stieß sich vom Boden ab, sprang von Dach zu Dach, hin und her, (denn er konnte nie die Richtungen bestimmen, aus denen der Schall kam und hatte einen schlechten Orientierungssinn) bis er endlich ankam. Es war wie immer eine Seitengasse, auch wenn die Nacht noch so dunkel und verlassen war, suchten sich die Schurken immer einen noch dunkleren Schlupfwinkel aus. Einen Vampir hatte er noch nie gesehen. Er wusste nur wenig von ihnen. Erik der Rote hatte einst gesagt, dass er, egal wo und wann er auch immer er sich befand, einen Vampir töten müsste, wenn er ihm über den Weg lief. Als er gefragt hatte, warum, hatte sein Ausbilder bloß gesagt: „Weil wir nicht wissen, was sie sind.“ Etwas in ihm weigerte sich, diesen Befehl zu gehorchen, bis er hier und jetzt sah, wie ein Vampir seine Beute fing. Die Frau war wunderschön und das wusste die Kreatur. Er drückte er die krallenhafte Hand auf den Mund, so fest, dass sie nicht mehr schreien konnte. Der Weg der Luft zu den Nasenlöchern war behindert und wegen Sauerstoffmangel verlor sie langsam das Bewusstsein. Deswegen konnte sie sich nicht wehren. Das leichte Strampeln war kein Hindernis, der Vampir riss ihr die Bluse vom Körper und packte ihre Brüste. Er riss sein Maul zu grotesker Größe auf, die Zähne wuchsen und kurz bevor er zubeißen konnte, rammte Joshua ihm das Schwert in den Rücken. Die Kreatur schrie auf, ließ die Frau fallen, die daraufhin in Ohnmacht fiel. Eigentlich hätte ihn das umbringen müssen, doch der Vampir krümmte sich nur leidend. „Wer war das?“, fauchte er. Joshua hielt noch immer das Heft umklammert, er konnte nicht fassen, dass diese Kreatur den Stich überlebt hatte. Der Vampir griff nach hinten, packte Joshuas Handgelenk und schmiss ihn über ihre Schultern. Dabei riss er das Schwert aus seinem Rücken. Er stieß einen Schmerzensschrei aus, als er hart auf dem Boden aufprallte. Der Vampir hatte sein Handgelenk noch nicht losgelassen, zerrte ihn auf die Beine und starrte ihn an. „Was bist du denn?“, knurrte er. Joshua sah nun den Vampir das erste Mal von vorne und erkannte, dass das Wesen eine Frau war... ihr Körperbau war nur wenig feminin und dazu trug sie Männerkleidung. Doch das Gesicht war eindeutig weiblich. Nachdem er sich von dem Anblick erholt hatte, stach er wieder zu, tief in den Bauch. Wieder schrie der Vampir, krümmte sich, doch sterben tat er noch immer nicht. Es wäre schön gewesen, wenn Erik der Rote ihm erklärt hätte, wie man Vampire tötet, oder zumindest angedeutet hätte, dass die Sagen, die sich um die Kreaturen der Nacht rankten, wahr waren. Obwohl sie ein schmächtiges Monster war, war Tritt von so großer Kraft, dass ihm schwarz vor Augen wurde. Warf ihn auf den Boden, trat ihn und zog dabei Discordia aus ihrem Bauch. Die ständigen Tritte ließen ihm keine Möglichkeit sich aufzurichten oder zu wehren. „Höllenbewohner“, murmelte sie, sagte sie schließlich und stützte einen Fuß auf seinem Bauch auf, presste ihn herunter, sodass Joshua fast keine Luft mehr bekam. „Seit wann schickt die Hölle solche Schwächlinge auf die Jagd nach den unsrigen?“ Sie verlagerte ihr Gewicht auf das Bein, mit dem sie Joshua zu Boden gedrückt hielt. „Essen kann ich dich trotzdem nicht. Aber mal sehen, ob deine eigene Waffe deine Existenz auslöschen kann.“ „Nein“, wollte er sagen, er wusste, dass die Waffe so geschmiedet worden war, dass sie ihn nie ernstlich verletzen würde. Doch erstens konnte er gar nicht sprechen, und zweitens wollte er wissen, was passiert. Während sie die Klinge hob, die ihr eindeutig zu schwer war, griff Joshua nach seiner Knarre Eris, die in einer Tasche aufbewahrte, die er unter seinem Pulli versteckt hielt. Die Waffe würde sicher helfen. Diese Kugeln konnten jede Existenz auslöschen. Zum Glück achtete die Göre nicht, wohin seine Hand wanderte. Er würde nicht mehr mitbekommen, was das Schwert tat, wenn es auf ihn gerichtet wurde. Noch bevor sie ansatzweise zustechen konnte, ertönte ein Schuss und die Kugel landete direkt in Herzen, das sie der Haltung dank wie eine Zielscheibe präsentierte. Die Vampirin hatte keine Zeit mehr zu schreien, nur mehr verdutzt das Gesicht zu verziehen. Dann zerfiel sie zu Staub. Joshua war diese Szenenabfolge irgendwie zu schnell vergangen, um auf der Stelle jedes Detail zu verstehen. Er setzte sich auf und stocherte in der Asche herum, ehe eine Stimme hinter ihm schrie: „Alle okay mit dir?“ Der Typ konnte kaum ein Jahr älter als er sein. Joshua drehte sich um und starrte auf einen großen, muskulösen Kerl, der keine Haare hatte, aber dafür in jeder Hand eine riesige Maschinenpistole, welche Formen hatten, die er aus der Hölle kannte. Waffen aus der Hölle... Dabei spürte er, dass er gar nichts Paranormales an sich hatte. Da er nicht wusste, was er sagen sollte, war es besser gar nichts zu sagen – in diesem Falle bewahrheitete sich diese allgemeingültige Taktik nicht. Hätte er von Anfang an irgendetwas dahergestammelt, egal was, solange es beruhigend war, noch bevor eine Art Radar in der Hosentasche des Typen zu piepsen angefangen hätte, hätte er nicht den dämlichen Satz: „Hey, bist du nicht Liam Warrick?“ gesagt. Sofort richtete der junge Mann den Lauf der bizarren Waffe auf Joshua. „Woher kennst du meinen Namen, Höllenbewohner?“ Joshua hob die Hände. Schweigen oder Lügen, die Wahrheit durfte er jetzt auf keinen Fall sagen. Das einzige, was ihm aber einfiel war: „Ich komme nicht aus der Hölle.“ „Schnauze! Solche hässliche Fratzen gibt es nur bei Monstern aus der Unterwelt.“ Hässlich? Da fiel ihm ein, dass er sich noch nie bewusst im Spiegel betrachtet hatte, seit er die Erdoberfläche betreten hatte. „Und selbst wenn du eine Ausgeburt des Himmels wärst – ich lasse keine paranormalen Kreaturen in meiner Sphäre zu.“ Pause. „Was planst du, warum bist du hier? Warum hast du es auf den Vampir abgesehen gehabt?“ Joshua verzog das Gesicht. Diese Fragen empfand er als absolut dämlich und er stellte die absichtlich dämliche Frage: „Warum hast du sie umgebracht?“ Leider hielt Liam Warrick das für eine ernste Frage. „Weil ich dir helfen wollte, bevor ich wusste, dass du auch nicht mehr als ein Dämon bist.“ „Ja, und ich wollte der Dame da helfen“, rechtfertigte sich Joshua und zeigte auf die Frau, die hätte gebissen werden sollen und noch immer bewusstlos auf dem Boden lag. „Und woher weißt du, dass ich aus der Hölle bin?“ „Lügner!“ „Ich hab dich das gefragt.“ Joshua verdrehte die Augen. Schon nach diesen paar Worten, die er mit seiner Prüfungsaufgabe gesprochen hatte, wusste er, dass es um den Typen nicht schade war, wenn er ihn über den Jordan schickte. Er senkte die Hände wieder. Liam Warrick hielt den komischen Radar hoch. „Damit Arschloch. Und nun Hände wieder hoch, verdammt noch mal! Wenn du kooperierst, werde ich dich eventuell am Leben lassen!“ Ja, um den war es wirklich nicht schade... Er wollte eigentlich so viel Zeit wie möglich auf der Erde verbringen, den Leuten helfen, Liam Warrick nicht auf der Stelle töten, doch als er diesem Schleimscheißer gegenüberstand, verspürte er den Drang den Kerl hier und jetzt zu vernichten. Die Erde musste von etwas derartig unsympathischen gerettet werden. Discordia sprang regelrecht in seine Hand. „Was machst...“ Weiter kam Liam Warrick nicht, dann musste er das Schwert abwehren, das so schnell auf ihn zuraste, sodass er es kaum sah. Und so tat er das, was er immer machte, wenn er die Handlung eines paranormalen Wesens nicht vorhersehen konnte – er improvisierte und schoss blindlings in die Luft. Und dabei zeigte sich sein fast schon permanentes Glück. Das Geschoss traf das Schwert. Zerstört wurde es nicht, doch es änderte sich die Flugrichtung, es raste nun auf seinen Herren zu. Joshua duckte sich reflexartig. Das Schwert hätte ihm zwar nichts angetan, doch die Angst wurde dadurch nicht eliminiert, sodass es doch zur ausweichenden Handlung kam. Als das Schwert sich plötzlich wieder in seiner Hand befand, konnte er gar nicht mit einem Angriff reagieren, denn schon schoss Liam Warrick mehrere Salven auf ihn. Joshua sprang in die Höhe und die Kugeln folgten ihm. Er landete am Sims eines Fensterbrettes und sah die kleinen Geschosse auf ihn zukommen. Eriks Ausbildung war anscheinend doch nicht so gut gewesen, oder er konnte den Trick doch nicht so gut, wie er vermutet hatte, oder die Waffen waren von einer Sorte, die er noch nicht kannte. Jedenfalls, die Schutzmauer aus Luft, die er auf die Schnelle errichtete, konnte nicht alle Geschosse abhalten. Zwei trafen ihn, einmal am Arm, einmal an der Hüfte. Joshua schrie, verlor das Gleichgewicht und stürzte ab. Unterhalb seines Beines explodierte etwas. Er dachte, sein Bein sei abgerissen. Dabei war es nur gebrochen. „Niedere Kreatur, stirb“, fauchte Liam Warrick und richtete die Mündung eines der bizarren Maschinengewehre auf seine Stirn. „Sag dein letztes Wort.“ Joshua war zwar verletzt, aber er hatte noch immer sein Schwert und seine Pistole bei sich. Er hatte keine Angst, so leicht würde man den Messias nicht endgültig vernichten können. Er schlug die Klinge gegen den Lauf des Maschinengewehrs. Das Ding bekam zwar nicht einmal einen Kratzer, doch Warrick war überrascht. Joshua schnappte sich die Waffe und schoss. Die Kugel landete in seiner Stirn. Zwanghaft musste er bei dem Anblick an seinen Vater denken – doch leider starb Liam Warrick durch diese Wunde nicht. Er war nur verwirrt. Er taumelte, hielt sich die Stirn, stieß Schmerzensschreie aus. Joshua starrte mit großen Augen auf den Verletzten, der aggressiv gegen Mauern und Mülltonnen trat. Mensch? Auf dem Zettel stand Mensch. Wieso zum Teufel lebte dieser Mensch dann noch, nach einem Schuss in die Stirn? Als Joshua sich endlich fasste, war Warrick schon wieder bereit auf ihn zu schießen. Noch im letzten Moment stieß sich Joshua in die Höhe, landete auf dem Dach. Es war ihm zwar mehr als peinlich, aber die einzige Möglichkeit heute Nacht keine Wunden mehr zu bekommen, war zu fliehen. Über die Dächer. So würde ihn Liam Warrick nicht so schnell finden. Den Typen zu töten würde wohl schwerer werden, als er... „... vermutet hätte“, sagte Lillith, die zusammen mit Erik dem Roten das traurige Spektakel beobachtet hatte. Sie schüttelte den Kopf. Danach sah sie Erik der Rote wütend an. „Sein Versagen ist nicht deine Schuld, oder? „Wie meint Ihr das, Eure Majestät? Glaubt Ihr mein Bemühen den Messias zu schulen war geringer, als gegenüber meinen Schützlingen davor?“ Lillith verdrehte die Augen. Als Joshua neben dem Penner Al eingeschlafen war, zerbrach sie den Spiegel, durch den die beiden das Treiben des Messias beobachtet hatten. Die Scherben verwandelten sich in Wasser. „Trotz paranormaler Waffen, sollte es nicht schwer sein einen Menschen zu töten. Irgendwie ist er unfähig... “ „Oder kein wahrer Söldner“, sprach Erik der Rote. „Bedenkt, er kam wegen seines Suizides zu uns, nicht wegen seiner Sünden. Diese Menschen sind oft schwerer für unsere Ziele zu begeistern als Meuchelmörder und ähnliche Subjekte. Ich kenne ihn, er tötet gerne schnell und schmerzlos, keinen Weg fand ich ihn umzustimmen. Habt Ihr nicht auch gesehen, was er tut, während er auf die Gelegenheit des Mordes wartet – er hilft den Menschen.“ Lillith seufzte. „Stimmt. Mit dieser Einstellung konnte er bei der ersten Begegnung nur verlieren.“ Sie strich sich durchs Haar. „Mir gefällt diese Caritas nicht, die er treibt.“ „Keiner von uns sieht so etwas gerne.“ „Danke. Aber beobachten wir ihn erst noch eine zeitlang, vielleicht wird ihm sein eigenes Spiel zu langweilig. Erst dann üben wir Druck aus.“ Kapitel 4: Rennfeuer -------------------- Die Höllenbewohner verachteten die Menschheit im Allgemeinen. Denn sie waren Schuld für ihre Existenz unter unwürdigsten Bedingungen, Schuld an ihrem Elend, Schuld, dass sie die Kreaturen waren, die der ach so gute Schöpfer hasste, weil sie die Menschen nicht lieben konnten wie er. Schuld, dass sie vom Himmel verstoßen worden waren und nun in ihrer Bewegungsfreiheit und ihren Rechten beschnitten waren. Und das wegen eines Missverständnisses. Was als Sage galt, stimmte – Satan hatte sich geweigert vor dem ersten Menschen, Gottes neuester Schöpfung, niederzuknien und als neuen Herren akzeptieren, doch er hatte nicht wegen Stolz oder Überheblichkeit Ungehorsam geleistet. Er hatte schlicht und einfach keinen anderen Herrn haben neben Gott wollen. Er hatte den Schöpfer so geliebt und seine Macht so verehrt, dass er es nicht akzeptieren konnte neben ihm einen anderen Meiser zu haben, noch dazu einen, der, das sah man aus jeder objektiven Perspektive, Gott bei weitem unterlegen war, Ebenbild hin oder her. Und bedeutete der Befehl vor einem Schwächling niederzuknien nicht, dass sich Gott mit dieser Kreatur gleichstellte? Als Satan dieser Gedanke durch den Kopf gegangen war, zerbrach sein Weltbild. Wie konnte sein stolzer Herr sich mit einem Wesen gleichstellten, das keine paranormalen Fähigkeiten hatte, das nichts anderes als seinen Körper einsetzen konnte, um etwas zu erschaffen. (Und selbst diese Schöpfungen sollten für immer mickrig sein.) Eine Kreatur, die starb, ein neues Phänomen, dass nicht das absolute Verschwinden bedeutete, sondern die Möglichkeit darstellte zum Engel aufzusteigen, ein Privileg, das auch Tieren vorenthalten worden war. Somit stellte dieses Phänomen zwar eine Besonderheit dar, aber auch eindeutig Unterlegenheit. Nein, Satan hatte niemals so einen Schwächling als gleichgestellt mit Gott betrachten können. Leider hatte Gott ihm nicht die Möglichkeit gegeben, seine Beweggründe zu erörtern, er hatte nur einen Treuebruch gesehen, der mit Verbannung bestraft wurde. Also höhlte Gott den Erdkern aus und sperrte Satan mit einigen anderen Ungehorsamen in dieses widerliche Gebiet ein. Als stärkstes Wesen in dieser neuen Sphäre war es selbstverständlich, dass Satan dort herrschen sollte. Doch ein Thron war kein Trost für ein ewiges Leben in dieser Scheiße namens Hölle. Denn Gott hatte ihn nicht nur aus dem Himmel geworfen, dessen Anblick reichte um ein permanentes Gefühl der Zufriedenheit zu produzieren, er hatte ihm verboten die Hölle jemals zu verlassen, das Verlassen der Hölle von Untertanen war durch Vorschriften beschränkt und ihre Bewegungsfreiheit in den anderen Sphären mit zahlreichen Verboten belastet. Dazu erließ Gott noch Regelungen für das Zusammenleben in der Sphäre selbst, die Satan niemals eingeführt hätte und seine Autorität untergruben. Und noch dazu schickte Gott alle Menschen, die nicht in sein Weltbild passten, und deswegen nach deren Tod keine Zutrittserlaubnis in den Himmel erhielten und keine Engel werden konnten, in die Hölle, wo sie zu Dämonen wurden. Satan wurde somit verantwortlich für das nächste Leben der Menschen. Und Gott hatte ihm verboten sie anders zu behandeln, als er Gleichgesinnte behandelte. All diese Bestimmungen schürten den Hass Satans, aber nicht nur auf Gott oder nur auf die Menschen, sondern auf alle – eventuell sogar sich selbst. Und dieser Hass färbte auf alle anderen Höllenbewohner ab, selbst auf die Dämonen, die früher Menschen gewesen waren. Und deswegen war es der größte Wünsch der Höllenbewohner die Sphäre der Lebenden, wie sie von nun an genannt wurde, zu vernichten, Gott zu töten und den Himmel zu unterwerfen, die Engel, die nicht wussten, in welch einer Wonne sie lebten, aber trotzdem überheblich auf die Hölle herabblickten, sollten verspüren, wie es war in dieser Qual zu leben. Deswegen war es ihnen auch so wichtig, dass der Messias gefälligst schnell seine Prüfungen ablegte, damit er sich als der erfolgreiche Feldwebel erweisen würde, wie prophezeit worden war. Deswegen musste er von diesem karitativen Weg abgebracht werden, auf dem er seit einem Monat wandelte. Sonst würde er nie unter Kontrolle gebracht werden können, sonst würde es 1000 Jahre dauern, bis er zum idealen Feldherrn der Hölle geworden war. Und dann hatte der Himmel wahrscheinlich ebenfalls seinen eigenen Messias. Er brauchte also Druck und Anstoß von einer dritten Person, um auf den richtigen Weg zu kommen. Leider konnte Erik der Rote diese Aufgabe nicht selbst übernehmen. Doch einer seiner Schüler konnte. Oder besser: Schülerin. „Versager“, fauchte sie, nachdem ihr Erik er Rote ihr die Lage um den Messias erklärt hatte. „Aber was erwartet man schon von einem Selbstmörder, der nicht einmal genug Eier fürs normale Leben hatte. Pisser, und auf so etwas verlässt sich Euer Hochnäsigkeit?“ „Der Plan der Majestät ist mehr als komplex und alle Faktoren konnte sie nicht im ausreichenden Maße einbeziehen. Die individuelle Entwicklung des Messias ist so einer, urteilt deswegen nicht so abwertend über sie.“ „Ich würde dies nicht tun, wenn ich nicht von Anfang an gegen diese Bester-Feldwebel-Aller-Zeiten-Scheiße wäre. Das mit gottesgleicher Stärker kann sein... aber hallo, nur wegen irgendeiner abnormalen Geburt ohne Fick soll er deswegen wissen, wie man die besten Schlachtreihen aufstellt? Das passt nicht in mein Weltbild. Und ich glaube ich hab recht, schaut man sich diesen Heini mal an, dann sieht man alles andere als ’nen Feldherrn. “ „Nach Ihrer Meinung man aber nicht gefragt.“ „Ich weiß, deswegen war es mir auch egal, was Eurer Hochnäsigkeit macht, bis ich in diese Scheißerei einbezogen werde.“ Erik der Rote seufzte. Er hob den Hut, und sie zuckte zusammen, auch nach siebenhundert Jahren konnte sie sich nicht an den Anblick seiner glühend roten Augen gewöhnen. „Es tut mir Leid, aber dass Ihnen der Messias egal ist, ist uns wiederum egal. Aufgrund Ihrer Fähigkeiten habe ich sie dazu auserwählt den Messias bei seiner Prüfung ein wenig unter die Arme zu greifen. Und wenn Sie sich gegen diesen Befehl wehren, steht ihnen eine Exekution bevor.“ Sie biss sich auf die Lippen. Weiteres um den heißen Brei Reden würde Erik den Roten nur wütend machen, an der Lage allerdings nicht ändern. Widerwillig sagte sie also: „Und was soll ich genau machen? Trainieren? Böse Zureden? Liam Warrick so verprügeln, dass ein Blitzchen aus des Messias Hand reicht um ihn zu killen?“ „Nein, Liam Warrick muss aufgrund des Messias Kraft getötet werden. Ansonsten ist Ihnen jede freie Bewegung innerhalb der Gesetze erlaubt.“ „Das heißt, mir ist nur verboten Liam Warrick zu töten.“ „Überhaupt gegen ihn anzutreten.“ Sie verdrehte die Augen. „Aber mit dem Feigling darf ich machen, was ich will?“ „Abgesehen von seiner Ermordung.“ „Drohen, Foltern, Beschimpfen, Jagen, Verletzen...“ „Alles, außer ihn zu eliminieren.“ Sie grinste breit. So wenig sie von dieser Messias-Legende hielt und so sehr sie es hasste in dieser Sphäre zu sein, wenn man ihr nicht verbat, diesen Selbstmörder-Wichser kräftig in den Arsch zu treten, würde diese Aufgabe doch jede Menge Spaß machen. Und nach einer mühseligen Spionageaufgabe in einem Albenstamm war ihr Spaß mehr als willkommen. „Fein, dann mach ich mal auf den Weg.“ „Brauchen Sie Reisehilfe?“, fragte Erik der Rote, als sie sich auf den Weg aus seinem Büro machte. Sie grinste: „Nein, Sie wissen, ich habe meine spezielle Technik.“ Und die machte verdammt viel Spaß... In der Hölle hatte er keine Möglichkeit gekannt sich Zigaretten zu beschaffen. Woher Lillith ihre her hatte, wusste er nicht, und sie war er nicht gewillt ihm welche zu schenken oder es ihm zu sagen. Und so war das erste Jahr seiner Ausbildung doppelt schlimm gewesen, da sein Verlangen nach Nikotin sich immer wieder zeigte. Danach hatte er sich zum Glück das Rauchen abgewöhnt – oder sich an das Verlangen danach gewöhnt, sodass es ihm nicht mehr auffiel. Nachdem Joshua aber nun zum ersten Mal sein Spiegelbild genau betrachtet hatte, spürte er die Sucht in der Lunge wieder in ihrer vollen Macht. Er brauchte neue Kleidung. Zwar war er fähig, seine alten immer wieder zu reinigen, jedoch wusste er nicht, wie man Löcher stopfen konnte, den Stoff vor Abnutzungen schütze, oder die Farben nicht verblassen ließ („Als Mann braucht man solches Weiberhandwerk nicht zu kennen“, hatte Erik der Rote immer gesagt). Nach einem Monat auf der Erde waren die Klamotten so abgenutzt und zerfetzt, dass er Angst hatte irgendwann nackt in der Öffentlichkeit zu stehen. Zum Glück verdiente er sich noch immer hin und wieder Geld mit seinen „Kunst-Performances“, die ja eigentlich Kämpfe waren, oder bekam durch schlichtes Herumsitzen auf der Straße ein paar Münzen zugesteckt, sodass er sich bald neue Bekleidung kaufen konnte. Nichts teures, aber etwas. Die Stadt schien leider kiltlos geworden zu sein. Das einzige Geschäft, wo er einen fand, hatte so teure Waren, dass er sich den Schottenrock nicht einmal leisten konnte, wenn er zehn Jahre lang auf der Straße bettelte. Dabei waren die, die er sich gekauft hatte, als er noch gelebt hatte, so billig wie eine Jean vom Grabbeltisch gewesen. Was war nur aus dieser Welt geworden? Also blieb ihm nichts anderes übrig als Jeans zu kaufen. Beim Anprobieren hatte er das erste Mal seit fünf Jahren und einem Monat sein Spiegelbild vor Augen. Ein Wunder, dass die Leute nicht die Straßenseite wechselten, wenn sie ihn sahen. Er war nicht mehr so schmächtig wie früher – er hatte nun Schultern, sogar ziemlich breite und einen muskulösen Bizeps, die Bauchmuskeln waren sichtbar und seine Lenden stachen so heraus, wie es die Cheerleader-Tussis immer an den Sportlern geliebt hatten. Dennoch hatte sein Körper noch immer einen femininen Zug. Leider. Das hatte ihn immer an sich gestört, doch wenigstens war die Muskulatur nicht übertrieben ausgebildet, was er genau so abstoßend empfand. Joshua hatte gar nicht gemerkt, dass sein Körper sich so verändert hatte. Aber das belastete ihn kaum – es waren die Narben, die ihn schockierten. Diese vielen Narben, die sich über die ganze Haut zogen. Es gab keine einzige ebene Stelle, nur Spuren von Schwertklingeln, Pistolenkugeln, Monsterzähnen und Peitschenhieben. Und besonders verunstaltet war sein Gesicht. Aknenarben waren nichts dagegen, fast sah er wie ein Brandopfer aus. Schürfungen, geschwulstartige Aufbauschungen und von Stirn bis Kinn, von einer Wange über die andere zog sich zwei riesige Narben, die sein Gesicht wie eine Zielscheibe aussehen ließen. Wieso wechselte niemand die Straßenseite? Vielleicht nahmen die Menschen ihn nicht in all seiner Hässlichkeit wahr. Aber vielleicht hatten so viele paranormale Wesen ihn in so gesehen und hatten deswegen so schlecht auf ihn reagiert. Er war kein optisch fixierter Mensch. Aber der Schock saß dennoch so tief, dass er nach dem Kauf Kette rauchte. Gedankenverloren spazierte er durch die Straßen. Irgendwie fühlte er sich schlecht, weil er innerlich immer die Missgestalten der Hölle verspottet hatte, obwohl er sich nun selbst zu diesen zählen durfte. Er hatte sich immer darüber gewundert, dass die Benutzung von Spiegel Lillith vorbehalten war, doch nun verstand er es. Wahrscheinlich wurden alle Bewohner dieser Sphäre irgendwann depressiv, wenn sie ständig mit ihrem Abbild konfrontiert waren. Er zog sich die Kapuze seines neuen Pullovers ins Gesicht. Der Kapuzenpulli war zwar teurer gewesen, als einer ohne, sodass er sein ganzes Geld für Kleidung ausgeben hatte müssen, doch seine hässliche Fratze zu verbergen schien ihm wichtiger als Geld. Sollte er sich, wenn er wieder Kohle hatte, eine Maske kaufen, für die Zeit in der als Hellman durch die Straßen geisterte? Jetzt jedenfalls nicht. Joshua wurde schlagartig aus seinen Gedanken gerissen, als plötzlich ein Schrei ertönte. Er sah sich. Verbrechen um drei Uhr nachmittags, das war ihm neu... Aber in dieser versifften Gegend hielt er mittlerweile alles für möglich. Schon beim nächsten Schrei erkannte er die Richtung, aus der er kam. Und mal wieder geschah das Drama in einer Seitengasse – am helllichten Tag war das sogar halbwegs verständlich. Halbwegs verständlich war nicht, dass hier gerade ein paranormales Wesen agierte, das er nicht identifizieren konnte. Doch am relativ ignoranten Verhalten Passanten – man wunderte sich nur über das Benehmen der Frau, die gerade angegriffen wurde – war klar, dass nur andere paranormale Kreaturen dieses Wesen sehen konnten. Wieso konnte es dann diese Frau sehen? Sie strahlte nichts Paranormales aus. Egal, er musste handeln. Das Monster, eine anthropomorphe Echse, wollte der blassen Dame gerade seine Kralle in den Bauch bohren und ihr mehr oder weniger die Gedärme rausreißen. Joshua hob eine leere Dose vom Boden auf. Mit einem Fingerschnippen formte sich das Metall in eine Klinge um. Er warf sie. Die Klinge spaltete dem Monster den Schädel. In diesem Moment unterbrach es seine Handlung. Joshua verzog das Gesicht. Schwaches Wesen, wahrscheinlich hätte eine Ohrfeige es erlegt. Es gab keinen Laut von sich. Es blutete auch nicht. Es stürzte zu Boden, wo es wie eine Glasvase in Tausende Scherben zerbrach. Die Frau fiel hin. Ihre Augen waren schockiert aufgerissen und sie atmete laut. Normalerweise ging Joshua einfach, wenn der Gerettete ihn nicht ansprach, doch diese Dame, die ein biederes Kleid aus Leder trug, das aber so spannte und eng anlag, dass es nicht bieder wirkte, schwarze Haare und extrem blasse Haut hatte, hatte etwas so Fragiles an sich, dass Joshua einfach nur fragen konnte: „Ist alles in Ordnung?“ Sie richtete ihren Blick zu ihm. Hektisch nickte sie. Joshua schritt zu ihr und reichte ihr die Hand: „Darf ich dir aufhelfen?“ Die Frau nahm an. Und da spürte er es – sie war paranormal. Nur so schwach, dass man es nicht merken konnte, wenn es keinen Hautkontakt gab. Außerdem klassifizierte er sie als Magiern – einen Menschen, den Dämonen und Engel, Teufel und Gott paranormale Fähigkeiten geschenkt hatten. Erik der Rote hatte diese Lebensform immer als „niedere Kreaturen, die prinzipiell wahnsinnig werden und nie etwas auf die Reihe bekommen“ beschrieben. Aber sie gefiel ihm. Sie war zwar älter als er, aber mit Sicherheit eine der schönsten Frauen, die er je gesehen hatte. An Lillith kam sie zwar nicht heran, aber man würde mit ihr angeben können. Leider sah er einen Ehering an ihrem Finger. „Bekomme ich gar kein Danke?“, fragte er, trotzdem etwas flirtend. Sie nickte, sagte aber nichts. Das irritierte ihn. „Ich bin Joshua. Wie ist dein Name?“ Sie kramte aus einer Bauchtasche, die genau so schwarz wie ihre Kleidung war und deswegen nicht aufgefallen war, einen Ausweis heraus. Und das irritierte ihn so sehr, dass er den Namen gar nicht las. „Hast du einen Schock?“ Sie schüttelte den Kopf und steckte den Ausweis wieder ein. „Kannst du nicht sprechen?“ Keine Antwort, er deutete das Schweigen als Bejahung. „Ich hab dich aber vorhin schreien gehört. Oder hast du deine Stimme in meinem Kopf projiziert?“ Keine Reaktion, nicht einmal ein Wimpernschlag. Auf einmal wirkte sie nicht mehr so fragil, auch ihre Attraktivität hatte sie einbüßen müssen. Sie machte ihm Angst, mehr noch als ihm die Augen von Erik dem Roten Angst eingejagt hatten. Irgendetwas stimmte mit der nicht. Sie strahlte zwar so gut wie keine Kraft aus, aber Joshua glaubte in ihren Augen etwas schlummern zu sehen, von dem die Welt besser verschont blieb. Er wollte gehen. „Na dann, war schön...“ „TORIIIII!“, schrie eine Stimme. Joshua zuckte zusammen. Erschrocken wandte er sich zu dem blonden, leicht androgynen Typen, der paranormaler nicht hätte sein können. Spürte man seine Kräfte nicht, erkannte man es spätestens an seinen spitzen Ohren. Ein Alb? Joshua hatte noch nie einen Alb gesehen, und hatte sich diese Wesen, die aus der Verbindung von Menschen und Engel entstanden waren, immer erhabener vorgestellt, aber dieser Kerl, der anscheinend einen Pyjama trug, war... eine Witzfigur. An die Dame gewandt, stottert er: „Hast du geschrieen?“ Pause. „Warte, du hast geschrieen? Seit wann... ach was soll’s, du hast geschrieen.“ Dann richtete er seine Augen auf Joshua. „Ein Höllenbewohner?“ Pause. „Wegen dem da? Wollte der Wichser... dir etwas antun?“ Es klang so, als würde er seine Schlussfolgerungen bezweifeln. Doch das hielt ihn nicht davon ab, Joshua vorwurfsvoll den Zeigefinger unter die Nase zu halten. „Du kleiner, mieser... Finger weg von meiner Gattin.“ Nach dieser Aussage grinste er. Gattin? Dabei konnten die beiden nicht unterschiedlicher sein. Joshua fand endlich seine Worte: „Also, ich hab ihr eigentlich das Leben gerettet...“ „Das geht nicht! Tori kann man nicht töten und erst recht muss man sie nicht retten. Du aber hast sie fast umgebracht, Höllenbewohner.“ „Was du da sagst ergibt überhaupt keinen Sinn...“ „Ich geb’ dir gleich..,“ Er holte mit der Faust aus, Joshua war schon bereit zu parieren, doch als seine Frau ihn an der Schulter berührte, zog der Alb sie zurück und wandte sich zu ihr. Es war wohl ziemlich klar, wer in dieser Ehe den Ton angab. „Stimmt das etwa?“ Obwohl sie keine Reaktion zeigte, wusste er durch irgendeinen Grund, dass sie bejahte. Der Alb widmete sich wieder Joshua: „Okay, dann machen wir eben das typische Procedere, warum du hier bist. Ähm... ja, warum befindest du dich in der Sphäre der Lebenden?“ „Ich befinde ich mit der Ausbildung zum General und muss meine erste Prüfung bestehen.“ „Scheiße, das ist legal.“ Diese Aussage hätte er gerne gekontert, aber der Alb ließ ihn nicht zu Wort kommen. „Das heißt, du warst mal ein Mensch?“ „Ja.“ „Wie lautet dein Auftrag.“ Durfte er darauf antworten? Er entschied sich für die Halbwahrheit. „Ich muss jemanden töten.“ „Wen?“ Er verdrehte die Augen. Nun die ganze Wahrheit: „’Nen Glatzkopf, der Selbstjustiz ausübt.“ „Ach, der. Gut, um den ist eh nicht schade.“ Dann würde es hoffentlich keine Probleme mehr geben. „Wie lautet dein Name?“ „Joshua.“ „Joshua wie? Voller Name bitte.“ Er verdrehte die Augen. Ob dieser Typ am Namen erkannte, wer er war? Wahrscheinlich nicht, jedem Höllenbewohner war Name des Messias schließlich auch nicht geläufig. Oft hatte man ihn ausgelacht, weil man ihn nicht erkannt und gekannt hatte, und erst als man seine „Klassifizierung“ als Messias erfuhr, fielen sie um Vergebung flehend auf die Knie. Also wieso sollte dann jedem paranormalen Trottel auf der Erde die Verbindung zwischen Name und Klassifizierung geläufig sein? Ohne Hemmungen sagte er: „Joshua Nazara.“ Schweigen. Anscheinend vermutete der Typ zumindest etwas. Und was sollte jetzt kommen? Ein Versuch ihn umzubringen, um die Gefahr für die Erde zu eliminieren? Würde diese Witzfigur schreiend davonlaufen? Würde man ihn melden? Eventuell Schleimerei? Nicht davon, der Alb sagte: „Die Sache dauert noch etwas länger, hast du Bock das in einem Diner zu erledigen?“ Joshua seufzte: „Wer seid ihr zwei überhaupt und was gibt euch das Recht mich auszufragen?“ „Sagen wir dir im Diner.“ Er zündete sich eine Zigarette an. Der Typ regte ihn fast so auf, wie sein Spiegelbild. „Und was ist, wenn ich mich weigere?“ „Verhaftung.“ Der wollte ihn verhaften? Diese Witzfigur? – Joshua hatte jedoch keinen Bock auf irgendeinen Ärger und beschloss mitzukommen. Leider landeten sie in einem Diner, wo man nicht rauchen durfte. Auf dem Weg, schaffte es Jonathan sich so von Joshua zu entfernen, dass er kurz seiner Frau etwas zuflüstern konnte: „Das hast du geplant...“ Sie grinste sogar ein wenig. „Aber das nächste Mal, weih mich bitte ein, bevor ich mich so blamiere.“ Toraria seufzte und warf ihm einen Blick zu, der aussagte: „Versau es jetzt ja nicht...“ Die Kellnerin brachte Toraria Letherman, wie der Name der blassen Frau war, einen Kaffee und Jonathan Letherman, der Alb, eine Eis mit viel Schlagsahne. Der Name „Jonathan Letherman“ verwunderte Joshua, denn er hatte immer geglaubt, die Namen der Alben seien von allen menschlichen Sprachen so weit entfernt, wie der Nordpol vom Südpol. Er hatte ziemlich beleidigt reagiert, als Joshua ihm das gesagt hatte. Doch im Laufe des Gespräches würde er noch zugeben, dass sein Geburtsname „Airehilion“ war und das entsprach schon eher seinen Vorstellungen. Joshua hatte kein Geld, weswegen er nur Wasser trank, doch er hatte Hunger und jedes Mal, wenn sein Magen knurrte, starrte er gierig auf das Eis von dem Alb. Er wagte es nicht zu fragen, ob die beiden ihn einluden. „Habe ich das jetzt richtig verstanden?“, sagte er. „Ihr wollt mir nicht sagen, wer oder was ihr genau seid, aber ihr verlangt von mir, dass ich euch jede Frage ehrlich und ohne Umstände zu machen beantworte.“ „Genau“, sagte Jonathan. „Ihr spinnt.“ Pause. „Wieso sollte ich das machen? Obwohl ich keine Ahnung habe, und vermutlich auch keine bekommen werde, was ihr seid, weiß ich genau, dass ihr Subjekte seid, die meiner Sphäre verfeindet sind. Ich bin zwar ein Anfänger, aber nicht naiv, ich weiß genau, ihr würdet mir nur Informationen herauslocken wollen, die mir und meinen Leuten einen Nachteil verschaffen werden.“ Jonathan verdrehte daraufhin die Augen. „Tori, bitte erklär mir einmal, warum die liebe Hölle die Erstantreter ihrer Prüfungen immer mit solchen Informationsdefiziten auf uns los lässt.“ Natürlich bekam er keine Antwort. „Ich meine, das würde doch die Arbeit beider Parteien erleichtern. Die würden nicht paranoid werden, und wir müssten ihnen diese Sache nicht erklären, ohne dabei ständig Angst zu haben, etwas auszuplaudern, das wir nicht erwähnen dürfen.“ „Was für eine Sache?“ Jonathan seufzte: „Vom Friedensvertrag zwischen Himmel und Hölle haste sicher schon einmal gehört?“ Joshua nickte. „Nun, der untersagt ja das Betreten der Sphäre der einen paranormalen Lebensform in die der anderen, ohne bestimmten Grund, und nur ein so genannter Messias-Typ darf die ultimative Kriegserklärung aussprechen.“ Beim Wort Messias-Typ zuckte Joshua sichtlich zusammen, doch zum Glück hatte nur Toraria etwas gemerkt, die nichts erwähnte. Jedenfalls wusste er nun, dass der Alb anscheinend keine Ahnung hatte, dass er dieser Messias-Typ war, sonst hätte er nicht so abfällig über ihn gesprochen. „Das Problem ist aber die Sphäre der Lebenden, auf der Krieg geführt werden darf, wo sich die einzelnen Parteien bekämpfen können und all dieser andere Welche-Muckis-Sind-Die-Schöneren-Scheiße erlaubt ist.“ Diesen Aspekt hatte Joshua zwar noch nie gehört, die Erde wurde in der Hölle, abgesehen von Ausnahmen, wie er selbst, als unantastbar dargestellt, aber er sagte nichts. „Außerdem gibt es dann doch diese eigenartigen paranormalen Lebensformen, wie mich, Tori, Vampire, Werwölfe, Klagegeister, und all die anderen, die der Vertrag nicht einfasst. Sie dürften Kriegserklärungen abgeben, sie können die Ordnung der Sphären zerstören, was ja Gott vermeiden will – verglichen mit Dämonen und Engel ist unsereiner weniger rational, da wir weniger Ahnung von Gott haben, und wir müssen deswegen in Schach gehalten werden.“ Es wunderte Joshua, wie negativ der Alb von seiner eigenen Existenzform sprach. „Dafür gibt es nun eine schicke Einrichtung, der wir, Tori und ich, angehören, um Vertreter aller drei Schichten in dieser Sphäre in Zaum zu halten.“ Es hatte nicht geklungen, als wäre die Erklärung zu Ende. Doch Jonathan redete nicht weiter. Joshua verzog das Gesicht. „Und, weiter.“ „Nichts weiter, mehr dürfen wir nicht sagen. Weder Himmel noch Hölle dürfen genaueres darüber wissen, sonst kommt es zu Spionage, Verrat und solche Sachen, die alles wieder gefährden würden. Man darf nur wissen, dass sie existieren.“ „Ach ja...“ Jonathan ließ Joshua nicht weiterreden. „Aber keine Angst, wir dürfen auch nicht verhören, wie uns der Kragen passt, wir sind auch an Vorschriften gebunden, dürfen zum Beispiel über keine Strategien oder so was ausfragen. Alles nette Fragen, hauptsächlich über Person und Eigenschaften.“ Pause, Jonathan grinste. „Außer wir wollen Freunde werden, dann dürfen wir mehr Fragen. Wollen wir Freunde sein?“ Joshua verzog das Gesicht. „Ich kenne euch seit nicht einmal zwei Stunden...“ Enttäuscht ließ Jonathan die Schultern hängen, und Toraria konnte es sich nicht verkneifen mit den Augen zu rollen. Doch sonst verzog sich kein Gesichtsmuskel. Joshua faszinierte diese Frau immer mehr – und umso mehr Angst jagte sie ihm ein, obwohl sie wirklich nicht sonderlich stark zu sein schien. Selbst diese Witzfigur von Alb übertraf sie bei weitem. „Gut, dann kommen wir später noch einmal darauf zurück. Aber, bist du dabei oder müssen wir dich zum Verhör zwingen?“ Joshua seufzte: „Habe ich denn eine andere Wahl?“ Auch wenn die Bejahung nicht sehr glücklich klang, grinste der Alb breit. „Also noch einmal für das Protokoll, du heißt Joshua Nazara, wegen deiner ersten Prüfung hier, vermutlich erster Antritt, und du musst diesen Plagegeist Liam Warrick umbringen.“ „Korrekt.“ „Das ist ein guter Job, weil er Typ im Prinzip mehr Schaden anrichtet, als er hilft, du nimmst uns damit eine Menge Arbeit ab. Aber ich schweife ab, Todesursache und Todesalter?“ „Selbstmord, achtzehn.“ Auf einmal rechnete der Typ mit den Fingern. „Ich wäre jetzt dreiundzwanzig.“ „Danke. Ausbilder?“ „Erik der Rote.“ „Oh, der soll gut sein, oder Tori?“ Keine Reaktion, aber irgendetwas hatte sich an ihr verändert. „Waffen?“ „Knarre und Schwert.“ „Darf ich mal sehen?“ Joshua sah sich um, das Diner war außer ihnen leer und die Kellnerin war mit telefonieren beschäftigt. Für kurze Zeit konnte er also beides herausholen. Zwar sahen Menschen Discordia als Taschenmesser und Eris als Wasserpistole, aber man wusste nie, von was man noch beobachtet wurde. Er hasste es, wie Jonathan sein Schwert befingerte und sich mit der Pistole spielte. Toraria konnte das nachvollziehen – wenn er ihre nicht vorhandene Mimik richtig einschätzte. „Tolles Ding. Ich meine, das Schwert ist zwar etwas umständlich...“ „Es ist allein mir angepasst.“ „Aber die Pistole ist extrem leicht und... meine Güte, die Kugeln können alles töten, sogar diese widerlichen Vampire. Selbst ein Engel würde davon Wunden wegtragen.“ Deswegen würde Joshua niemals voreilig schießen – er hatte nur diese Salve und keine Ahnung, wo er neue Munition herbekommen konnte. Jonathan gab sie ihm zurück. „Toll, sehr toll. Man setzt wahrscheinlich viele Erwartungen in dich, wenn man dir solche Waffen schenkt.“ Pause. „Wie lange versuchst du schon die Prüfung zu bestehen.“ „Dreiunddreißig Tage, denke ich.“ „Wie lange hast du Zeit?“ „Zwei Jahre.“ „Wo wohnst du?“ „Gasse in den Slums mit einem Penner namens Al, ich hab keine Ahnung, wie sie heißt.“ „Macht nichts, wir finden dich auch so.“ Er kramte in der Tasche seines Pyjama- Hemdes, und fluchte, weil etwas nicht fand, bis Toraria ihm eine Art Metallscheibe unter die Nase hielt. Er errötete. „Danke.“ Jonathan schob Joshua die Platte zusammen mit einer Stecknadel hin. „Bitte kurz in den Finger stechen, dann drei Topfen draufbluten. Für die Identifizierung und objektive Klassifizierung.“ Joshua riss die Augen. Objektive Klassifizierung? Verdammt, durften diese Kreaturen wissen, dass er der Messias war? Obwohl sich sein Magen zusammenzog, sodass sein Hunger verschwand und er am liebsten gekotzt hätte, beschloss er sich so wenig verdächtig wie möglich zu benehmen. Er stach sich in den Finger und blutete auf die Metallplatte, die die Tropfen in sich aufsog. Jetzt konnte er nur noch beten, dass in dieser Sphäre die Klassifizierung „Messias“ gar nicht gekannt wurde. „Und wie finde ich euch?“ Jonathans Grinsen erstarb. „Bitte?“ „Ich will dafür eine Gegenleistung, ich will euch auch jederzeit identifizieren, finden und klassifizieren können.“ „Das heißt, du willst mit uns Freundschaft schließen?“ Joshua verdrehte die Augen. „Nein, ich will euch finden, wissen wer ihr genau seid, eure Fähigkeiten kennen. Mich auf euch berufen können. Gibt es keine Meldungsbestätigung, oder so etwas?“ Jonathan schüttelte den Kopf. Nach so etwas hatte noch nie jemand gefragt. Er war der erste seit seiner Karriere, der ein so großes Drama um das Verhör machte, den anderen Höllenbewohner seiner Klasse war immer alles egal gewesen, sie waren nur geil darauf endlich die Prüfung zu bestehen und in den ersten Rang zu kommen. „Dann gebt mir irgendetwas“, hakte er nach. Jonathan kratzte sich am Kopf. „Nun ja, außer ’ner Adresse, Telefonnummer, E-Mail-Adresse können wir dir nichts bieten. Ich meine, das hat noch kein Anfänger von uns verlangt. Nicht, dass es illegal wäre, aber...“ Toraria hielt plötzlich den Finger auf die Lippen ihres Mannes. Er schwieg daraufhin tatsächlich. Ob sie oft von diesem Trick gebrauch machte? Wahrscheinlich war das Kommende die einzige Fähigkeit die sie hatte und vermutlich eine eher nutzlose, aber Joshua war mehr als dankbar, dass sie diese Gabe hatte. Sie nahm seine Hand. Langsam wurde diese heiß und Joshua hätte vor Schmerzen fast geschrieen, doch er riss sich zusammen. Nur für paranormale Wesen sichtbar, erstrahlte die Stelle, an der sich die beiden berührten, sodass der Rest der Umgebung sich verdunkelte. Ein kühler Wind wehte, doch Joshuas Hand wurde noch heißer. Erst nach fünf Minuten hörte der Schmerz auf. Als sie seine Hand los ließ hatte Joshua eine weitere Narbe mehr – ein Pentagramm auf dem Handrücken, in dessen Mitte zwei Verse in Althebräisch standen. Sie hatte ihm gerade den Schwur geleistet, jedes Mal, solange er sich in der Sphäre der Lebenden befand, zu ihm zu kommen, wenn er ihren Namen rief. Ehrenschwüre leisten können – keine große Fähigkeit, aber manchmal wirklich sehr nützlich. Es war kein Problem in ihren Augen folgenden Satz zu lesen: „Mehr bekommst du nicht.“ Mehr hatte er auch nicht gebraucht. Joshua hatte ja nicht einmal genau gewusst, was er von den beiden hätte verlangen können, damit er wusste, wer und was sie waren, und wie er sich auf sie berufen konnte. Gleichsam schob ihm Jonathan Adresse und Telefonnummer zu. Joshua steckte sie ein und seufzte, ein wenig widerwillig: „Kannst du mir eventuell eine dumme Frage beantworten.“ Jonathan nickte. „Wie schlimm sehen meine Narben eigentlich in deinen Augen aus?“ Schweigen. Anscheinend suchte er nach diplomatischen Worten. „Allgemein hat man entweder Angst vor oder Mitleid mit dir.“ Pause. „Bei mir ist es letzteres.“ Er brachte nicht mehr als „Aha“ heraus. Danach dauerte das Gespräch nicht mehr lange. Toraria redete sowieso nicht und Jonathan war anscheinend unfähig eine Konversation außerhalb der Verhörthemen zu führen. Die Bemühungen um Smalltalk gingen in die Hose und Fragen, wie „Findest du nicht auch, dass die amerikanische Regierung wieder denselben imperialistischen Weg, wie vor zehn Jahren, beschreitet?“, stellen keine Grundlage für ein Gespräch dar, wenn das Gegenüber keine Ahnung von Politik hatte. Aber immerhin stellte diese Witzfigur intelligente Fragen, die man ihm gar nicht zugetraut hatte. Joshua wollte eigentlich nur etwas über Toraria erfahren – doch Jonathan sprach genau so wenig über sie, wie sie über sich selbst. Sprechen konnte sie, das hatte er herausgefunden, sie sprach nur nicht. Keine Begründung, keine Hintergrundgeschichte. Zum Glück musste er nichts zahlen, er konnte einfach gehen. Komische Leute, in der Hölle war ihm die Verrücktheit paranormaler Lebensformen gar nicht aufgefallen, weil der ganze Ort seltsam war. Aber, wenn man glaubte, dass man halbwegs normal ist und sich in einer halbwegs normalen Welt befindet, wirken solche Figuren äußert seltsam. Und auch wenn er sich über die Idiotie des Alben aufgeregt hatte, irgendwie war ihm seine hektische, naive Art sympathisch. Vielleicht würde er sich mal mit ihm auf einen Kaffee treffen, wenn er wieder Geld hatte. „Hab ich mich gut geschlagen?“, fragte Jonathan, als die beiden alleine in dem Diner saßen. Toraria seufzte nur. „Was hast du erwartet? Meine Narbe hat angefangen zu schmerzen, sobald ich den Messias gesehen habe. Ich wäre ihm fast um den Hals gefallen und hätte geschrieen, er solle mich endlich als Apostel akzeptieren, damit die Schmerzen aufhören.“ Pause. „Aber du glaubst nicht, dass er weiß, dass wir alles über ihn wissen?“ Seine Gattin schüttelte den Kopf. Wenigstens konnte man sich auf ihre Ehrlichkeit verlassen. Die Schmerzen ließen langsam nach und Jonathan spielte sich mit der Metallplatte. „Gabriel hat nichts mitbekommen.“ Keine Reaktion. „Gut. Und erfährt auch nichts und krieg die Platte auch nicht.“ Das brauchte keine Antwort. Der Chef sollte, nein durfte, nichts erfahren, bis der Messias Jonathan als Apostel akzeptiert hatte. Dann hatten sie Joshua Nazara unter Kontrolle, dann konnte er sich von der Hölle lösen, dann würde der Krieg zu ihren Gunsten enden. Und auch Gabriel hatten sie unter solchen Umständen in der Hand. Die Hölle hasste die Menschheit im Allgemeinen. Doch am meisten hassten sie die Menschen, die sich mit ihrer eigenen Unfähigkeit nicht abfinden können und versuchten hinter paranormale Geheimnisse zu kommen. Diese widmeten ihr Leben der Aufdeckung von Himmel und Hölle, geisteswissenschaftliche und naturwissenschaftliche Beweggründe glichen sich aus. Es gab drei Kategorien von Menschen mit so einem Forschungsdrang. Die ersten waren Leute, die einfach nur wissen und das Wissen verbreiten wollten – ihre Neugier wurde früher oder später mit dem Tod bestraft. Die zweite Gruppe waren Leute wie Liam Warrick, die durch Zufall etwas erfahren hatten und nun in paranormalen Lebensformen eine Bedrohung sahen. Sie machten sich selbst zum Ritter und recherchierten, bis sie alle Schwächen, eventuell sogar die Hierarchien von Himmel und Hölle, kannten. Doch das einzige was sie nie erfuhren, war, dass die Menschheit von der paranormalen Lebensform abhing und sich aus ihr herausentwickelt hatte. Solche Subjekte waren mitunter nicht leicht zu vernichten, doch sie richteten nie größeren Schaden als ein paar Leichen an. Die dritte Kategorie war jene von Menschen, die selbst paranormale Fähigkeiten haben wollten. Dies erreichte man am besten, wenn man ein paranormales Wesen beschwor, was aber meistens verheerende Folgen hatte. Entweder brachte der Beschworene den Menschen um, oder der Vertrag, der die paranormale Macht versprach, trieb den Menschen in den Wahnsinn. Meistens. Hin und wieder, vielleicht in einem Fall von einer Million, handelte sich der Mensch einen so wasserdichten und vorteilhaften Vertrag mit dem Beschworenen aus, dass er ohne großen Schaden seine paranormalen Fähigkeiten bekam – diese Menschen waren auch meistens dafür verantwortlich, dass eine Magier-Dynastie gegründet wurde, eine Familie von Menschen, welche sich die selbe Macht wie Dämonen oder Engel einverleiben konnte, welche niemand ihnen wegnehmen konnte, und welche an jeden Blutverwandten vererbt werden konnte. Doch da diese Wunderkinder so selten waren, waren die Beschwörenden zumeist Plagegeister. Sie weckten die Beschworenen aus dem Schlaf, rissen sie aus Unterhaltungen, störten bei der Arbeit, nervten sie mit einer blöden Frage, gafften sie an, sabberten, verloren vielleicht den Verstand. Und unter diesen Umständen konnte man nichts anderes tun, als diesen Wurm einfach den Kopf abzuschlagen und dann wieder seine alte Beschäftigung aufzunehmen. Doch unter Umständen konnten diese Idioten auch ganz nützlich sein. Und Sabine Plainacher wusste genau, welch einen Spaß man mit diesen Trotteln haben konnte. Claudia und Melitta hatten sich nur mit Mühe über Claudias überfürsorgliche Mutter von Leib halten können. Zumindest war ihre Mutter in ihren Augen überführsorglich, aber betrachtete man das Verhalten der beiden Mädchen, das aus Posing mit „satanischen“ Symbolen, Musik und Lebensstil und Mythologien um den Teufel bestand, verstand man das Verhalten der Frau, die keine Ahnung von der Trendwelle hatte. Und mit ziemlicher Sicherheit wäre es besser gewesen, wenn sie an diesem Abend einfach die Tür aufgerissen und „Aus jetzt!“ geschrieen hätte. Die beiden dreizehnjährigen Mädchen hatte im Internet eine Beschreibung gefunden, wie man eine Dämonin namens „Beenie“ beschwören konnte. Beide fanden, dass „Beenie“ zwar kein dämonischer Name war, aber immerhin befand sich das Wort „Bee“ darin, ein Hinweis auf den Herren der Fliegen? Vielleicht war das Wappentier von weiblichen Dämonen ja die Biene. Während Claudia die Kerzen anzündete, las sich Melitta die ausgedruckte Ritualbeschreibung durch. „Ist es schon acht Uhr?“, fragte Melitta nervös. „Fünfzehn Minuten noch. Hilf mir das Feuer zu machen.“ Die beiden schnappten sich einen Papierhaufen und zündeten ihn an. Dabei verbrannte sich Claudia die Finger, was sie „Leiden für Satan“ empfand. Zum Glück gab es in ihrem Zimmer keinen Rauchmelder. Auf die Papierasche stellten sie einen Kessel aus Edelstahl, den Claudia überteuert bei einem Trödler gekauft hatte. Hinein goss sie Wasser und tat Stahlringe hinzu, ebenfalls von diesem überteuerten Händler, während Melitta mit einem schwarzen Filzstift Pentagramme, Zahlen und Worte in einer Schrift auf den Holzboden schrieb, die sie nicht lesen konnte und deswegen für Zierde hielt. Wenn sie gewusst hätten, was sie schrieb, hätte sie wahrscheinlich das Ritual abgebrochen, ehe es begonnen werden konnte. Hoffentlich bestanden alle Gegenstände aus Stahl, denn sonst würde die „Metallherrin“, wie das Cognomen der Dämonin war, nicht erscheinen. „Und jetzt?“, hetzte Melitta. „Du hast es doch gelesen! Setz dich im Schneidersitz mir gegenüber.“ Das Mädchen gehorchte ihrer Freundin. Claudia reichte ihr die Hände und sie nahm sie. „Kannst du en Spruch?“ Melitta nickte. „Und jetzt konzentriere dich. Wenn man nicht ganz bei der Sache ist, dann wird es nicht klappen.“ Sie nickte wieder. Melitta war nervös und hatte irgendwie auch Angst, aber sie würde schon die nötige Konzentration aufbringen können. Sie glaubte an diese Dämonin und sie würde es auch schaffen den Spruch ohne Fehler über die Lippen zu bringen – auch wenn es eine sehr seltsame Sprache war. Der Wecker schlug Punkt acht Uhr. Claudia und Melitta drückten sich fest die Hände und schlossen die Augen. Wie aus einem Mund sprachen die dreizehnjährigen: „Oh, Filia odii! Soror peccati! Audi nos vocare! Assumi hostias! Ascendi ex ferro, ut hic et nunc facinus gerere possis!“ Sie hatte keine Ahnung, was das heißen konnte, doch es klang viel versprechend, es klang böse, sie wollten auch böse sein, so was Mädchen aus der Highschool, vor der sich alle fürchteten, weil sie auch Satan und Dämonen beschwor. Dreimal mussten sie die lateinischen Sätze aufsagen. Danach warteten sie. Melitta verlor ihre Konzentration und öffnete kurz die Augen. Doch dieser Bruchteil einer Sekunde hatte gereicht um das Brodeln im Stahlkessel zu sehen. „Claudy“, flüsterte sie. „Du sollst doch nicht sprechen, du Kuh!“, fauchte sie und schlug sich dann die Hand auf den Mund. Jetzt hatte auch sie die Regeln missachtet. Noch dazu hatte sie die Hände ihrer Partnerin los gelassen. Doch das Entsetzen war nicht mehr nötig. Auch sie sah das Brodeln im Wasser. Beide hatten sich das Ergebnis anderes vorgestellte. Dass vielleicht das Kerzenlicht unnatürlich stark flackerte oder ausging, dass ein kühler Wind wehen würde, dass ein paar Sachen sich verrückten. Doch mit einer so heftigen Reaktion hatten sie nicht gerechnet. Das Wasser kochte regelrecht, schlug Blasen, spritze aus dem Behälter heraus. Melitta zitterte schon, seit ihre Freundin ihr den Plan erzählt hatte und jetzt erwachte auch Claudias Angst. Und beide Mädchen konnten ihre Blase nicht mehr kontrollieren, als plötzlich eine Hand aus dem Behälter geschossen kam. Sie schrieen auf. Claudia krabbelte zu Melitta und umschlang sie. Nie hätte sich eine von beiden denken können, dass dieses Ritual tatsächlich funktionieren würde. Der Hand folgte ein Arm, muskulös, tattooviert, mit Metallkugeln geschmückt, leicht vernarbt und eindeutig weiblich. Die Handfläche berührte den Boden, stemmte sich auf. Plötzlich entstand quasi ein Sturm im Zimmer, die Spielzeuge Claudias wurden durch die Luft gewirbelt, rasten in einer kreisförmigen Umlaufbahn im Zimmer herum. Alles schien plötzlich ein Gesicht zu haben – und die beiden Mädchen zu verhöhnen. Das Geschrei der Mädchen wollte nicht enden. Es folgte ein zweiter Arm, der sich ebenfalls aufstütze. Aus eigener Kraft drückte sich aus dem kleinen Behälter ein Frauenkörper heraus. Erst Kopf, dann Oberkörper, dann Unterleib und Beine. Und so stand sie vor ihnen – splitterfasernackt überragte sie breitbeinig und mit verschränkten Armen die Mädchen. Ihre Haarfarbe befand sich irgendwo zwischen rot und pink, große Brüste, muskulös, aber trotzdem weiblich, ernster, stoischer Gesichtsausdruck, gelbe Iris, und ihr ganzer Körper war mit Piercings überzogen, sodass sie schon fast so metallen wie ein Roboter wirkte. Wo auch immer man hinblicke entdeckte man einen Ring oder Knopf aus Stahl in ihrer Haut. Deswegen nannte sie sich auch Metallherrin. Eine Zeit lang starrten die Mädchen sie fasziniert an, doch dann schrieen sie wieder. Und ihre Angst steigerte sich, als das Gesicht der Frau nicht mehr regungslos zu ihnen gewandt war. Ihr Grinsen war riesig, zog sich wortwörtlich von einem Ohr zu anderen und entblößte Reißzähne, die einem den Kopf spalten konnten. „Och wie süß...“, kicherte Sabine Plainacher. „Zwerge.“ Ihre Stimme war schrill, autoritär und echote. Claudia und Melitta hätten nicht gedacht, dass ihre Stimmbänder noch mehr Leistung bringen würde, doch sie schafften es noch lauter zu kreischen. Plainacher hielt sich die Stirn „Wisst ihr wie anstrengend ein Sphärenwechsel ist. Haltet die Schnauze, ihr Fotzen, ich hab Kopfschmerzen.“ Die Drohung half natürlich nichts, die Gören kreischten weiter. Zum Glück hatte sie keine Hemmungen Menschen im Kindesalter das Licht auszublasen. Sie beugte sich zu den Beiden, die sich schreiend und zitternd in den Armen hielten, herunter und drückte ihre Hände auf ihre Münder. Übte Druck aus. Erst brach sie ihnen die Kiefer, dann zerquetschte sie das Gebiss. Das Knacken war ein Genuss in ihren Ohren. Doch die Mädchen gaben noch immer dieses unliebsame Geräusch von sich. Also schnitt sie ihnen mit ihrem breiten Grinsen die Kehlen durch. In wenigen Sekunden waren sie verblutet. Plainacher streckte sich und badete genüsslich ihre Füße in dem Blutbach – wie herrlich war diese Stille. Leider weilte sie nicht lange. Jemand öffnete die Zimmertür. „Jetzt beunruhigt mich das Geschrei von euch beiden aber. Was ist hier... Oh mein Gott.“ Und dann schrie schon wieder ein weiblicher Mensch. Sabine Plainacher wandte sich um und sah die Frau, deren entsetzter Blick zwischen der nackten Dämonin und den toten Mädchen hin und her wechselte. Sie hatte hässliche Hausfrauenklamotten an. Diese Fetzen würde Plainacher niemals stehen und anziehen. Trotzdem musste die Frau getötet werden. „Gott ist tot!“, schrie Plainacher zurück, raste auf die Frau zu und riss ihr mit einer kurzen Bewegung das Herz aus der Brust. Sofort war sie hinüber. Diese Menschen hielten aber auch wirklich gar nichts aus... Sie warf das Herz auf den Boden, zertrat es wie eine Fliege, schritt zum Fenster, öffnete es. Die Luft war verdammt angenehm, das einzige, was sie in dieser widerlichen Sphäre zu schätzen wusste. Auch wenn dieser hohe Sauerstoffgehalt verdammt ermüdend sein konnte. Mit einem nicht ganz so breiten Grinsen streckte sie sich wieder. Da die Welt einfach hören musste, was sie zu sagen hatte, schrie sie: „Menschen, Beenie ist zurück! Und sie wird euch zeigen, was Hölle auf Erden wirklich bedeutet.“ Plainacher sprang aus dem Fenster, ließ sich fallen, und begann ihre Suche nach dem Messias, die einem Amoklauf glich... Kapitel 5: Blind Angie ---------------------- Nichts los, heut Abend... Joshua saß neben Al, der, wie immer betrunken, hektisch, aber ironisch seine Verschwörungstheorien über eine Raumstation unterhalb des Weißen Hauses erklärte und gerade beschrieb, wie die Außerirdischen sich des Körpers der Politiker bemächtigt hatten und der US-amerikanische Präsident in Wirklichkeit ein kleines, grünes Männchen namens E.T. war, das sich in eine Menschenverkleidung hüllte. Joshua wollte fast gegenargumentieren, dass E.T. nicht grün, sondern braun war und die kleinen, grünen Männchen Dämonen auf Uranbasis waren, die man als Kanonenkugeln verwendete, und dementsprechend „Werfis“ genannt wurden. Insgeheim hatte er sich schon oft gefragt, in wie weit die Politik von paranormalen Wesen unterwandert war, aber darüber würde er sich erst Gedanken machen, wenn mehr wusste, als dass es drei Sphären, verschiedene paranormale Formen und einen Vertrag gab, wobei er von letzterem auch nicht mehr als ein Prozent des Inhalts kannte. Er riss sich aber zusammen, sagte nichts. Wenn jetzt aber nicht gleich irgendetwas geschah, würde sich Joshua kurzerhand auf die Diskussion eingehen. Noch dazu trank er. Zuerst hatte er nur dann Schluckte gemacht, wenn Al ihm die Wodkaflasche reichte, doch irgendwann geschah ihm das zu selten (erschreckend, dass er „alle zehn Minuten“, als zu selten ansah, doch er schob es auf sein Zeitgefühl) und riss seinem Mitbewohner alle drei Minuten die Flasche aus der Hand Al machte sich immer lustig über seine Schlucke, die nie mehr als ein Nippen waren. Wegen Angela hatte er immer eine Abneigung gegen Alkohol gehabt und erst, als er Rachel kennen gelernt hatte, hatte er sich dafür begeistern können. Geschmeckt hatte es ihm nie, vertragen hatte er kaum etwas. Deswegen würde er auch jetzt in der Langeweile keine großen Schlucke machen. Doch diese Nipperei reichte um ihn betrunken zu machen. Er bekam Schluckauf, Al lachte. Ob er so überhaupt noch seine Rettungsarbeit erfüllen konnte, war fraglich. Rachel... was aus dem Mädchen geworden war, wegen der er überhaupt Selbstmord begangen hatte... oder so... Wenn er sich noch richtig erinnerte, war sie von einem Lehrer ermordet worden. Er erinnerte sich, dass er damals absolute Verzweiflung und Trauer verspürt hatte, doch nun ließ ihn der tragische Tod der Rachel Simmons kalt. Und wegen so einer, die er fast vergessen hatte, hatte er das Schicksal der Welt bestimmt? So wirklich konnte er sich das nicht vorstellen. Leider wusste er auch nicht, warum er sonst hätte Suizid begehen können. Wo Rachel wohl gelandet war? In der Hölle hatte er sie nie gesehen, aber er hatte nie dort fast keine Leute getroffen. Irgendwie war auszuschließen, dass sie nun im Himmel war, er wusste nur nicht warum. Verdammt, wie langweilig musste ihm sein, wenn er an die Geister seiner Vergangenheit dachte. Wieso war heute nichts los? Paranormalität kannte keine Feiertage. Joshua stand auf. Vielleicht kamen die Überfälle diesmal nicht zu ihm, sondern er musste zu den Überfällen hin. Hoffentlich traf er nicht allzu starke Wesen, in dem Zustand würde vermutlich all seine Tollpaschtigkeit zu Tage kommen, die er sich nie hatte abgewöhnen können. Und die würde dann wohl oder übel für seine absolute Eliminierung verantwortlich sein. Leider war er zu unvernünftig, um sich einen Tag Pause zu gönnen. Er torkelte los. Al schrie ihm einen Spottvers nach, den er nicht verstand. Vielleicht lag es an der Menschenmenge, dass heute es kein paranormales Wesen versuchte sein Unwesen zu treiben. Obwohl es schon zehn Uhr nachts war, wuselten hunderte Passanten durch die Straßen. Verliebte Paare, Familien mit drei Kindern, hektisch telefonierende Herren und Damen in feiner Kleidung, Prostituierte, Penner, Sektenanhänger und andere religiöse Fanatiker, Leute, die ihre letzten Einkäufe erledigten, bevor die Läden schlossen. Es war laut, die Straße lebte. Entweder davon, oder vom Alkohol bekam er Kopfschmerzen. Nach ein paar Schritten übernahm die Vernunft schließlich die Oberhand. In diesem Rauschzustand konnte er nur Versagen. Joshua hielt sich den Kopf. Was fanden so viele Leute daran so lustig, sich anzusaufen? Kurz bevor der Kiosk geschlossen wurde, kaufte Joshua eine Packung Zigaretten. Binnen drei Wochen war sein Konsum wieder auf die Menge gestiegen, die er vor seinem Tod täglich inhaliert hatte. Die Masse erschreckte ihn – so etwas hatte er schon Ewigkeiten nicht mehr gesehen. Massenaufläufen gab es in der Hölle nur in Arbeitslagern, doch die dortige Stimmung war mit dieser nicht zu vergleichen. Trotz Hektik und Alltags-Aggressionen hatte das Szenario eine positive Atmosphäre. Ob es irgendeinen Grund für die Freude gab? Stand bald Weihnachten an? Weihnachten... jedes Jahr wurde man 24. Dezember mit „Konsumterror“, „Glühbirnenverschwendung“, „Baummord“ und „aufgesetzt fröhlichen Filmchen, die man nur unter Drogeneinfluss toll findet“ bombardiert, wie es seine Mutter immer so schön ausgedrückt hatte. Familie Nazara hatte nie Weihnachten gefeiert. Chanukka auch nicht, Joseph Nazara war genau atheistisch wie Maria Nazara, und diese Verachtung gegenüber religiösen Feiertagen wurde an den Spross übergeben. Gefeiert wurde am 24ten Dezember aber trotzdem – Joshua hatte am 24ten Dezember Geburtstag. Haha, lieber Jesus, haha, hatte er schon immer Gedacht. Aber nein, Weihnachten konnte nicht sein, dazu fehlten die Glühbirnenverschwendung und der Baummord. Joshua schlug sich auf die Stirn und setzte sich auf eine einsam herumstehende Bank, die wohl eine Gruppe lustiger Jugendlicher aus einem Park geklaut hatte. Er zündete sich die dritte Zigarette in zehn Minuten an. Dieser verdammte Alkohol zwang ihn über Sachen nachzudenken, die ihn seit Jahren nicht mehr durch den Kopf gegangen waren. Anekdoten, die er eigentlich vergessen wollte und Begebenheiten, die er eigentlich verdrängen wollte. Er schwor sich, nie wieder zu trinken. Und jetzt am besten zu Al zurück zu gehen und zu schlafen. Paranormale Übergriffe würden heute hoffentlich weiterhin ausbleiben. Irgendetwas ließ ihn aber plötzlich zusammenzucken. Nichts Paranormales jedoch. Liam Warrick?, war Joshuas erster Gedanken. Bitte, alles außer Liam Warrick. Schon nüchtern war er dem Kerl unterlegen gewesen, wie würde ein Kampf erst enden, wenn er angeheitert war? Doch seine Sorge war umsonst. Sein Blick fiel auf die hagere, große Frau, deren Hund sie gerade an Joshua vorbeizerrte. Er hätte fast ihren Namen laut herausgeschrieben. Er hätte sie fast umarmt. Doch schlussendlich war er so überrascht, weil er seine Schwester auf einmal sah, dass er nur perplex auf sie starren konnte. Der kurze Blick hatte gereicht, um zu erkennen, dass sie sich über die fünf Jahre verändert hatte. Ins positive jedoch. Ihre Schritte waren zwar unsicher, irgendwie ziellos, doch sie schwankte nun nicht mehr. Ihre Haltung war aufrecht, stolz, auch wenn sie sich von diesem Hund dirigieren ließ. Egal. Alles deutete daraufhin, dass sie vom Alkohol losgekommen war. Sie war mager geworden, selbst durch ihre weiten Pullover konnte man die S-Form ihrer Wirbelsäule erkennen, ihre eng anliegenden Jeans offenbarten Unterschenkel, die so dünn wie Neonröhren waren. Große Augenringe und ausgeprägte Wangenknochen zierten ihr Gesicht, ihr Haar war zerzaust, ihre Kleidung bescheiden. Sie verfluchte den Hund für seine Ungezogenheit, ihre Stimme war kratzig und ihre Sprache vulgär. Anscheinend hatten Alkoholismus und Entzug in jeder Weise ihr gezehrt. Aber egal, sie schien endlich trocken zu sein! Angela war trocken! Gerne wäre Joshua ihr nachgerannt, hätte gerne mit ihr gesprochen, hätte sie gerne umarmt. Doch er ließ es. Er war nicht betrunken genug um die Folgen der Begegnung mit einem verstorbenen nicht zu erahnen. Das letzte, was er wollte, war seine Schwester in einen Schock zu versetzen. Nun konnte er endgültig nicht mehr kämpfen, egal, was heute noch passieren würde. Er ging zurück, setzte sich neben Al, der ihm sogleich wieder die Wodkaflasche hinhielt. Joshua stieß sie weg und machte die Augen zu. „So ist es gut, schlaf dich mal aus.“ Al machte einen Schluck. „Ich hab oft das Gefühl, du schläfst nie.“ „Bitte... lass mich am...“ Das Flehen war sinnlos, Plainacher drückte dem Opfer die Nadel durch das Brustbein, ins Herz, ein tödlicher Stich, der schließlich zum Ableben dieser Kreatur führte. Nichts da von wegen am Leben lassen, der Mensch, der es wagte sie anzusprechen, musste mit seinem Leben bezahlen. Niemals würde sie sich dazu herablassen mit einer solch niederen Kreatur ein Konversation zu führen, selbst Sklaven der Waffenschmiede, die sogar einem Sklaven des Schenkers unterstanden, waren in ihren Augen mehr wert, als ein verdammter Mensch. Am liebsten würde sie einfach durch die Straßen gehen, einem nach dem anderen den Kopf abschlagen, doch leider war so ein Verhalten verboten. Erik der Rote hatte ihr aufgetragen, immer einen Grund für einen Mord an einem Menschen nenne zu können. Zwar war schlichtes Ansprechen sicher ein solcher, den der Vertrag nicht umfasste, aber wer achtete heutzutage noch den Vertrag? Lillith jedenfalls nicht, denn nur durch ihr Eingreifen, was der Vertrag verbat, war Joshua Nazara auf die Seite der Hölle gezogen worden. Und hatte sie Ärger bekommen? Nein. Würde sich noch irgendwer beschweren? Niemals, der Messias war für alle Zeiten an die Hölle gebunden. Zumindest dann, wenn er seine erste Prüfung bestanden hatte. Aber dafür würde sie schon Sorgen. Plainacher zog die Nadel aus dem Körper des Menschen und sie verwandelte sich in einen der Ringe, die ihren Körper zierten. Ihre 666 Piercings... ihr Markenzeichen... ihre Waffen. Nachdem sie auf die Leiche gespuckt, machte sie sich auf die Suche nach Joshua Nazara. Dank seiner Narben war der werte Herr Messias sehr auffällig. Irgendein Obdachloser hatte ihr kurz vor seinem Tod verraten, wo sich das Narbengesicht aufhielt. Sie fand es widerlich, dass sich dieser Joshua damit zufrieden gab, in der Gosse zu schlafen. Es gab auch nicht-paranormale Möglichkeiten sich ein schönes Heim für die Prüfungszeit zu suchen. Anderseits – der Typ war seltsam, befand sich noch irgendwo zwischen Mensch und Dämon. Und bis zum Bestehen des Examens würde er dies auch noch weiter von sich denken. Verdammt, sie musste dafür Sorgen, dass der Trottel endlich seiner Existenz würdig wurde. Er durfte nicht mehr länger seiner alten Lebensform nachtrauern! Er durfte kein Mitleid mehr mit den Menschen haben! Er musste die Menschen hassen! Er darf ihnen nicht mehr helfen! Sie musste diesen Gedanken aus seinem Kopf jagen. „Hey, Süße, ist dir nicht kalt?“ Plainacher warf dem komischen Typen, der sie gerade von der Seite angesprochen hatte, einen wütenden Blick zu. Doch anstelle einfach zu gehen (gab sie ihm eben ausnahmsweise eine letzte Chance) gefielen ihm ihre Augen. Er grinste. „Ich meine, wenn ich für mein gesamtes Geschlecht sprechen darf, finden wir es toll, dass du bei zehn Grad mit Hotpants und nur einem Poncho, ohne etwas drunter, herumrennst, aber Mensch, deine Gesundheit leider sicher darunter...“ Mensch? Hatte er sie gerade Mensch genannt? Niemand nannte sie Mensch. „Schließt du notgeiler Bock immer so deine Bekanntschaften?“ Sie hasste die Sprache der Menschen, besonders diese. „Nein, eigentlich nicht, aber du hast einfach so ein faszinierendes Charisma.“ Plainacher zwang sich ein geschmeicheltes Lächeln aufs Gesicht. Sie spielte sich mit einem Piercing an ihrem Bauchnabel und dem perversen Typen gefiel das. Er merkte aber nicht, dass sie eines ablöste. „Wie viele hast du denn?“ „Sechshundertsechsundsechzig.“ Die Zahl wirkte auf die meisten Menschen suspekt (Wie geht das? Ich sehe nur die im Gesicht.), doch der Kerl zeigte sich begeistert. „Boah, ey, ich hab nur eines.“ Er grinste breit. „Im Genitalbereich. Willst du’s sehen?“ Das reichte. Sie beschloss ihr Opfer diesmal nicht in ein abgelegenes Fleckchen zu zerren. Hier und jetzt, unter den ganzen Passanten musste er sterben, zum Glück konnte man auch Morde vertuschen, doch nur mit bestimmten Techniken. Die machen zwar nur leider halb so viel Spaß, weil das Opfer kaum leidet, aber der Trottel musste so schnell wie möglich von der Bildfläche verschwinden. Der Ring formte sich zur Nadel. Plainacher setzte wieder ihr schleimerisches Lächeln auf, und berührte den Typen an der Wange. Sie spürte seine Erregung auf der Haut vibrieren. Diese Kreaturen besaßen wirklich gar keine Selbstbeherrschung. Und solche Wesen hatte Gott eins den Engeln vorgezogen... kein Wunder, dass Satan ihn und sie hasste. Schnell stach sie die Nadel in das Ohr des Widerlings. Auf der anderen Seite huschte sie wieder heraus. Der Unterkiefer des Typen klappte auf. Es würde noch zehn Minuten dauern, bis er tot war, aber bis dahin konnte sich nicht rühren. Plainacher spuckte ihn zweimal an – einmal auf die Schuhe, einmal in den Mund. „Sei froh, dass ihr dir nicht den Schwanz abgeschnitten habe, Wichser.“ Pause. „Und, da wo du nun hinkommst, solltest du auf dein Arschloch aufpassen.“ Sie ging. Leider würde sie nicht sehen, wie der Kerl tot umkippte. Zum Glück hatte sie auch diesmal nicht vergessen das Schreien und Sterben des Menschen zu verdecken, sonst würde der Messias kommen und versuchen zu helfen. Auch wenn es weniger zeitaufwendig gewesen wäre, den Messias mit einer „Jungfrau in Gefahr“ herzulocken, so war es taktisch ein schwerer Fehler – der selbsternannte Superheld und Retter der Schwachen würde sich eher nicht einer Person anvertrauen und sich von ihr manipulieren lassen, wenn sie einem Schwachen das Leben nehmen wollte. Liebe Menschheit, Beenie ist zwar grausam, aber nicht dumm... Mit einem lauten Stöhnen wachte Joshua aus seinem Schlaf auf. Was zum Teufel war das denn für ein beschissener Traum gewesen? Ein rothaariges Vollweib aus Hölle mit circa hundert Piercings lief quasi Amok in dieser Sphäre? Und ein Zoom auf eine Armbanduhr hatte verraten, dass dies genau in dieser Minute geschah? Schwachsinn... er hasste Träume mit Handlung, da diese „Handlung“ nie einen Sinn ergab und ihn nur stresste. Ihm war das surrealistische Aneinanderreihen von Bildern schon immer lieber gewesen. Ausgeschlafen war er nicht, wahrscheinlich hatte er nur eine Stunde geschlafen. Er streckte sich, und setzte sich auf. Seine Augen waren noch verklebt und er sah verschwommen. Dann gähnt er. Solche biologischen Schwachpunkte hatte er in der Hölle nie gehabt. Schlafen hatte er zwar müssen, aber immer kürzer, er hatte keine Schmerzen wegen schlechten Liegepositionen gehabt, musste nicht gähnen... das einzige menschliche Makel, das er die meiste Zeit gehabt hatte, war seine Nikotinsucht gewesen und eben die Müdigkeit, auf die aber selbst Erik der Rote manchmal Rücksicht genommen hatte. Je länger er auf der Erde noch verweilen würde, umso mehr würde er sich seiner noch bestehenden Menschlichkeit bewusst werden, die er fast verdrängt hatte. War das gut, oder schlecht? Joshua zündete sich eine Zigarette an. „Al, schläfst du?“ Er drehte sich zu dem Penner. Doch der Penner war nicht da. Nur eine zersprungene Wodkaflasche. Und die Frau die er im Traum gesehen hatte. Ihr Grinsen ging wortwörtlich von einem Ohr bis zum anderen. „Morgen“, kicherte sie. Joshua schrie kurz auf, seine Restmüdigkeit war verschwunden. Sofort hielt er der Dämonin seine Pistole an die Stirn. Ihr Lächeln verschwand. „Das ist aber nicht nett.“ Er erkannte sie nun. Er hatte sie einige Male zusammen mit Erik dem Roten gesehen. Doch nie hatte er ein Wort mit ihr gewechselt. Ihre Stimme zeugte jedenfalls von demselben Wahnsinn, wie ihr Äußeres. Sie nahm den Lauf der Pistole. Joshua wollte abdrücken, doch sie verriss seinen Arm. Die Kugel ging in den Boden. „Und das war noch weniger nett.“ Joshua rieb sich den Arm. Jetzt hatte er eine Kugel verschwendet. Die Dämonin war um einiges stärker als er, konnte also kein weiterer Prüfling sein. Was hatte sie dann hier zu suchen? Durfte sie überhaupt hier sein? „Wer bist du?“ Peinlich, wie sehr er jammerte. „Leutnant Sabine Plainacher. Aber Beenie reicht.“ Leider hatte ihn Erik der Rote nie über die Hierarchie der Höllenwehr aufgeklärt. Er stufte die Dämonin kurzerhand als mächtiger und einflussreicher als Erik den Roten ein. Dabei war dies nicht der Fall. „Hörst du jetzt endlich auf zu jammern, du Weichei. Bedenke, so was wie du soll eines Tages die Hölle in den letzten Krieg führen.“ „Bis dahin hab ich noch Zeit.“ Eris verschwand wieder im Pistolenhalter und Joshua stand auf, damit er sich überlegener fühlte. Viel half dies jedoch nicht. „Was willst du? Und wo ist Al?“ Die letzte Frage wurde schnell beantwortet. Plainacher legte einen abgetrennten Kopf vor seine Füße. Eigentlich hatte sie in Gegenwart des Messias nett sein wollen, aber die Realität sieht immer anders aus, als ein Plan. Und wenn ein nach Kotze und Urin stinkender Penner ihr einen Schluck von seinem Wodka anbot, konnte sie nicht anders als ihm den Kopf abschlagen. Sie versuchte unschuldig zu lächeln – leider war das mit ihrem Mund nicht möglich. „Er wollte mich vergewaltigen“, log sie, aber vermutlich glaubte er ihr nicht. Joshua starrte auf Als letzten Gesichtsausdruck, in dem sich Entsetzen, Angst und Verzweiflung widerspiegelten. „Du wahnsinniges Monster!“ Plainacher verdrehte die Augen. „Nicht mal ordentlich fluchen kannst du.“ Sie stand auf. „Weißt, um auf deine erste Frage zurückzukommen, Erik, Lillith und auch all die anderen Einwohner der Hölle sehen gar nicht gerne, wie du dich entwickelst.“ Also wurde er doch beobachtet. „Ich fühl mich noch nicht bereit gegen Liam zu kämpfen. Seine Waffen sind mir suspekt.“ „Dagegen hat auch kein Pimmel etwas. Man hat dir zwei Jahre gegeben, mehr als sechshundertfünfzig Tage hast du noch Zeit, und die nimmt dir kein Arsch. Ich hab auch meine volle Frist ausgenutzt und kuck mal was aus mir geworden ist.“ Sie demonstrierte ihre Armmuskulatur. Joshua konnte aber nur darauf achten, dass sie unter dem braunen Poncho nichts mehr an hatte. „Aber weißte, dieses ganze Superheldengehabe geht uns gehörig auf die Eier...stöcke.“ Er biss sich auf die Lippen. „Was meinst du?“ Dabei wusste er genau, worauf sie anspielte. „Na, deinen widerlichern Drang, Retter der Jungfrauen zu sein.“ Joshua schnaufte. Er wusste nicht, ob es etwas brachte zu leugnen, wahrscheinlich nicht, aber tat es trotzdem. „Ich hab nur Menschen vor Vampiren gerettet. Und Erik der Rote hat mit dezidiert gesagt, ich soll jeden töten, der mir über den Weg läuft.“ Sie verdrehte die Augen. „Tse, klar, dreimal haste derweil Vampire erlegt. Mich anzulügen bringt nichts, Fotzengesicht. Man braucht nicht sehr mächtig zu sein um dich zu durchschauen.“ Verdammt. „Hör zu, ich weiß nicht, was genau mich dazu bewogen hat. Vielleicht die Langeweile.“ „Wenn dir langweilig ist, reiß Menschen die Gedärme raus...“ Das überhörte er einfach. „Vielleicht auch der Schock. Ich meine, ich bin genau in der Gasse wieder aufgetaucht, wo ich Selbstmord begangen habe und alle Erinnerungen kamen wieder hoch, dass das alles doch ganz nett was, dass ich auch irgendwie noch ein Mensch bin... AUA!“ Plainacher trat ihm gegen das Schienbein, um ihn zum Schweigen zu bringen. „Das hast du jetzt nicht gesagt! Stell dich noch einmal mit den widerlichen Menschen gleich und ich Prügel dir die Scheiße aus dem Leib, egal, ob Messias oder nicht.“ Joshua hielt sich das Schienbein, der Tritt war verdammt heftig, quälte aber aus sich heraus: „Wieso nicht? Ich war mal ein Mensch.“ „Du WARST, Arschloch, du WARST! Jetzt bist du ein Dämon, wirst irgendwann zum Teufel aufsteigen, und du bist verdammt noch Mal besser als die Scheißmenschheit. Auch besser als Magier, besser als Alben, besser als jede hier zu Paranormalität gekommene, beschissene Existenz.“ Joshua knurrte. So konnte er das nicht sehen. Zwar fand er Begründung dafür, aber er fühlte sich noch immer als Mensch, nicht als Dämon. Deswegen sagte er, auch wenn es ihm übertrieben pathetisch, und nicht ganz ehrlich vorkam: „Es tut mir leid, aber ich bin als Mensch geboren und ein Teil von mir wird immer menschlich sein. Auch wenn ich diese Sphäre vernichten sollte, das Menschliche wird nie verschwinden. Sorry, aber ich bin nun mal hier geboren und nicht in der Hölle.“ Plainacher zuckte mit den Schultern. „Ich auch.“ „Bitte?“ „Ich war auch Mal ein Mensch.“ Sie kratzte sich am Kopf. „Verdammt, es ist schon so lange her, seit ich an der deiner Stelle stand. Ich glaube, ich habe damals genau so geredet.“ Pause. „Und jetzt, na ja, sieh mich an, ich bin Faschistin.“ Das sagte sie mit Stolz. „Sorry, aber ich vergesse immer, dass Anfänger sich meistens mit ihrer alten Sphäre verbunden fühlen. Noch dazu warst du Selbstmörder und bist nicht umgebracht worden, so wie ich. Das heißt du hast keinen so innigen Hass, wie ein Ermordeter.“ Joshua wusste nicht, was er nun sagen sollte. Einerseits überraschte ihn das Geständnis, so überzeugt wie sie redete, hatte er wirklich geglaubt, sie seit ihrer Geburt Dämonin. Andererseits verwirrte ihn ihr plötzlicher Stimmungswechsel, von der Aggression zu freundlicher Selbstironie. „Aber weißte, diese Liebäugelei mit den Menschen steht wirklich abseits jeder Anfängerverwirrung. Dieses Superheldengehabe muss dir wirklich ausgetrieben werden.“ „Wieso?“, fragte er wieder. Sie knurrte, stand kurz davor wieder zur Aggression überzugehen, doch sie riss sich zusammen. „Weil das nicht gut für dich ist.“ Pause, ihr Grinsen war diesmal etwas dezenter. „Erik der Rote hat mich geschickt, um dir zu erklären, warum du die Menschheit hassen musst, wie geil es eigentlich ist einem dieser Wichser den Schädel zu spalten und sein Hirn mit den Zähnen herauszuholen.“ Joshua verzog angewidert das Gesicht. „Au Backe, du verträgst echt gar nichts.“ „Doch, eigentlich schon.“ Er hatte Splatter-Filme früher geliebt. „Aber du bist einfach ekelhaft. Und würdest du eventuell deine Ausdrucksweise weniger ordinär gestalten.“ „Oh tut mir Leid, es kommen nicht alle aus so vornehmem Hause wie du, du... Schließmuskel.“ Wieder lächelte sie stolz. Joshua wollte noch etwas sagen. Er wollte rebellieren, sich nicht von dieser Wahnsinnigen irgendetwas einreden lassen. Sagen, dass es der Hölle doch egal sein sollte, welche innere Einstellung er verfolgte. Er wollte aber auch Fragen stellen, über die Wesen mit denen er plötzlich konfrontiert war, über die Verträge, über Erik den Roten, und ob sie etwas von diesen beiden Gestalten wüsste, die ihn kürzlich ausgefragt hatten. Doch er kam nicht dazu. Plainacher packte Joshua bei der Hand. „Weißte was, wir machen eine kleine Tour. Du bringst jetzt gleich deinen ersten Menschen um.“ „Was? Nein!“ Mehr konnte er nicht mehr sagen. Denn dann sprang Plainacher in die Höhe, riss ihn mit sich, rannte und sprang mit so einer hohen Geschwindigkeit durch die Gegend, dass es so anstrengend war, mit ihr mitzukommen, dass er sich nicht dem sprechen widmen konnte. Sie blieben endlich stehen. Joshua hatte keine Ahnung, wohin ihn diese Wahnsinnige geschleppt hatte, doch er kannte die Gegend nicht. Besser gesagt, er ERkannte sie nicht. Als er noch gelebt hatte, war dies ein Künstlerviertel gewesen, wo genau solche Exzentriker herumgelaufen waren, wie er. Gerne hatte er sich dort aufgehalten, obwohl ihn die meisten wegen „mangelnder Authentizität“ ausgelacht hatten. Jetzt war es das Snobviertel. Irgendwohin hatte es sich ja verlegen müssen, wenn das ehemalige von Obdachlosen unterwandert worden war. Sie saßen auf dem Dach eines mehrstöckigen Hauses, das wie ein übergroßes Einfamilienhaus aussah. Joshua war außer Atem, worüber Plainacher nur den Kopf schütteln konnte. „Was machen wir hier?“, keuchte er. Plainacher schlug sich auf die Stirn. „Sag mal, tust du nur so bescheuert oder hat man dir wirklich ein paar Hirnzellen zu wenig gespendet. Echt, wenn ich wieder unten bin, werd’ ich ’nen Spendenaufruf machen – mehr Intelligenz für den Messias.“ Joshua schnaufte. So respektlos hatte nicht einmal Erik der Rote ihn behandelt. Langes Schweigen herrschte. „Scheiße, du hast die Frage erst gemeint.“ Eigentlich nicht, er wollte nur Zeit schinden. Sobald das Tageslicht anbrach, würde sie es nicht mehr wagen einen Menschen umzubringen. Sie mochte zwar überheblich sein und sich als etwas Besonderes sehen, doch in dieser Hinsicht war sie berechenbar. Stolze Dämonen handelten nur nachts auf der Erde. Der Tag würde schon in einer halben Stunde anbrechen. „Okay, ich erklär es dir“, lachte Plainacher. „Du tippst auf irgendeinen Menschen in der Menge, und auf den lässt du dann einen Blitz fahren.“ Joshua riss die Augen auf. „Vergiss es!“, sagte er lieber nicht. Er log: „Das kann ich nicht.“ „Noch Mal, halt mich nicht für bescheuert, Arschgesicht.“ Sie schlug ihm auf den Hinterkopf. Darauf wurde ihm schwindelig. „Soll ich es dir vormachen?“ Ehe er verneinen konnte, zeigte sie schon mit dem Finger auf eine ältere Frau, die ein weinendes Kind hinter sich herzog. (Was die um diese Uhrzeit noch auf der Straße trieben, wusste keiner.) Ehe er ihren Arm wegreißen konnte, schlug der Blitz ein und die Frau fiel tot um. Passanten, die glaubten, sie erleide gerade einen Herzinfarkt oder Schlaganfall, weil sie den Blitz nicht gesehen hatten, zeigte Zivilcourage. Aber vergebens. Plainacher warf Joshua einen wütenden Blick zu. Dann trat sie ihm mit voller Wucht in den Magen. „Was für ein verkommenes Arschloch bist du denn!“ Sie trat ihn. „Verdammt, warum hast du mich aufhalten wollen, Wichser! Ich mach doch nur genau den Scheiß, den du eines Tages machen wirst! Du missachtest deine Existenz.“ Mit den Fuß rollte sie ihn auf den Rücken und trat auf sein Brustbein. „Und du missachtest meine Befehle. Ich bin ein verdammter Leutnant und du noch nicht mal ein verfickter Soldat! Du hast mir nicht zu widersprechen, hast mir zu gehorchen und darfst mich nicht mal berühren.“ Der Druck, den ihr Stiefel ausübte, wurde immer großer und Joshua bekam Probleme zu atmen. Sie drehte den hohen Absatz in seine Haut, und er stöhnte vor Schmerzen. „Nichts hält der aus“, klagte sie, als sie den Fuß von seinem Brustbein nahm. Dann packte sie ihn an der Schulter und zog ihn auf die Beine. Wenn sie ihn nicht gehalten hätte, wäre er wieder umgefallen. Doch sie ergriff ihn sehr unsanft am Hals. „Ich kann das nicht.“ Plainacher verdrehte die Augen. „Ich würde deinen Einwand ja verstehen, wenn du nicht“, sie zählte mit den Fingern nach, „hundertneun paranormale Wesen auf dem Gewissen hättest. Irdische und jene aus unserer Sphäre, mit denen du dich viel verbundener fühlen solltest, als mit dem beschissenen Menschengewürm.“ Mit einem Kopfnicken deutete sie in die Menge. „Los, bring das Kind um.“ „Vergiss es.“ Pause. „Ich hab Hemmungen Menschen zu töten, weil sie gegen unsereiner unterlegen sind.“ Er wunderte sich, dass er trotz den Würgegriffen so gut sprechen konnte. „Falsch“, knurrte Plainacher. „Sie sind uns unterlegen, weil sie nicht alles aus sich und den Umständen herausholen, um uns zu besiegen. Denk doch einfach an Liam Warrick. Der nutzt alle Möglichkeiten, die es gibt, und killt alle möglichen Kreaturen. Wer nicht alle Ressourcen nutzt, soll sich nicht wundern, dass er unterliegt und soll deswegen bemitleidet werden.“ Pause. „Also, ermorde das Kind!“ Selbst wenn er gewollt hätte, hätte Joshua in diesem Moment nicht können, da der Würgegriff viel seiner Kraft kostete. Sabine Plainacher merkte das aber nicht. Sie warf ihn wütend zu Boden, trat ihn erneut. „Mach schon.“ „Vergiss es. Ich töte keine Menschen. Und auf eine Psychopathin wie dich würde ich sowieso nie hören.“ Dafür stampfte sie ihm ins Gesicht. Sie hätte ihm das Gesicht zerquetschen können, doch sie brach nur seine Nase. Joshua setzte sich auf. „Nichts hält der aus...“, knurrte sie wieder. Nachdem sie einige Male verzweifelt auf und ab gestampft war, in der Hoffung, dass die Leute, die unter dem Dach wohnten, auf sie Aufmerksam wurden, und Joshuas Nase nicht mehr so stark blutete, fauchte Plainacher: „Dann bring halt jemand anderen um, als dieses Kind! Aber verdammt noch Mal, bring jemanden um.“ Fünfzehn Minuten noch bis Tagesanbruch, Joshua wusste nicht, ob er sich dieser Tortur noch länger beugen konnte. Irgendwie hatte diese Irre ja Recht. Aber das wollte er nicht wahrhaben. Niemals würde er einen Menschen töten. Einen Unterlegen. Einen Ahnungslosen. Seine Form der Existenz. Doch er kam nicht darum herum, wenn er weiter bei dieser Verrücken blieb. Er musste fliehen. Und er wusste wie – er hielt zwar nicht viel aus und war verdammt unerfahren, doch das hieß noch lange nicht, dass er schwächer war als sie. Joshua war stärker – stärker als Erik der Rote, das hatte ihm sein Ausbilder immer klar gemacht. Und somit würde er auch stärker sein, als diese Dämonin, namens Sabine Plainacher. In dem Moment als sie ihn wieder am Hals packen konnte, ergriff er ihr Handgelenk. Er spürte schon den Ansatz eines Reflexes sich loszureißen, doch dann rasten Million Blitze von 1000 Volt durch ihren Körper und Plainacher konnte sich nicht mehr bewegen. Nur schreien konnte sie. Joshua hatte diese Technik noch nie länger als eine Minute anwenden können, so sehr erschöpfte sie ihn – doch der Hass auf dieses Weib schenkte ihm dreißig Sekunden mehr. Er ließ sie los. Ihm wurde schwindelig. Zum Glück verlor diese faschistische Irre das Bewusstsein. Stinkend nach verflüssigtem Metall und Rauch fiel sie zu Boden. Ein Wunder, dass sie nicht in Flammen aufgegangen war. Nachdem er sich gefangen hatte, sprang Joshua in die Höhe, weg von ihr, weit weg. Doch der einzige Ort, wohin ihn seine Füße ich trugen, war die Gasse, wo er immer geschlafen hatte, wo Al ermordet worden war, wo diese Tussi ihn gefunden hatte. Er setzte sich. Wartete. Seit einer Ewigkeit überkam ihm wieder die Lust zu schreiben. Und tatsächlich fand er auch einen halbwegs funktionierenden Kugelschreiber und einen gewellten Block, der weggeworfen worden war, weil anscheinend Wasser darüber geschüttet worden war. Nichts los, heut Abend – von wegen! Wenn ich das Ereignis resümiere, kommt es mir noch seltsam vor... Das liegt wahrlich nicht an der komischen Frau, solche eigenartigen Charaktere traf ich in der Hölle zuhauf. Doch ich wundere mich darüber, was ich gesagt habe. Ich weiß nicht, ob es auf tiefsten Herzen kam, oder ob es nur Ausreden waren. Ich fühlte mich wie eine Marionette, deren Fadenzieher sich in einer auswegslosen Situation befand, aber irgendetwas machen musste. Eher hätte ich mir zugetraut, sofort der Tussi einen Elektroschock zu verpassen, doch ich musste auf ihre faschistischen Reden mit pathetisch, irreal, dämlich, naiv, was weiß noch klingenden Schlagwörtern antworten, von denen ich nicht weiß, ob ich sie ernst meinte. Aber ist ja auch egal, Worte und Taten kann nicht einmal Gott rückgängig machen, heißt es. Das Leben ist leider kein Text, wo man das Geschriebene einfach wegstreichen kann, wenn es einem nicht gefällt – so wie dieser Text hier, wo ich jede zweite Zeile durchstreiche. Also einfach vergessen. An die Zukunft denken. Denn ich will hier nicht bleiben. Ich kann nicht an diesem Ort bleiben, wo mich diese Irre aufgefunden hat, und wo sie mich wieder erwarten würde. Ich kann nicht an diesem Ort bleiben, wo mein „Mitbewohner“ umgebracht worden ist. Sein Kopf liegt noch immer hier, mittlerweile von Ratten angenagt. Wegwerfen kann ich nicht, das bringe ich nicht übers Herz. Und ich weiß nicht, wo ich ihn beerdigen soll. Wahrscheinlich wäre die beste Idee ihn zu verbrennen. Doch egal, wie ich mich entscheide, ich kann in dieser Gasse nicht bleiben. Aber wohin soll ich – mir einen neuen Gossengenossen suchen, bei ihm bleiben und warten, bis irgendein Beauftragter der Hölle kommt und ihn abmurkst. Ich will nicht, dass noch jemand wegen mir stirbt, auch wenn es nur ein Penner ist, doch ich will auch nicht alleine hin. Zum Alb und der Magierin? – träum weiter, Joshua, das würde die Hölle genau so wenig akzeptieren, wie meine „Superheldennummer“. Ich muss zu jemandem, den die Hölle nicht schaden würde, nicht schaden kann, weil von dieser Person etwas abhängt – sei es aus noch so dämlichen, noch so paranoiden Gründen. Der einzige Mensch, der mir einfällt, ist einer, zu dem ich eigentlich nicht will, der auch ohne Konfrontation mit der Hölle einen Schaden davontragen würde. Angela... Mit Kopfschmerzen wachte Beenie Plainacher auf, aus dem Schlaf gerüttelt von der Mittagssonne, die ihr direkt ins Gesicht schien.. Sie hielt sich den Kopf. Wer hätte gedacht, dass in diesem Schwächling so viel Kraft steckte. Nun ja, trotz ihrer Meinung, dass irgendetwas faul und falsch an dieser Messias-Geschichte war, musste doch ein wahrer Kern darin stecken. Wahrscheinlich war dies seine Stärke. Noch immer befand sie sich auf dem Dach. Dumme Menschen, die sahen sie wahrscheinlich als Taube oder anderen Vogel. War aber gut, so sehr wie sie das Sonnenlicht hasste, verging ihr jegliche Lust aufs Morden und wenn man sie angesprochen hätte, hätte sie müssen. Plainacher setzte sich auf und hielt sich den Kopf. Angestrengt versuchte sie das Geschehene zu resümieren. Und kam zu dem Schluss... sie hatte versagt. Volle Wäsche versagt. Der Messias würde ihr, nachdem sie seine Ideale mit Füßen getreten hatte, niemals vertrauen, weswegen sie ihn nicht beeinflussen konnte. Da war ihr Stolz wieder größer gewesen, als ihr Vorhaben einfühlsam zu sein. Aber solche Sachen sind nun mal leichter gesagt, als getan. Egal, nach dem ersten Versuch war noch nicht alles verloren. Irgendwie würde sie ihn schon beeinflussen können. Nett werden... Verständnis haben... sich zusammenreißen Irgendein Kind schmiss einen Stein nach ihr. Plainacher tötete trotz Sonnenlicht und Lustlosigkeit dieses Balg mit einer Piercingnadel, indem sie sie in die Halsschlagader schoss. Nett, werden... Verständnis haben... sich zusammenreißen... wird schwer werden. Er schlug mit der ganzen Handfläche gegen die Tür. Eigentlich wollte er klopfen, doch auch wenn sein Geist willig war, sein Körper hatte noch immer Angst. Wenn er so anklopfte, würde sie es vielleicht nicht hören, dann konnte er dank dieser Ausrede guten Gewissens gehen. Doch direkt danach rief sie: „Ja? Wer ist da?“ Kurz danach bellte ein Hund. „Anthony!“ Wie kam er auf den? Anthony war einer seiner beiden Cousins, die er aus tiefsten Herzen gehasst hatte und noch immer hassen würde, wenn er ihn wieder sehen würde. Die Entscheidung diesen falschen Namen anzugeben war die dümmliche Hoffnung, dass sie ihn nicht erkennen würde. Er konnte nicht glauben, dass er sie für so dumm hielt. Joshua und Anthony hatten ähnliche Stimmen und man konnte sie optisch auch nicht unterscheiden... aber eine Schwester erkannte ihren Bruder. Außerdem, wie hätte ein ganz normaler Mensch wie Anthony solche Narben abbekommen können? Sie öffnete die Tür. Noch bevor die Tür ganz offen war, knurrte der Hund Joshua an. „Still, Clover!“, fauchte Angela und hielt den Hund mit dem Bein auf. Dass Vieh war zwar zickig, aber wenigstens gut erzogen, er blieb hinter ihrem Bein stehen. Angela sah zu ihm hoch, doch sie sah ihn nicht an. Ihr Blick ging ins Leere. „Anthony, welch eine Überraschung!“, freute sie sich. „Was machst du denn hier? Ich dachte du studierst in London?“ Joshua zerbrach fast das Herz. Sie erkannte ihn nicht. Weil sie blind war. Er holte tief Luft und mit leicht verstellter Stimme sagte er: „Nicht mehr. Mir gefiel es dort nicht. Ich geh jetzt hier aufs College.“ „Warum bist du nicht zurück nach Harvard?“ Der Anblick seiner Schwester untersagte ihm das Lügen. Sie war nüchtern. Wann hatte er sie je so erlebt, nicht aggressiv wegen Alkoholentzug, nicht vollkommen dicht, nicht verkatert? Und sie war blind. Angela brauchte keine Antwort: „Weißt du was, komm rein. Es ist zwar nicht aufgeräumt, aber ich hab gerade gekocht.“ Dass ein blinder Mensch die Wohnung nicht rein hält, verzeiht man. Aber wie hatte sie es geschafft zu kochen? Das Essen stellte sich als Tiefkühlware heraus. Angela redete ohne Unterbrechung, erzählte aber nichts von sich, nur welch eine Freude es war, seit langem wieder einen Verwandten zu treffen und wie ungehorsam und zickig der Labrador namens Clover sein konnte. Als Joshua langsam die Tiefkühlpizza aß, welche er früher gehasst hatte, aber die ihm nun unglaublich gut schmeckte, schließlich hatte er seit zwanzig Stunden nichts mehr gegessen. Angela saß bei Tisch ihm gegenüber, aß aber nichts. Fraß er ihr gerade etwas weg? Irgendwann fasste er sich ein Herz und unterbrach seine ältere Schwester: „Hast du meinen Brief erhalten?“ Oh Gott, wie dumm war das denn? Wie konnte man eine Blinde so etwas fragen? Angela schüttelte den Kopf. „Ab meine Nachbarin erledigt meine Post, vielleicht hat sie ihn verschlampt. Stand etwas Wichtiges drinnen?“ Jedes erlogene Wort tat ihm im Magen weh: „Meine Entscheidung, wieder hier her zu kommen, lief sehr spontan. Und ich habe noch keine Wohnung gefunden. Ich wollte deswegen fragen, ob ich vielleicht einige Zeit bei dir bleiben könne.“ Dämlich, dämlich, aber sie glaubte ihm. Angela seufzte: „Och Anthony, warum hast du mich nicht einfach angerufen?“ Fast hätte er „Tante“ gesagt: „Meine Mutter kannte nur deine Adresse, nicht deine Telefonnummer.“ Zum Glück war das Familienverhältnis so schlecht, dass so etwas möglich war. Manche Katholiken verzeihen es der nächsten Verwandten nicht, wenn sie einen Juden heiraten. Seine Schwester verzog das Gesicht. Ihre Augen wanderten ziellos im Zimmer umher. „Woher weiß Tante Anna überhaupt, wo ich wohne?“ Er zuckte mit den Achseln. Das Verhältnis zwischen Mutter und Sohn würde sich in den letzt fünf Jahren schon nicht sonderlich verbessert haben. „Maria vielleicht.“ Maria? Seit wann nannte Angela ihre Mutter beim Vornamen? Wo war das auch betrunken liebevoll ausgesprochene „Mum“ hin? Joshua trug den Teller in die Spüle und fing einfach an abzuwaschen. Der Köter knurrte wieder und Angela streichelte ihn. „Das musst du nicht machen.“ „Will ich aber“, antwortete Joshua. Er holte tief Luft: „Darf ich nun eine zeitlang hier bleiben?“ Der Hund bellte. Angela gab ihm einen Klaps, schwieg aber, dachte nach. „Ich hab genug Geld, mir heute ein Hotel zu leisten. Wenn du einen Tag brauchst zu überlegen, werde ich...“ „Ach, Schwachsinn!“, kicherte sie. „Ich hab überlegt, wo du schlafen könntest.“ Joshua grinste plötzlich so breit, dass es dämonisch wirkte. Zum Glück sah sie es nicht. Sie war blind... „Danke. Ich brauch nicht viel Platz. Ich kann auf dem Sofa schlafen.“ Hatte sie überhaupt eines? Sicher. Früher hatten sie eine gehabt und da die große Wohnung noch genau so eingerichtet war, wie früher, würde es schon nicht verschwunden sein. „Da ist aber eine Maus drauf gestorben.“ Pause. „Außerdem, das ist dieselbe Wohnung, in der du schon hunderte Male zu Gast warst. Nur nicht blank poliert. Nimm einfach Joshuas Zimmer, das steht seit, wie lang noch mal... fünf Jahren leer.“ Ihm wurde schlecht. Er hatte sein altes Zimmer vollkommen vergessen. Und es schockierte ihn, wie emotionslos sie seinen Namen ausgesprochen hatte. Als ob sie ihren kleinen Bruder, der sich immer um sie gekümmert hatte, wenn es ihr beschissen ging, nicht vermisse. Fast hätte er gesagt, wer er war, doch er riss sich zusammen. „Danke. Ich werde dir auch Miete zahlen.“ „Nicht nötig, ich bin Eigentümerin. Mach dich nur im Haushalt nützlich. Nur grob, ich seh’s ja eh nicht, aber es soll halt nichts verschimmeln und Ungeziefer will ich auch nicht haben.“ Ungeziefer und Schimmel? Da die Wohnung immer auf Hochglanz geputzt gewesen war, konnte er sich so etwas gar nicht vorstellen. Überhaupt, das Apartment im dreckigen Zustand erkannte er gar nicht als sein altes Zuhause wieder. Es sah so anders aus. „Außerdem, es ist einsam in dieser großen Wohnung nur mit einem sturen Labrador zu leben. Wenn ich mich mit ihm rede, fühle ich mich eine hundertjährige Pensionistin, die Alzheimer hat. Es wäre toll ein menschliches Wesen zum Reden zu haben.“ Joshua lächelte. Menschlich... mehr oder weniger. Was sie nur sagen würde, wenn sie ihn sähe. Wahrscheinlich hätte sie panisch die Polizei gerufen und geschrieen, dass Frankenstein sie töten wolle. Als er mit Abwaschen fertig war, setzte er sich wieder gegenüber Angela. Seiner Schwester so nah zu sein, machte die nächste Frage verdammt schwer: „Wo ist Tante Maria?“ Angela zuckte mit den Achseln. „Weg.“ „Was soll das heißen?“ „Nach Joshuas Tod ist sie verschwunden. Hat mir die Wohnung geschenkt und ward nie wieder gesehen oder gehört.“ Joshua wusste nicht, was er sagen sollte. Das war die Reaktion auf seinen Tod gewesen? Aus Trauer oder Veränderungsgründen einfach verschwinden. Er hatte sich irgendwie vorgestellt, dass es seiner Mutter egal war, dass er gestorben war, in Anbetracht, wie wenig sich für ihn interessiert hatte. Er fand es einerseits toll, dass Maria so drastisch mit seinem Tod umgegangen war, aber verabscheute es andererseits, dass sie ihre alkoholkranke Tochter allein gelassen hatte. „Manchmal schickt sie mir Schecks. Immer aus einem anderen Bundesstaat. Sogar anderen Nationen. Einmal kam einer aus Indien.“ Joshua nickte nur. „Und was hast du gemacht?“ Angela grinste breit. „Nie wieder einen Tropfen Alkohol angerührt.“ Pause. „Ich musste erwachsen werden, ich war auf mich alleine gestellt.“ Noch eine Pause. „Manchmal habe ich aber das Gefühl, dass Joshuas Selbstmord der Grund für meine absolute Abstinenz ist. Als ob ich wegen ihm getrunken hätte.“ Er schnaufte. Wie bitte? Angela kicherte: „Das war doch nicht ernst gemeint. Man redet nicht schlecht über die Toten. Vor allem über den verstorbenen, jüngeren Bruder nicht. Du verstehst echt keinen Spaß.“ Wenn sie wüsste, wer vor ihr saß... „Und was machst du jetzt?“ Angela verzog das Gesicht. „Ich war bis vor einem Jahr auf dem Collage. Nicht in Yale, das Angebot ist verfallen und ehemalige Alkis nehmen die nicht auf, auch wenn wahrscheinlich die Hälfte der Dozenten zu tief ins Glas schaut. Das lokale. Hauptfach Psychologie. Ist nicht schlecht, coole Leute, wird dir gefallen.“ Er wusste, was er jetzt ansprechen würde, doch zu Anthonys Art passte es in Wunden zu bohren und er musste seinen Cousin so authentisch wiedergeben, wie möglich. „Und dann?“ Sie seufzte. „Dann kam irgendein Irrer auf die Idee, während einer Motorradfahrt mit einem Baseballschläger Menschen niederzuschlagen. Ich war die einzige, die’s überlebt hat.“ Sie tupfte auf die Stelle zwischen ihren Augen. „War wohl die Strafe für meinen Alkoholismus.“ Joshua holte wieder tief Luft – jede Frage war eine Tortur: „Und wie kommst du zurecht?“ „Gut.“ Sie lächelte dabei. Es klang verdammt überzeugend. Er hatte vermutet, dass seine Schwester etwas Melancholisches an sich haben würde, frustriert, weil sie ihren kleinen Bruder verloren hatte, weil ihre Mutter sie im Stich gelassen hatte, weil der Entzug sie geschafft hatte. „Am Anfang war es hart. Ich kann mir ja keinen Betreuer leisten. Aber jetzt klappt das Leben sehr gut. Und Clover ist eine gute Unterstützung.“ Sie kraulte den Labrador am Nacken. Inzwischen hatte er aufgehört zu bellen und zu knurren, doch er musterte Joshua skeptisch. Wahrscheinlich sah er etwas, was Joshua verriet. Tiere erkannten meistens paranormale Wesen. Zum Glück konnten sie dies nicht mitteilen. Sie fing an von den Schwierigkeiten einer Erblindung zu erzählen. Er konnte kaum zuhören. Jedes Wort tat ihm weh. Doch er entwickelte Bewunderung dafür, dass sie es dennoch schaffte ihr Leben allein zu meistern. Ganz allein. Im Prinzip musste sie im letzten Jahr einsamer gewesen sein, als er sein ganzes Leben lang. „Darf ich dich drücken?“, platzte er plötzlich heraus. Sie verzog das Gesicht. „Gott, Anthony, seit wann bist du sentimental?“ „Ich hab in London einiges erlebt.“ Toll, jetzt durfte er Lügen, bis die Balken bogen, wenn sie nachfragte, tat sie aber nicht. Angela breitete die Arme aus. „Och, komm her.“ Und sie fiel ihm um den Hals. Ob sie etwas spürte? Seine Narben durch den Pulli hindurch? Roch er noch wie früher? Fühlt er sich noch an wie früher? Sie erkannte ihn nicht. Hoffentlich drückte er seine Schwester nicht zu fest, das war verdächtig. Am liebsten hätte er sie nie los gelassen. Am liebsten hätte er geflennt. Stundenlang, weil er so froh war sie wieder zu sehen. Ein Mensch, den die Hölle nie schaden würde, weil Angela ihm zu viel bedeutete. Ein Mensch, von dem er wusste, dass er ihn nie schaden würde. Ein Mensch den er trotz seiner Liebe anlügen musste... Seine Schwester. Seine blinde Schwester. Kapitel 6: Nocturne des Hasses ------------------------------ Okay, vielleicht war das doch keine so gute Idee gewesen die Beschwörung während einer Feierlichkeit im Park zu machen. Vielleicht hätte sie besser warten sollen, bis weniger Menschen hier waren. Sie tötete zwar gerne Menschen, aber nur solange diese nicht sahen, was sie gerade einem Artgenossen antat. Solange keiner sie als Mörderin wahrnahm... Es gab zwar keine Grenzen, paranormales zu vertuschen, doch es gab Grenzen Morde zu verschleiern. Ab einer gewissen Zahl griffen die Verschleierungsbeschwörungen nicht mehr und die eigentliche Handlung eines paranormalen Wesen wurde von einem nicht paranormalen als solche erkannt. Entweder durch eine verräterische Illusion, oder die Anzeichen wurden nicht mehr versteckt. In ihrem Fall passierte sowohl erst- als auch zweitgenanntes. Und das war prinzipiell nie gut. Mit halb amüsierten, halb blamierten, aber irgendwie auch verzweifelten Grinsen schaute Plainacher auf die wenigen Menschen, die überlebt hatten. Die meisten waren so schwer verwundet oder bewusstlos, dass sie sich keine Gedanken machten, wovon sie gerade Zeuge geworden waren. Doch ein junges Mädchen hatte nur einen Armbruch erlitten und schaute Plainacher mit Tränen in den Augen an. Sie sah die Dämonin mit einem Maschinengewehr in der Hand. In ihren Augen hatte die rothaarige Irre im Amoklauf alle im Park anwesenden angeschossen und die meisten ermordet. Sie hatte wild um sich geschossen, keine Rücksicht genommen, und nichts hatte sie aufhalten können. Das Mädchen fragte sich, ob jemals so viele Menschen auf einmal bei einem Amoklauf umgekommen waren. Es mussten hundert sein. Wahrscheinlich nicht, denn dies war die erste Untat eines paranormalen Wesens, das als Amoklauf wahrgenommen worden war. Plainacher verzog das Gesicht: „Es tut mir leid.“ Sie entschuldigte sich nicht für die Morde. Sie entschuldigte sich bei der Hölle, da sie unachtsam gewesen war. Als ob sich Beenie bei einem Menschen entschuldigen würde. Das Mädchen nahm es aber als eine an sie gerichtete Entschuldigung wahr, die sie aber nicht glücklich stimmte. Schließlich waren gerade ihre Mutter, ihr Bruder und ihr Freund gestorben. Zum Glück sah sie nicht, wofür all die Opfer gebracht worden war. Plainacher hielt keine Maschinenpistole in der Hand, sondern eine Eisenkette, die als Leine diente. Gebändigt wurde damit ein drei Meter großes Wesen, halb Mensch, halb Rind. Der Kopf war der eines Stieres, der Oberkörper jener eines muskulösen Mannes, der Steroide schluckte. Beine und Unterleib waren wiederum die eines Stieres, doch länger und muskulöser, das Fell war schwarz. Sein Schwanz, so lang wie sein Körper, peitschte hysterisch hin und her um den Rest der Anwesenden zu erlegen. Seine Augen standen buchstäblich in Flammen. Aus seiner Wirbelsäule ragten Hörner. Aus seinen Nasenlöchern stieß er Rauch aus. Manchmal spie er Feuer. Mindest genau so viele Tattoos wie seine Herrin zierten seinen Körper und ließen ihn wie einen Cyborg wirken. Schließlich erwischte sein Schwanz das Mädchen, das zuerst mit einem Knochenbruch davongekommen war. „War das wirklich notwendig, Taurus?“ Bereuen konnte man in ihrer Stimmlage nicht finden – eher Ironie. Der Minotaurus schnaufte. Sie seufzte: „Na gut.“ Verstanden hatte sie ihn nicht, tat sie nie, doch sie simulierte dies gerne. Das Loch in der Erde, durch das Taurus aus der Hölle geklettert war, schloss sich langsam wieder. Dämonen seiner Klasse, sprich Sklaven, konnten nur auf die Erde, wenn sie von Menschen beschworen wurden, deswegen hatte Plainacher einen alten Knacker dazu überreden müssen, eine Beschwörungsformel auszusprechen. Er hatte seine Arbeit vorzüglich erledigt. War der Mann noch am Leben? Selbst wenn, mit neunzig Jahren machte man es eh nicht mehr lange. Taurus Erscheinen war von einem Erdbeben, einem Brand und durch die Luft zischenden Geschossen begleitet worden – diese Naturgewalten waren für den Tod der vielen Menschen verantwortlich gewesen. Doch in ihren Augen trug die Schuld die rothaarige Irre mit dem Maschinengewehr mit unendlicher Munition. Da das Tor zur Hölle nun geschlossen war, konnte sie verschwinden. Während des Amoklaufes war noch keine Exekutivorgan dieser Sphäre war aufgetaucht, weder ein „menschliches“, noch ein paranormales, wie die APEHA. Das wunderte Plainacher. Zwar hatte keiner der Anwesenden die Chance gehabt, die Polizei zu rufen, doch die starken paranormalen Wesen der APEHA hätten ihre Tarnung durchschauen und erscheinen müssen. Aber egal. So war es besser für sie. Doch sicherheitshalber musste sie nun auf der Stelle fliehen. Plainacher hüpfte auf den Rücken des Minotaurus. Sich an seinen Hörnern zu stechen passierte ihr schon lange nicht mehr. „Los!“, befahl sie ihm. Mit einem Satz sprang Taurus aus dem Park. Und die beiden machten sich auf den Weg, den Messias zu suchen. Während Joshua alleine vor dem Fernseher saß und wahllos durch die Programme zappte, ließ ihn der Hund nicht aus den Augen. Und fletschte die Zähne. Zwar kann man von einem Köter nicht verlangen, dass er sich nach zwei Tagen an einen neuen Mitbewohner gewöhnte, aber musste er ihn gleich so anknurren? Ob paranormal oder nicht, das Vieh musste doch spüren, dass er keine bösen Absichten hatte. Hoffentlich kam Angela bald aus dem Bad zurück. Joshua hatte tatsächlich Angst vor diesem Vieh. Immer wirkte er, als würde er ihn gleich ins Bein beißen. Und weil seine Schwester so an diesem Labrador hing, konnte er sich nicht verteidigen. „Willst du ein Leckerli?“, traute er sich schließlich zu fragen. Der Köter bellte. War das ein Ja, ein Nein oder ein „Verpiss dich“? Vielleicht war der Hund freundlicher zu ihm, wenn Joshua ihm ungefragt etwas gab. Er ging in die Küche, machte dabei aber einen großen Bogen um den Labrador. Auf leisen Pfoten folgte dieser Joshua. Da er kein Hundefutter fand, entschied er sich für eine Wurstscheibe. Er warf sie dem Hund hin. Doch er nahm sie nicht an. Er fletschte die Zähne und knurrte. Dieses Vieh machte ihm wirklich Angst... „Hör zu, ich werde noch längere Zeit hier bleiben. Entweder du gewöhnst dich an mich, oder wir werden eine sehr harte Zeiten erleben, was wir beide nicht wollen, oder? Ich mag dich, ich verspreche dir, immer nett zu dir zu sein.“ Symbolisch hielt er dem Hund die Hand hin. „Wollen wir Freunde werden?“ Der Köter schnappte nach seinen Finger. Erschrocken zog Joshua die Hand zurück. Dann wohl nicht... Warum redete er überhaupt mit einem Hund? Als ob Tiere ihn verstehen könnten. „Ach, hier seid ihr.“ Angela erschien in der Küche. Auf einmal verschwand die garstige Miene des Hundes und hechelnd stürzte er sich auf Angela und genoss amüsiert ihr Streicheln. Joshua bildete sich jedoch ein, dass das Vieh ihn noch immer beäugte. „Dieses Vieh wollte mich beißen“, murmelte Joshua Darauf kicherte Angela nur. „Red keinen Schwachsinn. Clover könnte keiner Fliege etwas antun. Wahrscheinlich wollte er nur lieb sein.“ Joshua schnaufte. Er hatte zwar nie viel mit Hunden zu tun gehabt, aber er kannte den Unterschied zwischen In-Die-Finger-Beißen und Hand-Abschlecken. Angela schaute auf die Uhr. „Shit“, murmelte sie und stürzte zum Fernseher, wobei sie zweimal fast über herumliegende Kleiderstücke stolperte und fast am Teppich ausrutschte. Bei jedem Beinahe-Fall bellte der Labrador besorgt. Sie landete aber sicher auf dem Sofa und schaltete den Nachrichtenkanal ein. Sie gab gerne zu, dass sie, seitdem sie blind war, tollpatschig geworden war. Joshua setzte sich neben sie, auch wenn er dem Hund so sehr nahe war. „Was ist passiert?“ „Drei Skandale heute“, erklärte sie. „Eine Politsache, der Finanzminister hat angeblich aus der Staatskasse geklaut. Dann ist heute eine siebenjährige in einer Schule vergewaltigt und ermordet worden. Und als letztes, beim jährlichen Parkfest ist heut so ne Irre Amokgelaufen, hat alle Anwesenden so schnell umgebracht, dass sie nicht Mal die Polizei rufen konnten, die Leichen wurden erst drei Stunden später gefunden.“ „Krass.“ Beim letzten Fall bekam Joshua Magenschmerzen. Der Bericht über den Finanzminister, der angeblich fünfzig Prozent der Steuern in die eigene Tasche gesteckt hatte, begann zwar schon, aber Joshua fragte trotzdem: „Wieso bist du so geil auf solche Schreckensmeldungen?“ Angela verzog das Gesicht. „Ich bin blind. Ich kann nicht lesen und kann keine Filme sehen, weil mir ohne was zu sehen die Hälfte der Handlung entgeht. Bei Nachrichten muss man nur zuhören.“ „Und was ist mit Hörbüchern und Musik?“ Sie wollte ihn eigentlich auf den Kopf schlagen, doch erwischte seine Schulter: „Still. Ich will das hören.“ Sie ergänzte aber: „Bringst du mir bitte eine Packung Chips?“ Als Joshua zurückkam berichtete man schon über den Kindermörder und der Labrador hatte seinen Platz am Sofa gestohlen. Also beschloss er zu stehen. „Grausig!“, schauderte Angela nach Ende des Beitrags. „Sie haben gerade die Toilette gezeigt, wo das Mädchen ermordet wurde. Unzensiert.“ „Zum Glück bin ich blind.“ Eigentlich hätte sie es gerne gesehen. „Aber der Sender hatte nie viele Hemmungen alle Details zu zeigen.“ Er erinnerte sich, dass er dank diesem Nachrichtenkanal von Rachels Tod erfahren hatte. „Und jetzt zeigen sie das Massaker im Park.“ Die Aufnahme war widerlich. Die Leichen waren zwar weggeschafft worden, aber Blut und andere Exkremente waren noch deutlich zu sehen. Sowie einzelne Gliedmaßen, Knochen, und Organe. Dass man sich traute, so etwas um acht Uhr an einem Samstag im Fernsehen zu zeigen, war verantwortungslos, aber Joshua hatte andere Probleme als den Jugendschutz. Er wusste genau, wer für dieses Massaker verantwortlich war. Diese wahnsinnige Dämonin mit den roten Haaren. War das die Art, wie sie versuchte seine Aufmerksamkeit auf sich zu lenken? Wenn ja, auf diesem Wege schürte sie seinen Hass auf sie nur mehr. Mit solchen Mitteln wurde er überhaupt dazu verleitet die komplette Hölle zu hassen. Der Typ, der die hundertsieben (!) Opfer gefunden hatte, wurde nun interviewt. Es war kein Mensch. Er gab sich keine Mühe zu verbergen, dass es sich um einen Alb handelte. Und es war der Alb, der Joshua vor ein paar Tagen aufgrund seines Aufenthaltes in dieser Sphäre befragt hatte. Wie hieß er noch mal? Jonathan? Und wo war seine komische Frau? Die Adresse der beiden hatte er jedenfalls noch. „Der Typ klingt extrem hektisch und schockiert.“ Hat er bei seiner ersten Begegnung auch, hätte Joshua fast gesagt. Verdammt, hatte dieser Alb nicht gesagt, dass er und die stumme Magierin zu einer Organisation gehörten, die es sich verschrieben hat für Ordnung in dieser Sphäre zu sorgen? Wo waren die, wenn eine geistesgestörte Dämonin einen Massenmord beging? Vielleicht war das ein Grund, warum er diese Heldennummer abzog – es sorgte ja keiner für Ordnung in dieser Sphäre, wenn er es nicht tat. „Ich gehe spazieren“, sagte er und stand. Angela schob sich eine handvoll Chips in den Mund und sagte mit vollem Mund: „Die Straßen sind um diese Uhrzeit aber gefährlich.“ Als ob er das nicht wüsste. „Ist mir egal.“ Er redete mit ihr, wie damals. Und das nach zwei Tagen. Aber irgendwie gefiel ihm das. Es tat gut wieder zu jemanden zynisch sein können, ohne dass man gleich eine Rüge davontrug. „Na gut, aber sag nicht, ich hab dich nicht gewarnt, wenn eine Heroinnadel in deinem Unterarm landet.“ „Versprochen!“ Aber das, was er vorhatte, war tausendmal gefährlicher als eine Heroin in den Venen. Er musste diese verdammte Dämonin finden. Doch das war leichter gesagt als getan. „Plainacher!“, schrie er aus voller Kehle. „Sabine Plainacher! Ich weiß genau, dass du für dieses Massaker verantwortlich bist!“ Hoffentlich hörten ihn nur paranormale Wesen. „Komm raus, wo auch immer du dich gerade versteckst!“ Er irrte schon einige Zeit auf der Straße herum. Als er auf die Straße hinausgegangen war, war gerade Sonnenuntergang gewesen. Inzwischen war es stockdunkel. Auch wenn er fast täglich um diese Uhrzeiten sich auf der Straße befand, fragte er sich, ob Angela sich nicht wunderte, wo er sich herumtrieb, und ihn noch darauf angesprochen hatte. Eventuell wollte sie nur diskret sein. Falls sie sich aber doch einmal in seine Angelegenheit einmischen würde, würde er nicht wissen, was er sagen soll. „Plainacher!“, schrie er. Er brüllte den Namen nur in Seitengassen. Gelegentlich weckte er mit seinem plötzlichen Auftauchen Penner auf, oder störte Nutten. Plainacher war sicher nicht anders, als alle anderen Dämonen, die Seitengassen liebten. Zwar konnte er diese Affinität nicht nachvollziehen, aber auch ihn trieb es immer in die abgelegensten und dunkelsten Orte. Vielleicht war das ein dämonischer Instinkt, den man nicht logisch erklären konnte. „Plainacher! Komm raus wo immer du bist!“ Sein Hals schmerzte schon. Er musste andere Lockrufe verwenden. Indem er nur ihren Namen schrie, würde sie nicht kommen. „Teufel noch Mal, du hast mich! Wenn du mit diesem Massaker bezwecken wolltest, dass ich tue, was du willst, dann hast du dein Ziel erreicht! Ich tue was immer du willst! Aber verdammt noch mal, hör auf dich zu verstecken.“ Und auf einmal hörte er Schritte hinter sich. Er grinste. Er hätte nie gedacht, dass sie so schnell reagieren würde. Anscheinend war das wirklich der Satz gewesen, den sie hören wollte. „Ich habe das vollkommen ernst gemeint.“ Er sagte das, noch bevor er sich umgedreht hatte. „Wahrscheinlich bist du mit meinen Beweggründen nicht zufrieden, doch ich werde einen Menschen töten, wenn du aufhörst Amok zu rennen und...“ Er stockte. Jemand war hinter ihm Und er hatte nicht Sabine Plainacher angelockt. „Du...?“, stottert er. „Ja.“ Sagte Liam Warrick und richtete den Lauf einer Flinte auf Joshua. Er war kaum fünf Meter entfernt. Verdammt, wie hatte er sich nur so irren können... „Ich hab es gewusst“, murmelte Warrick und streichelte den Abzug. „Ich wusste, dass du für diesen Massenmord verantwortlich bist.“ „Bitte?“, erschrak sich Joshua und reflexartig hob er die Hände. Dämlich, jetzt kam er weder an Discordia, noch an Eris heran. „Sag mal, hast du mir nicht zugehört? Ich habe die ganze Zeit den Namen ‚Plainacher’ gesagt. ‚Plainacher’ ist dafür verantwortlich. Sie hat dieses Massaker wegen mir angerichtet, nicht ich selbst.“ „Das läuft auf dasselbe hinaus.“ Joshua schlug sich auf die Stirn. So ein Trottel. „Hände wieder in die Höhe, sonst drück ich ab.“ Joshua parierte. „Und wie konntest du eigentlich meine Stimme hören? Nur paranormale Wesen konnten sie...“ Liam hielt eine eigenartige, kleine Apparatur in die Höhe. „Alles klar...“ „Der Radar empfängt jeden versteckten Laut, den Abschaum, wie du, von sich gibt und übersetzt ihn.“ „Das heißt, du wusstest von Anfang an, dass ich nichts damit zu tun hatte, und schiebst mir das Massaker einfach so in die Schuhe?“ „Schweig!“ Joshua verdrehte die Augen. Mensch hin oder her, um den war es wirklich nicht schade. Wenn sich eine Gelegenheit bat, würde er den Glatzkopf umbringen. Dann war Plainacher zufrieden, dann war Erik der Rote zufrieden, dann war Lillith zufrieden und alle konnten nach Hause gehen. Er dachte an Angela. Das Wiedersehen war ein Grund diesen Idioten weiterleben zu lassen, damit er nicht zurück in die Hölle musste. Und dann hatte er eine Idee. Eine schmerzhafte Idee, aber eine Möglichkeit die Plainacher los zu werden, ohne sich ihrem Willen zu beugen, und eine Gelegenheit kurze Zeit später auch seine Prüfungsaufgabe zu erfüllen. Warrick wollte abdrücken, doch Joshua schrie: „Ich habe ein Angebot für dich.“ „Vergiss es. Ich verhandle nicht mit Müll.“ „Nein, nein, nein, hör’s dir mal an, bevor du urteilst.“ Voreiliger Wichser, dachte Joshua und musste sich zusammenreißen, seine Gedanken nicht auszusprechen. „Ich hasse diese Plainacher auch. Und ich wäre verdammt froh, wenn sie weg vom Fenster wäre. Tun wir uns zusammen und erledigen sie. Zu zweit haben wir bessere Chancen, als alleine.“ „ICH ARBEITE NICHT MIT MÜLL ZUSAMMEN!“ Nach diesem Schrei schoss er. Joshua sprang noch rechtzeitig in die Höhe, die Patrone zog nur knapp an seinem Fuß vorbei. So schnell wie er in die Höhe gesprungen war, so schnell landete Joshua plötzlich vor Warrick, sodass dieser erschrak. „Das ist voreilig. Ich kenne deine Erfahrungen zwar nicht, aber ich bezweifle, dass du schon einmal mit einem Dämon von ihrem Kaliber zu tun hattest. Ich habe...“ „Schweig!“ Warrick wollte wieder abdrücken, doch zuckte zurück, als Joshua den Lauf verbog. „Hör mir mal zu, du Sturkopf.“ Er hätte lieber Arschloch gesagt, aber Verhandlungspartner beleidigte man besser nicht derartig. „Ich mag dich auch nicht, aber wir haben die gleichen Ziele.“ Er riss Warrick die Flinte aus der Hand. „Wir beide wollen verhindern, dass diese Plainacher weitere Massaker anrichtet. Aber dieses Weib kann ein Mann von unserem Können und unserer Stärke nicht aufhalten. Sie ist eine erfahrene Kriegerin und vollkommen wahnsinnig. Und zwar so richtig, ich will nicht wissen, wie viele Tassen der schon aus dem Schrank gefallen sind. Sie hält verdammt viel aus und kennt keine Skrupel. Alleine kann sie keiner von uns aufhalten. Aber zusammen haben wir eine Chance.“ Pause. Er prüfte Warricks Gesichtsausdruck, doch Begeisterung fand er nicht. Er fragte dennoch: „Wärst du dabei?“ Als Antwort bekam er einen Faustschlag aufs Kinn. Joshua fiel zu Boden und hielt sich die blutende Unterlippe. „Denkst du wirklich ich würde dir vertrauen, du niedere Kreatur!“ Joshua hatte keine Ahnung, woher der Kerl die Waffe her hatte, doch er hielt ihm plötzlich eine Maschinepistole an die Stirn. Dieses Ding sah bei weitem robuster aus, als die Flinte. Wenigstens kam Joshua an seine Pistole heran, die er plötzlich als mickrig empfand. „Ihr paranormalen Widerlinge lügt wie am laufenden Band. Niemals werde ich euch glauben und schon gar nicht mit euch zusammenarbeiten. Bei der nächsten besten Gelegenheit fällt ihr den Menschen doch in den Rücken.“ Da konnte Joshua nicht widersprechen, hätte er auch nicht anders gemacht. Noch bevor Warrick abdrücken konnte, boxte Joshua ihm ihn den Bauch. Seine Faust stieß gegen irgendetwas Hartes. Er selbst hatte Schmerzen, als Warrick sich kurz vor Schmerzen krümmte. Er konnte dennoch die Gelegenheit beim Schopf packen. Er schnappte sich seinen Arm, sprang auf, riss den Glatzkopf mit sich, schmiss ihn gegen die Wand. Teufel, war dieser Mensch schwer. Sein Körper war geschützt von irgendeinem Metall. Oder er trug so viele Waffen bei sich. Joshua jedenfalls bekam Schulterschmerzen. Und ehe er sich zusammenreißen konnte, spürte er einen ziehenden Schmerz in seinem rechten Unterschenkel. Er wagte einen Blick. Warrick hatte soeben durch sein Bein geschossen. Verdammt, wie konnte sich der Mensch nur so schnell von diesem Wurf erholen, geschweige denn so flott reagieren? Joshua sank zusammen, hielt sich aber auf den Beinen. Er durfte nicht zu Boden gehen, dann war er ein leichtes Opfer für diesen Widerling. Noch im Fall riss er sich zusammen, drehte sich um und ein Feuerschwall raste auf Warrick zu. Umfasste ihn. Sollte ihn verbrennen. Doch das geschah nicht. Als die Flammen verschwanden, stand Warrick unversehrt mit der Maschinenpistole in der Hand grinsend vor ihm. „Scheiße“, murmelte Joshua. Waren alle Prüfungen so schwer? Wie sollte er einen Kerl umbringen, der einen derartigen Schutz verfügte. War das überhaupt ein Mensch? Mit einem lauten Lachen begann Joshua das Maschinengewehr zu betätigen. Etwas Besseres als wieder in die Luft zu springen, konnte Joshua nicht. Und zu seinem Entsetzen konnte er diesmal nicht mit ein paar gezielten Hüpfern fliehen. Nicht mit diesem verletzten Bein, denn Sprungkraft und Schnelligkeit waren beschnitten. Damit er eine Chance hatte, musste Warrick von diesem Maschinengewehr wegbringen. Ein Windstoß reichte zum Glück und das Ding flog aus seiner Hand. Warrick begann zu fluchen und überlegte kurz, ob er eine andere Waffe wählen oder das Maschinengewehr aufheben sollte. Joshua hingegen überlegte nicht lange und humpelte los. Manchmal sprang er, so waren seine Schritte größer, doch der Luftzug brannte in der Wunde. Selten hielt er die Schmerzen aus. Und er war zu langsam, um Warrick auf Dauer zu entkommen. Auf den besuchten Straßen wagte der Typ zum Glück nicht ihn zu beschießen. Die Leute sahen die beiden nur rennen. Doch Joshuas Verletzung sahen sie nicht. Auch, dass er humpelte, bemerkten sie nicht. Man regte sich nur über das stürmische Verhalten der beiden auf. Das ist kein Spielplatz! Und seid ihr nicht zu alt um fangen zu spielen?! Er durfte die Hauptstraße nicht verlassen. Doch sollte er rennen, bis Liam Warrick müde wurde? Eher erschlaffte er. Lange konnte er nicht mehr. Gerade sprang er bei seinem Zuhause vorbei. Angelas Zuhause. Dorthin konnte er nicht fliehen. Dieser Trottel war sicher irre genug, auch seine Schwester für paranormal zu halten und würde sie erschießen. Angela durfte nicht sterben. Ihr konnte er die Hölle nicht antun. Hölle? Egal... Wohin nur? Ein Geschäft. Ein Club, irgendetwas, am besten wo eine Menschenmenge war, wo er untertauchen konnte, wo Warrick weiterhin zu unsicher blieb, um ihn zu ermorden, vielleicht zu unsicher blieb, ihn überhaupt zu verletzen. Kurz bevor er vor Schmerzen und Erschöpfung zusammenbrach, fand Joshua ein Lokal, das zwar von außen absolut Ekel erregend war, doch laute Musik und Menschen, die davor herumgammelten, versprachen eine Menschenmasse. Und die bekam er dann auch. Plainacher hatte sehr wohl den Messias ihren Namen schreien hören. Und das hatte genervt. Am liebsten wäre sie zu ihm hingerannt und hätte ihm die Zunge aus dem Maul gerissen, damit er endlich die Klappe hielt. Doch sie konnte nicht. Erstens, weil es ihr verboten war, den Messias (gröber) zu verletzen, zweitens, wollte sie sich dem werten Herrn nicht zeigen, solange sie keine vernünftige Erklärung hatte, warum sie dieses Massaker im Park angerichtet hatte. Die Rechtfertigung musste gut sein. Sie hatte schon den ersten Eindruck verhauen, also musste der zweite gut sein, wenn sie ihn endlich auf den richtigen Weg führen wollte. Zusammen mit Taurus saß Plainacher auf dem Dach eines Wolkenkratzers, weit entfernt von Joshua Nazara. Dennoch hörte sie die Rufe. Und nicht nur diese bereiteten ihr ein schlechtes Gefühl im Magen. Wieso war kein verfeindetes paranormales Wesen gekommen um sie aufzuhalten, als sie Taurus gerufen hatte? Und wieso versuchte nun keiner sie zu stellen? Auch wenn sie Magier, Alben, Werwölfe, Vampire und all die anderen paranormalen Arschlöcher dieser Sphäre hasste, so musste sie ihnen zugestehen, dass es irgendwo Wesen so stark sein musste, dass es die Beschwörung spürte. Irgendetwas stimmte hier nicht. In dieser Sphäre musste es eine Art Verschwörung geben, von der die Hölle nichts zu wissen scheint, wahrscheinlich ausgehend von dieser Institution namens APEHA , die als „Polizei des Paranormalen“ agierte. Weswegen sollten diese komischen Leute sonst so ein Geheimnis um ihre Einrichtung machen? Sie konnte aber nicht mehr weiter spekulieren. Mit einem stechenden Schmerz zog sich ihr Magen zusammen. Sie wollte kotzen. Seit wann konnte ihr übel werden? Das Fordern nach ihr, wurde nun zu einem Geschrei des Messias. Plainacher verdrehte die Augen. Dank ihres Instinktes und Intuition wusste sie, der Typ steckte in Schwierigkeiten. Wahrscheinlich hatte Erik der Rote veranlasst, dass ihr Körper reagierte, wenn dem Messias etwas zustieß. Wohl oder übel war der Hintergedanke ihres Mentors gewesen, sie als Bodyguard einzusetzen, und nicht nur als Stimme der Vernunft. Dank seiner Klassifizierung hatte er wahrlich eine Sonderstellung. Jedem anderen Prüfling war so ein Luxus verwehrt. Wenn der Kandidat starb, war es sein Problem. Doch wenn sie den Messias verlor, schoss die Hölle sich selbst ins Bein. Sie musste ihm helfen. Also kletterte Plainacher auf Taurus’ Rücken. Dass sie keine Rechtfertigung hatte, war nun egal. Sie machten sich auf den Weg. Joshua konnte aufgrund dieses Anblicks einige Sekunden lang nur starren. Schon wieder ein Relikt aus seiner Vergangenheit... verdammt, das war einer dieser Goth-Clubs, in denen er mit Rachel viele Abende verplempert hatte, wo er sich mit Paul (oh Gott, den hatte vollkommen vergessen!) bekifft hatte, wo er gesoffen hatte, anstelle zu lernen. Der Laden war renoviert worden, die Graffitis an den Wänden waren übermalt worden, der Steinboden durch Laminat ersetzt und das Holzmobiliar durch extravagante Samtsofas und Tischen und Sesseln aus Ebenholz ersetzt worden, die Bar war nun ein glänzend schwarzes, modernes Einrichtungsstück. Und die Gläser schienen nun gewaschen zu werden. Doch obwohl sie der Stil sich von heruntergekommen zu etepetete geändert hatte, am Publikum hatte sich nichts verändert. „Der Eintritt kostet drei Dollar!“ Joshua zuckte zusammen und starrte auf die Handfläche, die ihm eine blasse junge Frau unter die Nase hielt. „Heut spielt Nocturn’s Children. Kostet drei Dollar.“ Joshua wollte auf keinen Fall zurück hinaus zu diesem Wahnsinnigen, also drückte er der Zicke einen großen Teil seines letzen Geldes in die Hand. Sie verpasste ihn einen Stempel und er humpelte in den Bühnensaal. Laut seiner Erinnerung hatte es früher dort nur eine Tanzfläche gegeben. Nun standen vor einer Bühne einige Tische und Stühle, die aber vielleicht nur für diesen Abend aufgestellt worden waren. Etwas mehr als die Hälfte war besetzt. Anscheinend keine bekannte Band. Da er auch nicht vermutete, dass mehr Leute kommen würden, nahm er Platz. Sein blutender Unterschenkel danke ihm. Eine Kellnerin mit tiefem Ausschnitt tauchte auf. Joshua fragte, was unter zwei Dollar kostete. Die Antwort war Mineralwasser. Also bestellte er es, und fragte nebenbei noch, wann die Band denn auftreten würde. „Eigentlich sollten sie schon spielen, aber der Sänger hat einen Nervenzusammenbruch.“ Joshua konnte darauf nur kichern. Noch nicht ansatzweise berühmt und schon hatte der Typ Starallüren... Während er die Einschusswunde untersuchte und fieberhaft nachdachte, welchen Trick ihn Erik der Rote gezeigt hatte, um solche Wunden zu heilen, fiel sein Blick auf den Eingang. Liam Warrick war ihm gefolgt. Verdammt, er konnte doch unmöglich gesehen haben, wie Joshua in diesem Club verschwunden war... Ach so, dieser komische Radar. Seine Waffen hatte er abgelegt. Klar, damit wäre er kaum hier hineingekommen, auch wenn der Türsteher dieselbe Person wie das Mädchen, dass von Joshua das Eintrittsgeld kassiert hatte, zu sein schien. Mit erhobenem Kopf sah sich der muskulöse Riese um. Joshua hatte sich zum Glück einen Platz in der dunkelsten Ecke ausgesucht. Doch sicherheitshalber zog er noch die Kapuze des Pullis tiefer ins Gesicht. Leise betete, dass er dem Typ irgendwie entkommen könnte. Die Bühne wurde beleuchtet. Ein junger Mann mit braunen Haaren mit schwarzen Cowboyköstum setzte sich hinter das Schlagzeug. Er trommelte eine Minute lang irgendein unrhythmisches Gewirr, als der Bassist, ein vollkommen in schwarz gekleideter Typ mit langen schwarzen Haar, auftauchte. Zusammen spielten sie. Eine Minute später folgte der Gitarrist. Blond mit nacktem Oberkörper. Joshua legte den Kopf schief. Viel hatte sich in den fünf Jahren seiner Abwesenheit in dieser Subkultur nicht verändert. Er konnte es nicht fassen, dass er sich auch einmal so peinlich angezogen hatte. Seinen Schottenrock vermisste er dennoch. Minutenlang musste er diese Kakophonie, die man nicht als absichtlich oder verursacht durch Mangelnde Beherrschung der Instrumente einstufen konnte, ertragen. Er beäugte Liam Warrick. Wie ein Tiger schritt er durch den Saal, hielt Ausschau nach dem Dämon, von dem er glaubte, dass er für das Massaker verantwortlich war. Dass ein Mädchen ihm kichernd zuwinkte, bemerkte er nicht. Die Musik endete, es folgte ein Höflichkeitsapplaus, dem sich Joshua nicht anschloss. Er versank regelrecht unter den Tisch und die Schmerzen in seinem Bein wurden immer stärker, je näher Liam Warrick ihm kam. Früher hatte er über solche Trottel gelacht, die sich für etwas Besseres hielten. Jetzt jagten sie ihm Angst ein. Doch von einer schrillen, verdammt weibisch klingenden Männerstimme wurde er aus seiner Gedankenwelt gerissen. Der Sänger, der keine bessere Idee gehabt hatte, als sich als Harlekin zu verkleiden, schrie in das Mikrophon, als hätte er die Augen von Erik dem Roten gesehen. Joshua konnte nicht anders, als zu dem Knilch hinzusehen. Der kleine rothaarige Junge, etwa achtzehn Jahre sprang auf der Bühne auf und ab, machte theatralische Gesten und veräußerte sich dabei so sehr, dass ihm kaum Luft zum singen blieb. Doch auch wenn er Luft bekommen hätte, hätte die Musik nicht besser geklungen. Seine Stimme war zwar recht passabel, aber dieser melodiöse Gesang passte einfach nicht zum dem Krach, für den die Instrumentalisten verantwortlich waren. Anscheinend hatte der Glaube, etwas Innovatives zu verschaffen, das Verständnis von Schön und Hässlich verzerrt. Die Texte waren auch nicht besser. „I want to bleed sorrow/ that they see, what they have done to me/ that they see how deep they cut with words/ Words are swords, I want to bleed sorrow.“ Klar... Es war jedoch ein Fehler sich auf die Musik zu konzentrieren. Während er Musik und Text analysierte, setzte sich plötzlich Liam Warrick auf den Stuhl ihm gegenüber. Joshua fiel vor Schreck fast vom Sessel. Auch wenn der Witzbold unbewaffnet war, bezweifelte er, dass er ihm überlegen war. Das Lied war zu Ende, Liam Warrick begann mit dem Höflichkeitsapplaus und Joshua schloss sich ihm an. „Ich hab’s dir schon gesagt, ich war das nicht“, murmelte er Warrick zu. „Im Prinzip ist mir das relativ egal.“ Pause. „Die Erde muss vom paranormalen Abschaum wie dir befreit werden.“ Wieder begann ein Lied, doch das hielt Joshua nicht davon ab mit seinem Gegenüber zu sprechen: „Hör mal, ich halte das für einen guten Zeitpunkt einfach mal miteinander zureden. Du bist unbewaffnet und ich würde niemals meine Fähigkeiten an einem so besuchten Ort einsetzen.“ Eigentlich wollte er sagen: „Ich würde nie einen Menschen töten“, doch die Wahrheit war, dass er nichts lieber täte als Liam Warrick zu ermorden. Er konnte nur leider nicht, aus dem eben tatsächlich genannten Grund. „Ich bin nicht unbewaffnet.“ Joshua schluckte. „Wie bitte?“ „Ich bin nicht unbewaffnet. In meiner Hosentasche befindet sich eine kleine Spritze mit einem Mittel, das deine paranormalen Fähigkeiten außer Kraft setzt und dir vieles deiner Muskelkraft nimmt.“ Joshua begann laut zu keuchen. Mit diesem und anderen „Medikamenten“ waren rebellische Sklaven und Arbeiter in der Hölle behandelt worden. Verdammt, wo hatte dieser Trottel diese Substanz nur her? „Und gerade bohre ich die Nadel in deinen Oberschenkel.“ Nocturn schmiss das Mikrophon auf den Boden und trat es von der Bühne. Der Auftritt war um, eine halbe Stunde hatte man ihnen eingeräumt, fünf Songs hatten sie gespielt. Ob der rothaarige Frontmann das Mirkophon aus Zorn weggeschmissen hatte, oder ob es eine weitere peinliche Bühneneskapade gewesen war, konnten die Bandmitglieder nicht bestimmen. Doch Wut brannte in ihn, da man nicht gerade behaupten konnte, dass das „Odium“ gerammelt voll von Menschen war. Und das, obwohl Samstag war. Andere Leute als Freunde und Verwandte konnte er im Publikum nicht finden. Und selbst die hatten ihm und der Band nicht mehr als Höflichkeitsapplaus spendiert. Dabei hatte er sich so hineingesteigert, hatte mit seinen Bewegungen, die knapp an Autoaggression vorbei glitten, doch gezeigt, wie sehr ihm seine Musik aus der Seele sprach, wie sehr er sich durch seine Texte geöffnet hatte. Doch keinem schien das aufzufallen und zu gefallen. Und solche Menschen nannte er Freunde und Familie... Er hasste die Menschen, die ihn nicht verstanden, er hasste sich selbst dafür, dass er geglaubt hatte, man würde sich durch diesen Auftritt in ihn hineinversetzen können. Wozu war nun die Nervosität gut gewesen, die ihn dazu veranlasst hatte, mit einer halben Stunde Verspätung aufzutreten? Noch nicht einmal die Bühne hatte er verlassen und das Publikum vertiefte sich in Gespräche, anstelle baff von der Emotionalität der Musik zu sein, oder gingen zur Bar, so wie es sogar seine Freundin tat. In der letzten Reihe, sah er zwei Typen, einen afroamerikanischen Hünen mit engen Klamotten, und einen schmächtigen Jungen, der eine Kapuze tief ins Gesicht gezogen hatte und augenscheinlich verletzt war, aufspringen, der Verletzte humpelte hinaus, während er Hüne ihm nachging und die Fäuste ballte. Toll, anscheinend hatte seine Musik zu einer Schlägerei geführt. Ohne ein Abschiedswort verließ Nocturn die Bühne. Vincent, der Bassist, Francis, der Gitarrist, und Valentin, der Drummer, folgten ihn, fluchten auf ihn. Selbst auf seine Bandmitglieder konnte man sich nicht mehr verlassen. Als Joshua die Türschwelle passierte, packte Liam Warrick seinen Hals und drückte die dortigen Schlagadern zusammen. Joshua wollte nicht schreien, kam aber nicht darum herum zu wimmern. Die Türsteherin/Kassiererin bemerkte natürlich nichts, selbst Joshua war ihr zu unsympathisch, als dass sie ihm geholfen hätte. In Joshua wuchs eine so große Verzweiflung, dass er nicht mehr klar denken konnte. Er konnte zwar nun keine paranormalen Fähigkeiten mehr einsetzen, doch er war nicht waffenlos, wie Warrick, er hatte seine Knarre und sein Schwert, die ihm zur Flucht verhelfen konnten. Doch er vergaß die beiden. Er akzeptierte Warrick als überlegen, akzeptierte sogar, dass er gescheitert war, dass er sterben würde. Doch Angst hatte er trotzdem. Wie einen Müllsack schmiss Warrick ihn auf den Boden. Erst trat er ihn in den Bauch, dann stieg er mit seinen Spingerstiefel auf die Schusswunde, die er ihm zuvor zugefügt hatte. Joshua konnte sie nun einen Schrei nicht verkneifen. „Du bist erledigt, Gewürm“, murmelte Warrick und drückte den Absatz seines Stiefels auf Joshuas Brustbein. Er bückte sich, am Bund seiner Jeans suchte er die Waffen, die der Höllenbewohner mit sich führte. Doch er fand nur ein kleines Taschenmesser. „Ist das ein Schwert?“, knurrte Warrick. Er wusste es nicht, aber die Spitze befand sich wenige Zentimeter über Joshuas Augen. Joshua schnappte nach Luft. Blut in Mund und Nase und der Druck durch Warricks Stiefel verhinderten leichte atmen. Er hustete ein „Ja“, aus sich heraus. Wusste dieser Mensch mit Stroh im Kopf, dass Waffen aus der Hölle sich nicht gegen die Eigentümer richten. Anscheinend, denn Liam Warrick stach nicht, wie erahnt, zu, sondern steckte Discordia in eine Schwertscheide an seinem Hosenbund. „Ich hoffe, du hast nichts dagegen, wenn ich es nehme. Es fühlt sich gut in meiner Hand an. Dort, wohin ich dich nun schicke, wirst du so etwas eh nicht mehr brauchen.“ Joshua ekelte es an, dass ein Kerl, den er so verabscheute, ein Schwert, das nur er als perfekt empfinden konnte, als angenehm wahrnahm und am liebsten hätte er geschrieen, dass er doch schon längst gestorben war und der nächste Schritt die absolute Auslöschung seiner Existenz war, doch was aus seinem Mund kam, war nicht mehr als ein Husten. Liam Warrick hatte beschlossen, den Höllenbewohner nur mit Hilfe seiner Körpers zu ermorden. Er hob den Fuß, den er auf seine Brust gedrückt hatte, wollte das hässliche Narbengesicht des Dämons, den er bewegungsunfähig geprügelt hatte, zertreten. Ein heftiger Schlag an den Hinterkopf verhinderte jedoch sein Vorhaben. Ihm wurde schwindelig. Und dann packte ihn auch noch irgendetwas am Hemdkragen, zog ihn in die Höhe und schmiss ihn gegen die herumstehenden Mülltonnen. Plainacher schaute verwirrt auf den schwer verletzten Joshua. „Was zum... Hallo, selbst du kannst nicht so ein...“ Hätte sie nicht zu Ende gesprochen und wäre sie nicht in die Luft gesprungen, hätte sie eine Kugel getroffen. „Was soll das, Arschloch!“, schrie sie ihn an und zuckte zusammen, als sie die Flinte sah, mit der Warrick auf sie zielte. Woher hatte dieser MENSCH ein Modell aus der Hölle? „Bist du gekommen, um diesem Schwächling zu helfen, Abschaum?“ Plainacher war sprachlos. Abschaum? Ein MENSCH nannte sie Abschaum? Noch dazu so ein Ich-halte-mich-für-besser-als-paranormale-Wesen-wünsche-mir-aber-einer-von-ihnen-zu-sein-MENSCH! Wie gerne hätte sie ihm den Hals umgedreht, doch leider war dieser Warrick die Prüfungsaufgabe des Joshua Nazara und wenn sie dieses wissend ihn dennoch ermordete, drohte eine Degradierung. Aber wenigsten konnte sie ihn verletzen. Warrick schoss auf sie und mit einem Sprung in die Höhe, wich sie der Patrone aus. Schnell riss sie ein Piercing aus ihrem Ohr und das Metall als Nadel geformt, warf sie es auf Warrick. Parallel zu ihrer Landung, berührte die Spitze sein Auge. Doch die Nadel prallte ab. Ein Ganzkörperschutzschild? „Woher hast du diesen Scheiß?“, schrie Plainacher. „Geht dich nichts an, Widerling.“ Wieder schoss er und wieder war der Kugel leicht auszuweichen. Wenn er weiter lose ohne Taktik agierte, konnte man ihn ermüden und warten, bis er keine Munition mehr hatte. Doch Plainacher hasste es, dass sie dieses Arschloch nicht umbringen konnte, nicht einmal verletzten konnte. Woher hatte dieser MENSCH einen derartigen Schutzschild? Sie schnippte zweimal. Kaum eine Sekunde später hielt Taurus Liam Warrick an der Schulter, der keine Ahnung hatte was an seiner Schulter schmerzte, und warum er nicht mehr von der Stelle kam. „Woher hast du die Scheißwaffen!“, schrie Plainacher. Liam wehrte sie nicht mehr. Er kicherte: „Ich antworte paranormalem Abschaum nicht.“ Er spürte keine Schmerzen, als Taurus seine Krallen in Warricks Schultern bohrte. Plainacher knurrte: „Weißt du, dass mein Haustier deinen Schutzschild brechen kann, Arschgesicht? Das bist du genau so ein hilfloser kleiner Wurm, wie all das andere menschliche Gewürm.“ „Nein, das wusste ich nicht. Weil es nicht wahr ist.“ Verdammt... „Ich dachte, du sprichst nicht mit der paranormalen Übermacht, du Scheiße fressender Müllsack.“ Warrick kicherte. „Apropos Müllsack. Dein Freund stirbt gerade.“ Plainacher zuckte zusammen. Joshua hatte das Bewusstsein verloren, lag in einer Lache aus seinem eigenen Blut. Wie gerne hätte sie Warrick noch weiter ausgequetscht, doch es war wichtiger den Messias zu retten. Ihre Heilfähigkeiten waren zwar nie sonderlich gut ausgebildet, doch seinen Tod würde sie verhindern können. Sie legte ihre Hand auf seine Brust, ihr Fingerspitzen wurden heiß und langsam floss ein Teil ihrer eignen Kraft in seinen Körper. Plainachers Muskeln spannten sich an, ihr eigener Magen begann zu schmerzen. Der Patient krümmte sich und stöhnte. Seine blutenden Wunden schlossen sich – gar verschwand eine Narbe in seinem Gesicht. Doch dass er geheilt war, konnte man nicht behaupten. Er hustete, bekam noch immer schwer Luft, sein Blickfeld war verschwommen und sein Herz schlug nur langsam. Plainacher seufzte. Besser konnte sie es nicht. Sie nahm seinen Arm, legte ihn um ihre Schulter und hielt Joshua an der Hüfte fest. Sie ging los. Da er größer war als er, schleifte sie ihn hinter sich her. „Du bist munter und kannst gehen, also gib auch deinen Beitrag dazu, Schlappschwanz“, knurrte sie. Und Joshua gehorchte tatsächlich. „Halt ihn noch eine Zeit lang fest“, befahl sie Taurus. Liam Warrick knurrte: „Ich werde euch finden und dann umbringen.“ Taurus verriss daraufhin seinen Arm, worauf er stöhnte. Der Sklavendämon schnaufte. „Ich bring ihn nach Hause“, antwortete Plainacher, in dem Glauben, ihr Haustier habe gefragt, wohin sie gehen. Die beiden verschwanden im Dunkeln. Kapitel 7: Ehrenreich im Wortfluss ---------------------------------- „Ich bin Tausendmal mit der Ausrede durchgekommen, dass die Ohren eine Fehlbildung sind.“ Mit diesen Worten entschuldigte Jonathan Letherman seinen Auftritt im Fernsehen. Gabriel X. Paradiso hämmerte mit seinen Nägeln gegen die Schreibtischplatte. „Danke. Aber das war nicht die Frage, Sie Trottel.“ Jonathan grinste ängstlich. „Ach, echt jetzt? Ich muss zugeben, ich hab nicht zugehört. Könnten Sie die Frage noch einmal wiederholen?“ Der Chef schlug sich auf die Stirn. Keiner, wirklich keiner zeigte so wenig Respekt ihm gegenüber und versuchte ihn so oft für dumm zu verkaufen, wie dieser Alb mit der zu großen Klappe. Und er hasste Respektlosigkeit. Und dämlich war er erst recht nicht. Zum Glück hatte Gabriel X. Paradiso herausgefunden, warum der Alb zu widersprechen wagte. Seine Widerspenstigkeit hatte vor sieben Jahren begonnen – zusammen mit seiner Ehe mit dieser verschwiegenen Magierin. Ihre Kraft war das Rückrad, das der Trottel brauchte, ohne sie würde er keine große Klappe riskieren. Deswegen hatte er die Dame in Schwarz auch aus seinem Büro geschickt. Mehr als gereizt, sprach Gabriel X. Paradiso: „Wo waren Sie und ihre Gattin gestern die ganze Zeit?“ „Auf Streife.“ „Und was habt ihr da gemacht?“ „Einen Prüfling registriert.“ Jonathan reichte ihm die Glasplatte mit der Blutprobe des dicken Dämons, den er gestern ausgefragt hatte. „Er macht gerade seine Leutnantsprüfung.“ „Ist mir egal. Ich will wissen, wie lang das gedauert hat?“ „Och, fünf Stunden. Der Kerl war sehr inkooperativ. Aber wir haben ihn geknackt.“ „Das ist mir im Augenblick egal! Wo wart ihr die restliche Zeit?“ „Auf Streife.“ Gabriel X. Paradiso schüttelte den Kopf. „Wieso habt ihr dann nicht gemerkt, dass eine unangemeldete Dämonin hundertsieben Menschen ermordet hat, als sie ihren Sklaven beschworen hat, und Liam Warrick plötzlich mit Waffen hantiert hat, zu denen er gar keinen Zugriff haben dürfte?“ „Wir haben den Fettsack registriert.“ „Fünf Stunden! Was ist mit den anderen dreizehn Stunden?!“ Jonathan schluckte, bemerkbar am sich heftig bewegenden Adamsapfel. „Die Dämonin hat einen Schutzschild aktiviert – wir konnten nicht merken, was sie tat.“ „Ein schwächerer Kollege hat von weiterer Entfernung ihre Aktivität bemerkt. Wo wart ihr?“ „Nun ja, genau zu dieser Zeit haben wir den Fettsack registriert. Wir haben nicht abbrechen können, weil wir vermuten, dass der Typ gefährlich ist.“ Pause. „Und überhaupt, wieso hat der Kollege nicht eingegriffen?“ „Weil er noch dazu Anfänger ist.“ „Können Sie ihm dann überhaupt glauben, dass er diese Beschwörung bemerkt hat? Vielleicht wollte sich wichtig machen.“ „Hören Sie auf, mir zu widersprechen!“ Gabriel X. Paradiso hatte diese Wahrscheinlichkeit allerdings nicht berücksichtig, er war zu fixiert auf das Versagen von Jonathan und Toraria Letherman, doch zugeben würde er das nicht. „Wieso waren Sie dann doch am Tatort?“ „Schadensbehebung. Wir ahnten, dass Sie ausrasten würden und haben versucht den Täter zu analysieren. Doch die Presse war schon da und hat mich als Finder hingestellt.“ Er zeigte auf seine Ohren. „Die Ausrede mit der Missbildung funktioniert jedes Mal.“ „Nicht ausweichen.“ „Okay, okay. Nun ja, weil so viele Menschen dort waren, haben wir keine Recherchen anstellen können.“ Gabriel X. Paradiso verzog das Gesicht. Diese Erklärung klang ausnahmsweise glaubhaft. „Und Sie wurden sogar davon abgehalten, die Schwingungen der Dämonin zu erkennen und sie daraufhin zu suchen?“ „Ja.“ Weniger glaubwürdig, denn Toraria erkannte jede Eigenart eines paranormalen Wesens aufgrund kleinster Hinweise binnen Sekunden auf großer Entfernung, aber wenn sie nichts gesagt hatte, war auch der Gatte machtlos. „Nun gut. Ich belasse es einmal bei dieser Version. Aber ich warne Sie, wenn ich herausfinde, dass Sie gelogen haben...“ Er zog seinen Finger übe die Kehle. Jonathan schluckte wieder sichtlich. „Nächstes Problem. Wieso haben sie nicht eingegriffen, als dieser Liam Warrick mit Waffen hantierte, die er nicht einmal kennen dürfte?“ Jonathan zuckte mit den Schultern. „Woher hätten das wir wissen sollen? Warrick ist ein Mensch, den können wir nicht spüren.“ „Die Waffen aber.“ „Sowohl ich, als auch Toraria haben keine Ahnung von Handfeuerwaffen, wie sollen wir unbekannte oder großartig gefährliche Waffen erkennen?“ „Woher wissen Sie, dass die Waffen entweder unbekannt oder als großartig gefährlich bekannt sind?“ Zum ersten Mal wusste Jonathan heute nicht, was er antworten sollte. Er wollte laut fluchen. So gut hatte er argumentieren können, ganz ohne Hilfe seiner Frau, doch nun schien alles für’n Hugo gewesen zu sein. „G...Geraten“, stotterte er. „LÜGNER!“ Jonathan verzog das Gesicht. Egal, was er jetzt sagen würde, Gabriel X. Paradios Verdacht würde er heute nicht mehr entkommen können. Er ging das Ereignis durch, das er und Tori aus der Ferne beobachtet hatten. Liam Warrick hatte einen Dämon attackiert. Durfte er sagen. Der Dämon wurde von einer Dämonin gerettet, von der er wusste, dass es sich um jene handelte, die für den Massenmord verantwortlich war. Ersteres durfte er sagen, zweites nicht. Und er durfte erst recht nicht erwähnen, dass der Gerettete der Messias war. „Okay, wir haben gesehen, dass Liam Warrick einen unregistrierten Dämon angegriffen hat, der aber dann gerettet wurde, weswegen wir ihn nicht registrieren konnten. Wir haben uns nichts dabei gedacht, ich meine, nie hat man uns beauftragt Liam Warrick zu stoppen, warum hätten wir es jetzt tun sollen? Und wie gesagt, meine Gattin und ich haben zu wenig Ahnung von Waffen, als das wir uns ein genaueres Urteil hätten erlauben dürfen.“ „Das klingt auswendig gelernt.“ Nein, ich habe nur fünf Minuten über die Formulierung nachgedacht, schoss es Jonathan durch den Kopf, doch er schwieg. „Ist das die Wahrheit?“ In diesem Moment wurde die Tür aufgeschlagen. Toraria stand mit verschränkten Armen im Türrahmen und starrte von unten herauf auf ihren Chef, sodass ein kalter Schauer über seinen Rücken lief. „Das ist die Wahrheit“, sagte sie. Jonathan kicherte. Zwei Sätze in einem Monat... das war ein neuer Rekord! Gabriel X. Paradiso schnaufte. Jetzt konnte er nichts mehr ausrichten, er würde die Magierin nun nur mehr schwer vertreiben können. Egal. Seiner Erfahrung nach führten Verhöre nie zu einem befriedigenden Ergebnis. Warum er es dann noch immer versuchte, lag wohl daran, dass er sich nur ungern von alten Methoden trennte. Er lehnte sich in den Schreibtischsessel zurück. „Gehen Sie“, sprach er und machte eine abwertende Geste. Jonathan grinste breit. Wieder war er dem Strick entkommen. Knapp, ungerechtfertigt und erlogen, aber das war ihm egal. Er sprang regelrecht vom Sessel auf und drängte seine Ehefrau zu gehen. „Sie verheimlichen etwas, das weiß ich. Und wenn ich herausfinde, was, seid ihr erledigt“, sagte Gabriel X. Paradiso, kurz bevor die beiden das Büro verließen. Als Antwort zuckte Toraria Letherman mit den Schultern. Er wurde von einem unangenehmen Sonnenstrahl, der direkt auf sein Auge zielte, und den folgenden Kopfschmerzen geweckt. Irgendwer hatte vergessen die Vorhänge zuzuziehen. Für Dämonen waren Sonnenstrahlen noch unangenehmer, als für Menschen, die einen Kater hatten. Joshua setzte sich auf. Seine Augen schmerzten, sein Kopf dröhnte, seine Muskeln waren angespannt, seine Haut juckte – alles an seinem Körper verursachte irgendein Leid. So beschissen hatte er sich schon lange nicht mehr gefühlt. Und dann erinnerte er sich auch noch an den gestrigen Abend. Die Schamesröte erfüllte sein Gesicht. „Dieses verdammte Arschloch, Liam Warrick“, murmelte er und setzte sich auf. Und erst jetzt verstand er, dass er sich in seinem Zimmer befand. In Angelas Wohnung. Plainacher hatte ihn nicht nur gerettet, sie hatte ihn auch nach Hause gebracht. Die Menschen hassende Plainacher hatte ihn zu seiner Schwester gebracht... „Angela!“, schrie er und sprang vom Bett auf. Alles tat nun noch mehr weh, doch für seine Schwester litt er gerne. Auch, wenn es eventuell schon zu spät war. Er hatte Stunden geschlafen. Plainchacher hatte sie bestimmt schon umgebracht. „Nein!“, brüllte er und rannte ziellos in der Wohnung umher. Nur in die Küche lief er nicht, bis ein schrilles Lachen von dort erklang. Das war nicht Angelas Lachen. So lachte Plainacher. Er riss die Küchentür auf. Er sah sie rothaarige Dämonin breit grinsend auf einem Barhocker sitzen, in der Hand hielt sie einen Teebecher mit einer roten Flüssigkeit darin. Blut? In der anderen Hand hielt sie ein Herz. Sie sah ihn heimtückisch an. Joshua wurde schlecht. „Du... verdammtes... Biest.“ Er wollte losheulen und dieser Wahnsinnigen den Hals umdrehen. „Hey, endlich bist du wach“, sagte Angela. Joshua zuckte zusammen. Gut versteckt hinter der Tür räumte Angela gerade diverse Einkäufe in den Kühlschrank. Sie lächelte Joshua an. „Du hast zehn Stunden geschlafen. Scheint ja ’ne lustige Nacht gewesen.“ Sie nahm Plainacher das Herz aus der Hand, das sich allerdings als in einen Plastikbeutel eingepacktes Hackfleisch handelte. Und in dem Teebecher befand sich tatsächlich Tee. Seine Angst hatte ihm einen optischen Streich gespielt. Warum zum Teufel hatte Plainacher Angela nicht zur Strecke gebracht? Joshua hielt sich den Kopf. „Was ist passiert? Und wieso bist du da!“ Er zeigte auf Plainacher, die schrill zu lachen begann. „Och, herrlich, er hat ’nen Blackout. Hättest doch drei Whiskeyshots weniger trinken sollen“, lachte sie und fiel dabei fast vom Barhocker. Er verstand gar nichts mehr. „Ja, wow, anscheinend hast du mich heimgebracht. Vor zehn Stunden. Warum bist du noch immer hier?“ Angela antwortete: „Sie war selbst von der durchzechten Nacht so fertig, da hab ich sie nicht mehr heimgehen lassen und sie hat auf dem Sofa gepennt. Will ja nicht, dass ne gute Freundin von dir vergewaltigt wird. Das ist ne gefährliche Gegend.“ Gute Freundin von ihm? „Und als Dankeschön habe ich ihr beim Einkauf geholfen“, ergänzte Plainacher. „Ja, und dabei hab ich herausgefunden, dass du ’ne richtig anständige und normale Freundin gefunden hast. Ich meine, früher hast du immer diese Tussis angeschleppt, die nichts in der Birne hatte, aber Beenie ist wirklich nett.“ Beenie? Anständig? Normal? Nett? „Und ich hätte dir nie zugetraut, dass du so ’ne sympathische Cousine hast.“ Plainacher war ein Mensch sympathisch? „Danke. Traut man mir gar nicht zu, gell?“ Die beiden Frauen kicherten. Joshua verstand die Welt nicht mehr. Freundete sich seine Schwester gerade mit einer Dämonin an, die Menschen hasste und einhundertsieben Unschuldige gestern Nacht umgebracht hatte, geschweige denn von den dutzenden, die sie zuvor schon im Spazieren umbrachte? „K...Kann ich kurz mit Plai...eenie alleine sprechen?“, stammelte er. Angela schloss den Kühlschrank. „Klar, ich wollte eh gerade duschen.“ Und ohne weitere Worte marschierte sie aus der Küche. „Meine Güte, hast du gesehen, wie Angela den doofen Kühlschrank einräumt? Man erkennt, dass das ’ne Blinde gemacht hat“, kicherte Plainacher und trank den Teebecher leer. Joshua sagte nichts darauf. Er holte tief Luft. „Was zum Teufel hast du hier zu suchen?“ Seine Stimme bebte vor Zorn. „Was denn? Kein Danke, dass ich dir das Leben gerettet habe?“ „Was hast du hier zu suchen, du Biest?“ Plainacher verdrehte die Augen. „Angie hat’s dir gesagt. Sie hat mich nicht gehen lassen, ich bin eingeschlafen und dann hab ihr beim Einkaufen geholfen.“ Aus ihren Mund klang das noch absurder. Übrigens: Angie? Joshua schrie: „DU HAST DICH MIT MEINER SCHWESTER ANGEFREUNDET!“ Hoffentlich hörte Angela seine Worte wie geplant anders, er wusste nicht, ob er in dieser Verwirrung seine Stimme ordentlich überspielen konnte. Plainacher verzog das Gesicht. „Na ja, anfreunden würde ich das nicht unbedingt nennen. Aber sie ist sympathisch. Sehr selbstbewusst.“ Sie kicherte. „Und das muss schon was heißen, wenn ich das über einen Menschen sage.“ Es war faszinierend, wie abwertend sie das Wort „Mensch“ aussprechen konnte. Joshua begriff die Welt nicht mehr. Er setzte sich auf den Boden. „Und du hast ihr nichts angetan?“ „Nein.“ „Das ist kein Hologramm oder Double oder so was?“ Sie lachte wieder. „Ich hab den ersten Eindruck bei dir verschissen, glaubst du wirklich ich würde in dieser beschissenen Situation deine Schwester umbringen?“ Das leuchtete ein. Wenigstens etwas Vernunft schien diese Irre zu besitzen. „Aber... woher zum Teufel weißt du, dass sie meine Schwester ist? Und das ich mich als ihr Cousin ausgebe?“ Ein Schweißausbruch überkam ihn. „Hast du was ausgeplaudert?“ Plainacher sprang vom Barhocker und wusch den Teebecher aus. „Ich weiß mehr über dich, als du ahnst.“ Sie legte den Becher in den Geschirrspüler, den Angela seit ihrer Erblindung allerdings nicht mehr genutzt hatte. „Aber, dass sie glaubt, du bist ihr verfickter Cousin, darauf hat sie hingewiesen. ‚Anthony’ hat sie nämlich geschrieen, als sie dich bewusstlos vor der Tür liegen sah.“ Bewusstlos vor der Tür liegen? Egal... Es lag ihm eine Frage auf der Zunge, doch da Plainacher einfach weiterredete und ihn nicht zu Wort kommen ließ, vergaß er sie. „Ich glaube allerdings, dass irgendetwas mit ihr nicht stimmt. Ich denke, sie hat labile paranormale Kräfte, die allerdings so schwach sind, dass sie nicht mal dem beschissen erfahrensten Magier auffallen würden, wenn man sie nicht explizit darauf untersucht. Aber die Halbschwester des Messias sollte man nicht unterschätzen. Ich meine, sie hat zwar nicht dieses beschissene jungfräuliche Blut der Mutter, das dich so besonders macht, aber sie ist die verdammte Nachfahrin des Mannes, den die jungfräuliche Mutter erwählt hat, also ist ihr Paranormalität... nein, der Begriff ist zu stark, eher Abnormalität ist ihr quasi in die Wiege gelegt.“ „Halbschwester!?“, platzte Joshua plötzlich heraus. Plainacher verzog das Gesicht. „Ja...“ „Sie ist nicht meine Halbschwester. Sie ist meine Vollschwester.“ Die Dämonin schüttelte den Kopf und blies sich genervt eine Haarsträhne aus dem Gesicht. „Wie kann deine Mutter dich jungfräulich geboren haben, wenn du eine ältere Schwester von derselben Mutter hast?“ Ihr Gesichtsausdruck hatte einen mitleidigen Schatten bekommen. „Sie ist die Tochter aus der ersten Ehe deines Vaters. Angelas leibliche Mutter ist bei der Geburt gestorben. Joseph Nazara hat sie in die Ehe mitgebracht.“ Joshua schüttelte den Kopf. „Man hat mir immer erzählt, wie wären Vollgeschwister.“ Das Lachen, das sie von sich gab, war vollkommen mitleidig und herablassend. „Auch als du erfahren hast, dass deine Maria Nazara dich jungfräulich empfangen hat, hast du das noch geglaubt.“ Er nickte. Sie schlug sich die Hand auf den Kopf. „Heilige Scheiße, und so ein denkfaules Arschloch soll die Hölle in den ultimativen Krieg führen?“ Sie kicherte. „Du weißt aber schon, wie Babys gemacht werden?“ Er knurrte. Als er in die Hölle gekommen war, hatte er so markerschütternde Dinge erfahren, dass er keine Zeit hatte, Tatsachen anzuzweifeln, die man ihm sein Leben lang in den Kopf gedroschen hatte. Während der Ausbildung war er zu müde zum Denken gewesen. Und nun war er so glücklich Angela wieder gesehen zu haben, dass er die Lüge nicht anzweifeln wollte. Konnte dieses Dämonin kein bisschen darauf Rücksicht nehmen? „Plainacher...“ Sie unterbrach ihn mit einem Knurren. „Deine Schwester nennt mich Beenie, Angela glaubt, du nennst mich Beenie, Erik der Rote nennt mich Beenie, selbst Lillith nennt mich Beenie... bitte, Arschloch, nenn mich Beenie.“ „Okay, Beenie“, den Namen auszusprechen war schwerer, als es wirkte, „ist der einzige Grund, warum du hier geblieben bist, der, dass du dich mit Angela anfreunden wolltest.“ „Nein. Ich bleib doch nicht wegen so einem Scheißdreck wie Freundschaft bei einem Menschen, abnormal hin oder her.“ „Was zum Teufel treibst du dann noch hier?“, schrie er. Am liebsten hätte er ihr den Hals umgedreht. Er fand es widerlich, dass seine Schwester glaubte sich gut mit einer Dämonin zu verstehen, die skrupellos mordete und ihn dazu zwingen wollte, Menschen zu ermorden, und dass er nun mit ihr redete, als wären sie die dicksten Freunde. Und jetzt schnitt Plainacher auch noch das Thema an, das er nicht diskutieren wollte. Er hatte Kopfschmerzen. „Ich verstehe deine Logik nicht.“ Pause. Joshua verdrehte die Augen. „Erklär mir eines, was hindert dich daran Menschen zu töten, paranormale Wesen aber nicht, wobei Menschen doch die Chance auf ein nächstes Leben haben, paranormale Lebensformen aber nicht.“ Die Kopfschmerzen wurden stärker. Nie hätte er gedacht, dass diese Wahnsinnige ein vernünftiges Argument aufbringen konnte. Und ehrlich antwortete er: „Ich weiß es nicht.“ Pause. „Ich kann mein Verhalten nur daraus schließen, dass ich mich dem Menschen noch immer verbundener fühle, als der Hölle.“ Als Plainacher die Hand hob, hob er schützend die Arme. Sie kicherte leise: „Ich würde dich gerne schlagen, aber die verfickte Sonne verdirbt mir die Laune. Selbst Fluchen macht keinen Spaß. Bist du nicht auch irgendwie schlaffer, als sonst?“ Joshua schüttelte den Kopf, dass er die Schmerzen am ganzen Körper auf den Kampf mit Warrick zurückführte, und nicht auf die Sonne. „Du bist echt noch irgendwie menschlich.“ Sie schritt auf ihn zu und beugte sich zu ihm hinunter. Tief sah sie ihm Augen. So ernst wie sie nun blickte, konnte man vermuten, dass Plainacher, als sie noch nicht gepierct war und dieses diabolische Grinsen angenommen hatte, einmal so etwas ähnliches wie hübsch gewesen sein musste. „Ich erkläre es dir noch einmal. Diese beschissene menschenfreundliche Einstellung wird dir in Zukunft nicht gut tun. Du wirst immer wieder dazu verdammt sein ein unterlegenes Geschöpf zu erlegen, Menschen sind da keine Ausnahme. Denk an diesen Schleimscheißer Liam Warrick. Wie willst du ihn erledigen, wenn du keinen Menschen umbringen möchtest?“ „Ich hasse diesen Nichtsnutz.“ Die Antwort kam plötzlich und klang wie das Fauchen eines Löwen. Plainacher kratzte sich am Kopf. „Immerhin“, murmelte sie und kniete sich vor ihn hin. „Ich verspreche dir, irgendwann wirst du alle Menschen so hassen wie ihn. Selbst Angela wirst du eines Tages so verabscheuen, wie diesen Wichser, weil du in allen das selbe beschissene Charakterbild sehen wirst – einen neidisches Arschloch, das Angst um seine Macht hat, aber schon längst die Gunst Gottes in seinen unwürdigen Krallen hält.“ Ein Satz brachte ihn zum Heulen - Angela hassen, wie Warrick? Niemals. Sie streichelte ihm mit ihren kalten Fingern über den Kopf. „Und je früher du mit dem Hassen beginnst, umso weniger wirst du leiden. Und man hasst leichter, wenn man erst merkt, was für einen Spaß es macht, ihnen die Kehle durchzuschneiden, die Gedärme hinaus zu reißen und mit den Hirnen Fußball zu spielen.“ „Schwachsinn“, knurrte Joshua und entzog seinen Kopf ihren unangenehmen Fingern. Plainacher grinste und näherte ihr Gesicht dem seinen. „Verfickter Sturkopf.“ Sie packte seine Haare wieder, streichelte ihn aber nicht, sondern riss daran. Mit ihren langen Nägeln kratzte sie seine Halsschlagader. Joshua verzog das Gesicht, er spürte ihren heißen Atem an seiner Wange und hasste es. „Noch bevor du das Arschloch Liam Warrick das Licht ausblasen kannst, werde ich dich schon dazu bringen einen anderen Menschen zu erlegen.“ Sie kicherte. „Dabei ist es doch so einfach. Man muss sich nur vor Augen halten, dass diese miesen Kreaturen weiterleben werden, im himmlischen Himmel oder Karriere in der Hölle machen können.“ Sie kratzte noch immer an seinem Hals und Joshua glaubte schon zu bluten, dabei rann ihm nur der Schweiß herunter. „Nicht so wie wir, die nur diese Chance haben.“ Mit der anderen Hand bohrte sie ihre Nägel in seine Kopfhaut. „Du musst doch einsehen, dass deswegen unser Leben mehr wert ist, als jenes, das in einer anderen Sphäre weiter geht. Wir hören auf zu existieren, sobald unser Herz aufhört zu schlagen. Wir müssen Angst vor dem Tod haben, nicht die.“ Pause. „Hattest du keine Angst, als dich dieses Arschgesicht gestern fast erlegt hätte?“ Pause. „Also ich hab permanent Angst...“ Vollkommen unerwartet biss Plainacher Joshua in den Hals. Er schrie auf. Ohne Rücksicht auf sich selbst, stieß er sie von sich weg. Sie landete auf dem Boden. Zwischen ihren Zähnen hielt sie einen kleinen Hautfetzen. „Was sollte das eben?“, brüllte er. Die wahnsinnige Dämonin spuckte die Haut aus. So genau wusste sie das selbst nicht... „Du bist vollkommen verrückt.“ Sie zuckte mit den Achseln. Joshua zeigte auf die Tür. „Raus hier. Oder ich sorge mit Gewalt dafür.“ Darauf konnte Plainacher nur kichern. Doch sie war zu sehr von ihrem eigenen, sexuell angehauchten Verhalten geschockt, als dass sie etwas hätte sagen können. „Ich sagte, raus!“, grinsend blieb sie sitzen. Wäre in diesem Moment nicht Angela zur Tür hereinspaziert, hätte Joshua Plainacher gepackt und aus dem Fenster geschmissen (zumindest träumte er davon, die Realität hätte wahrscheinlich die Rollen vertauscht). „Fällt ihr gerade über euch her?“, kicherte sie. „Sorry, in der Küche herrscht Sexverbot.“ Plainacher stand auf. „Ehrlich gesagt, wollte ich gerade gehen.“ „Schon?“, seufzte Angela. Endlich, dachte Joshua. „Ja, mein Haustier muss gefüttert werden.“ „Du hast ein Haustier? Hast du gar nicht erwähnt. Was hast du denn? Katze, Hund?“ „Ein...en...Hamster. Er heißt Taurus.“ In dem Moment kam der Labrador auf Plainacher zugestürmt. Joshua hoffte, der Köter würde ihr in den Hintern beißen, doch er leckte ihr die Hand ab. Verspielt fing die Dämonin an, seinen Kopf zu kraulen. Wieder ein Anblick den Joshua nicht verstand. Wieso mochte dieser verdammte Köter diese grausame Dämonin, ihn aber nicht? „Aber wir können uns mal auf einen Kaffee treffen“, schlug Plainacher vor. Angela grinste. „Du bist jeder Zeit willkommen.“ Joshua verdrehte die Augen. Hoffentlich war dieses Angebot nur so dahergesagt... „Ach im Übrigen, Anthony, mit Warrick ist irgendetwas nicht in Ordnung, frag lieber jemanden um Hilfe, sonst macht er dich fertig. Ich unterstütze dich jedenfalls nicht schon wieder.“ Nach diesen Worten verließ Beenie Plainacher die Wohnung. Joshua wusste nicht, ob er diesen Hinweis ernst nehmen sollte oder nicht. Die beiden alten Freunde saßen am Tisch eines noblen Restaurants. Der dicke zündete sich eine Zigarre an, der dünne eine Zigarette, obwohl Rauchen in diesem Gebäude verboten war. Doch solche Verbote störten einen nicht, wenn man den Eigentümer des Restaurants zu seinem Freundeskreis zählen konnte. Die Dame am Nebentisch beschwerte sich und wies ihn auf die Verordnung hin, doch darauf konnte der Fette der beiden nur mit einem lauten Lachen antworten, und die überpenible Frau bat daraufhin den Tisch zu wechseln. Das Gespräch der alten Freunde konnte beginnen. Simon Braunstein: Ich wusste, dass du eines Tages zurückkommen würdest. Erik Rotmann: Zurückkommen ist der falsche Begriff – ich bin wieder hergekommen. Ich bin vor einem Jahr zurück nach Deutschland gegangen. Simon Braunstein: Ja, aber jetzt bist du wieder zurück in den USA. Und das feiern wir nun. Kellner! Eine Flasche Champagner bitte! Aber dalli! Erik Rotmann: Freu dich nicht zu früh, denn mein Aufenthalt wird nicht länger als einen Monat dauern. Simon Braunstein: Das hast du das letzte Mal auch gesagt. Und dann bist du fünf Jahre lange geblieben. Und in Deutschland wolltest du dann für den Rest deines Lebens verweilen und dort sterben. Und jetzt bis du wieder da. Dich zieht es in die USA, du alter Nazi. Erik Rotmann: Ich habe auch vor in Köln zu sterben. Mein Aufeinhalt ist beruflich bedingt. Simon Braunstein: Was hat ein deutscher Anwalt beruflich in einem Staat zu tun, der ein vollkommen anderes Rechtsystem hat? Erik Rotmann: Der Herr, wegen dem ich hier bin, ist Amerikaner, hat angeblich einen Mord an einem zehnjährigen Mädchen begangen. Das IPR sagt nun einmal, dass der Fall in Deutschland verhandelt werden muss. Simon Braunstein: Ja, leck mich mal einer. Doch das erklärt nicht, was du dann hier zu suchen hast. Erik Rotmann: Bevor man ihn verdächtigte, war er schon abgereist, aber sobald die Behörden von dem Verdacht erfuhren, verhaftete man ihn. Er hat schon etliche Vorstrafen. Und jetzt rückt man nicht mit ihm heraus. Ich soll die Sache klären. Simon Braunstein: Hat der Klient auch einen Namen? Erik Rotmann: William Morley. Simon Braunstein: Scheiße, woher kommt mit der Name nur bekannt vor? Hm... warte, nicht sagen... ich hab’s gleich... heilige Scheiße, war das nicht ein Kinderschänder? Scheiße, verdammt, ist das schon so lange her... Klar, das war der erste Typ, den ich in den Knast gebracht habe. Erik Rotmann: Gut möglich. Simon Braunstein: Und dieses perverse Schwein ist wegen guter Führung früher frei gekommen. Seither hat man nie wieder etwas von ihm gehört. Ich dachte, er sei tot. Erik Rotmann: Ich kenne seine Biographie nicht sehr genau, aber ich glaube, dass er in Deutschland untergetaucht ist. Zumindest so lange, bis er wieder ein Mädchen vergewaltigt und ermordet hat. Simon Braunstein: Ein Mädchen diesmal. Damals hat er noch Knaben missbraucht. (Der Kellner brachte endlich die Champagnerflasche, doch dem fetteren der beiden, war nun nicht mehr zu feiern zu mute.) Simon Braunstein: Weißt du, Erik, ich verstehe nicht, wie du Arschlöcher wie diese Perverslinge verteidigen kannst. Erik Rotmann: Sie haben das Recht auf die möglichst gerechte Strafe, und wenn sie niemanden hätten, der ihnen die Chancen zu Rechtfertigungen ermöglicht, Straftäter sich verteidigten müssten, ohne zu wissen, dass es eine möglichst geringe Strafe gibt, und nur einer entscheiden würde, wie der Täter zu bestrafen ist, hätten wir bald wieder willkürliche Lynchjustiz. Und dann ist es bekanntlich nicht mehr weit zur Anarchie. Simon Braunstein: Das weiß ich – nicht nur du hast studiert. Doch du hast es dir zur Aufgabe gemacht, die größten Bestien vor dem Knast zu bewahren – verfehlt dieser Vorsatz nicht den Berufsethos? Erik Rotmann: Nicht, wenn ich beweisen kann, dass es zu wenige Schuldbeweise gibt, um ihn zu verurteilen. Auch wenn alles dafür spricht, nur weil er nein sagt, heißt es noch lange nicht, dass er lügt. (Der dünne Mann genehmigte sich ein Glas und schenkte auch gleich seinem alten Freund ein Gläschen ein) Erik Rotmann: Im Falle William Morleys ist es so. Simon Braunstein: Aber die Tatsache, dass er schon einmal wegen Vergewaltigung von Kindern gesessen hat, lässt an seiner Unschuld zweifeln. Erik Rotmann: Und es ist meine Aufgabe, solche Vorurteile aufgrund der Vergangenheit und des Auftretens des Klienten zu vernichten, damit das Urteil möglichst gerecht wird. Simon Braunstein: Nur leider wird Vernichten oft mit Ignorieren vertauscht. (Die beiden lachten, stießen an und tranken.) Simon Braunstein: Aber was soll’s, lass uns nicht über das leidliche Thema unseres Berufsethos diskutieren. Erik Rotmann: Zum die Bedingungen in meinem Heimat komplizierter sind, einen Verbrecher rauszureden, als in deinem. Simon Braunstein: Ach, du alter Nazi, lassen wir das Thema. Erzähl, wie geht es der Familie? Erik Rotmann: Meine Mutter ist kürzlich gestorben. Und ich bin noch immer unverheiratet. Simon Braunstein: Ach, das tut mir leid. Sowohl die tote Mutter, als auch dein ewiges Dasein als Junggeselle. Erik Rotmann: Sie ist neunundachtzig geworden – bei dem Alter fühlt man nur Trauer, kein Mitleid. (Da sie beide schon ausgetrunken hatten, schenkten sie wieder ein.) Simon Braunstein: Meine älteste Tochter hat kürzlich geheiratet. Einen Verfassungsrechtler. Und schwanger ist sie schon. Und mein Sohn stranguliert sich noch immer im Medizinstudium. Ich hab’s ich ja ausreden wollen, doch er hat auf stur geschaltet. Ach, und die mittlere will noch immer in die Rabbinaschule. Erik Rotmann: Opfer deiner Erziehung, du alter Itzig. Simon Braunstein: Ich habe meine Kinder zwar religiös erzogen, aber nie sie zu einem Glauben gezwungen. Der Fanatismus war allein ihre Idee. Erik Rotmann: Wenn ich solche Sachen höre, bin ich froh keine Kinder zu haben. Simon Braunstein: Ach, das war nur der Anfang. Wenn ich dir erzähle, wie mein lieber Nathan ein schönes Getränk namens Wodka für sich entdeckt hat. Scheiß Russenpack, vergiften unsere Nachkommen nicht nur mit ihren kommunistischen Ideen, sondern – sogar noch stärker – mit ihren Teufelsgetränken. Erik Rotmann: Ich will dich nicht daran erinnern, wie du dich verhalten hast, als wir uns kennen lernten. (Schon die halbe Flasche war geleert – und nun tranken die beiden noch schneller.) Simon Braunstein: Ich hab dir gar nicht erzählt, dass ich heute einen Prozess gegen Liam Warrick übertragen bekommen habe. Erik Rotmann: Du meinst diesen sechsundzwanzigjährigen, dem eine Ölraffinerie gehört? Simon Braunstein: Genau der. Hat ordentlichen Ärger wegen illegalem Waffenbesitz, Drohung, Körperverletzung und Ruhestörung. Erik Rotmann: Was du nicht sagst. Simon Braunstein: Der bestreitet natürlich alles, aber es gibt etliche Zeugen. Laut allen, hat er ursprünglich einen Typen verprügeln wollen, doch weil der ihm entwischt ist, hat er einem unschuldigen eine Waffe an den Schädel gehalten, und ihn danach niedergeschlagen. Erik Rotmann: Sehr interessant. Simon Braunstein: Wahrscheinlich war der Trottel heckedicht. Aber schon okay, seine Weste war in seinen Augen viel zu sauber. Jeder Mensch hat Schattenseiten, das weiß man als praktizierender Jurist. (Die letzten Schluckte waren getrunken und Champagnerflasche war nun leer. Der dünne Mann schaute auf die Uhr.) Erik Rotmann: Ich muss leider aufbrechen, mein erstes Treffen mit Morley soll in einer Stunde stattfinden. Ist es okay, wenn ich dir die Rechnung überlasse? Simon Braunstein: Ich hab dir doch von Anfang an gesagt, dass ich zahle. Es war schön dich mal wieder getroffen zu haben, du alter Nazi. Erik Rotmann: Gleichfalls, du alter Itzig. Die beiden Männer reichten sich im Stehen die Hände und sie sahen sich dabei tief in die Augen. Der Dickere bekam auf der Stelle Kopfschmerzen, schob es aber auf den Alkohol, den er zu schnell getrunken hatte. Seit einer Herzoperation vertrug er gar nichts mehr. Schnell setzte er sich. Sein deutscher Freund hatte schon das Gebäude verlassen, als er einen Hirnschlag bekam, dem er sofort erlag. Erik der Rote hatte Simon Braunstein schon vor ihrem Kennenlernen umbringen wollen, hatte es aber irgendwie verschwitzt. Immer wieder machte er sich Vorwürfe, weil dieser Anwalt für seinen Geschmack zu viel Kontakt mit paranormalen Wesen hatte, jedoch war ihm bis jetzt kein Grund eingefallen, warum er den Herren hätte umbringen können. Doch nun hatte er leicht behaupten können, dass er als Staatsanwalt die Leutnantsprüfung des William Morley verhindern könnte, der seinen perversen Gelüsten nicht entkommen konnte. Sowohl Morley als auch Beenie bedienten sich fadenscheiniger Ausreden um ihre morbiden Begierden zu stillen – der Hölle oblag die Kontrolle der Begründungen, und ihnen war relativ egal, welcher sie sich bedienten, Hauptsache, der Mörder lieferte eine, und da es im Vertrag kein Wichtigkeitsgrad der Begründung festgesetzt war, konnte auch der Himmel nicht wegen Vertragsbruch klagen und angreifen. Doch Erik der Rote mochte so dumme Ausreden, wie jene, die seine Schüler benutzen, jedoch nicht. Er sah sich als Gentleman. Auch seine Begründungen mussten Stil haben. Die Sonne war kaum untergegangen, doch schon lagen Jonathan und Toraria in ihren Schlafgewändern im Bett. Nachdem Gabriel X. Paradiso die gestrigen Ereignisse als Katastrophe beurteilt hatte, obwohl in Jonathans und Torarias Augen alles nach Plan gelaufen war, hatte er ihnen heute frei gegeben und die Streife einem Mentor und seinem Schüler überlassen. Sie wollten den unerwartete Freizeit zum Ausruhen nutzen. Doch von Schlaf konnte keine Rede sein. Auch von Ruhe nicht. Jonathan lag auf dem Rücken, starrte auf die Decke und hielt die Hand seiner Gattin, die in derselben Position lag. „Was haben wir uns nur dabei gedacht?“, raunte er. „Wir hätten den Chef von Anfang an einweihen sollen.“ Toraria streichelte zwar seine Hand, doch Jonathan wusste, was sie eigentlich sagen wollte: „Das sagst du nur, weil du willst, dass deine Narbe aufhört zu schmerzen.“ Er reagierte darauf jedoch nicht. Er musste reden. Es lag ihm nicht nur die Narbe auf der Seele, sondern auch die Angst, die er vor seinem Chef entwickelt hatte. Das in letzter Zeit ergatterte Selbstvertrauen wurde noch immer von seiner Furcht auf die Probe gestellt. „Wieso machen wir das eigentlich?“, seufzte er. „Warum versuchen wir den Messias auf unsere Seite zu ziehen? Können wir nicht einfach Gabriel X. Paradiso die Wahrheit sagen, damit er ihn umbringt und erst die Leute in 1000 Jahren mit dem Problem kämpfen können?“ Toraria legte den Kopf zur Seite. „Wenn man ein Problem aufschiebt, verschwindet es nicht, sondern wird nur größer“, sagten ihre Augen. „Ich weiß...“ Zum Glück sprach sie nicht und glücklicherweise konnte ihre Mimik nicht so viel verraten, wie sie ihm gerne mitteilen würde. Doch Jonathan wusste, was sie sagen würde. Dass der Messias immer viele Probleme mit sich brachte, bringt und bringen wird und je weiter die Konfrontation mit der Apokalypse in Zukunft geschoben werden würde, umso komplizierter würden die Verschwörungen werden, umso mehr Opfer würde es schlussendlich geben. Dass sie denselben Verzweiflungsakt wie die Hölle verüben würden, den sie bei Jesus Christus anwandten, wenn sie Joshua Nazara enttarnten, und sie durften sich nicht auf das Niveau dieser Verbrecher einlassen – sie mussten anders kämpfen. Und dass Jonathan, dessen Lebenserwartung bei achttausend Jahren lag, wahrscheinlich auch den nächsten Messias miterleben würde, sich also nicht davor drücken konnte. Doch wenn man permanent mit Schmerzen konfrontiert war, die einen in die Knie zwangen, hatte der Mord an Joshua Nazara die schönsten Reize. Er legte seinen Kopf auf die Schulter seiner Gattin. In anbetracht der unbarmherzigen Kälte, die sie ausstrahlte, konnte man sich kaum vorstellten, dass ihre Schulter wie der weichste und kuscheligste Polster sein konnte. So an sie geschmiegt, konnte er immer einschlafen, auch wenn ihm die gerade frisch zu bluten angefangene Narbe das Herz aus der Brust zu reißen zu schien. Doch Schlafen würden die beiden längere Zeit nicht können. Jemand läutete an der Tür. Ruckartig setzte sich Toraria auch und schmiss Jonathan von ihrer Schulter. Dabei flog er fast aus dem Bett. „Musste das sein!“, fauchte er. Toraria kletterte hastig aus dem Bett und Jonathan konnte ihrer Silhouette kaum folgen, als sie das Schlafzimmer verließ und die Treppen herunterstürzte. „Was hetzt du dich so!“, jammerte Jonathan, der ihr gähnend nachkam. „Wird wahrscheinlich die alte Spencer sein, die beim Spionieren unseren Genius gesehen hat.“ Der Hausgeist in Form eines Drachen ließ sich nämlich nicht gerne in der Urne einsperren, und zischte nachts gerne vorm Fenster herum, was die Nachbarn irritierte. Nach dieser Aussage zeigte Toraria auf die Glaskugel, die zeigte, wer sich gerade vor der Haustür befand. Es folgte ein vorwurfsvoller Blick mit der Aussage: „Sag mal, hast du ihn nicht gespürt?“ Irritiert blickte Jonathan auf die Reflexion – ein etwas kleiner Mann, in Jeans und einem Kapuzenpullover, dessen Gesicht grausam vernarbt war, stand vor ihrer Haustür. „Danke“, sagte die junge Frau, die Joshua auf neunzehn Jahre schätze. „Kann ich mich irgendwie erkenntlich zeigen?“ „Nein.“ Dass sie sich bedankt hatte, war die schönste Form, wie sie ihre Freude zeigen konnte. Langsam sah er ein, dass es ihm darum ging, Dankbarkeit zu erhalten, wenn er einem Menschen das Leben rettete. In der Hölle schien es dieses Wort nicht zu geben. Meistens bekam man eine schroffe Antwort, wenn man dort jemandem half. Er erkannte, dass er Erkenntlichkeit vermisst hatte. Deswegen bezweifelte er stark, dass er jemals aufhören würde, Menschen zu helfen. In Momenten wie diesen dachte er, dass sich Beenie Plainacher ihren Wunsch, dass einen Artgenossen töten würde, in die Haare schmieren konnte. Die junge Frau lächelte und sah schön aus. Sie war gerade von einem geisterhaften Tierwesen, eine Mischung aus Leopard und Bär, angegriffen worden. Sie hatte diese Kreatur allerdings als vulgären Taugenichts wahrgenommen hatte, der kein anderes Interesse hegte, als ihr die Kleider vom Leib zu reißen und sie zu vergewaltigen. Wahrscheinlich war das auch das Ziel des Tiergeistes gewesen. Im letzten Moment hatte Joshua die Kreatur in Flammen aufgehen lassen. In ihren Augen war er nur blutig geschlagen worden und dann geflohen. „Dürfte ich dann wenigstens Ihren Namen wissen?“ Es gab nichts, was dagegen sprach. „Joshua.“ Ihm gefiel die junge Frau. Sie war groß, schlank, hatte ein unauffälliges, aber hübsches und ebenes Gesicht, das von langen, dunkelbraunen Haaren umrahmt war. „Ich bin Magdalena.“ Pause. „Darf ich Sie nicht einmal auf einen Kaffee einladen?“ Joshua schüttelte den Kopf. „Nein. Ich hab es eilig.“ „Dann bedanke ich mich noch einmal dafür, dass sie trotz der wenigen Zeit mein Leben gerettet haben.“ Er nickte. Und ging nach einem kurzen „Ciao“. Wenn sie sich noch länger bedanken und dabei weiterhin so freundlich lächeln würde, würde er sie noch auffordern, dass sie ihn auf einen Kaffee einlud. Doch er durfte sich von einem hübschen Gesicht nicht ablenken lassen. Er musste mit diesen beiden komischen Leuten sprechen, die ihn registriert hatten. Nach dem „Gespräch“ mit Plainacher hatte er das Bedürfnis sich mit jemandem zu unterhalten. Doch es musste ein paranormales Wesen sein, das seine Lage besser verstehen konnte, dem er nichts vorlügen musste. Seine Schwester fiel also aus. Am liebsten hätte er mit Erik dem Roten und Lillith gesprochen, doch beide reagierten nicht auf seine Hilferufe. Und die einzigen, die ihm einfielen, waren eben der Alb und die Magierin, die ihn verhört und dann ihre Freundschaft angeboten hatten. Zwar waren sie von der Gegenseite, was bedeutete, dass er auch hier aufpassen musste, was er sagte, doch vielleicht konnten sie ihn bezüglich Liam Warrick aufklären und ihre Erfahrungen mit anderen Höllenbewohnern mit ihm teilen. Besonders die Warrick-Problematik machte ihn zu schaffen. Ihm kam die Prüfung von Anfang an ein wenig zu schwer vor. Und dann hatte sich Plainacher auch noch mit so einem komischem Hinweis verabschiedet. Als er das Gebäude von außen sah, gab es keine Hinweise darauf, dass hier paranormale Existenzen wohnten. Er stand vor einem schlichen Einfamilienhaus. Alle Räume waren verdunkelt. Dies förderte die Hemmungen anzuläuten. Nachdem er zehn Minuten vor der Tür gestanden hatte, betätigte er die Türglocke. Bereute kurz. Dann ging die Türe auf. Entgegen seiner Erwartungen stand nicht der blonde Alb vor ihm, sondern die schwarzhaarige Frau, die ohne Gesichtsregung auf ihn starrte. Ihre Augen waren nun noch unheimlicher als bei der ersten Begegnung. Auf ihr schwarzes Seidennachthemd, das die Wölbungen ihres Körpers auf erotische Weise abzeichnete, starrend, fragte er: „Störe ich?“ Wenig später tauchte Jonathan (wow, er konnte sich plötzlich an den Namen erinnern) auf. „Hey, schön dich wieder zu sehen!“, johlte er. „Störe ich?“, wiederholte Joshua. „Nein, nein, ganz und gar nicht. Wir haben uns schon länger gefragt, wann du endlich hier auftauchen wirst, gell Tori?“ Keine Reaktion. „Siehst du, sie stimmt mir zu.“ Joshua verkniff sich einen Kommentar. „Willst du ewig draußen rumstehen? Komm rein, es ist kalt.“ „Es hat zwanzig Grad.“ „Egal, komm rein.“ Jonathan packte Joshua am Arm und zog ihn ihr Heim. Ein schnelleres Schließen der Tür hätte daraufhin nicht folgen können. Die Einrichtung deutete schon eher darauf hin, dass hier sehr exzentrische Individuen wohnten. Schwarze Mauer, schwarzer Boden, schwarzer Aufbewahrungsschrank und eine schwarze Lampe, in einer Ecke stand eine Glaskugel, die reflektierte, was sich vor der Haustür abspielte – mehr gab es im Vorzimmer nicht. Auch das Licht konnte nicht daran hindern, dass man dieses Zimmer als dunkel bezeichnen musste. Wand und Boden gaben keine Lichtreflexe wieder, nur die beiden Hauseigentümer wurden beleuchtet. „Tee, Kaffee, Wasser?“, fragte Jonathan „Kaffee.“ Joshua hatte noch immer Kopfschmerzen aufgrund des Treffens mit Liam Warrick. Die Konfrontation mit Plainacher war auch nicht gerade erleichternd gewesen. Kaffee half aber oft gegen Schädelschmerzen. Jonathan zerrte Joshua in die Küche, deren Einrichtung sich immens vom Vorzimmer unterschied. Die bäuerlichen Holzschränke waren bis zum Anstoßen vollgefüllt, ein Chaos, in dem sich auch Jonathan nicht auskannte, er öffnete jede Schranktür dreimal, bis er die Kaffeebohnen endlich fand. Vorher stolperte er über mehrere Blechdosen für Gewürze, Putzfetzen, halbleere Getränkeflaschen und eine tote Ratte, die er auf die blauen Bodenfliesen schmiss. „Dieser verdammte Genius“, murmelt er, während er die Kaffeebohnen mahlte. Joshua legte den Kopf schief. „Der was?“ „Ein Genius ist ein Hausgeist, den alle paranormalen Wesen bei sich hausen haben. Normalerweise sind sie in Urnen eingesperrt, aber unserer bricht oft aus und verwüstet alles.“ Pause. „Wir wollen eigentlich keinen, müssen aber einen haben. Dafür hassen wir aber Klagegeister.“ In der Zwischenzeit lehnte sich Toraria gegen den Kühlschrank mit einem Schokoladeriegel in der Hand. „Was sind Klagegeister?“ Jonathan verdrehte die Augen. „Verstoßene Genii. Rennen immer heulend rum, deswegen heißen sie auch so. Lernt man in der Hölle so etwas nicht?“ „Nein.“ Pause. „Ich kenne nicht einmal die Hierarchie.“ „Och, das ist nicht so schlimm, denn wir kennen die Hierarchie, verstehen sie aber nicht, gell Tori.“ Sie schüttelte doch tatsächlich den Kopf, doch das war keine Bestätigung, sondern Ärgernis, weil ich Gatte Blödsinn gesprochen hatte. ER verstand die Hierarchie nicht, sie schon. „Obwohl die Hierarchie der Hölle nichts ist, im Vergleich zu jener, des Himmels. Oder die APEHA.“ Jonathan zuckte zusammen. Es war verboten, Bewohnern der Hölle den Namen der Exekutiv-Organisation paranormaler Wesen zu nennen. Eine sinnlose Regel, denn jeder Höllenbewohner kannte früher oder später den Namen, auch, wofür die Initialen standen, aber trotzdem war es verboten. Joshua legte den Kopf schief. Er kannte den Namen im anderen Zusammenhang. „Association for Production of Ecofriendly Hi-Tech-Apparatures? Meine Güte, die haben wir damals in der Schule besprochen, aufgrund ihrer revolutionären Ideen im Bereich der Anwendung alternativer Energie. Ich hab das nie verstanden.“ Pause. „Wie kommt ihr auf den Vergleich?“ „Tja, paranormale Wesen müssen auch das menschliche Weltgeschehen beobachten“, kicherte Jonathan. Gerettet. Aber so, wie er redete, baute er den Verdacht sicher nicht ab. Schnell ein Themenwechsel. „Was führt dich hier her?“ Er musste schreien, da die Kaffeemaschine so laut war. „Und warum hast du Toris Zauber nicht benutzt?“ „Liam Warrick.“ Den zweiten Satz überhörte Joshua. Er hatte ihn allerdings vergessen. „Wer?“ „LIAM WARRICK!“, brüllte Joshua. „Ach der.“ Der Kaffee war fertig, Jonathan überreichte ihn schwarz und Joshua war es zu unhöflich nach Milch und Zucker zu fragen. „Ist das nicht ein Prüfungsopfer?“ „Jep.“ „Wow, da hast du doch eh den Jackpot gezogen. Ein überheblicher und sich selbst überschätzender Mensch, der mit veralteten Waffen hantiert, die er schwachen Dämonen abgenommen hat.“ Fast hätte Joshua verschluckte sich fast. Veraltete Waffen, dass er nicht lachte. „Ich krieg’s trotzdem nicht hin...“ „Haha, Schwächling.“ Joshua fauchte. Wenn der Alb wüsste, was für Waffen diese Witzfigur bei sich trug, würde ihm das Spotten vergehen. Leider hatte er Angst, das zu erwähnen, vielleicht gehörte dies zu den verbotenen Details. „Ja, gut, ich bin ein Schwächlich. Würdest du mir trotzdem sagen, was für Erfahrungen ihr mit ihm gemacht habt?“ Jonathan zuckte mit den Schultern. „Keine. Das heißt kaum eine. Ich meine, wir kennen ihn aus den Medien, sein Vater ist relativ tragisch gestorben, und obwohl wir nichts genaueres wissen, vermuten wir, dass ein paranormales Wesen dahinter gesteckt, doch da wir nichts beweisen können, ist der Fall unter den Tisch gefallen. Er weiß einiges über paranormale Kreaturen, aber nur lückenhaft, glaubt deswegen, alle sind böse, schießt wild um sich herum paranormale Leben zu treffen. Und wir dürfen nichts dagegen unternehmen, weil es unserer Institution verboten ist, Menschen zu töten.“ Pause. „Ehrlich gesagt, wünschen wir uns seit drei Jahren, dass der Trottel Opfer eines Prüfungskandidaten wird. Und jetzt kriegst du es nicht hin...“ „Wieso löscht ihr nicht einfach sein Gedächtnis?“ „Was sollen wir löschen, wenn wir nicht wissen, was er weiß. Dann können wir ihn gleich ins Wachkoma versetzen. Und das käme einem Tod gleich.“ Joshua verzog das Gesicht. „Weit habt ihr mich jetzt nicht geholfen.“ „Sorry, aber mehr wissen wir auch nicht.“ „Nicht mal irgendeinen Schwachpunkt.“ „Nö, tut uns leid. Er scheint unbesiegbar, seitdem er diesen Schutzschild hat.“ Toraria schlug sich auf die Stirn. Joshua brauchte einige Minuten, bis er seine Gedanken in Worte fassen konnte. „Moment, woher weißt du von dem Schutzschild?“ „G...G...Ge...raten.“ Was bei Gabriel X. Paradiso heute schon nicht geklappt hatte, funktionierte auch bei Joshua Nazara nicht. „Du weißt was!“, schrie Joshua in einem plötzlichen Anfall von Schock, schmiss den Kaffee auf den Boden und zeigte mit den Finger auf Jonathan. „Sag’s!“ Toraria legte ihre Hand auf Joshuas Schulter, doch er wimmelte sie ab. Verdammt, irgendwie beschiss ihn die ganze Welt. Erst ist Liam Warrick nicht so harmlos, wie vermutet, dann wird ihm eine psychopathische Dämonin an die Fersen geheftet, und jetzt belogen ihn zwei Witzfiguren aus einem mysteriösen Exekutivorgan, die ihm Hilfe angeboten hatten und nun nicht geben wollten. So konnte es nicht weitergehen. „Ich bin zwar nicht stark, aber ich lass mich nicht verarschen.“ „Wer verarscht dich hier?“, stammelte Jonathan. „Na du!“ „Was, ich? Ne. Niemals. Ich kann nicht lügen, ich bin ein Alb. Die Tugend meiner Rasse ist weltbekannt. Hast du nie den Herrn der Ringe gelesen?“ „Schnauze!“, schrie Joshua. Und in seiner verzweifelten Rage, die die Nerven strapazierenden Worte des Albs noch förderte, schoss er eine Flammenwelle auf Jonathan. Doch keine Sekunde später packte ihn den Alb am Nacken und mit einer eleganten Bewegung brachte er Joshua zu Boden. Er landete auf den Bauch, übermannt von dem Gefühl, dass sein Nacken aus Glas bestand. Seine Kopfschmerzen verdoppelten sich. Und plötzlich spürte er auch noch einen Druck am Rücken, ausgelöst durch Jonathans Fuß. „Es ist nicht sehr nett, jemanden im eigenen Haus auszugreifen. Noch dazu, wenn man auf Hilfe angewiesen ist.“ „Wer einen anlügt, ist keine Hilfe“, knurrte Joshua. Toraria seufzte. Da hatte der Schwächling Recht. „Vielleicht wäre ich noch eine geworden.“ Er verlagerte mehr Gewicht auf den Fuß, den er auf Joshuas Wirbelsäule gestellt hatte, und dieser knurrte. „Wenn du mir versprichst dich in Zaum zu halten, Dämon, lass ich dich los.“ Joshua keuchte ein Okay. „Wie war das?“ „OKAY!“ „Brav.“ Jonathan stieg von ihm herunter. Mit einem Lächeln reichte er ihm die Hand, doch Joshua lehnte die Hilfe ab. „Ach komm schon, du musst verstehen, warum ich dir wehgetan habe.“ „Und du musst verstehen, warum ich ausgerastet bin.“ Pause. Irgendwie fragte er sich, woher dieser schmächtige Blondschopf mit dem trotteligen Gesicht die Kraft und die Schnelligkeit aufgebracht hatte. In Zukunft würde er den Alb nicht mehr unterschätzen. „Ich gebe dir eine kurze Bestandaufnahme meiner Situation. Ich wohne bei meiner blinden Schwester, die mich für einen Cousin hält. Ich werde verfolgt von einer Dämonin, die mich dazu zwingen will einen Menschen zu töten. Und ich wurde fast umgebracht von einem wahnwitzigen Menschen, den ich aber umbringen soll, damit ich Karriere in der Hölle machen kann. Und jetzt verheimlicht mir auch noch ein trotteliger Alb Sachen, die ich brauchen könnte, obwohl er mir seine Hilfe angeboten hat.“ Jonathan verzog das Gesicht. „Das sind drei gute Argumente. Ich würde auch unter solchen Umständen verzweifeln.“ Er kratzte sich am Kinn und blickte fragend zu seiner Gattin. Sie machte eine Geste, die bedeutete: „Sag was auch immer du willst. Wir verlieren ihn eh gerade.“ Er lächelte. „Weißt du, Messias, wir befinden uns auch gerade in einer sehr verzwickten Lage...“ „WIE hast du mich genannt?“ Schweißperlen bildeten sich auf Joshuas vernarbter Stirn. Jonathan ließ sich nicht unterbrechen. „Wir wissen nämlich, dass du der Messias bist. Vermutlich als einzige der Exekutiv-Organisation, namens APEHA. Und wir wissen, dass du die Seite der Hölle gewählt hast. Aber wir wissen auch, unter welch unfairen Umständen du dies getan hast, und dass in dir genau Null Potential steckt ein guter Dämon zu werden. Wärst du nicht der Messias, hätte man dich schon längst zum Arbeiter ins Bergwerk geschickt, aber du bist nun mal der Messias. Und wir, Tori und ich, hatten die großartige Idee, dich auf unserer Seite zu ziehen.“ Er legte die Hand auf die Schulter seiner Frau, die ihren Plan gerade in Stücke zerfallen sah und deswegen noch finsterer dreinblicke, als sonst. Ein Fehler, denn Joshuas Ungewissheit wuchs dadurch ins unermessliche. BITTE? Sie wussten davon? Verdammt, woher? Er hatte bei ihrem Gespräch nichts Verdächtiges gesagt! Oder? Er wusste es nicht mehr. Doch er erinnerte sich an die Verbote – die Gegenseite durfte nicht erfahren, dass sie es mit dem Messias zu tun hat. Und das war gerade passiert! Oder? Gehörte diese äh...APEHA, nannten sie sich wie diese Elektrofirma... überhaupt zur Gegenseite? Wie lange wussten sie schon davon? Wusste die Hölle von diesem Wissen? Warum hatten sie noch nichts unternommen! Er war verwirrt. Er musste hier raus. Er musste sich von seiner Schwester verabschieden, bevor Lillith ihm wortwörtlich die Hölle heiß machte! Dieses Treffen war eine verdammt beschissene Idee gewesen. Er drängte sich an Toraria und Jonathan vorbei, stieß dabei den Alb, dass dieser fast das Gleichgewicht verlor. „Hey, wo willst du hin? Unser Gespräch hat doch gerade erst begonnen!“, rief Jonathan und folgte dem Messias. „Dieses Gespräch hat nie stattgefunden!“, schrie Joshua hinterher, mit großen lauten Schritten bewegte er sich auf die Tür zu. „Doch hat es! Selbst du kannst die Zeit nicht zurückdrehen.“ Zumindest jetzt noch nicht. „Ich muss dir noch mehr sagen, damit du das alles verstehst! Außerdem, musst du mir helfen!“ Als er angefangen hatte, Joshua mit „Messias“ anzusprechen, hatte die Narbe wieder zu bluten und zu schmerzen begonnen. „DIESES GESPRÄCH HAT NIE STATTGEFUNDEN!“ Als Joshua den Türknauf berührte, wollte der Alb seine hohe Geschwindigkeit nutzen, doch der entkommene Genius zischte an ihm vorbei. Die Überraschung hinderte ihn. Und als er sich wieder fangen konnte, war der Messias schon zur Tür hinaus. „Scheiße!“, jammere Jonathan und brach unter den Schmerzen zusammen. Toraria schüttelte den Kopf und hatte nicht einmal die Idee ihren Gatten zu bemitleiden. Er hatte es versaut. Fast schon unverbesserlich versaut. Und dafür sollte er nun kurz leiden. So würde es noch ewig dauern, bis er sich den beiden anvertrauen würde. Derartige Schocks konnten ihn dazu bewegen auf der Seite zu bleiben, auf der er sich befand. Bei der Hölle, auch wenn er nie ein wahrer Dämon werden würde. Dass er sich entfernte, änderte nichts daran, dass sie seine Angst, seinen Zorn und seine Verzweiflung fühlte, als stünde er neben ihr. Hoffentlich konnte sie die Lage noch verbessern. Kapitel 8: Der Retter der niederen Leben ---------------------------------------- Einmal, einmal in seinem Leben, wollte er Erfolg haben. Mit Tränen in den Augen stürzte Leonard Birghton über die Schwelle des Hintereingangs des Clubs „Odium“, wo er seit drei Wochen jeden Samstag mit der Band auftrat. Der erste Auftritt von Nocturn’s Children waren noch von all seine Freunde und Verwandte besucht worden, beim zweiten Mal hatten die Freunde und Verwandte während des Konzerts den Saal verlassen und sich zur Bar begeben, beim dritten Mal, heute, war gerade Mal die Hälfte seiner Verwandten und Freunde gekommen. Nicht einmal sein Bruder Christopher, der ihn bewunderte, hatte sich blicken lassen. Und seine Freundin hatte mit einem unbekannten Typen geliebäugelt. Konnte denn keiner sehen, wie viel ihm seine Musik bedeutete? Oder wenigstens Gefallen vorheucheln? Leonard setzte sich auf die Stufe vorm Hintereingang. Dass es regnete, war ihm egal, so sah man wenigstens nicht, dass der weinte. Für so vieles konnte er sich begeistern, für so vieles zeigte er Interesse, wurde für sein Querdenken gelobt, doch wenn er seine Ideen in die Tat umsetzte, erntete er nur Verachtung. Die Band hatte er nur gegründet, weil sein Musiklehrer, seine Freundin, sogar seine Eltern die Idee toll gefunden hatten, nur mit der Stimme Melodie zu erzeugen, während die Musikinstrumente im Hintergrund quasi lärmten. Doch das Resultat schreckte alle ab. Dabei gefiel ihm selbst, was er komponierte. Dabei hätte er es ahnen müssen. Trotz seiner Kreativität und der Begeisterung seiner Eltern, waren sowohl Vater als auch Mutter enttäuscht. Er bildete sich ein, dass sie sich wegen seiner „Abnormalität“ hatten scheiden lassen. Er verstand jedes Thema, das in der Schule besprochen worden war, doch weil er es entweder gar nicht, oder nur unorthodox anwenden konnte, wagten die Lehrer ihn so schlecht zu benoten, dass nicht einmal das lokale College ihn aufnahm. Er hatte nur mehr Musik. Doch die führte zu keinem Erfolg. Leonard hatte nicht erwartet mit „Nocturn’s Children“ Karriere zu machen und damit so viel verdienen zu können, dass er sich erhalten konnte, doch wenigstens Anerkennung hatte er sich erhofft. Doch am Verhalten der Zuschauer bemerkte er, dass er diese nie bekommen würde. Noch dazu hatte er gehört, wie der Besitzer des Odiums, ein guter Bekannter, überlegte, ihn nicht mehr jeden Samstag für eine halbe Stunde die Bühne zu überlassen, weil seither das Geschäft zurückgegangen war. „Alles okay, Nocturn?“, fragte Francis Lauder, der Gitarrist. Plötzlich war er hinter Leonard aufgetaucht. „Geh weg!“, knurrte er. Niemals würde er die Schmach ertragen, dass sein Gitarrist ihn heulen sah. „Nein. Denn Vincent, Valentin und ich haben etwas besprochen. Denn dass heute noch weniger Leute anwesend waren, als sonst, macht uns Bedenken.“ „Ich bin nicht in der Laune, so etwas zu besprechen.“ Doch Francis hörte nicht auf zu quasseln: „Auch wir finden, dass unser Sound zu extrem ist. Ich meine, wir begrüßen es natürlich nicht wie die breite Masse zu klingen, doch das war wir da fabrizieren ist nicht mehr Kakophonie.“ „Hörst du mir nicht zu? Ich habe gesagt, ich bin nicht in der Laune, darüber zu reden.“ „Wir erreichen einfach niemanden damit. Wir sollten unseren Sound verändern. Zwar das Konzept nicht verlassen, aber ein wenig massentauglicher werden. Was hältst du davon!“ „GAR NICHTS!“, brülle Leonard. „Massentauglich“ war ein Wort, das er hasste. Dass sein Bandkollege es in den Mund genommen hatte, war wie ein Stich in sein Herz. „Hau ab, ich bin nicht in der Verfassung darüber zu reden.“ Er drehte sich zu Francis im. Dass der Gitarrist nun die Tränen sah, war ihm egal. Sein Bandkollege würde ihn erst verstehen, wenn er seine wütende Mimik betrachten konnte. Francis schüttelte den Kopf. „Okay, dann später.“ Im Gehen fügte er noch hinzu: „Wenigstens bist du ein wenig einsichtig.“ Dann war er verschwunden. Leonard vergrub das Gesicht in seinen Händen. Jetzt fielen ihm sogar schon seine Bandkollegen in den Rücken. Irgendetwas musste er tun. Doch er weigerte sich seine Musik zu verändern, denn das hieß, es würde sich selbst verändern. Und er mochte sich. Es schien nur, dass alle anderen Menschen seine Art ablehnten. „Ich wünsche“, murmelte er, „ich wünsche mir doch nicht mehr als ein bisschen Anerkennung. Ein bisschen Erfolg.“ Er schaute gen Himmel. „Gott, wenn du existierst, so hilf mir doch und erfülle meine kleinen, bescheidenen Wünsche!“ Natürlich passierte nichts. Leonard zündete sich daraufhin eine Zigarette an. „Gott hört niemanden.“ Die Zigarette viel ihm aus dem Mund. Hastig sah sich Leonard um. Wer hatte das gesagt? „Wir sind dafür verantwortlich, dass ihr schwachen Menschen eine Chance bekommt, das Schicksal zu beeinflussen, wie wir es können.“ Wo war der Spinner? Hier rannten permanent irgendwelche Gestalten herum, die Anhänger einer Sekte waren und als „unheimliche Stimme aus dem Nichts“, quasi als Simulation eines Wunders, zu Opfern sprachen, dass sie den Weg zum ultimativen Glück fanden. Doch Leonard musste zugeben, dass diese Stimme, die weder männlich noch weiblich klang, anders wirkte. Viel verführerischer. Viel sympathischer, als die Stimme eines normalen Sektenanhängers je sein konnte. Zum ersten Mal in seinem Leben verspürte er den Wunsch, Kontakt zu einer seltsamen Figur herzustellen. „Ich bin hier unten“, sprach die Stimme. Leonard gehorchte reflexartig. Zwischen seinen Beinen befand sich eine Regenpfütze. Und in dieser spiegelte sich nicht nur der Sternenhimmel, sondern auch ein breites Grinsen, das spitze Eckzähne entblößte. Leonards Atem stockte. Erstaunlich, welche neue Zaubertricks sich Sekten immer ausdachten. „Schon seit Tagen blicke ich in dein Herz. Und immer sehe ich dasselbe Begehren. Dieser kleine Wunsch, der in jedem tief schlummert. Dir scheint die Erfüllung nahezu schicksalhaft verweigert zu werden.“ Pause. „Es sei denn, ich helfe ein wenig nach.“ Er wusste nicht, warum er antwortete. Normalerweise sprach er mit diesen Fanatikern nicht, doch dieser Zaubertrick forderte ihn regelrecht heraus: „Welches Begehren meinst du, Freak?“ „Deinen Wunsch Erfolg zu haben.“ Leonard schluckte. Woher wusste der Unbekannte das? Er hatte nie jemandem davon erzählt. Doch manchmal hatte er Selbstgespräche geführt. Hatte ihn dieser Sektenanhänger belauscht? „Stalker“, murmelt Leonard. „Ja, Nocturn, ich bin ein Stalker, doch ich spioniere in dem Kopf ohne dir körperlich nahe zu sein.“ Na toll, Wanzen und andere Abhörgeräte. Seit waren Sekten so modern? „Freak“, murmelte Leonard. Er stand auf und trampelte auf der Pfütze herum. Jetzt nutze auch noch eine verdammte, heuchlerische Sekte seine Zweifel und sein Leid aus. Hatte er heute noch schon genug gelitten? Leonard ging zurück in den Backstageraum. Wahrscheinlich würde er nun dem Gespräch, das seine Bandkollegen mit ihm führen wollten, nicht entkommen können. Er hatte Angst. Doch genau so viel Angst hatte er vor der Sekte – oder besser gesagt, dass die schmeichlerischen Worte ihn in seinem Zustand überreden konnten. Das Regenwasser beruhigte sich wieder und die Fratze war verschwunden. Da der Messias seit der katastrophalen Unterhaltung dem Ehepaar konsequent aus dem Weg gegangen war, verfiel Jonathan Letherman in eine leichte Depression. Er lag die komplette freie Zeit im Bett, aß und trank Bier, das nicht ihn betrunken machte, sah fern und murmelte vor sich hin, was für ein unsensibler Trottel er doch gewesen war und er den ganzen Plan wie eine alter Unterhose behandelt hatte. Seine Narbe schmerzte unaufhaltsam. Damit dieses Leid endlich vorbei ging, musste der Messias eine Entscheidung fällen, oder getötet werden. Erstes ging nun wegen seiner Blödheit nicht mehr und für zweites brauchten sie die Hilfe Gabriel X. Paradisos, den sie nicht ansprechen konnten, weil er sonst hinter ihren Ungehorsam kommen und sie bestrafen würde. Jonathan musste also ewig leiden. Er hasste seine unsensible Dummheit. Trotz der Depressionen ihres Gatten, ließ Toraria ihn eines Nachts alleine. The Hellman war zurück. Nach der nicht gerade erfreulichen Erkenntnis, dass das Geheimnis um seinen Messias-Titel in der Sphäre doch zwei Individuen, die eventuell zur Gegenseite gehörten, bekannt war, und nach den unschönen Konfrontationen mit Beenie Plainacher, war der einzige Möglichkeit, wie sich Joshua wieder aufrappeln konnte, das Retten von Menschen, die von paranormalen Monstern angegriffen wurden. Zwar hatte er die ganze Zeit mehrere Sorgen im Hintergrund: Wo zum Teufel war die psyochpathische Dämonin, warum sah sie nicht, was er tat, und warum versuchte sie ihn nicht von seinen Superheldenallüren abzubringen? Hatte sie aufgegeben? Hatte man sie zurückberufen? In beiden Fälle wäre sicher ein stärkerer Dämon auf ihn angesetzt worden. Waren der Alb und die Magierin nun von der Gegenseite? Wenn ja, warum hatte die Hölle ihn nicht wegen dieser Aufgabenverletzung bestraft? Doch das war seine geringste Angst, denn er konnte sich nicht vorstellen, dass Lillith dieses Vergehen entgangen war. Eventuell zählten sie gar nicht zur Gegenseite. Aber schwiegen die beiden noch immer, oder hatten sie schon Kollegen von seinem Geheimnis erzählt? Würde man dann versuchen ihn zu vernichten, wenn mehrere erfuhren, dass er für den Untergang der Erde verantwortlich sein würde? Aber was wusste man in dieser Sphäre schon über die Messias-Legende? Nur Himmel und Hölle waren eingeweiht. Selbst paranormale Wesen dieser Sphäre konnten nur Ungenauigkeiten kennen. Auch wenn er mit Angela speiste, stachen diese Fragen, Sorgen und Gedanken wie verschluckter Maschendrahtzaun in seinem Magen. Doch die waren im Moment, wenn das vermeintliche Opfer ihn dankend anstrahlte, vergessen. Das war die Aufheiterung, die er brauchte. Das war wie eine Droge. Und jedem Menschen, den er half, antwortete er auf die Frage, wer ihm gerade geholfen hätte: „The Hellman“. Beenie Plainacher spürte eine Veränderung am Messias. Die Aura, die jeden Anfänger vor seiner Soldaten-Prüfung umgab, durfte sich eigentlich nicht verändern – doch dass geschah gerade mit Joshua. Hoffentlich hatte er keinen Kontakt mit einem Magier gehabt. Erfahrene Infanteristen, die viele Aufträge in dieser Sphäre erledigen mussten und dabei in Berührung mit jenen Kreaturen kamen, konnten von ihnen infiziert werden. Was genau so eine Infektion bedeutete, wusste sie nicht, doch Erik der Rote hatte ihr gesagt, dass jene Infizierten dazu neigten Verrat zu begehen – sie solle sich also immer vor Magiern in Acht nehmen. Und sie hatte selbst miterlebt, wie ein Mitschüler Kontakt mit einem Mitglied dieser mysteriösen, mächtigen Magierfamilie Simson hatte. Danach war er anders gewesen. Sowohl seine Ausstrahlung, als auch etwas in seinem Wesen hatte sich verändert. Daraufhin war er von Erik dem Roten vom Feldwebeltitel zum Arbeiter degradiert worden. Ob Joshuas Charakter sich gewandelt hatte, konnte sie nicht beurteilen. Doch seine Aura wirkte genau so, wie jene dieses Kollegen. Vor knapp einer Woche war Plainacher dieser Veränderung aufgefallen. Doch er hatte keinen Kontakt mit einem Magier gehabt. Zumindest hatte sie keinen gespürt. Doch eventuell war er einem äußerst starken Magier begegnet, jene, die ihre Macht vollkommen unterdrücken konnten. Und schon die kleine Berührung einer solch mächtigen Kreatur konnte sein Wesen von Grund auf ändern. Sie spionierte ihm nach, um eventuelle verräterische Aktivitäten zu bemerken, doch das einzige unwürdige, was er tat, war das Retten des Menschengewürms. Gerne hätte sie eingegriffen, doch dank der schlechten Eindrücke, die sie hinterlassen hatte (erst zwang sie ihn mit Gewalt zum Menschenmörder zu werden, und als sie sich überwunden hatte, mit ihm zu sprechen, hatte sie sich ihm sexuell genährt – was hatte sich dabei gedacht!), wollte sie ihn nicht auch noch bei seinem „Hobby“ stören. Aber kein Kontakt mit Magier. Irgendetwas stimmte da nicht. Fünf Tage beobachtete sie ihn, blieb zum Glück unentdeckt, und irgendwie fand sie es plötzlich nicht mehr so schlecht, wenn sie seine Freude darüber sah, einen dieser Würmer gerettet und irgendeinem Klagegeist, Vampir oder Werwolf das Licht ausblies. Dann ging sie einen Schritt Richtung Erkenntnis. Aber nicht in Richtung Verstehen. Angela hatte nicht wollen, dass er heute Nacht auf der Straße herumrannte. Sie ahnte, dass er sie anlog, da er nur tagsüber schlief, aber dann auch nur maximal zwei Stunden, obwohl er die ganze Nacht mit der faulen Ausrede, er treffe Freunde, unterwegs war. Und nun hatte sie sein Gesicht berührt und all die Narben auf den Fingerkuppen gespürt. Natürlich hatte sie diese falsch interpretiert. Wie genau ihre Auslegung aussah, hatte sie nicht verraten, aber durchklingen lassen, dass sie die nächtlichen Streifzüge dahinter vermutete. Doch er hatte sich nicht von ihr abbringen lassen. Was bildete sie sich ein sich in seine Angelegenheiten einzumischen? Dennoch verließ er die Wohnung erst, wenn sie zu Bett gegangen war. Deswegen war es schon dreiundzwanzig Uhr. Er wollte nicht wissen, wie viele Seelen er nicht hatte retten können. Es reichten die vielen haptischen Eindrücke, wenn die Strahlung einer Leiche seine Haut berührte. (Seit wann konnte er derartiges wahrnehmen?) Aber zu spät hieß nicht, dass alles verloren war. Joshua sah, kurz nachdem er rauchend das Haus verlassen hatte, eine junge Frau und einen älteren Mann in die Ecke gedrängt von einem auf zwei Beinen stehenden Leoparden in Jeanshosen. Er warf die Zigarette weg und stürzte auf die Kreatur zu. Ehe er dem Mann, der an die Wand gepresst, an die Kehle zugedrückt wurde, die Gedärme aus dem Bauch reißen konnte, stieß ihn Joshua weg. Er schlug gegen die Mauern, so hart, dass der Verputz abbröckelte. Der anthropomorphe Leopard fletschte die Zähne. Als er sich halbwegs gefangen hatte, vergaß er die menschlichen Opfer und stürmte auf den Angreifer zu, um sich zu rächen. Die ausgestreckte Kralle näherte sich Joshua. Doch gekonnt schnappte sich dieser den pelzigen Arm und schmiss ihn zu Boden. Binnen der letzten Woche hatte sein Kampfstil sich verbessert. Sein Handeln war nun nicht mehr holprig und unüberlegt, sondern präzise und durchdacht, auch wenn er nur wenige Sekunden zum Überlegen hatte. All das, was Erik der Rote ihn in der Theorie beigebracht hatte, fruchtete nun. Anfangs hatte er Discordia und Eris vermisst, seine Waffen, die ihn Liam Warrick gestohlen hatte. Doch nun wusste er, dass er auch ohne ihnen sich zu helfen wusste. Wie war er nur so gut geworden? An der Übung konnte es nicht liegen. Der anthropomorphe Leopard ging zu Boden. Mit voller Wucht trat Joshua auf seine Wirbelsäule, brach sie, damit er sich nicht mehr bewegen konnte. Und dann bohrte er seinen Fuß in sein aufgerissenes Maul, blockierte ihn, sodass er zwar seine Zähne durch die Lederschuhe spürte, der Leopard den Kiefer nicht mehr bewegen konnte. Aus der Sole in sein Maul floss Wasser. Genüsslich nahm Joshua wahr, wie der Leopard ertrank. Der alte Mann und die junge Frau sahen keine große Heldentat. Auf brutale Weise schlug ihr Retter den Angreifer zusammen, sodass sie plötzlich mehr Angst vor ihm, als vor dem Verbrecher hatten. Während er sich über das Morden amüsierte, rannten sie weg. Doch sie waren zu Dankbar um die Polizei zu rufen. Joshua seufzte enttäusch, als er sah, dass das ungleiche Pärchen verschwunden war. Kein Danke also. Aber die Nacht war noch zu lang. Glaubte er jetzt jedenfalls. Nachdem sich die Leiche des Wesens halb Mensch, halb Leopard aufgelöst hatte, verließ er die Seitengasse nicht. Mit großen Augen sah er auf die Person, die sich vor ihm wie ein tonnenschwerer Obelisk auftürmte. „Du?“, keuchte er. „Was willst du hier?“ Mit ihm sprechen wohl eher nicht. Toraria Letherman blinzelte dreimal. Über ihr bauschten sich dunkle Gewitterwolken auf – dabei war Himmel zuvor sternenklar gewesen. „Was willst du?“, fauchte er noch einmal. Natürlich antwortete sie nicht. Joshua schlug sich auf den Kopf. Wieso versucht er mit jemandem eine Konversation zu beginnen, der sich weigerte zu sprechen? Sie stand in der Mitte des schmalen Eingangs der kegelförmigen Seitengasse, sodass für ihn zu wenig Platz zum Vorbeigehen war. Er knurrte: „Lass mich vorbei.“ Toraria bewegte sich keinen Millimeter. „Willst du, dass ich Gewalt anwende?“ Irgendetwas Ähnliches wie der leichte Ansatz eines Lächelns zeigte sich auf ihrem Gesicht, doch auch nicht länger als eine Sekunde. Gut, sie hatte es nicht anders gewollt. Woher nahm eine so schwache Magierin überhaupt die Arroganz her, sich auch nur einer Maus in den Weg zu stellen? Er wollte ihr nur einen Kinnhaken verpassen. Doch er prallte an etwas ab, ehe seine Faust ihr auch nur nahe kam. Es folgte wieder diese Quasi-Gesichtsregung. Ein zweites Mal versuchte er es. Ein Schlag mitten ins Gesicht sollte es werden. Wieder kam er nicht weit. Binnen dem Bruchteil einer Sekunde hatte sie ihre Hand schützend vor das Gesicht gehalten. Und ihre Handfläche war so steinhart, wie eine Mauer. Joshua knurrte. Gut, ihre Schwäche machte also ihre Schnelligkeit wieder wett... Oder? „Das war damals ein Trick“, murrte er. „Du hast dich absichtlich retten lassen...“ Es begann nun in der ganzen Stadt zu regnen. Seine Faust berührte noch immer ihre Handfläche. Sanft umfasste sie plötzlich seine Finger. Joshua wunderte es, wie warm ihre Hände im Vergleich zu ihrer kalten Ausstrahlung waren. Sie senkte seine Hand und Joshua verspürte nicht einmal den Ansatz eines Widerstandwunsches. Und trotz ihrer wärmenden Berührung blickten ihre Augen vorwurfsvoll: „Du würdest eine Frau schlagen?“ „Verzeih“, sagte Joshua. Irgendwie verneinten ihre Augen. „Aber würdest du bitte zur Seite gehen?“ Jetzt verneinte ihr Blick wirklich. „Oh verdammt noch mal! Ich habe heute noch eine Menge zu erledigen! Was muss ich tun, damit ich vorbei darf? Mit dir kämpfen? Mit dir reden? Mit dir schlafen?“ Obwohl alle drei Fragen rhetorisch als Scherz gedacht waren, wirkte letzter Punkt sehr verlockend. Trotz ihrer unheimlichen Ausstrahlung war diese Frau so unfassbar attraktiv. Das plötzliche Verlangen sie küssen, ihre von die von so anliegenden, dass man sich alles vorstellen konnte, Leder überzogenen Brüste wollte er berühren, ihr den langen Rock dem Körper reißen und hier mit ficken... doch er glaubte selbst nicht daran, dass sie das zulassen würde. Noch immer hielt Toraria seine Hand. Sie ging los und zerrte ihn mit sich. Nicht einmal protestieren konnte er, sodass er nur knurren konnte: „Wohin bringst du mich?“ Hatte er immer noch nicht gelernt, dass es sinnlos war, dieser Frau fragen zu stellen? Sie würde nicht antworten. Während sie ihn durch die Stadt zerrte, hörte Joshua einen Betrunkenen schreien: „Kuckt mal – Vampirella und ihr dämonischer Liebessklave.“ Daraufhin zerplatzte die Flasche in seiner Hand. Das war Joshuas Schuld. Retten tat er die Menschen, aber verarschen ließ er sich von Fremden nicht. Das hatte zu Lebzeiten zu lange akzeptiert. Als sie stehen blieben, befanden sie sich plötzlich in der suburbanen Gegend, auf einem erhöhten Gebiet, von dem man aus man die Stadt sehen konnte. „Würdest du mir endlich mal erklären, was hier abgeht!“ Ach ja, sie redete nicht. „Wenn du mich schon erführst, bitte, sag mir, was wir hier machen und was du von mir...“ Auf einmal kam ihm die Erleuchtung. Was auch immer die Stumme und ihr seltsamer Ehemann mit ihm vorgehabt hatten, der Plan war nicht aufgegangen und nun würden sie das tun, was jeder vernünftige Bewohner dieser Sphäre getan hätte – ihn erledigen. Bestimmt sprang hinter irgendeinem Auto, irgendeinem Busch, der die Straße vom Gehsteig abgrenzte, irgendein verdammt starkes Wesen heraus und würde ihm ein Schwert in den Rücken reißen. Eventuell arbeiteten sie sogar mit Liam Warrick zusammen. Joshua ging in Kampfstellung. „Ich warne dich, wenn das eine Falle ist, dann schlägt’s dreizehn. Ich bin stärker als ich aussehe.“ Erneut tauchte für eine Sekunde das Quasi-Lächeln auf. Doch diesmal schüttelte sie sogar den Kopf. Keine Falle? Doch, aber eine andere. Toraria hielt ihm ein Foto seiner Familie vor die Augen. Beenie Plainacher zuckte zusammen. Nur fünf Minuten, als er sich den Kampf mit dem Werleoparden lieferte, hatte sie die Spionage vernachlässigt, weil sie nicht ansehen konnte, wie sich der Messias der Hölle den jene verriet und verkaufte. Sie fütterte Taurus gerade mit einem Menschenkopf, als sie es spürte. Für den Buchteil einer Sekunde hatte sie Aura eines Magiers gespürt. Er hatte also Kontakt zu einem – noch dazu einem, der es schaffte seine Klassifizierung zu verbergen. Verdammter Mist, war er nicht schon genug infiziert und manipuliert worden? Plainacher erspähte, wie Joshua gerade von dem Magier, nein, von der Magierin weggezerrt wurde. Sie berührte ihn! Wenn sie nur wüsste, ob eine Berührung eines Magiers den Einfluss auf einen Dämon verstärkte, oder egal war. „Arschgefickte Pferdescheiße, ich muss das verhindern!“, fluchte sie. Sie rief Taurus herbei, sprang auf seinen Rücken und los ging die Verfolgungsjagd. Vor Jonathan konnte sie sich nicht verstecken, auch wenn sie ihre Kräfte noch so gut verschleierte – unter paranormalen Verwandten und Verschwägerten bestand nun mal eine besondere Verbindung. Er war sauer auf sie, weil sie ihn alleine gelassen hatte. Und da sie in der Nähe war, würde er sie zur Rede stellen. Doch es erfreute ihn, dass sie den Messias bei sich zu haben schien. Das Foto zeigte die ganze Familie – Vater, Mutter, Schwester und ihn. Er erinnerte sich an das Ereignis. Das Foto war drei Tage vor dem Tod von Joseph Nazara geschossen worden. Es zeigte die Familie in einem windigen Tag beim Picknick, der Fotograph war ein Fremder gewesen, der eine freundliche Geste vollbrachte. Maria Nazara hielt ihren Sonnenhut fest, den sie immer trug, auch wenn das Wetter gegen ein solches Accessoire sprach. In der anderen Hand hielt sie eine Zigarette, die Asche fiel auf ihr Kleid irgendeines bekannten Designers. Trotzdem war ihr Gesichtsausdruck fröhlich. Angela, damals noch wohlgenährter und kein von Alkohol getränktes Wrack, machte sich über einen Schokoladekuchen her, den sie mit den Händen aß, obwohl sie in der anderen Hand eine Gabel hielt. Und Joshua Nazara saß auf den Schultern von Joseph Nazara. Beide lachten, nur Josephs Gesicht war etwas verzerrt, weil Joshua sich an seinen Haaren festhielt. Doch seine Mimik widersprach dem autoritären Bild, das sein Sohn von ihm in Erinnerung hatte. Doch ein Detail zerstörte das harmonische Bild – mit blutroter Schrift war in krakeligen Buchstaben das Wort: „JUNGFRAU“ über Marias und „OPFER“ über Josephs Körper geschrieben. Über Angela stand „VERDAMMTE“. Und über Joshua „SELBSTMÖRDER“. Als Überschrift diente ein fettes, schwarzes „MENSCHEN“. „Woher hast du das?“, knurrte Joshua. „Es gab nur einen Abzug und den hat meine Mutter in ihrer Geldbörse aufbewahrt. Woher hast du das?“ Pause. „Weißt du, wo Maria ist?“ Doch das interessierte ihn eigentlich nicht. Ihre Lippen zuckten – diesmal kam sie einem Lächeln näher. Doch es war kein angenehmes Lächeln. „Sprich! Als Messias, befehle ich es dir! Sag mir, woher hast du das Foto? Und was zum Teufel bedeutet dieses Gekrakel über unseren Gesichtern?“ Daraufhin verdrehte Toraria die Augen. Mit der anderen Hand, zeigte sie auf die Schrift. Okay, sie sprach nicht, also hatte sie ihre Aussage auf das Foto geschrieben. Doch die Worte waren sinnlos. In Joshuas verwirrten Kopf wusste er nicht, was er überhaupt interpretieren sollte. Die Worte im Zusammenhang mit dem Foto. Im Zusammenhang mit der Familie? Mit ihm? „Ich verstehe das nicht.“ Toraria zog das Foto von seinen Augen weg. „Warte...“ Zu spät. Sie zerriss es und warf die Fetzen in die Regenpfützen. Trotz des starken Niederschlags, war die Frau noch immer trocken. „Was sollte das eben?“, kreischte er. „Soll ich das berücksichtigen? Und, wieso hast du das gemacht? Verdammt noch mal, ich bin nicht so clever! Du musst mit mir sprechen, damit ich weiß, worauf du hinaus willst!“ Dabei hatte er sich mal als Menschen betrachtet, der zwischen den Zeilen lesen konnte. Joshua hatte gar nicht gemerkt, dass seine Augen leicht tränten und seine Stimme einen hysterisch verweinten Unterton bekommen hatte. Dabei hatte ihn das alte Foto gar nicht berührt. Was zeigte es schon? Seine Familie, an einem Tag, an dem alles noch gut war. Sein Vater war noch am Leben, seine Schwester konnte Alkohol nicht einmal schreiben und seine Mutter war noch keine Egozentrikerin. Er wusste nicht, was Verluste und Folter sind. Er war noch am Leben. Er war noch kein göttliches Wesen mit einer schweren Bürde. Er war noch ein Mensch. Und konnte es ihm nicht egal sein, dass dieses Bild plötzlich im Besitz einer unheimlichen Schönheit war, die ihn eventuell auf der Gegenseite stand, der er nicht vertrauen konnte, nicht vertrauen wollte, die ihn ausnutzen wollte, und nun einfach darauf pfiff, dass sie seine wunderbare Vergangenheit mit Füßen trat? Verdammt, er hatte gar nicht gemerkt, wie viele Qualen der Schnappschuss in ihm erweckt hatte? „Scheiße“, schluchzte er. „Toll, ich weine. Wolltest du das damit bezwecken?“ Irgendwie beschämt über sich selbst, senkte sie den Kopf. „Wolltest du mir damit zeigen, dass ich immer zu viel Selbstmitleid mit mir hatte? Wolltest du mir zeigen, dass ich gar keinen Grund hatte mich umzubringen? Wolltest du mir damit zeigen, dass ich damit die falsche Seite gewählt habe? Pech gehabt, mein Suizid war nachvollziehbar. Ich habe gesehen wie Papa gestorben ist. Meine Schwester war Alkoholikerin, meine Mutter hat sich nur für sich interessiert und meine Freundin ist auch noch umgebracht worden. Ich war verzweifelt! Ich wusste keinen anderen Ausweg mehr.“ Sie sah wieder hoch und legte den Kopf schief. „Ich meine das ernst!“ Pause, denn sein schluchzen wurde heftiger. „Willst du mir meinen Selbstmord vorwerfen? Ich wollte das doch nicht. Ich hab doch nicht gewusst, wie ich damit die Zukunft beeinflussen würde. Aber alle haben mich doch alleine gelassen.“ Er vergrub das Gesicht in seinen Händen. „Und wieso habe ich jetzt das Gefühl, alle alleine zu lassen?“ Toraria ging ein paar Schritte zu ihm heran. Sie wusste, was für eine Wirkung sie auf Dämonen hatte, wie sie diese Wesen manipulieren konnte. Und nun hatte sie Joshua dorthin getrieben, wo sie ihn haben wollte. Er hatte sich endlich eingestanden, dass er an die Seite geraten war, wo er nicht hingehörte. Zum Glück konnte sie nicht sagen, warum es überhaupt zu dieser Fehlentscheidung gekommen war. Sie zuckte zusammen, als ihr Joshua plötzlich um den Hals fiel. Schon lange hatte es niemand mehr gewagt, Toraria zu umarmen. Doch weil der Messias der Messias war, ließ sie es zu. Und so schluchzte er sich an ihrer Schulter aus. Bis ihn plötzlich etwas am Kragen packte und gewaltsam wegriss. Sie hatte Angst vor dieser Frau. Sie kannte sich leider mit den Magiergeschlechtern nicht aus,, wusste nicht, wie weit die Fähigkeiten der einzelnen Familien ging und wie man sie unterscheiden konnte, doch die Art, wie diese Frau ihre Fähigkeiten unterdrückte, deutete darauf hin, dass sie verdammt mächtig sein musste. Joshua durfte nicht länger bei dieser Gefahr verbleiben. Und jetzt umarmte er sich auch noch! So unheimlich ihr die Person war, er musst weggezerrt werden. Außerdem verbat es ihr Stolz aus Angst vor einer Kreatur dieser Sphäre einer Gefahr zu aus dem Weg zu gehen. Und packe sie ihn am Hals, stampfte einige Schritte nach hinten, schleifte ihn hinter sich her und schmiss ihn schließlich auf den Boden. Benommen schaute Joshua durch den Tränenschleier und schon bevor er verschwunden war, erkannte er Beenie Plainacher. Die hatte ihm gerade noch gefehlt. „Verschwinde!“, fauchte er, setzte sich auf und wischte sich die Tränen weg. „Vergiss es! Ich muss dich vor der Hure da retten!“ Sie zeigte über ihre Schulter zu Toraria Letherman, die die Arme hängen ließ und deren Gesicht wieder absolut ausdruckslos war. Joshua wunderte sich Plainacher hätte einen Eindruck machen müssen – spürte sie nicht die Stärke die von dieser Dämonin ausging? Der Leutnant konnte eine schwache Magerin wie sie mit einem Fingerschnippen auslöschen... glaubte er zumindest „Weißt du was so ein verfickter Magier mit Dämonen anstellen kann? Alles wird an ihnen anders!“ Joshua verzog das Gesicht. Überzeugend war dieses Argument nun wirklich nicht. „Wie anders?“ „Keine Ahnung! Anders eben. Anderer Charakter, wäre möglich. Jedenfalls wird die Aura eines Dämons anders. Und deine ist schon längst von der infiziert worden.“ Aura... ein dummes Wort, Erik der Rote hatte es oft in den Mund genommen, aber Joshua hatte sich nie etwas darunter vorstellen können. Und auch jetzt würde dies wahrscheinlich nicht passieren. Plainachers Karten, die ihn zur Überzeugungen bringen sollten, lagen also schlecht. „Hau ab!“, fauchte er. „Ich scheue heute nicht mit dir einen Kampf auszutragen.“ Plainacher raufte sich die Haare. „Du hast echt keine Scheißahnung, was dir alles zustoßen kann? Sie... Sie könnte dich dazu bringen, deine Schwester umzubringen!“ Das versetzte ihm einen Stich ins Herz. „Weißte was, ich werde dich nie wieder damit nerven, einen beschissenen Menschenwurm umzubringen, wenn du hier und jetzt diese Hure da umbringst. Ehrlich.“ Sicher? Würde sie die harte Strafe für Befehlsverweigerung akzeptieren, nur damit der Messias der Messias blieb? Was war mit ihr los? Wieso wollte sie das zulassen? Joshua sah zu Toraria. Kein Funke einer Regung. Das machte ihm Angst... „Das Angebot klingt verlockend, aber...“ Er spielte das Szenario noch einmal durch. Von Anfang an hatten Toraria und Jonathan Letherman ihn manipuliert, ihn belogen, in Gefahr gebracht. Und nun war diese Magierin verantwortlich einen tiefen Einblick in seine eigene Seele, die laut einer verrückten Dämonin ein Trick gewesen sein konnte, gar nicht seiner eigenen Gefühlswelt und Gedankenwelt entsprach. „Sagt sie die Wahrheit?“, schrie er zu ihr. „Kannst du mich manipulieren?“ Keine Regung. Jonathan spürte plötzlich die Anwesenheit zwei weiterer Dämonen – jener, der vor einer Woche beschwört worden war, und jene, die beschwört hatte. Er ging schneller. Zum Glück hatte Pfeil und Bogen mit sich genommen. Joshua schob Plainacher bei Seite. Sie bemerkte die Charakterveränderung. Er war selbstsicherer geworden. Kein großes Drama, aber sie wusste nicht, was sich tief unter den äußeren Erscheinungen verbergen konnte. Er schritt zu Toraria. Sie hob die Augen – von unten heraufschauend wirkte sie noch unheimlicher. Unheimlicher als es ein Dämon je sein konnte. „Wie viel Wahrheit steckt in ihrer Aussage? Kannst du mich manipulieren?“ Sie erkannte seine Verzweiflung. Da hatte sie ihn endlich auf den richtigen Weg geführt und nun kam diese dumme Dämonin, die zu wenig wusste, dazwischen und zerstörte alles. Ja, sie hatte Joshua verändert – doch der Einfluss eines Magiers auf einen Höllenbewohners, der in dieser Sphäre geboren worden war, war selbst für sie begrenzt. Sie konnte sie zum Unterdrücken und Anspornen ihrer Gefühle bringen, konnte sie verdrängte Erinnerungen sehen lassen, konnte verdrängte Eigenschaften zum Vorschein bringen lassen. Mehr nicht, und das hatte sie getan. Sie hatte Joshua selbstsicherer gemacht und ihn seine Verzweiflung verstehen lassen. Mehr nicht. Ihn nicht keine Flausen ins Ohr gesetzt, keine falschen Erinnerungen eingepflanzt, ihn nicht sensibler gemacht, ihn nicht gegen die Hölle aufgebracht. Sie hatte ihn eher... verbessert. Doch das alles würde sie nie erklären. Sie sagte nur: „Nein.“ Und Joshua glaubte ihr. Warum auch immer. Wahrscheinlich, weil nur wahrlich ernste Gründe eine Frau, die nicht sprach, zum reden bewegen konnte. Als Plainacher dies erkannte, brodelte die Wut in ihr. Was zum Teufel ging in diesem Kerl vor, dass er einer Magierin mehr traute, als ihr, der Dämonin, dieselbe Existenz, wie er. Woher und wie lange kannte er sie? Warum redeten sie so vertraut miteinander? Verdammt, waren die beiden... Sie ballte die Fäuste, ihre Augen fingen an zu glühen und die Erde begann zu beben. Die Fensterscheiben der Autos zersprangen und Ratten rannten ängstlich aus ihren Verstecken. Jetzt würden sie die wahre Kraft der Beenie Plainacher kennen lernen. „DU VERDAMMTE HURE!“, schrie sie aus voller Kehle. Taurus kam aus seinem Versteck. Mit einem schnaufen packte er Joshua an der Kehle und hob ihn hoch. Er drückte zu, aber nicht so fest, dass Joshua nicht mehr atmen konnte. Mit einem Satz sprang er hinter Beenie Plainacher. Toraria senkte die Augen. „Ein dummes Wort und der Scheißkerl ist tot!“ Sie konnte nicht ahnen, dass die Magierin wusste, um wen es sich bei diesem Dämonen handelte und sie deswegen nie ihre Drohung wahr machen würde. Sie konnte auch nicht ahnen, dass Toraria die Drohung so oder so alles andere als ernst nahm. Plainacher riss sich mehre Piercings aus dem Ohr. „Wir tragen das aus.“ Die acht Ringe wandelten sich zu acht Stahlpfeilen. „Hier und jetzt!“ Sie schmiss die Pfeile. Die Magerin wich nicht zur Seite. Toraria hätte sich selbst verteidigen können. Brauchte sie aber nicht. Jedes einzelne Geschoss prallte an einem vorbeizischenden Holzpfeil ab. „Was ist denn hier los!?“, fragte Jonathan, der über ein Auto sprang und dann schwer das Gleichgewicht wieder finden sollte. Plainacher hätte über diese Kreatur fast zu lachen angefangen. Ein Blick genügte und man wusste, der Typ war eine Witzfigur. Schlaksig und äußerst untrainiert mit schlechter Kondition, und närrisch klingender Stimme. Und noch dazu war er ein Alb. Es konnte zwar etwas Gutes sein, dass dieser Kerl jedem anmutigen Bild entsprach, dass sie sich über die Jahre von Alben gemacht hatte, aber er konnte nicht so sehr seinem Klischee widersprechen, dass er ein pazifistisches, zum Kämpfen ungeeignetes Wesen war, das sich mehr für Natur und friedvolle Magie interessierte, als ein Krieger war. Immerhin hatte er die zu seinem Typ passenden, langen blonden Haare und die Sitzohren. Sie warf wieder drei spitze Pfeile auf ihn und in letzter Sekunde wich er mit einer ungeschickten Bewegung aus. „Du...“, fauchte er. „Du bist diese Dämonin, die das Massaker angerichtet hat.“ Kurz danach fiel sein Blick auf den Minotaurus, der in seiner Kralle die Kehle des Messias hielt, während Joshua versuchte die Finger vergebens zu lösen. Seine Hartnäckigkeit von zuvor hatte nachgelassen, denn vom Dampf, den der Dämon aus der Nase blies, wurde ihm schlecht. Sein Blickfeld trübte sich. „Fuck!“, schrie Jonathan, während er wieder den Pfeil auswich. „Was hast du mit dem Messias vor?“ Toraria schlug sich auf die Stirn. Joshua hörte in dem Moment auf sich gegen die Klauen des Minotaurus zu wehren. Na toll, spätestens jetzt wusste die Hölle, dass er gegen die Auflagen verstoßen hatte. Plainacher stoppte ihre Angriffe. Bitte? Er wusste davon? Woher zum Teufel wusste der mickrige Alb das? Und warum waren seine Reflexe so gut, dass er ihren Geschossen ausweichen konnte? Der Augenblick der Überraschung war ein Fehler. Jetzt beschoss er sie. Plainacher spürte plötzlich einen Stich im Oberarm. Laut schrie sie auf und ging zu Boden. Ein Pfeil hatte ihren Oberarm durchbohrt. „Du hättest den Nahkampf wählen sollen“, grinste Jonathan. „Keiner schlägt mich in Schießduellen.“ Plainacher brach den Pfeil entzwei und zog die beiden Teile aus ihrem Arm. Trotz der starken Schmerzen lächelte sie. Dann wusste sie ja, wie sie nun gegen ihn kämpfen musste. Doch erstmals musste sie an ihn herankommen. Daran scheiterte sie. Sie dachte, unheimlich schnell zu sein, doch kaum an ihn herangekommen, traf sie der nächste Pfeil. Diesmal in den Bauch. Mitten im Schritt hielt sie an und ging zu Boden. „Du verficktes Arschloch!“, hörte man unter Schmerzensschreien heraus. „Kannst du nicht fair kämpfen?“ Jonathan grinste. „Ja klar, wenn Dämonen unterlegen sind, reden sie gleich von Unfairness. Typisch.“ Er spannte wieder einen Pfeil. „Sag Ciao zu deinem Sklaven.“ Er zielte auf Taurus. Plainacher zog den Pfeil aus ihrem Bauch, und setzte sich auf. Versuchte aufzustehen und sich auf den Beinen zu halten, doch sofort brach sie wieder zusammen. Die Wunde blutete stark. „Okay. Ich lass Joshua frei, wenn du uns am Leben lässt.“ „Du würdest ihn nie umbringen“, sagte Jonathan und schoss. Toraira verzog das Gesicht. Immerhin schätzten sie die Dämonin gleich ein. Der Pfeil traf den Minotaurus an der Stirn. Doch außer einem kleinen Kratzer führte er zu keinem Ergebnis. Am harten Schädel prallte er ab. Und dies ließ ihn den Befehl, Joshua gefangen zu halten, vergessen. Wütend schnaufte er, er wünsche gewaltsame Rache. Wie einen Müllsack schmiss er Joshua zu Boden. Er stürmte auf den Alb und die Magierin zu. Plainacher grinste. Ja, Taurus würde sie rächen. Nichts da. Mitten im Lauf fror seine Bewegung ein. Jonathan grinste breit. „Dachte schon, du würdest gar nichts machen“, sprach er zu seiner Frau. Plainacher schnaufte. Sie machte doch gar nichts. Sie stand ohne Mimik regungslos in der Gegend herum, wie zuvor. Aber trotzdem blockierte sie die Bewegungsfähigkeit ihres Taurus. Sie quälte sich auf ihre Beine. Obwohl der Alb wieder den Bogen spannte, ließ er sie aufstehen. Seine sadistische Ader kam wohl zu tage, er wollte ihre Schmerzen sehen, ehe er ihr das Licht ausblies. Doch das würde sie nicht zulassen. Mit letzter Kraft konzentrierte sie sich, wich dem Pfeil aus, und trat den Alb in den Bauch. Er krümmte sich. Sie hätte wirklich von Anfang auf einen Nahkampf setzen müssen. Ursprünglich wollte sie ihm den Schädel spalten, doch die Wunde ließ nur einen Kratzer im Gesicht zu. Jonathan packte ihren Arm und schmiss sie zu Boden. Auf einmal schmeckte sie ihr eigenes Blut im Mund. Zitternd lag sie auf dem Boden. Nie hätte sie vermutet, dass dieser Alb dermaßen kräftig und kampferfahren war. Und die Magierin hier noch immer Taurus in Schach. Langsam verging die Übelkeit, Joshua durch den stinkenden Atem des Minotaurus erlitten hatte, doch sein Blickfeld war noch immer getrübt. Er hätte wirklich vermutet, dass diese Irre ihn umbrachte. Messias hin oder her, er traute dieser komischen Frau alles zu. Er setzte sich auf, hielt sich den Kopf und betrachtete verschwommen das Szenario. „Erledige das Vieh!“, riet Jonathan seiner Frau. Toraira holte tief Luft. Sie ließ sich nichts von ihm befehlen. Doch da ihr das aufwandslose In-Schach-Halten des Viehs zu langweilig wurde, befolgte sie den Rat. Genüsslich beobachtete sie, wie der Minotaurus unter Qualen aufschrie und in die Knie ging. Nach einander im Abstand von zehn Sekunden brach je einen seiner Knochen. Bei den Zehen hatte sie begonnen. Plainacher fing an zu heulen. Sie hielt die Einschusswunde am Bauch. Irgendwie war sie größer geworden. Sie glaubte ihre eigenen Innereien zu spüren, dabei handelte sich nur um ihr Blut. Den Kopf ein wenig hebend, spuckte sie das Blut. Aus ihrer Lippe drehte sie die Piercings heraus, formte sie zu einer Metallpeitsche. Und dies veranlasste ihre Wunde nur mehr zu schmerzen. Jonathan spannte den Bogen und zielte auf ihre Stirn. „Zwei Treffen und eine Bauchlandung und du bis kampfunfähig. Hat man wirklich nur einen schlichten Infanteristen beauftragt, den Messias zu bewachen?“ „Ich bin Leutnant!“, keuchte Plainacher, schwang die Peitsche und traf den Alb im Gesicht. Außer einem tiefen Kratzer und einem kurzen Zucken zu Seite, reagierte er nicht. Plainacher schluchzte. Seit wann waren Alben so robust? Mit panischen Augen sah sie auf die Pfeilspitze. Das war ihr Ende. Ermordet von einem Alb. Und sie wollte nicht sterben. Für sie war das Leben nach diesem endgültig zu Ende. Weg würde sie sein, für immer verschwunden und vergessen. Sie wollte nicht sterben, sie hatte Angst vorm Sterben. „Die Ausbildung ist auch nicht mehr das, was sie mal war“, keuchte Jonathan. Toraria hatte mittlerweile die Wirbelsäule und die Rippen des Minotaurus gebrochen. Jonathan ließ den Pfeil los. Doch er traf Plainacher nicht an der Stirn. Sondern Joshua am Rücken. Joshua hatte diesen Kampf durch das getrübte Blickfeld anders mitbekommen. Er sah Plainachers schwere Verletzung nicht, nur, dass sie zu Boden gegangen war. Er sah sie mit der Peitsche ausholen. Und da auch er dem Alb nicht als so robust einschätzte, den Schlag als belanglos zu empfinden, vermutete sie seine Niederlage. Er sah es in seiner Pflicht einen zweien Schlag zu verhindern. Deswegen hatte er sich auf Plainacher gestürzt. Ihre Arme zu Boden gedrückt, und seine Knie auf ihre pressend, dachte er würde sie abhalten, doch in Wahrheit beschützte er sie. Plainachers Tränen der Angst und Schmerz wandelten sich plötzlich in Freudentränen. Hatte der Messias ihr das Leben gerettet? Doch eine Antwort konnte sie sich nicht geben, denn sie wurde bewusstlos. „Was sollte das?“, keuchte Joshua. „Ich wollte euch helfen und ihr...“ „SO EINE SCHEISSE!“, schrie Jonathan, ohne auf Joshua zu hören. Vor Schreck ließ Toraria den Minotaurus frei, dessen Hals sie nur mehr brechen musste, um ihn zu erledigen. Sie war nicht minder perplex, als sie den Pfeil im Rücken des Messias sah, auch wenn man es ihr nicht ansah. Mit einem Keuchen brach der Minotaurus zusammen. „Du bescheuerter...“, konnte Joshua nur mehr sagen. Dann verlor das Bewusstsein. Er lag auf Plainacher, die ohnmächtig mit den Fingern zuckte. „Was hast du da getan?“, schrie Jonathan den Bewusstlosen an. „Hast du ihr gerade das Leben gerettet? Du bist doch auf unserer Seite!“ Er schaute zu Toraria. „Du hast ihn doch auf unsere Seite gezogen?“ Toraria nickte, für ihren Kaliber, hastig. „Wieso baut er dann so eine Scheiße?“ Er packte den Bogen weg, holte stattdessen eine Kräutermixtur aus seiner Hosentasche. Schnell riss er den Pfeil aus Joshuas Rücken, nur knapp hatte er die Wirbelsäule verfehlt, und goss den ganzen Inhalt auf die Wunde. Er krümmte sich, und verzog das Gesicht, doch das Bewusstsein erlangte er nicht wieder. „Geheilt ist er nicht, aber das verhindert Schlimmeres für’s erste.“ Toraria reagierte nicht auf diese Information, denn sie wusste, wofür diese Mixtur gut war. Jonathan legte Joshuas Arm um seine Schulter, hielt ihn an der Hüfte und hob ihn hoch. „Wir bringen ihn zu uns.“ Seine Gattin nickte. Er wollte loshumpeln, ehe er sah, wie sich die Dämonin und der Minotaurus plötzlich unter Schmerzen im Regenwasser krümmten und wanden. „HÖR AUF DAMIT!“, kreischte er Toraria an. Sie ließ nur nach, doch ein Ende der Qualen war für die beiden noch nicht in Sicht. „Das können wir uns nicht leisten!“, fauchte er. „Er hat dieser niederen Kreatur das Leben gerettet. Wir haben keine Ahnung, wie sie zueinander stehen, vielleicht sind sie Freunde oder was weiß ich, was... aber man rettet niemanden das Leben, der einem etwas bedeutete.“ In dieser Stimme lag ein Vorwurf. Wahrscheinlich kam die Erinnerung daran zurück, dass Toraria ihn einst im Stich gelassen hatte, als er einem Stamm Dunkelalben hätte geopfert werden sollen, und sie, nachdem sie ihr eigenes Leben gerettet hatte, einfach verschwunden war. „Wenn wir sie nun umbringen, haben wir es uns bei ihm verscherzt.“ Torarias Augen fragten: „Warum hat sie dann sein Leben bedroht, wenn sie befreundet waren?“ Jonathan war es ungewohnt von seiner Frau, dass sie auf der Leitung stand, doch er sagte: „Weil wir nicht wissen sollten, dass sie befreundet sind. Jetzt hör auf mit dem Scheiß, erlass den beiden ihr Leid und lass sie erst Recht am Leben. Der Messias hasst uns sonst wieder und wir werden nie unseren Plan in die Tat umsetzen können.“ Sie war alles andere als überzeugt von seiner Theorie. Nachdem, was sie gesehen hatte, konnte der Messias die Frau nicht leiden – dass er ihr Leben gerettet hatte, musste also auf einem Missverständnis basieren. Doch damit ihr lieber Gatte endlich zu nörgeln aufhörte, erlöste sie den Minotaurus und die Dämonin von dem Druck, der auf ihnen lastete. Plainacher hatte das Bewusstsein wieder erlangt. Durch einen Tränenschleier sah sie zu den beiden hoch. „Heute hast du noch Glück gehabt“, fauchte der Alb. „Hier.“ Er griff in seine Jackentasche und warf neben Plainacher ein selbst erfundenes Heilserum, welches er noch nicht getestet hatte. „Damit wirst du überleben.“ Toraria verdrehte die Augen. Dieses Mittel hätte nun wirklich nicht sein müssen. Doch sie mischte sich nicht ein. Es war zum Glück nicht weit zu den beiden nach Hause. Jonathan ging los, watete durch die Regen, der Regen peitsche unangenehm in sein Gesicht. Seine Narbe, die im Kampf seit langem wieder Ruhe gegeben, fing wieder zu bluten an. dies erschwerte die Last des Mannes auf seinen Schultern. Wenn seine Frau ihn wenigstens vor dem Niederschlag schützen würde. Doch er hielt durch. Toraria schritt langsam hinter ihrem Gatten hinterher. Mal wieder hatte sie heute fast alles erreicht, was sie gewollt hatte. Liam Warrick schaute auf die Adresse, die ihn sein Händler per SMS geschickt hatte und vergleich sie mit dem Straßenschild. Beides stimmte überein. Er hatte geglaubt, dass die Gegend, wo er immer auf die Jagd nach Dämonen ging, sei der schlimmste und verkommenste Ort des ganzen Bundesstaates, doch hatte er sich geirrt. Hier war es noch schlimmer. Hier trieben sich zwar auch Nutten, Penner, Junkies und anderes Gewürm herum, doch diese Individuen waren groteske Karikaturen ihrer selbst. Ohne Scham spritzen sich die Junkies Heroin auf offener Straße in die Adern. Ihre Gesichter waren eingefallen, von Krankheiten und Infektionen geprägt, sie hatten leblose Augen, ihre Kleidung war entweder so schmutzig, dass man die ursprüngliche Farbe nicht mehr erkennen konnte, oder so zerfetzt, dass sie fast nackt waren. Im Dämonenviertel, wie er es zu nennen pflegte, traute man den Drogensüchtigen irgendwie noch zu, runter zu kommen, doch hier schien jede Hoffnung verloren. Ähnliches konnte man von Nutten sagen. Dort wirkten die jungen Damen wie Ausreißerinnen aus reichem Hause, die mit ihren Job gegen ihre Eltern rebellierten, oder zumindest Edelnutten waren und von ihrem Job leben konnten– hier erkannte man ihre letzte Chance an Geld zu kommen. Selbst oft drogenabhängig, verprügelt, gewürgt und verseucht von Krankheiten, wirkte keine, als ob sie einmal schön gewesen wäre. Hier gab es auch viele Exemplare, die dem Paraphilen gefallen würden. Frauen über sechzig standen neben Damen in Rollstühlen, blinden oder stummen Frauen, Frauen, die schon gefesselt dastanden um ihre SM-Bereitschaft zu demonstrieren. Viele waren Mädchen – und mit Mädchen meinte er Nutten unter dreizehn. Auch gab es hier Transvestiten und männliche Prostituierte. Auch sie zeugten von einigen Abartigkeiten. Liam fragte sich, wie sein Händler nur auf so eine widerliche Gegend gekommen war? Immer suchte er sich Treffpunkte in miesen Gegenden aus. War das eine Ironie, weil er immer den Snob vorspielte, der die Augen vor dem Elend verschloss, was aber nur die Medien gerne betonten? Dieses Bild entsprach nämlich nicht der Wahrheit. Doch er musste zugeben, dass diese Ortschaft ihm zu viel war. Hoffentlich würde der Mistkerl bald kommen – schon zum dritten Mal wollte man ihm Stoff andrehen, Stoff abkaufen, oder man verlangte, dass er gefälligst Sex kaufen möge. Oder seinen Hintern verkauen. Liam hatte große Mühe diese widerlichen Individuen nicht mit Gewalt abzuwimmeln. Fünfzehn Minuten stand er alleine im Regen ohne Schirm, bis der Herr mit der Melone und dem Spazierstock, der eine riesigen Rucksack schulterte, endlich auf der Bildfläche erschien. Er trug auch keinen Regelschirm bei sich. „Guten Abend, der Herr“, sprach er. „Darf ich Ihnen eine Zigarette anbieten?“ Liam überlegte und nahm an, obwohl er eigentlich Nichtraucher war. Doch diese Gegend provozierte regelrecht zum Nikotingenuss. „Handeln wir diesmal auf offener Straße, oder wollen Sie in ein Gebäude gehen?“ „Mein lieber Junge, wie Sie vielleicht schon mitbekommen haben, ist hier keine Gegend, wo ein Dach über dem Kopf Schutz gewährt, sondern eher ein Todesurteil verkörpert.“ Er zündete seine Zigarette an und gab Liam Feuer, der kurz danach zu husten begann. „Und wahrlich können sie darauf vertrauen, dass diese Gestalten hier alles gesehen haben und sich nicht dafür interessieren, welch illegalen Tätigkeiten das Gegenüber angeht, solange es einen nicht bedroht.“ „Haben Sie deswegen diese beschissene Gegend gewählt?“ „Ihr sprecht mit aus der Seele, werter Herr Warrick.“ Liam hasste die Art, wie dieser Mann sich ausdrückte. Die aufgesetzte Shakespeare-Sprache gepaart mit einem anscheinend gespielten deutschen Akzent ging ihm auf die Nerven, doch da der Kerl die einzige Möglichkeit war an Waffen zu kommen, äußerte er seinen Ärger nicht. Er wunderte sich immer wieder, wie dieser gepflegt wirkende Typ an solche Waffen kam, mit denen man Dämonen bezwingen konnte. Auch wusste er weder Namen, noch Tätigkeit. Fragen darüber ging er aus dem weg. Doch da er der einzige Händler war, der solche Waffen verkaufte, musste er ihm glauben. „Ich hörte, Ihr seid angeklagt worden, aufgrund uncharmantem Benehmens.“ Liam verdrehe die Augen. Er hasste es an diese schlechte Publicity erinnert zu werden. Noch dazu, weil er die wahren Beweggründe für sein Verhalten verheimlichen musste. Dass er einen schlichten Menschen verprügelt hatte, weil er ihn für einen Vampir gehalten hatte, hatte er als Trunkenheitsdelikt darstellen müssen. Noch dazu war sein Anwalt kürzlich gestorben und er hatte sich an den Versager wenden müssen, der Liams Vater Nikolas zwar einige Male aus der Scheiße gezogen hatte, aber nun Alkoholiker war. Es gab keine Chance den Prozess zu gewinnen. Ein hohes Schmerzensgeld würde er zahlen müssen, wenn er nicht in den Knast wollte. „Wir sollten Klatschspaltenthemen bei Seite lassen und lieber über das reden, wegen dem wir uns verabredet haben“, drängte er. „Wie der Herr wünscht, ich wollte nur persönlicheres ansprechen, denn schließlich kaufen Sie seit Jahren bei mir Ihre Kampfapparaturen, doch sprachen nie über private Themen.“ Liam schnaufte. Wer verriet hier nicht einmal seinen Namen? „Was bieten Sie mir heute an?“ Der Mann grinste und sein Gesicht wurde noch faltiger. Seine Augen waren vom Schatten der Melone verdeckt, doch Liam glaubte ein kurzes, rotes Glühen gesehen zu haben. „Oh, mein Angebot ist wieder vorzüglich. Eine neuartige Armbrust kann ich Ihnen vorstellen, sichere Quellen sagen, sie soll die neueste Entwicklung aus der Waffenschmiede der Hölle sein.“ Jene hatte er aus dem Rucksack geholt und präsentierte sie stolz. Unzufrieden verzog Liam das Gesicht. „Ich habe genug zum Angreifen. Geben sie mir lieber etwas, das mich schützt.“ „Ist Ihr altes Schutzschild etwa schon zu Bruch gegangen? Erst letzten Monat kauften Sie ein neues bei mir.“ „Irgendein riesiges Vieh, das mir den Hals umdrehen wollte, hat es zerkratzt.“ „Ja, aus eigener Erfahrung spreche ich, dass man manche Dämonen nicht unterschätzen soll, auch wenn das menschliche Auge sie als zahmes Kätzchen sieht.“ Dauernd machte der Kerl Anspielungen darauf, dass er schon viele Kontakte mit Dämonen gehabt hatte, doch wenn man nachfragte, gab er keine Antworten, also unterließ Liam es diesmal. Auch wenn die Neugier in ihm brannte. Er stellte sich vor, dass dieser Kerl selbst einmal ein Kämpfer gegen die paranormale Übermacht war, doch wahrscheinlich war dies nur Wunschdenken. Der Mann griff in seinen Rucksack und reichte ihm eine achteckige, dünne Box, die man mit einem Gurt um die Brust band. „Alles prallt daran ab und nichts kann einem damit mehr schaden, der haptische Sinn wird nahezu ausgeschaltet, doch Vorsicht ist geboten, denn den Betätigungskopf muss man offen an der Brust tragen, und er sich leicht als Zielscheibe enttarnt.“ „Ich werde darüber einen Pullover anziehen.“ „Dann geht dieser aber kaputt.“ „Ist doch scheißegal, solange ich nicht kaputt gehe.“ „Die Weisheit eines jungen Mannes... so unreif wie ein junger Baum. Doch ich will euch nicht beleidigen.“ Hatte er das nicht gerade?! „Kann ich euch wirklich nicht für die wunderbare Armbrust beigeistern?“ „Nein. Mehr als den Schutzschild brauche ich nicht. Aber geben Sie mir sicherheitshalber zwei davon.“ Der Mann kramte in seinem Rucksack und reichte ein zweites Exemplar. „Und ich habe noch eine Frage. Was halten sie von diesen beiden Gegenständen?“ Liam übergab seinem Waffenhändler eine Wasserpistole und ein Taschenmesser, die sogleich gemustert wurden. „Sehr interessante Waffen, nicht für jedermann zu handhaben, und für das menschliche Auge nicht einmal als gefährliche Gegenstände zu identifizieren.“ „Spätestens wenn man mit der Wasserpistole angeschossen wird, weiß man, dass es sich um eine echte Pistole handelt.“ „Sie fasst sehr spezielle Patronen, die direkt vom obersten Waffenschmied hergestellt wurden. Sie scheint selbst von jenem hergestellt worden zu sein, und ihren wahren Besitzer kenn sie nicht verletzten. Selbiges gilt für das Schwert. Woher habt ihr diese Gerätschaften?“ „Einem Dämonen abgenommen.“ Pause. „Der, den ich töten sollte.“ „Oh, dieser Joshua Nazara. Wer hätte gedacht, dass dieser kleine Frechdachs über solche Waffen verfügt. Habt ihr nun endlich zur Strecke gebracht.“ Liam schüttelte etwas blamiert de Kopf. „Der Wurm hat einen Schutzengel. Oder besser, Schutzdämon.“ „Ja, sie treten eben oft in Gruppen auf.“ Pause. „Doch unser Deal gilt noch immer – solange Ihr Joshua Nazara das Leben schwer macht und ihn schlussendlich zerstört und tötet, müsst ihr nichts für die Waffen zahlen.“ Liam nickte. Eigentlich war dies ein Grund, für immer diesen Dämon zu jagen, und nie zu erledigen, denn für nichts anderes konnte man mehr Geld ausgeben, als für diese Waffen. 10000 Dollar für eine Pistole war nur die Spitze des Eisberges. Eigentlich hasste er Auftragsarbeiten ins jeglicher Hinsicht, doch wenn er sich dadurch viel Geld sparen konnte, akzeptierte er es, Beauftragter zu sein. Und da er mittlerweile dieses niedere Leben, das nun gar mit ihm verhandeln wollte, wegen seiner ungerechtfertigten Arroganz hasste, wollte er ihn so schnell wie möglich umbringen. Dieser Knilch war eine Witzfigur. Es war wirklich nicht schade, wenn er starb. „Wieso hassen Sie diesen Dämon so sehr?“ Dies war eine dieser Fragen, die der Waffenhändler eigentlich nicht beantwortete, doch nun stellte er gar eine Gegenfrage: „Warum hasst ihr ihn?“ Liam Warrick seufzte: „Nicht nur, weil er paranormal ist, sondern weil er ein unfähiger Trottel ist.“ „Ihr denkt meine Gedanken. Ich unterstreiche Ihre Vorstellung nicht, dass paranormale Lebensformen kein Recht auf Existenz haben, doch ich bestätige, dass diese Kreatur zu unfähig für dieses Recht ist.“ Er fragte sich, warum der Typ ihn Waffen verkaufte, mit denen er für eine Einstellung kämpfte, die der Waffenhändler nicht vertrat. Eine Antwort würde er nicht bekommen, deswegen fragte Liam nicht. Wahrscheinlich gehörte er zu der Sorte von Geschäftsmännern, die privates und geschäftliches, sich und den Kunden streng voneinander trennten. Liam packte die Schutzschilder, die Wasserpistole und das Taschenmesser in einen Plastiksack. „Ich bedanke mich“, sprach der Waffenhändler. „Nein, ich danke. Und wen ich wieder etwas brauche, melde ich mich wieder per SMS.“ „Ich freue mich darauf, wieder mit Ihnen Geschäfte machen zu können. Auf Wiedersehen.“ „Wiedersehen. Sie wollten aussteigen, wenn er nicht bereit war, den Musikstil zu verändern. Verdammte Bastarde. Dabei waren auch sie von jener Sorte Bekannte gewesen, die sich für Leonards Musikidee begeistern konnten. Und nun fielen auch sie ihm in den Rücken, diese Dreckskerle. Francis Lauder und Vincent Warner hatte er einst seine besten Freunde genannt. Sie waren zwar zwei beziehungsweise drei Jahre älter als er, doch bezüglich ihrer Lebenseinstellung und Weltanschauung waren sie Seelenverwandte. Wie begeistert sie sich von seiner revolutionären Idee gezeigt hatten, und nur zu gut erinnerte er sich, wie sie geschworen hatten diese sperrige Musik bis zu ihrem Lebensende durchzuziehen, egal, ob man darauf mit Begeisterung oder Ablehnung reagieren würde. Doch nun, wo sich der erwartete Erfolg nicht eingestellt hatte, wollten sie den Kopf in den Sand stecken. Leonard wusste auch, wer die treibende Kraft hinter dem Verrat war. Der dreißigjährige Valentin Jackson, der nur in die Band gekommen war, weil er als einziger Bekannter Schlagzeug spielen konnte. Von Anfang an hatte sich nicht mit der experimentellen Musik anfreunden können. Und nun hatte er sein Netz aus Intrigen gesponnen und Francis und Vincent auf seine Seite gezogen. Frustriert sperrte er die Wohnungstür auf. Er lebte noch bei seiner Mutter, weil er sich keine eigene Wohnung leisten konnte. Er hasste dieses Apartment. Er wollte in jenes zurück, wo er noch gelebt hatte, als seine Eltern noch verheiratet waren, doch dieses hatte verlassen werden müssen, da seine Mutter alleine sich die teure Wohnung nicht mehr leisten konnte. Verdammt, warum konnte er in seinem Leben nicht ein bisschen Glück haben? Seine Mutter würde bestimmt gleich aufwachen, da das Schlafzimmer der Eingangstür so nahe war. Oft kam er nach Mitternacht nach Hause, doch gewöhnt hatte sich noch nicht daran. Seit der Scheidung war seine Mutter unerträglich geworden. Erst war Leonard froh gewesen, dass sie sich für ihn interessiert hatte, doch sie hatte sich in eine Klette verwandelt, die ihn anschrie, wenn sie zu besorgt war. Und das, obwohl er schon zweiundzwanzig war. Gott, ich will nur ein wenig Glück, murmelte er. „Du wendest dich an den falschen.“ Leonard zuckte zusammen. Das war die Stimme des Sektentypen. War der Fanatiker ihm bis nach Hause gefolgt? „Hau ab, sonst rufe ich die Polizei.“ „Mich kann diese Menschenexekutive nicht verjagen.“ Er spürte einen heißen Luftzug auf seinem Nacken. Überhaupt war die Stimme näher und nahbarer als zuletzt. Er drehte sich um. Die Stimme hatte nun nicht nur eine Fratze, sondern einen Körper. Vor ihm stand ein zwei Meter großer Mann in einer braunen Kutte, mit blasser Haut, langen, schwarzen Haaren und Eckzähnen, die so scharf waren, dass sie einen Körper spielend zerreißen konnten. Seine Augen leuchteten grünlich. Ihn umgab eine unheimliche Aura, kein Licht schien ihm nahe zu kommen. Leonard versuchte ruhig zu bleiben: „Schicke Verkleidung.“ „Das ist keine Verkleidung“, sprach der Mann ruhig, doch er redete Angst einflößend. „Du hast eine besondere Begabung.“ „Ja, ich erkenne Fanatiker auf hundert Meter Entfernung. Es tut mit Leid, aber ich habe kein Interesse am vollkommenen Glück, das ich nur durch Selbstmord erreiche.“ Er wollte die Türe endlich öffnen, doch plötzlich konnte er den Hebel nicht mehr herunterdrücken. Klemmte das Ding also schon wieder? Diese verdammte Bruchbude. „Du hast die seltene Gabe zu sehen, wie wir wirklich aussehen. Du bist abnormal.“ Leonard verdrehte die Augen. Toll, jetzt bezeichneten ihn auch schon Sektenmitglieder als abnormal. „Dafür würde ich dich gerne belohnen.“ „Sie können mir helfen die Türe zu öffnen, wenn Sie Lust haben.“ „Wenn das dein Herzenswunsch wäre, würde ich es tun. Doch in Wahrheit willst du gar nicht hinein. Zu deiner klammernden Mutter und deinem unverlässlichem Bruder.“ Leonard hörte auf an der Türschnalle zu rütteln. Woher wusste dieser Irre das? „Dein größter Wunsch ist es doch, dass deine Musik die Masse berührt, dass du für dein Werk geschätzt wirst. Du wünscht dir Treue, Verlässlichkeit, Loyalität, ein kleines bisschen Brüderlichkeit und Liebe.“ Er hatte zwar viel mit sich selbst gesprochen, doch diese Details, so wie dieser Mann sie aufzählte, hatte er nie ausgeplaudert. Ihn amüsierte das Schweigen Leonards und er fing hämisch an zu grinsen. Doch Leonard musste zugeben, ihm gefiel dieses Geräusch. „Wer sind Sie?“, schaffte er schließlich aus sich herauszuquetschen. „Mein Name tut nichts zur Sache. Es ist nur wichtig, dass ich der bin, der deine Wünsche in Erfüllung bringen kann.“ Er griff in eine Falte seiner Kutte. Was er heraus zog konnte Leonard nicht sehen, denn er versteckte es in seiner Faust. Zwischen seinen Fingern aber strahlte ein grünes Licht. „Dank diesem Stein werden all deine Herzenswünsche in Erfüllung gehen.“ Das Licht faszinierte Leonard. Dadurch, gepaart mit dieser ruhigen, allerdings leicht unheimlichen Stimme, wurde er in einen Trancezustand, der ihm irgendwie den klaren Verstand raubte, versetzt. Ohne genau nachzudenken, berührte er den Stein. Binnen zehn Sekunden rasten hunderte Bilder von Vermögen, Frauen und tobenden Fans an seinen Augen vorbei. Doch irgendwie konnte er sich von dem Stein lösen. Die Realität war wieder da. Doch die Stimme des Mannes war noch immer hypnotisierend. „Hat dir gefallen, was du gesehen hast?“ Leonard nickte. „Wie haben sie das gemacht?“ „Magie.“ Der Man schnipste mit den Fingern und auf einmal ging ein Windstoß. Irgendwie glaubte Leonard den Verstand zu verlieren – im Flur gab es kein Fenster, das geöffnet sein konnte. „Willst du den Stein haben, damit alle deine Träume in Erfüllung gehen?“ Mal im ernst – was konnte schon passieren, wenn er ja sagte? Schlimmstenfalls beging er im Ritualmord einer Sekte Suizid, aber dann war ihm wenigstens eingeredet worden, er sei glücklich und würde nachher glücklich bleiben. Also nickte Leonard. Der Mann holte aus und stieß die Faust in Leonard hinein – durch das Brustbein mitten in sein Herz. Leonard schrie, auch wenn er keinen Schmerz spürte. Ein warmes, aber brennendes Gefühl erfasste seinen Körper, glitt durch seine Venen und Arterien, erwärmte seine Organe. Doch bald wandelte sich die Wärme in unerträgliche Hitze. Als Leonard brüllen wollte, es solle aufhören, war das ganze plötzlich vorbei. So wie der mysteriöse Mann. Leonard stand alleine im Flur. Er bekam kaum Luft und er schwitze, langsam wurde ihm kalt. Die Tür hatte sich von selbst geöffnet. Leonard trat ein. Auf dem Boden fand er einen Zettel, auf den er zuerst gestiegen war. In zittrigen Buchstaben stand darauf: Mama hatte einen Schlaganfall, sind im Krankenhaus. Kapitel 9: Pressure, that tears a building down ----------------------------------------------- Es gab keinen Ausgang aus diesem Haus! Nicht, dass er sich nach einem einmaligen, kurzen und irritierenden Aufenthalt in diesem suburbane Häuschen sich hier wie in seiner Pullovertasche ausgekannt hätte, doch damals hatte er die Haustür gefunden – wieso also jetzt nicht? Joshua rannte permanent im Kreis. Der Genius, der aussah wie eine Drache schwirrte in der Luft um ihn herum und lachte ihn aus: „ Ex domu non potes! Me iusserunt. Studii tui stulti sunt!“ „Ich spreche kein Russisch!“, fauchte Joshua, griff blindlings nach einen Behälter und schmiss ihn auf das Drachenwesen. Der Gegenstand flog durch den Hausgeist. An der Mauer zerbrach er. Es handelte sich dabei um eine Vase, die mit einer ätzenden Flüssigkeit gefüllt war – der Teppich löste sich zu Schwärze auf. Verärgert rannte er weiter. Nachdem er das Wohnzimmer verlassen hatte und erwartete im Vorzimmer aufzutauchen, stand er plötzlich wieder in der Küche. Dabei gab es nur eine Tür und die war vor ihm. Der Genius lachte wieder. „Hihihi! Puer stulte! Domum non relinquere potes! Includeris!“ „Klappe!“ Joshua schritt durch die Tür, marschierte schließlich einen langen Gang entlang und betrat nach zehn Schritten das Wohnzimmer. Er setzte sich auf das Sofa, das mit einem hässlichen bräunlichen Stoff mit rosa Blumenmuster überzogen war, und stützte das Gesicht in die Hände. Er seufzte. „Nonne omittes? Hihi. Vici! Vici! Vici!“ „Dämliche Nervensäge!“, beschimpfte Joshua den Genius und wunderte sich nicht mehr, warum das Ehepaar versuchte ihn unter Verschluss zu halten. Er wusste nicht, wie lange er geschlafen hatte. Es war draußen noch dunkel, doch da er keine Uhr fand, konnte Joshua nicht sagen, wie spät es war. Er fühlte sich jedenfalls, als hätte er drei Tage gepennt. Eventuell hatte er das auch, er konnte auch keinen Hinweis auf das heutige Datum finden. Hoffentlich nicht, er wollte sich nicht ausmalen, was für Sorgen Angela sich machen musste. Wenigstens wusste er zu seiner eigenen Beruhigung, dass er sich im Haus von Jonathan und Toraria Letherman befand. Hier würde er dieser irren Dämonin nicht begegnen. Egal, wie nahe er sich ihr fühlen sollte, da sie zu seiner „Rasse“ gehörte, ihre aufdringliche, brutale Art war ihm zuwider. Da war ihm die sensible und unterschwellige Methodik der Magierin um einiges lieber gewesen. Auch nicht optimal, aber besser. Die wenigen Gesten, die sie getan hatten, hatten mehr in ihm bewogen, als die tausend Worte, mit denen Beenie Plainacher ihm zum Menschenmord überreden wollte. Überhaupt hatte Plainacher aufgrund des letzten Erlebnisses wieder Antipathiepunkte bei ihm gemacht. Tatsächlich hatte sie versucht, ihn zu ermorden. Weil sie dumme Vermutungen hatte. Weil sie geglaubt hatte, Toraria könne ihn manipulieren. Er war schon einmal manipuliert worden, er wusste wie das war. Zwar von Erik dem Roten und nicht von einem Magier, doch er kannte kein Argument für einen Unterschied. Kein Anzeichen einer Manipulation hatte bemerkt... keinen Druck im Kopf, keine untypischen Handlungen, keine Handlungen gegen seinen Willen. Und aufgrund einer dummen Vermutung hatte sie versucht ihm das Licht auszublasen. Zum Glück hatte das Ehepaar ihm sein Leben gerettet. Die beiden hatten sein Leben gerettet, während die Dämonin ihn nur demütigte und quälte, keine Unterstützung bot, und ihn ausschalten wollte, wenn er nicht alle Regeln ihres Spieles befolgte. Hoffentlich würden die beiden ihm Schutz geben, wenn sie Plainacher nicht umgebracht haben. Schließlich hatte sie nun endgültig einen Grund ihn zu vernichten, da Jonathan Letherman verraten hatte, dass sie wussten, dass Joshua der Messias war. Er zuckte zusammen. „Scheiße...“, murmelte er. Plainacher wusste nun um ihr Wissen bescheid. Teufel noch mal, hoffentlich hatten die beiden die Psychopathin umgebracht. Irgendwie hatte er das miese Gefühl, dass dies nicht der Fall war. „JONATHAN LETHERMAN! ICH WILL AUF DER STELLE MIT DIR SPRECHEN!“, schrie er so laut er konnte. Selbst der Genius zuckte zusammen. „Vox maior est!“, beschwerte er sich. Doch aufgrund der ihm unbekannten Sprache ignorierte Joshua ihn einfach. Er brüllte noch einige Male, bis der Alb, nur in Boxershorts gekleidet, die Stufen herabstampfte, und sich dabei die Augen rieb. Das andere war geschlossen. Ein Wunder, dass er erst hinunter fiel, als eine Narbe an der Brust plötzlich anfing zu bluten. Auf den jammernden Tollpatsch starrend, seufzte Joshua. Trotz seines Zornes half er Jonathan auf. Sein erster Blick fiel auf die blutende Narbe. „Ist das jetzt gerade passiert?“ „Nein“, antwortete Jonathan mit schlechter Laune. „Im Kampf gegen Plainacher?“ „Nein.“ „Wann dann?“ „Damit büß ich meine Sünden ab.“ Er ließ sich von Joshua stützen, damit er mal nicht den starken Mann spielen musste, wenn dieses Stigma zu schmerzen begann. Joshua hörte nicht auf nachzufragen. Irgendetwas faszinierte ihn an dieser kreuzförmigen Narbe, die unter dem Blut zu leuchten schien. „Ist das ein Fluch?“ „Ja.“ Zwar nur im übertragenen Sinne, aber immerhin war es keine Lüge. „Hast du mich aus dem Schlaf gerissen um mich über private Angelegenheiten auszufragen, oder gibt’s wichtigere Gründe?“ In diesem Moment kicherte der Genius laut und plapperte. Jonathan brauchte ihn daraufhin nur wütend anzublicken und schon verschwand das Drachenwesen in seiner Urne. Nachdem sich der Alb auf die Stufen gesetzt hatte, seufzte Joshua, den Zorn, den er vor wenigen Minuten auf den Blondschopf noch gehabt hatte, wieder aufkeimend fühlend: „Habt ihr Plainacher umgebracht?“ Jonathan legte den Kopf schief: „Meinst du diese Psychopathin mit den roten Haaren und den vielen Piercings, sodass sie aussieht wie ein Cyborg?“ „Ja. Die.“ „Alles klar. Nee, haben wir nicht.“ Joshua brauchte ein paar Sekunden um diese Aussage zu verkraften. Da lag diese Irre einmal auf den Boden, verletzt, bewegungslos, ein idealer Zeitpunkt diese penetrante Kuh los zu werden – und die Gelegenheit wurde nicht genutzt. „Wieso nicht!“, schrie er. „Sie wollte euch umbringen.“ „Was wir wollen ist in Anbetracht deiner Klassifizierung relativ irrelevant. Ich meine, du hast ihr das Leben gerettet. Glaubst du wirklich, wir vergraulen dich, indem wir deine Freundin umbringen?“ „Meine WAS?“ Pause. „Ich soll WAS haben?“ Er raufte sich vor Entrüstung die Haare. Jonathan fing an auf deinen Lippen zu kauen. „Heißt das, du magst sie nicht?“ „Ich HASSE sie.“ „Oh.“ Jonathan holte tief Luft. „Weißt du, es hat ausgesehen, als ob du ihr das Leben gerettet hättest, und da dachten wir, na ja, bringen wir besser nicht ’ne Dämonin um, wegen der du fast querschnittgelähmt gewesen wärst und... übrigens, sie zu retten war Toris Idee.“ Alles auf die Gattin schieben, er wollte sich nicht noch mehr vor dem Messias blamieren. „QUERSCHNITTGELÄHMT?“ „Na ja, du hast dich vor sie geschmissen und da ist mein Pfeil nur knapp an deiner Wirbelsäule vorbeigegangen. Aber du bist geheilt, ich bin zum Glück ein recht fähiger Mediziner. Aber du hast eine weitere schicke Narbe am Rücken.“ Die Narbe war Joshua im Moment egal. Fast wäre er Beenie Plainacher losgeworden, und dann nutzten der Alb und die Magierin ihre Chancen nicht, weil sie glaubten, er möge diese Psychopathin. Wie kamen sie überhaupt darauf, dass er diese Irre auch nur ansatzweise mögen könnte? Hatte sie ihm nicht mit dem Tod gedroht, hatten die beiden nicht mitbekommen, wie sie ihn gefoltert hatte? Entrüstet setzte er sich neben Jonathan. „Ich hab sie nicht gerettet. Ich dachte, sie würde euch angreifen und wollte sie aufhalten, und Teufel... es ist nicht nur, dass ich sie wie die Pest hasse, jetzt weiß sie auch noch, dass ihr wisst, dass ich der Messias bin.“ Jonathan holte wieder tief Luft. Dass er sich versprochen hatte, hatte er vollkommen vergessen. Mal wieder kam er sich vollkommen unfähig vor, weil er seine Gattin daran gehindert hatte, diese Dämonin zu töten. Zum Glück wusste Joshua nicht, wer Schuld an der Misere war. Er stellte sich noch einmal dumm, um den Ärger Joshuas zu reduzieren: „Tja hm, ist das so schlimm?“ „Ja! Während meiner Prüfungszeit hier, darf niemand von meiner wahren Klassifizierung erfahren!“ „Oh.“ Pause. „Vielleicht ist sie nett und petzt nicht.“ Das brachte Joshua zum Schnaufen. „Kopf hoch. Ich leide ähnliches. Mein Chef darf auch nicht davon erfahren, dass ich den Messias kenne, weil er dich sonst umbringen würde und das ist hart für mich. Ich bin eben ein Wesen, das sich sehr gerne verplappert.“ Als ob er das nicht mitbekommen hätte. Joshua vergrub das Gesicht in den Händen, seufzte mehrere Male. Er hatte keine Ahnung, was er nun machen sollte. Er fand jedenfalls endlich einen Kalender, der verriet, dass noch immer der Tag war, an dem er Angela alleine gelassen hatte. Und die Standuhr verriet, dass es vier Uhr in der Früh war. Die übliche Uhrzeit, um die er heim kam. Joshua stand auf. „Na dann, danke für die Mühen, auch wenn ihr alles nur schlimmer gemacht habt. Bis irgendwann, wenn ich nicht bald in die Hölle zurückgezogen werde.“ Mit entsetzten Augen starrte Jonathan auf Joshua und packte ihn am Hosenbein. „Du kannst jetzt nicht gehen!“ Erfolglos versuchte er sich los zu reißen. „Wieso nicht?“ „Äh... wenn deine Situation so beschissen ist, willst du dich dann wirklich ohne Bodyguard auf die Straße trauen?“ Das klang logisch, aber er bezweifelte, dass die beiden, auch wenn er nun die Überzeugung hatte, dass sie fähig waren, sich gegen Erik den Roten oder gar Lillith wehren konnten. Beenie Plainacher war eine Sache, sein Ausbilder eine andere. „Danke für das Angebot, aber wenn die mich mit den Typen sehen, die mehr über mich wissen, als sie sollten, kriege ich wahrscheinlich noch mehr Ärger.“ Er schüttelte sein Bein, doch der Alb blieb hartnäckig. „Außerdem werdet ihr von nun an genug damit zu tun haben, euch selbst zu beschützen.“ Jonathan sprang auf und packte Joshua am Arm. Er war so schnell, dass er die Bewegungen des Albs kaum mitbekommen hatte. „Ja, wenn wir alle in Gefahr sind, dann können wir doch gemeinsam paranoid sein. Wo hast du deine Unterkunft? Wir haben noch ein Zimmer frei, du bist hier willkommen.“ „Äh... ich wohne bei meiner Schwester.“ Da wusste dieses Ehepaar gehütete Geheimnisse über ihn, aber wo er wohnte, war ihnen entgangen. „Und selbst, wenn ich auf der Straße pennen würde, ich vertraue euch nicht genug, sodass ich neben euch leben würde.“ Beleidigt verzog Jonathan das Gesicht: „Wieso nicht? Wir haben dir das Leben gerettet.“ Joshua zählte auf: „Und eine Woche vorher hast du mir gestanden, dass du zu einem eventuellen Gegenspieler der Hölle gehörst und mich bekehren willst, hast mich zu Boden geworfen, als ich überreagiert habe und jetzt eben ist dir rausgerutscht, dass du die Sache vor dem Chef verheimlichen musst, weil der mich sonst umbringen würde.“ Jonathan holte tief Luft und sein Griff lockerte sich. Zum Glück entging das dem Messias. „Ist doch egal, wer dich umbringen will und wer nicht. Wir stehen dir zur Seite.“ Pause. „Und sorry für die Sache mit dem Angriff, aber ich hatte Angst um meine Küche.“ Wusste dieser Depp nicht, worauf er hinaus wollte? „Danke, aber das ist schlussendlich nicht das Problem. Denn ich kenne weder eure Motive, noch eure Pläne. Das einzige, was ich weiß, ist, dass ihr so viel über mich wisst, dass es unheimlich, und dass ihr irgendein hinterlistiges Spiel treibt. Und mich prinzipiell immer in die Scheiße hineinreitet.“ Jonathan ließ Joshua endlich los. Die Argumente waren gut. Und er wusste nun nicht, was er sagen sollte, denn jeder erklärende Grund konnte den Messias wieder so schockieren, dass er floh, nachdem sich das nötige Verhältnis gebessert hatte. „Ich habe Angst, dir die Wahrheit zu sagen.“ „Kann ich nachvollziehen. Besonders bei deinem undiplomatischen Einfühlungsvermögen.“ „Verarschen kann ich mich selbst.“ Jonathan nahm Joshua wieder bei der Hand und zerrte ihn in das Wohnzimmer. Er dachte, sie würden ewig wandern, bis sie schließlich bei einem eigenartigen Einrichtungsgegenstand stehen blieben. Dieses Haus war wirklich seltsam. Joshua schaute auf eine kaum faustgroße Glaskugel, die innen hohl war. Doch im Zentrum wand sich eine rosa Wolke, in der Blitze zuckten. Gehalten wurden von einem Bleiständer, der aussah wie die Klaue eines Geiers. „Tori neigt dazu wichtige Ereignisse aus der Perspektive eines Beobachters zu dokumentieren. Da drinnen befindet sich alles, was mit dir im Zusammenhang steht.“ Er konzentrierte sich mehr auf den Inhalt. In der Wolke glaubte er das Verhör zwischen ihm und Jonathan zu entdecken. „Groß ist sie nicht.“ „Die Wolke? Ja, es waren nicht sehr viele Ereignisse, aber dafür waren sie umso gravierender.“ Joshua hatte eigentlich auf die Kugel selbst angespielt, aber egal. „Wenn du auf denselben Wissensstand wie wir kommen willst, musst du die Kugel nur berühren.“ Dieser Gegenstand faszinierte Joshua. Wie gebannt schaute er auf das Innenleben und langsam zeichnete sich das Gesicht eines Mannes mittleren Alters ab, der hinter einem Schreibtisch thronte. „Ich zwinge dich zu nichts“, sagte Jonathan. „Ich rate es dir nur.“ Pause. „Bedenkt man deine Hemmungen dich in die Hölle einzugliedern, wäre es eventuell wichtig, dass du auch unsere Perspektive kennst. Die Ansicht zweier Wesen, die im letzten Krieg, den du anführen wirst, vernichtet werden.“ Er lächelte. „Wir haben nämlich die ehrliche Hoffnung, dass du auf unserer Seite kommst.“ Joshua verzog das Gesicht. „Ich hatte nur die Wahl zwischen Himmel und Hölle.“ „Nur bedingt.“ Jonathan fasste sich auf Narbe. Sie blutete nun nicht mehr, doch dafür glühte sie gelb. „Die Narbe ist ein Symbol der Verbundenheit zu unsrer Sphäre. In der Sphäre in der du geboren wurdest.“ Joshua wusste, dass der Alb ihn manipulierte. Dennoch fragte er: „Worauf spielst du an?“ In diesem Moment packte Jonathan die Hand des Messias. Es war ihm klar, dass dies wieder ein undiplomatischer Akt war, doch in diesem Moment begann sein Stigma so stark zu schmerzen, wie sie es noch nie getan hatte. Er hegte die Hoffnung, dass die Erkenntnis des Messias seinem Leid endlich ein Ende setzen würde. Joshua musste wissen. In dem Moment stellte er Kontakt zwischen der Hand des Messias und der Glaskugel her. Joshua durchfuhr ein Stromschlag. Alles wurde schwarz vor seinen Augen, er wollte schreien, ging aber nicht. Minutenlang war er taub, stumm und blind, bis weit hinten die rosa Wolke erschien. Doch überraschend schnell bewegte er sich auf sie zu. Er sah sich, er sah Jonathan, er sah Toraria. Die Schatten der Wolke zeigten ihn, wie er sich gerade aus dem Fenster stürzte. Doch die Szene, in die er eintauchte, war eine vollkommen andere: In Gabriel X. Paradisos Augen spiegelte sich nie viel Humor. Die blauen Augen des Mannes, der von Gott persönlich gesandt worden war um die Ordnung dieser Sphäre zu bewahren, zeugten stets von einem Bierernst, der einem das Blut in den Adern gefrieren ließ. Seine Haltung war immer aggressiv, was auf seinen cholerischen und leicht reizbaren Charakter hindeutete. Doch heute wies seine Mimik und Gestik auf ein Element der Unsicherheit hin. Sein eigentlich unbeugbares Erscheinungsbild wurde gestört von einer Haltung der Angst und Unsicherheit. Und das machte Jonathan Letherman wiederum Angst. Noch nie hatte er sich dem uralten Mann, den man aber nie älter als fünfzig schätze, so nahe gefühlt. Natürlich hatte er schon in den hundert Jahren, in denen der APEHA diente, Gespräche gegeben, doch diese waren immer in der Anwesenheit von mindestens zehn Gleichrangigen geführt worden. Nun saß er nur mit seiner Gattin der Angst einflößenden Gestalt gegenüber, die durch ihre passive Art keine große Unterstützung war. Er fragte sich, wie Tori so ruhig bleiben konnte. Seit einem Jahr waren sie verheiratet, doch Jonathan hatte noch immer das Gefühl, sie nicht zu kennen. Gabriel X. Paradiso räusperte sich. „Zeus ist gestorben.“ Ein Wink der Verzweiflung durchfuhr Jonathan. Der alte Zeus war tot? Er kannte den Magier nur zu gut. Er war einer der dienstältesten Wesen der APEHA und auch eines der stärksten. Zwar machten sich schon Anzeichen von Senilität bei ihm bemerkbar und auch hatte er seine Kräfte nicht mehr so gut unter Kontrolle, wie vor einem Jahrhundert, doch er zählte noch immer zu den fähigsten Mitarbeitern. Jonathan traf diese Nachricht noch dazu persönlich, da der alte Magier eine Art Mentor für ihn gewesen war. Und nun war er tot. Selbst auf Toris Gesicht spiegelte sich so etwas wie Entsetzen. „Wie... Wieso? Was ist passiert?“, stammelte Jonathan. „Eben das, was zu erwarten ist, wenn man den schwersten Job erledigt, den die APEHA je hatte. Ein Fürst namens Samael hat ihn ermordet.“ Gabriel X. Paradiso seufzte. Auch ihm ging der Tod des Magiers sichtlich nahe. „Jedenfalls, der Messias ist nun seit zwei Tagen schutzlos.“ Jonathan nickte. Damit war das Hauptthema angesprochen. So gerne er auch nach den Details um Zeus’ Tod gefragt hätte, Gabriel hatte ein anderes Thema angeschnitten und weitere Fragen würde er zum alten nicht mehr beantworten. Schweren Herzens ging Jonathan auf die Aussage des Chefs ein: „Wie geht es ihm? Hat er den Tod seines Vaters schon verkraftet?“ „Zeus meint nein, doch die Beobachtungen anderer Mitglieder behaupten das Gegenteil.“ „Es ist natürlich fraglich, wie man es verkraftet, wenn der Vater vor den eigenen Augen erschossen wird. So was kann jeder Zeit wieder hoch kommen. Wie alt ist er denn jetzt?“ „Demnächst wird er siebzehn.“ „Ein schwieriges Alter.“ In dem Alter hatte der Alb allerdings noch nicht einmal laufen können. „Nicht nur für ihn, auch für uns. Die Hölle wird langsam panisch, wenn er nicht bald stirbt, haben sie die Chance ihn auf ihre Seite zu holen verspielt. Sie setzen immer stärkere Söldner auf ihn an, mittlerweile neigen sie dazu, ihn auch direkt anzusprechen und zu manipulieren. Mehr noch als früher.“ Jonathan nickte. Er dachte an Zeus. „Und was haben wir damit zu tun?“ Gabriel X. Paradiso seufzte: „Wie ihr wisst, ist es unmöglich den Messias ohne Wache irgendwohin gehen zu lassen.“ Pause. „Zeus braucht einen Nachfolger. Ich habe lange überlegt, es sogar riskiert den Messias zwei Tage alleine zu lassen, doch nun habe ich meine Entscheidung getroffen.“ „Werden Sie es selbst machen?“, fragte Jonathan. Darauf schlug sich Gabriel X. Paradiso auf die Stirn. „Nein, Sie Volltrottel, ich darf meinen Führungsplatz nicht verlassen. Und außerdem, weswegen glauben Sie, habe ich euch beide herkommen lassen.“ Er brauchte ein paar Sekunden um zu verstehen, doch dann klappte Jonathans Unterkiefer nach unten: „Wie... Sagen Sie bloß, Sie belasten uns damit.“ Belasten erschien zwar als unpassender Ausdruck, doch er passte. Selbst Zeus hatte es widerstrebt die Verantwortung für den Messias zu übernehmen. Zu recht, wie sich herausstellte. „Ja“, knurrte Gabriel X. Paradiso. „Wieso? Ich meine, ich bin erst seit hundert Jahren bei der APEHA, habe kaum schwere Aufträge erhalten und weiß relativ wenig über die Hölle. Und Tori ist überhaupt seit nicht mal einem Jahr Mitglied. Das widerspricht Ihrer sonstigen Vorgehensweise!“ Gabriel X. Paradiso holte wieder tief Luft. „Ich habe selbst Zweifel, doch wiegt man Vorteile und Nachteile ab, so sind mehr Vorteile gegeben.“ Er schob einen Zettel und einen Kugelschreiber zu ihnen. „Ihr zwei seid Killermaschinen. Keiner bei der APEHA weist eine derartige Präzision im Kampf auf, wie ihr. Jeder eurer Schritte ist überlegt und gewählt, außerdem beschränken sich eure Fähigkeiten nicht nur ein spezielles Fachgebiet, sondern sind vielseitig.“ Pause. „Eine weitere Begründung ist auch, dass ihr unter Menschen lebt. Ihr habt Kontakt zu ihnen, was euch weniger weltfremd macht, als neunzig Prozent der Mitglieder.“ Jonathan hätte nie gedacht, dass Gabriel X. Paradiso ihm Komplimente machen würde. Und dass er sich je positiv über Toraria Letherman, geborene Simson, äußern würde, wenn man bedachte, wie sehr er sich gegen ihre Mitgliedschaft widerstrebt hatte, die schließlich aber aufgrund der Hochzeit bewirkt worden war. Allein die Beauftragung war Kompliment genug, bedachte man, wie kurz sie erst bei der APEHA arbeiteten. Doch Jonathan hätte gerne auf diese Ehre verzichtet. Alles hing vom Messias ab. Hatte man die Verantwortung über ihn, hatte man automatisch die Verantwort über die ganze Welt inne – und als Welt war nicht nur diese Sphäre, sondern auch der Himmel und die Hölle zu verstehen. Gott persönlich war unter den Begriff „Welt“ zu subsumieren! Jonathan holte tief Luft. Tori griff nach Zettel und Kugelschreiber und die Einverständniserklärung, den Auftrag zu übernehmen, und unterschrieb. Machte sie diese Verantwortung nicht nervös? Wie gerne hätte Jonathan ihre Selbstsicherheit und Furchtlosigkeit. „Darf ich überhaupt verneinen?“ Gabriel X. Paradiso schüttelte wortlos den Kopf. Jonathan seufzte. Seine Frau reichte ihm den Kugelschreiber und er unterschrieb mit krakeliger Unterschrift, aus der man seinen Widerwillen herauslesen konnte. Szenenwechsel Jonathan spannte den Bogen. Er zielte auf die Stirn des echsenartigen Wesens, das sich an den Messias heranschlich. Joshua Nazara bemerkte nichts. Er saß mit einem bebrillten Jungen auf einer Parkbank und ging irgendwelche Hausaufgaben durch. Der Dämon wollte ihn verletzen. Seine Kralle wollte in seinen Kopf stechen. Joshua hielt diese aber für eine Fliege, die er mit Händewedeln vertreiben wollte. Jedes Mal, wenn die Hand des Messias ausschlug, zuckte der Dämon zurück. War das Monster etwa schüchtern? Er ließ los, der Pfeil raste auf den Dämon zu und spaltete seinen Kopf. Steif fiel er nach hinten. Der war hin. Joshua sah nach hinten, um zu sehen, was da eben geraschelt hatte, sah nichts und hielt es für eine Einbildung. „Findest du es nicht auch zu leicht?“, fragte er Tori. Diese sah ihn prüfend an. „Was hat Gabriel noch mal gesagt? Dass die Dämonen immer stärker werden, die die Hölle auf Joshua ansetzt? Von wegen. Seit sechs Monaten erlegen wir nur Kreaturen, wie den da. Von einem Fürsten, General, Leutnant, was auch immer, keine Spur. Findest du das nicht seltsam?“ Sie zuckte mit Achseln. Jonathan redete weiter: „Dabei rückt der Tag seines achtzehnten Geburtstages immer näher. Wieso wird die Hölle nicht panischer?“ Eher sich die Schlange Joshua näher als zwei Meter kam, wurde ihre Rachen schon von einem Pfeil Jonathans verstopf. Sie war zwar nicht tot, doch die Pfeilspitze steckte im Boden fest, sie kam nicht mehr los. Panisch zappelte sie, bis Joshua sie für einen Käfer hielt und kurzerhand ihren Kopf zertrat. „Warum nimmt er eigentlich gar keine paranormalen Aktionen wahr?“, wunderte sich Jonathan weiter. „Er scheint nicht einmal abnormal zu sein. Und so etwas soll den letzten Kampf zwischen Himmel und Hölle entscheiden? Ich weiß nicht“, er nahm wieder einen Pfeil aus seinen Köcher, den er Olive getauft hatte, „irgendetwas kommt mir hier spanisch vor.“ Er schoss auf eine Katze mit glühend roten Augen, und einem Gebiss mit dem sie Stahl zerbeißen konnte. „Findest du das ganze nicht auch seltsam?“, fragte Jonathan seine Gattin. „Als ob die Hölle irgendetwas planen würde, das wir nicht einmal ansatzweise ahnen.“ Toraria nickte. Doch selbst sie hatte nicht einmal eine Ahnung, was im Hintergrund laufen könnte. Und so zerquetschte sie das Hirn eines in Mantel und Schal verhüllten Dämons, der den Status eines Leutnants hatte... Szenenwechsel Sie beobachtete den Dämon, der seit wenigen Stunden, um Joshua herumkreiste aber keine Anzeichen gab, dass er dem Messias etwas antun wolle. Er flüsterte die ganze Zeit etwas vor sich, jedoch konnten weder Toraira noch Jonathan ansatzweise, was der große Mann mit den unheimlichen Augen, die er unter einer Melone versteckte vor sich hinmurmelte. Joshua saß mit seiner Freundin, Rachel Simmons, ein übergewichtiges, aber selbstbewusstes Mädchen, auf den Stufen vor einem Brunnen und rauchte Kette. Dass ein Dämon um ihn herumkreiste, bemerkte er nicht. Jonathan und Toraria zögerten den Kerl anzugreifen. Er war ein General. Dämonen dieses Status waren zwar zu besiegen, aber bei weitem schwerer, als ein Leutnant, der in der Hierarchie unter einem General stand. Ein Schuss in den Kopf oder der Versuch, sein Hirn zum Platzen zu bringen, würde nichts bringen, sie konnten ihn nur im offenen Kampf besiegen. Kaum vierundzwanzig Stunden vor der Verkündung, bevor der Messias auf die Seite des Himmels wechseln würde, wollten die beiden nichts riskieren. Überhaupt, was konnte in den vierundzwanzig Stunden noch so schreckliches passieren, das sie nicht aufhalten konnten, wodurch er sterben würde? Der Alb grinste breit und konnte seine Freude nicht verbergen, da sie den Auftrag so gut wie erfüllt hatten. Für eine Minute ließ er sogar die Tarnung fallen, was ihm erst auffiel, als Tori ihm einen Klaps auf den Hinterkopf verpasste. „Sorry“, murmelte er, „aber ich freu mich so.“ Toraria verdrehte die Augen, doch das konnte Jonathans Laune nicht trüben. Weniger als vierundzwanzig Stunden. Dann war der Messias auf ihrer Seite. Und was konnte in vierundzwanzig Stunden so gravierendes passieren, was den Spieß wenden würde, das die beiden nicht verhindern konnten?... Szenenwechsel Jonathan schrie laut auf, als er auf die Leiche Joshua Nazaras sah: „DAS KANN NICHT SEIN! ER IST NICHT TOT! ER IST NICHT TOT!“ Toraria zeigte es zwar nicht, doch sie war ähnlich verstört. Schließlich war es ihre Idee gewesen, nicht zu reagieren, als der Messias in seiner Wohnung angefangen hatte zu kreischen, nur weil sie keine paranormalen Aktivitäten gespürt hatte. Doch in ihrem Kopf war noch alles so klar, dass sie verstand, was eben passiert war. Joshua Nazara hatte sich aus dem Fenster gestürzt. Irgendetwas hatte ihn in den Suizid getrieben, hatte ihn so schockiert und belastet, dass er keinen anderen Ausweg als Selbstmord gefunden hatte. Und noch dazu kam das miserable Gefühl, dass dies nur geschehen war, weil die Hölle ihre Finger im Spiel hatte. Jonathans Bedenken, dass sich die Eingriffe der Hölle auf schwache Dämonen reduzierten, hätten ernst genommen werden müssen. In all der Angst vor Angriffen, hatten sie vergessen, dass man noch auf anderen Weg sterben konnte, als durch Gewalt... der Freitod. Und nun lag Joshua Nazara auf dem Boden, sein Kopf abartig verdreht. Er atmete nicht mehr. Er war tot. „Ich kann ihn heilen!“, schrie Jonathan. „Ich kann ihn heilen!“ Er kniete sich neben den toten Körper, kramte in seiner Hosentasche und zog ein Fläschchen hervor. Mit zitternden Händen träufelte er den Inhalt auf Joshuas Hals. Doch wenn jemand tot war, wirkten Heiltränke nicht mehr. Jonathan begann zu heulen. Torarias Hände zitterten gar. Sie hatten versagt. Auf kompletter Linie. Der Messias war in die Hände Satans gefallen. Die letzte Schlacht war demnach so gut wie geschlagen. Und die Hölle würde gewinnen. Der Himmel würde versklavt werden, und die Erde, ihre Heimat, vernichtet. Der Anblick seiner eigenen Leiche war so ein Schock für Joshua, dass er es schaffte sich von der Kugel los zu reißen. Vor seinen Augen wurde kurz alles hell. Und dann befand er sich wieder im Wohnzimmer des Hauses der Lethermans. Jonathan starrte ihn mit von Schmerzen verzogenem Gesicht an, Joshuas Hand hielt er noch immer umklammert. Ehe er fragen konnte, was in den Alb gefahren war, berührte seine Haut wieder die Glaskugel. Erneut tauchte er in die Erinnerungen des Albs und der Magierin ein: Indem sie mit der Fingerkuppe ihres Zeigefingers an den Bücherrücken vorbeifuhr, behielt Toraria den Überblick, als sie in der Bibliothek der APEHA eine Dokumentation der Taten des Herakles suchte. Der Halbmagier und Sohn des legendären Zeus’ war kürzlich gestorben, und da er ein Halbmagier war, durfte er in der Hölle weiterleben. Kürzlich hatten sie und Jonathan ihn verhört, wobei der Verdacht gekommen war, dass der Dämon, der sich gerade in seiner Söldnerprüfung befand, schon zu Lebzeiten Dreck am Stecken gehabt hatte. Dies könnte den Verdacht erhärten, dass er auch nun gegen die Regeln verstieß. Sie nahm ein Buch heraus, das über zweihundert Jahre alt war. Die Seiten waren so fragil, dass, wenn man nicht vorsichtig war, sie unter den Fingern zu Staub zerfallen konnten. „Hey, Tori! Sieh dir das mal an!“, rief Jonathan laut, der sich ein Regal weiter weg befand. Sie stellte das Buch zurück, indem es keine brauchbaren Informationen gab. Sie hoffte, dass ihr Gatte belastendes Material gefunden hatte. Nur zu gerne würde sie diesem brutalen Lüstling die Gedärme aus dem Bauch reißen. Doch er musste sie enttäuschen. „Sieh mal. Ein Buch über den Messias“, sagte er und hielt ihr eine Seite unter die Nase, wo ein Kapitel mit dem Titel „Die zwölf Apostel“ zu finden war. Toraria verdrehte die Augen. Drei Jahre war es nun her, seit Joshua Nazara verstorben war, und noch immer belastete das Versagen ihren Gatten. Vielleicht, weil sie nie dafür bestraft worden waren und Jonathan krampfhaft versuchte die Fehler wieder gut zu machen. „Anscheinend hat Gabriel X. Paradiso einiges verschwiegen. In diesem Kapitel steht nämlich, dass der Messias 12 Apostel aus dieser Sphäre hat. Diese sind Gefolgsleute, die als seine Anhänger, Beschützer, aber auch Sendeboten dienen, um Söldner aus dieser Sphäre zu sich zu gewinnen. Gott erwählt sie persönlich und man erkennt sie an einer kreuzförmigen Narbe, die unkontrolliert anfängt zu bluten oder zu leuchten, solange der Messias den Apostel nicht akzeptiert hat. die Erwählten sind nur erkennbar, wenn er auf der Erde wandelt. Für welche Seite er sich entschieden hat, ist egal.“ Pause. „Das heißt, wenn der Messias seine Söldnerprüfung ablegen wird, werden sich einige Apostel wohl oder übel zeigen.“ Toraria verdrehte die Augen. Woher wollte Jonathan wissen, dass der Messias dieselbe Ausbildung genießt, wie jeder andere Mensch? Doch sie sagte natürlich nichts. „Weißt du, wenn Gott die richtigen Apostel wählt, kann der Messias vielleicht seine Entscheidung widerrufen und auf die Seite des Himmels wenden. Dann würden wir überleben!“ Dieser Träumer, dachte Toraria. „Ich frage mich nur, warum der Chef das verschwiegen hat. So allwissend wie er ist, kann er von diesem wichtigen Detail nichts gewusst haben.“ Er las zwei Zeilen. „Ich meine, das ändert die Dinge. WIR, unsere Sphäre, bekommt dadurch mehr Einfluss auf den letzten Krieg, als man überall hört.“ Er dachte kurz nach und zuckte mit den Achseln. „Vielleicht deswegen.“ Dann kam ihm eine Idee. Grinsend schaute er seine Frau an. „Weißt du was, wenn wir einen Apostel finden, werden wir ihn so beeinflussen, dass Joshua Nazara für uns kämpfen wird. Versprochen?“ Sie reagierte nicht. „Oh, da steht aber noch ein grausiges Detail. Wenn der Messias seinen Apostel binnen drei Monaten nicht akzeptiert, kommt es zum langsamen, schmerzhaften Tod und Gott erwählt einen Ersatz. Grausam...“ Toraria nahm ihm daraufhin das Buch weg und steckte es ins Bücherregal zurück. Dieser Träumer... Szenenwechsel Sie trat ins Badezimmer und sah ihren Ehemann gekrümmt vor Spiel schreien. Er hielt sich die Brust. Im Spiegelbild erkannte sie, dass seine Hand blutgetränkt war und auf dem Boden sich eine Lache der roten Flüssigkeit bildete. Er weinte und ging immer mehr in die Knie, bis er schließlich in der Fötushaltung auf dem Boden lag. „Erinnerst du dich noch an das Buch... an den Scheiß, den Gabriel uns verschwiegen hat?“ Toraria nickte und kniete sich neben ihren Ehemann. Sanft strich sie ihm über die Stirn. Er drehte sich auf den Rücken, nahm die Hand von der Wunde, aus der Blut wie aus einem Springbrunnen spritze. Und aus seinen Augen rannten Tränen. „Ich hab die Narbe. Ich hab die beschissene Narbe!“ Es wäre gelogen, wenn sich kein Anzeichen der Sorge in Torarias Gesicht gespiegelt hätte. Sie nahm seine Hand, und Jonathan drückte diese so fest er konnte. „Er kam auf die Erde... und Gott erwählte einen Apostel. Und dieses arme Schwein bin ich!“ Er hievte sich auf ihren Schoß und vergrub sein Gesicht, in ihrem schwarzen Seidenachthemd. „Ich bin von der Gegenseite! Ich kämpfe gegen die Vernichtung der Erde! Und... denkst du unter diesen Umständen wird er mich als Apostel akzeptieren?!“ Obwohl die Berührung seiner Frau Trost spendete, wich seine Verzweiflung nicht. „Ich will nicht sterben! Ich will nicht sterben!“ „Ruhig“, sagte Toraria tatsächlich, doch durch Schmerz und Angst realisierte Jonathan die Worte seiner Gattin kaum. „Sag mir... was soll ich jetzt machen?... und wenn Gabriel davon erfährt, bringt er den Messias um... ist das auch mein Todesurteil?“ Wohl oder übel würde es so sein, doch Toraria schwieg. „Sag mir, was soll ich machen. Bitte...“ Er stieß einen Schmerzensschrei aus, als die Blutung stoppte, doch die Narbe wie eine Glasscheibe anfing zu glühen. „Sag mir, was ich machen soll?“ Toraria holte tief Luft. Sie konnte zwar nicht glauben, was sie sagte, doch sie musste es tun, um ihren Ehemann Hoffnung zu spenden: „Den Messias manipulieren...“ Joshua riss sich wieder los und diesmal war er klug genug sich gegen Jonathans erneuten Versuch Kontakt zwischen ihm und der Kugel herzustellen, wehren. Er brauchte nicht viel Kraft um zu verhindern, dass der Alb seine Hand bewegen konnte. Er schien geschwächt. Mit wenig Mühe konnte er sich dem Griff entreißen. „Ich hab genug gesehen!“, fauchte er, als Jonathan ihn wieder ergreifen wollte. Der Alb fasste sich an die Narbe, aus der ein Blutschwall quoll. Der Boden wurde befleckt. „Nein! Hast du nicht!“, keuchte er. „Wenn du nicht weiter siehst, wirst du uns hassen.“ Joshua schüttelte den Kopf. Wie konnte er ihn hassen? Natürlich, der Alb handelte weniger aus dem Bemühen, die Erde retten zu wollen oder aus Mitleid für den Messias, sondern eher aus dem Bestreben seine Schmerzen zu stillen, doch er verstand das Motiv. Er hatte gesehen, wie schwer das körperliche Leid war, das Jonathan erlitt, sah es nun am gequälten Gesichtsausdruck. Schmerzen, für die er verantwortlich war. Ungefähr zwei Monate war er auf der Erde und ungefähr vor zwei Monaten hatte Gott Jonathan als Apostel erwählt. Wenn er sich nicht beeile ihn als Apostel anzuerkennen, starb der Alb. Wer war schon vernünftig, wenn man dem eigenen Tod ins Auge blickte? Und die beiden waren Beauftragte gewesen, die ihn auf die Seite hätten ziehen sollen, die für das Überleben der Erdbewohner garantiert hätte. Und sie hatten versagt. Er fragte sich, wie viel Schuldgewissen das Ehepaar trieb. Inzwischen stand Toraria hinter ihm. Er brauchte sich nicht umwenden um sie zu bemerken, ihre unverkennbare Aura kitzelte seinen Nacken. Jonathan brach unter Schmerzen zusammen. „Ich hab wirklich genug gesehen. Und weiß jetzt mal wieder Details, die mich irritieren. Die Apostelgeschichte war mit unbekannt.“ Genauso, wie Dämonen ihn während seiner latenten Phase umbringen konnten, doch er schwieg über die Ungereimtheiten zu Lilltihs Version. Er schaute auf den stöhnenden Jonathan und die Blutlache auf den Boden. Der Genius blickte schüchtern aus der Urne heraus. Joshua fügte hinzu: „Ich verstehe dich... Unter solchen Umständen wäre ich auch egoistisch.“ Beleidigt sah der Alb zu ihm hoch. „Ich bin nicht egoistisch!“ Joshua hatte Lust mit dem Mann zu streiten, der sich auf die Beine quälte, was ihm nicht gelang, denn er verlor anscheinend sein ganzes Blut. Er konnte jetzt nicht mit ihm reden. Tief Luft holend, sagte er: „Darf ich gehen?“ Jonathan wollte protestierte: „Musst du überlegen... ob du mich akzeptierst?“ Auch Toraria warf dem Messias vorwurfsvolle Blicke zu. „Einerseits. Andererseits, habe ich keine Ahnung, wie ich überhaupt die Akzeptanz zeigen soll.“ Pause. „Vielleicht, weiß es euer Chef.“ Der Alb riss entsetzt die Augen auf. Joshua hatte ja nicht gesehen, wie oft er Gabriel X. Paradiso hintergangen hatte, und es bestand die Gefahr, dass er den Messias einfach töten würde, ohne auf die Folgen zu achten. Sich an den Boss zu wenden, war das letzte, was er vorhatte. Joshua seufzte: „Dann weiß ich nicht weiter. Es tut mir Leid.“ Seine Entschuldigung war ernst gemeint. „Ich werde nun wirklich gehen.“ Jonathan holte tief Luft: „Da draußen bist du in Gefahr. Die Dämonen... sie wissen...“ „Ich werde schon überleben.“ Joshua schaute auf die Standuhr. Eine Stunde hatte die Betrachtung der Vergangenheit in Anspruch genommen. Draußen hellte es. Ob Angela sich schon Sorgen machte? „Und meine Schwester.“ Toraria wollte seine Schulter packen, doch Jonathan schüttelte den Kopf und hielt sie so ab. „Okay.“ Er hatte sich endlich auf die Beine gequält und lehnte sich gegen die Mauer. Die Narbe blutete noch immer. „Denk nach. Aber genau. Stelle fest, ob du wirklich auf der richtigen Seite stehst, denn jetzt kannst du dich noch umentscheiden.“ Jonathan erzwang sich ein Lachen. „Aber lass dir nicht zu lange Zeit, in weniger als einem Monat bin ich hinüber.“ Und er wollte nicht sterben. Wegen dieser Tatsache würde Joshua wohl eher den Apostel akzeptieren, als seiner Bestimmung wegen. Auf dem Heimweg gab es keine Zwischenfälle. Joshua dachte nur stets an die Narbe, die er doch zu verantworten hatte, was die beiden über ihn wussten und was die Hölle verschwiegen hatte... und dass Toraria und Jonathan ein Jahr bis zu seinem Tod über ihn gewacht hatten. Und versagt hatten. Sie hatten seinen Selbstmord nicht verhindern können. In der Erinnerungskugel hatte es Anspeilungen gegen, dass die Hölle verantwortlich für seinen Selbstmord war. Er fragte sich, in wie weit man die Dämonen beschuldigen konnte. Wie gerne hätte er eine geraucht. Doch leider hatte er seine Zigaretten verloren. Über Sachen, die sie nicht verstand, dachte Beenie Plainacher nicht nach. Es hatte in ihren Augen keinen Sinn sich den Kopf zu zerbrechen, wenn man nicht alle Details über eine Sache kannte und deswegen zu falschen Schlüssen kam, und glaubte, man hätte es verstanden, obwohl dies gar nicht der Fall war. Dies galt vor allem für das Verhalten anderer Personen. Aber dennoch konnte sie es nicht unterlassen die ganze Zeit an den Messias zu denken. Wie hatte sie überlebt? Viel hätte nicht gefehlt und die unheimliche Magierin hätte ihrem Leben ein Ende gesetzt. Doch dann schwafelte dieser Alb irgendetwas von wegen, dass Joshua ihr das Leben gerettet hätte, weswegen man sie nun nicht töten durfte. Und so hatte man sie schwer verwundet zurückgelassen. Unter Qualen hatte sie sich selbst geheilt. Jetzt saß sie in einem verlassenen Loft, außerhalb der Stadt, in der Joshua residierte, und betrachtete die vielen Wunden, die geblieben waren. Überall an ihrem ganzen Körper waren Blessuren zu finden, ihre Gelenke taten weh, ihr Bauch schmerzte und ihr Puls pochte schneller. Hin und wieder bekam sie Schweißausbrüche. Um sich von diesem Angriff zu erholen, brauchte sie mindestens eine Woche. Taurus schlief. Auch er war ebenfalls angeschlagen. Am liebsten täte sie weinen. Doch der Grund war nicht das Versagen und die Niederlage gegen den Alb und die Magierin. Immerzu musste sie an den Messias denken. Der ihr das Leben gerettet hatte. Der Alb wollte ihr einen Pfeil in die Stirn schießen. Und in diesem Moment hatte sich Joshua vor sie gestürzt und das tödliche Geschoss abgefangen, dabei selbst sein Leben riskierend. Er hatte sie gerettet. Daran gab es keinen Zweifel. Aber ihr war nicht klar, warum? Hatte sie ihn nicht wie den letzten Dreck behandelt, ihn genötigt, ihn gepeinigt? Warum riskierte er dann sein eigenes Leben für sie? Sie verstand es nicht, wollte keinen Gedanken mehr darüber verschwenden, doch das schlechte Gewissen verbat ihr zu vergessen. Schlechtes Gewissen... verdammt, hatte sie vor Jahrhunderten diese schlechte Angewohnheit nicht abgelegt? Plainacher betete, dass sie nicht auch unter dem Einfluss der Magierin stand. Sie zog ihre Beine dicht an ihren Körper und umschlang sie fest mit den Armen. Den Kopf auf die Knie gelegt, versuchte sie ihre Tränen zu unterdrücken. Warum sollte die Magierin sie überhaupt beeinflussen, wenn sie vorhatte, sie zu erlegen? Es wären nur sinnlose Mühen gewesen. Schuld war der Messias! Wegen ihm war sie nun verwirrt, unsicher, irgendwie sogar ängstlich. Wie sollte sie nun reagieren, wenn sie Joshua wieder begegnen würde? Ihre Aufgabe würde sie ab nun niemals erfüllen können. Niemals wieder konnte sie den Mann, der ihr das Leben gerettet hatte, nötigen, foltern, quälen...das verbat ihr schlechtes Gewissen. Plainacher drehte den Kopf ein wenig zur Seite. Nach einer langsamen Handbewegung entflammte ein rechteckiges Feld auf dem Boden, wo nach dem Verschwinden eine beige Mappe zurückblieb. Mit großen, roten Lettern stand auf diesem: „Über den Messias.“ Die Unterlagen hatte Erik der Rote ihr überlassen, damit sie mehrere Vorteile hatte. Dadurch kannte sie seine Macken, seine Schwächen, seine Biographie. Genutzt hatte sie diese Informationen kaum, doch nun würde sie mit ihnen vielleicht verstehen, warum er ihr das Leben gerettet hatte. Das erste Blatt dokumentierte seine Affinität Menschen zu retten. Die kannte sie schon. Als Begründung hatte er selbst ihr Mitleid mit den Menschen gegeben, die paranormalen Lebewesen prinzipiell unterlegen sind und deswegen eine helfende Hand brauchten. Hier wurde noch Plainachers Vermutung unterstützt, dass er mehr Sympathie zur Sphäre der Lebenden verspürte und es einfach nicht vermochte sich als Dämon zu sehen und die Hölle als neue Heimat zu akzeptieren. Der Bericht war von Lillith persönlich verfasst worden. Doch er half ihr kein bisschen weiter, denn die Informationen widersprachen sich mit der Tatsache, dass er einer verhassten DÄMONIN das Leben gerettet hatte. Sie blätterte weiter. Es folgte das Ausbildungsprotokoll von Erik dem Roten, das einzige Dokument, das sie studiert hatte. Nun uninteressant. Weiterblättern. Als nächstens kam ein Bericht über seine frühere Identität auf der Erde. Geburtsdatum, Größe, Verwandte, Ausbildung, Talente... sieh einer an, sein Vater war, als Joshua vier Jahre gewesen alt war, vor Augen seines Sohnes erschossen worden. Ein Detail, das Plainacher nie erfahren hatte. Es erklärte einiges. Vieles im Zusammenhang mit dem Drang Menschen zu retten. Sie war keine gute Psychologin, aber ihr Talent reichte um zu ahnen, dass er so das Versagen seinen Vater zu beschützen wieder gut zu machen versuchte. Doch erklärte das auch, warum er für sie, die DÄMONIN, sein Leben riskiert hatte? Nein. Das letzte Dokument, das in der Mappe zu finden war, war eine Auflistung der Eingriffe in Joshuas Leben, ehe er verstorben war. Eine langweilige Statistik: 04.03. 2012: Chrysalis sollte mit dem Messias sprechen – wurde von dem Magier Zeus ermordet. 03.03. 2008: Schaffen es Angela Nazara in einen Alkoholrausch zu versetzen. 05.01. 2008: Messias hielt den Leutnant Freyr für einen alkoholisierten Bettler und rannte vor ihm weg. 24.12. 2006: Der Messias nimmt Süßigkeiten eines Weihnachtsmannes nicht an, der in Wahrheit Erik der Rote ist. Und so weiter und sofort. Trotz der langweiligen Materie las Plainacher bis zum letzten Eintrag: 23.03.2001: Ermordung von Joseph Nazara durch den Fürsten Samael. Sie kaute auf ihren Lippen. Sie wusste, dass der Messias von den Dämonen stark beeinflusst worden war, regelrecht zu seiner Entscheidung Suizid gezwungen wurde, doch hätte sie nie geahnt, dass die Hölle schlussendlich für das Ereignis verantwortlich war, das den Messias für immer prägen sollte und ihn gar dazu trieb sich nicht der Hölle eingliedern zu wollen. Ob er es wusste, dass seine neue Heimat für diese Erinnerung verantwortlich war? Wahrscheinlich nicht. Aber vielleicht ahnte er es... In diesem Moment kam ein Gefühl in Plainacher hoch, das wohl oder übel Mitleid darstellen sollte. Sie zwang jemanden, der in seinem Leben schon genug gelitten hatte, der schon genug genötigt worden war, und nun für die Personen kämpfen musste, die für all das Leid verantwortlich waren, etwas zu tun, was seinen Prinzipien widersprach. Nur weil sie dafür noch mehr Prestige bekam, als sie eh schon hatte. Sie hasste sich selbst. „Armer Scheißer“, murmelte sie und schlug die Mappe zu. Diese verbrannte daraufhin zu Asche. Schlechtes Gewissen... Mitleid... und nun auch Selbstekel... lauter Emotionen, von denen sie geglaubt hatte, sie seit Jahren verbannt zu haben. Was war nur los mit ihr? Sie zog Rotz in ihre Nase hoch und vergrub ihr Gesicht wieder in ihren Knien. „Wirst du langsam weich?“ Plainacher zuckte zusammen. Eben hatte sie es sich halbwegs in diesem kalten Loft gemütlich gemacht, da störte sie plötzlich eine Stimme, die sie nicht anders als Menschen verabscheute. „Was willst du?“, fauchte sie und stand holprig auf. Alle ihre Knochen schmerzten gleichzeitig. Als sie endlich auf den Beinen war lehnte sie sich erschöpft gegen die Mauer. Aus dem Schatten heraus trat eine kleine, fette Gestalt, bei der man sich wunderte, dass sie keine Schleimspur hinterließ. Er grinste auf so zuckersüße Art, dass es wieder eklig war. Seine Haut leuchtete im Licht des Morgenrots orange, obwohl sie eigentlich gelb war. Seine Augen waren verdeckt vom Schatten einer Kapuzenkutte. In der fetten Hand hielt er einen Lutscher. Jedes Mal, wenn Plainacher ihn sah, wollte sie am liebsten kotzen. „Beziehungsweise, was hast du überhaupt in dieser verfickten Sphäre zu suchen?“ Der Fettwanst kicherte: „Leutnantsprüfung.“ Plainacher riss die Augen auf. Jetzt schon? Der Mann war zwar ein Halbmagier, was hieß, dass es ihm möglich war die Militärlaufbahn in viel kürzerer Zeit hinter sich zu lassen, als ein Mensch, doch dass er binnen neun Jahren bis zum Leutnant aufstieg, erschien ihr viel zu kurz. Sie hatte fünfhundert Jahre gebraucht, bis sie endlich die Leutnantsprüfung ablegen durfte, und nie hatte sie sich als untalentierter erwiesen, als der Fettwanst, im Gegenteil. Und nur wegen seiner paranormalen Herkunft genoss er einen unfairen Vorteil. „Neidisch?“, grinste er. Sie schnaufte. „Auf deine Figur? Immer, Fettarsch...“ Es ertönte wieder das eklige Kichern. „Jetzt stehst du noch über mir, aber bald darfst du dir nicht mehr so freche Worte leisten.“ Seine Stimme war piepsig, hoch und überaus freundlich, klang aber stets überheblich. „Wart’s ab, Eunuch.“ Doch peinlicherweise rutschte sie die Wand entlang, bis sie wieder saß. „Verfickte Scheiße“, murmelte sie. Der Fettwanst kicherte. „Eigentlich dürftest du dir nicht einmal jetzt irgendwelche Beleidigungen leisten. Wäre ich nämlich an der Stelle von Erik dem Roten, hätte ich dich schon längst degradiert.“ „WAS!“, kreischte sie und zuckte zusammen, da ihr Brustkorb schmerzte. Sie hustete. „Die ganze Hölle weiß von deiner katastrophalen Niederlage.“ Plainacher wurde hochrot. „Du bist das Gespött der ganzen Armee.“ Sie sackte zusammen. „Du hast Glück, dass die Magierin dich nicht beeinflusst hat, sonst...“ Er brach den Stiel seines Lutschers ab und steckte die Süßigkeit in seinen Mund und schluckte sie als Ganzes herunter. Plainacher ballte die Fäuste. Wäre sie nicht in so einer schlechten Verfassung, hätte sie dem Kerl den Hals umgedreht. „Verp...“ Der Fettwanst unterbrach sie: „Streng deine süße Stimme nicht an, Beenilein. Du willst wissen, wie es nun weitergeht?“ Nein, wollte sie nicht, aber mit diesem Arsch konnte man nicht reden. „Das weiß keiner. Erik der Rote nimmt sich eine Denkpause. Erwarte ihn in wenigen Tagen.“ Wahrlich, wenn sie nicht angeschlagen gewesen wäre, hätte sie dem Fettarsch hier und jetzt den Kopf abgerissen, egal, was für Folgen damit verbunden waren. Und Taurus schlief noch immer, der hatte auch keinen Anstand ihr zu helfen. Sklaven waren auch nicht mehr das, was sie einmal waren. „Verpiss dich, Wichser!“, knurrte sie. Obwohl der Kerl wusste, dass er bei ihrem Zustand keine Angst vor ihr zu haben brauchte, gehorchte er ihr. „Nun, das war eh alles, was ich dir mitteilen wollte. Erhol dich gut, meine Schöne und genieße dein Leben, solange du nicht in die Sklaverei geschickt wirst.“ Er trat in den Schatten zurück. So leise er gekommen war, so verschwand er auch. Plainacher wartete noch einige Minuten, bis sie sich wieder ihrer Gefühlslage hingab. Selbstekel...schlechtes Gewissen... Mitleid... und nun drohte auch noch eine Konfrontation mit Erik dem Roten. Und das alles war die Schuld des Messias. Doch böse konnte sie ihm nicht sein. Joshua gähnte. Seit seiner Ankunft in der Wohnung seiner Schwester hatte er keine Stunde geschlafen. Zu viele Gedanken hielten ihn wach. Da Angela seine späte Heimkehr nicht bemerkt hatte, hatte er gelogen, dass er schon um zwei Uhr in der Früh gekommen sei, und nicht erst um halb sechs. Und er hatte behauptet, er hätte geschlafen. Deswegen war ihr das Wort Rücksicht fremd. Kurzerhand verdonnerte sie ihn dazu sie beim Lebensmitteleinkauf zu begleiten. Eigentlich sollte er im Bett liegen, schlafen und sich schließlich Gedanken machen, in wie weit er den Lethermans glauben wollte, ob er einen Apostel wollte, ob die Hölle ihn bestrafen würde und der ganze andere Mist. Doch stattdessen lehnte er an einem Süßigkeitenregal, rollte einen Einkaufswagen hin und her und versuchte nicht auf der Stelle einzuschlafen. So müde hatte er sich schon lange nicht mehr Gefühl. Wahrscheinlich zehrte die Konfrontation mit Plainacher an ihm. „...mir Hundefutter?“, waren die einzigen Worte, die er von Angelas Satz mitbekommen hatte. Er schrak auf. „Hä? Was?“ Angela knurrte: „Schon gut, ich hol’s schon. Aber dafür trägst du das Zeug.“ Sie ließ sich von Clover zum Hundefutter führen. Dabei verfluchte sie seine nächtlichen Streifzüge mit rüden Worten. Egal, solange sie nicht nachfragte, was er nachts tat. Joshua fiel wieder gegen das Regal, dabei fielen ein paar Schokoriegel heraus. Seine Anstrengungen die Augen offen zu halten, brachten nun nichts mehr. Die Lider klappten nach unten. Für fünf Minuten schlief er, merkte nicht, dass Angela ihn rief, dass er gefälligst herkommen soll, um ihr zu helfen die zwei riesigen Säcke Hundfutter zu tragen. Geweckt wurde von einem dunklen Augenpaar. Joshua hob die Lider. Sein Blickfeld war lange verschwommen. „Was wollen Sie?“, fragte er den großen, muskulösen Afroamerikaner mit der Glatze. Dann sah er, dass es Liam Warrick war. Ungewollt stieß Joshua einen Schrei aus und rammte den Einkaufwagen gegen seine Beine. Das nutzte jedoch nichts, Warrick grinste nur. In Schlips und Kragen gekleidet wirkte er noch überheblicher. „Du wirst doch nicht etwa jetzt...“ „Für wie dumm hältst du mich?“, unterbrach er ihn. „Ich bin unbewaffnet. Hier sind Massen an Menschen. Ich habe keine Lust auf einen Skandal, oder gar ins Gefängnis zu gehen.“ Joshua lächelte daraufhin ebenfalls. Er hob die Hand. „Du hältst mich wirklich für einen Trottel, oder, Abschaum? Ich geh doch nicht ohne Schutzschild außer Haus.“ Joshua umklammerte den Griff des Einkaufswagens. Er kaute auf den Lippen herum. Warum ging der Nichtsnutz nicht einfach, wenn er ihn nicht angreifen wollte. Reden wollte anscheinend auch nicht. Er starrte ihn nur an und schwieg. Also beschloss Joshua die Chance zu einer Unterhaltung zu nutzen: „Was hast du erlebt, dass du Dämonen hasst?“ Liam Warrick war durchaus überrascht: „Ich hasse nur Dämonen, ich hasse jeden paranormalen Abschaum.“ „Warum?“ „Weil’s mir Spaß macht.“ Joshua verdrehte die Augen. Warum sah er nicht ein, dass er aus diesem Trottel niemals eine vernünftige Antwort bekommen würde? Er hasste diese Engstirnigkeit. Der Typ war sogar arrogant genug seine Bitte zu ignorieren, aufzuhören ihn so penetrant anzustarren. Es verstrichen Minuten. Bis schließlich Clovers Bellen die Stille zerriss. Sehr gut, er bellte Liam Warrick an. Anscheinend war Joshua nicht die einzige Person, die der Köter zu hassen schien. Kurz darauf schlug Angela mit dem Kopf gegen Liams Rücken. „Sind sie blind!“, knurrte er. Joshua zuckte zusammen, als der Trottel seine Schwester anfauchte. Zum Glück konnte sie sich selbst wehren. „Arschloch!“, beschimpfte sie ihn. „Ja!“ Liam Warrick war dies sichtlich peinlich. „Verzeihung. Ich konnte ja nicht ahnen...“ „Ach sparen Sie sich das und denken mal lieber nach, bevor Sie reden, Sie arroganter Snob.“ Joshua war regelrecht geschockt über Angelas Selbstbewusstsein. So hatte er sie nie erlebt. Auch während ihrem Alkoholismus war sie nie so harsch gewesen. Anscheinend stärkte Blindheit den Charakter. Und wieso wusste sie, dass Warrick ein Snob war? Konnte ihre Haut Stoffe unterscheiden? Warrick sah sie entgeistert an, als sie ihn bei Seite schob und eine Handvoll Schokoriegel in den Einkaufswagen war. „Wissen Sie nicht wer ich bin?“ „Ein Mulitmilliadär, der er sein halbes Vermögen der Unterschicht spendet, diese aber wie Dreck behandelt. Sie sind Liam Warrick, hab ich Recht. Natürlich hab ich Recht, ich erkenne jede Stimme wieder! Was machen sie überhaupt hier, wieso lassen Sie sich nicht ihr Essen liefern?“ Liam Warrick hielt eine Cola-Flasche hoch, schämte sich ihre Blindheit vergessen zu haben, doch konnte nichts sagen, da Angela wieder das Wort ergriff. An Joshua gewandt fragte sie: „Hat er dich belästigt?“ Ihn ereilte ein Déja-Vu: Als er zehn gewesen war, hatte Angela ihn vor Schlägern beschützt, indem sie diese auf dieselbe Art zusammengefaucht, wie sie es gerade mit Warrick machte. Einerseits war es peinlich, andererseits hätte er sie am liebsten umarmt. Doch er riss sch zusammen und verneinte. Inzwischen hatte Clover aufgehört mit Bellen und knurrte nur mehr. „Glück gehabt.“ Sie packte den Einkaufswagen am anderen Ende und zerrte ihn weg. Sowohl Joshua als auch Liam Warrick schauten der Blinden perplex nach, wie sie selbstsicher durch die Regalreihen schritt. „Meine Schwester“, sagte Joshua schließlich. Liam verstand nicht. „Es gab keine paranormalen Frequenzen.“ Er musste sich zusammenreißen, damit er diese Zicke nicht beschimpfte. Joshua lächelte. Wusste er etwa nicht, dass die meisten Dämonen nicht als solche geboren wurden? Was folgende Aussage wohl bewirken würde: „Ich bin mit achtzehn gestorben und kam in die Hölle. Dann erst wurde ich zum Dämon.“ Er deutete auf Angela, die gerade eine Milchpackung suchte. „Sie ist meine letzte Verwandte...“ Liam Warrick war tatsächlich sprachlos. Sein Gesichtsausdruck zeugte davon, dass sein Weltbild gerade erschüttert worden war. Joshua klopfte ihm auf die Schulter. „Man siehst sich, und hoffentlich bis du dann nicht so feige und trägst einen Schutzschild.“ Pause. „Und bedenke, wenn du stirbst wirst du auch zum Dämon.“ Und das würde hoffentlich bald sein. Hoffentlich konnte Joshua diesen arroganten Schnösel endlich das Licht ausblasen und seine Prüfung bestehen. Kapitel 10: Das Schweinchen --------------------------- „Ich will nicht“, murmelte Joshua, als Angela ihm die Hundeleine in die Hand drückte. Sie hörte ihn trotz leiser Stimme. „Du musst aber.“ „Der Köter mag mich nicht.“ Er schaute auf den Blindenlabrador, der die Zähne fletschte. Wahrscheinlich dachte er dasselbe, wie Joshua. Wenn Angela den Unmut beider sähe, würde sie ihr Vorhaben zurückziehen. „Einmal“, stöhnte sie, „einmal, wenn mein Hausarzt vorbeischaut, kannst du doch so lieb sein und mit Clover gassigehen. Entgegen deiner Versprechen, tust du eh nichts im Haushalt, sondern treibst dich Nach um Nacht...“ „Ja, ja, ich beuge mich deinem Willen.“ Aber auch nur, weil er keine Vorwürfe bezüglich seiner nächtlichen Streifzüge hören wollte. „Erklär mir aber, warum kommt dein Arzt zu dir nach Hause?“ „Wieso lernst du nie für die Uni, lieber Anthony?“ Wunder Punkt, Joshua murmelte eine Verabschiedung. Angela verschwand in der Küche, schwafelte irgendetwas von Geheimnissen, und Joshua öffnete die Tür. Direkt vor seinen Füßen steckte ein Schwert. Joshua kniete sich nieder. Erst glaubte er es nicht, doch dann erkannte er Discordia. Ungläubig nahm er den Griff in die Hand und zog es aus dem Boden. Irgendwie hatte er das Schwert in seiner Hand vermisst. Kaum fünf Schritte entfernt lag auch seine Pistole. Sie war jedoch umwickelt von einem Zettel, auf dem FÜR DEN ABSCHAUM gekrakelt worden war. Clover drängte zu gehen, doch Joshua entfaltete die Nachricht ohne auf den Köter Rücksicht zu nehmen. Obwohl die Schrift äußerst elegant war, war sie dennoch schwer zu entziffern – Joshua konnte tatsächlich nur den letzten Satz lesen: ICH WILL MICH NICHT ALS UNFAIR BESCHMIPFEN LASSEN. Auch wenn die Unterschrift noch einen Grad undeutlicher war, wusste Joshua genau, wer ihm die Botschaft hinterlassen hatte – Liam Warrick. Er lächelte. Anscheinend hatten die paar Informationen, die er Liam im Supermarkt zugesteckt hatte, etwas in ihm bewirkt. Er bezweifelte zwar nicht, dass der Trottel weiterhin versuchen würde ihn umzubringen, aber das Bewusstsein Unsicherheit in ihm erregt zu haben, schenkte ihm Befriedigung. Auf einmal war auch nicht mehr so schlimm diesen dämlichen Köter an der Leine zu halten. Als Dämon machte ihn der helllichte Tag schon genügend aggressiv, ein störrischer Labrador verbesserte seine Laune nicht ansatzweise. - Clover setzte sich auf den Straßenrand und weigerte sich weiterzugehen. Zerren an der Leine und inniges Flehen, endlich den Hintern zu bewegen, half nichts. Vielleicht drohen. „Wenn du nicht auf der Stelle deinen Arsch in die Höhe hebst, lass ich dich hier alleine“, knurrte Joshua. Clover blickte ihn überheblich an. „Ich find den Weg auch alleine heim“, sagten seine Augen. Joshua zog noch einmal an der Leine, fester, doch auch diesmal blieb der Köter regungslos, als wäre er eine Bleistatue. „Wieso tust du mir das an?!“, knurrte Joshua. „Warum hasst du mich?“ Als Antwort fletschte der Labrador die Zähne. Joshua vergrub das Gesicht in den Händen. Der Köter hatte ihn geknackt. Und jetzt nahm er sich vor den Köter zu knacken. Er beschloss einfach nicht mehr auf seine Sturheit zu reagieren, und so lange zu warten, bis das Vieh bereit war, aufzubrechen. Zum Glück befand sich keine drei Meter, so lange wie die Hundeleine war, entfernt ein Kiosk. Er kaufte sich eine Zeitung. Und eine Packung Zigaretten, da sich nur mehr drei in der alten Schachtel befanden. Rauchend und lesend saß er inmitten eines runden Platzes, wo Autos nicht fahren durften, rings um sie herum befanden sich Gebäude mit belebten Einkaufsgeschäften. Einige Passanten hielten ihn für einen Bettler, weswegen er relativ schnell das Geld, das er eben ausgeben hatte, wieder einnahm. In der Politik gab es seit Tagen nichts Neues. Der Präsident der USA befand sich gerade in Scheidung wegen Ehebruch und es gab Diskussionen um seine Absetzung, ein neues Alkoholgesetz wurde erlassen, das kaum Änderungen brachte. In Burma wurde Aung San Suu Kyi freigelassen. Alles Themen, die man schon vor einer Woche lesen konnte. Der Chronikteil berichtete von einem jugendlichen Amokläufer in London, der vier Mitschüler erschossen hatte. Ein brutaler Raubüberfall war in New Orleans vorgefallen. Und ein weiteres Mädchen war dem pädophilen Triebtäter zum Opfer gefallen. Sie war schon die vierzehnte in drei Wochen. Stets waren die Opfer bis zur Unkenntlichkeit entstellt und wiesen Spuren grausamster Folter auf. Das FBI stand vor einem Rätsel, denn außer den Leichen hatte der Täter nie etwas von sich hinterlassen. Der Artikel wies darauf hin, dass schon die Angst bestand, dass dieser Perverse niemals verhaftet werden konnte. Dazu kamen noch Ratschläge, in nächster Zeit Kinder zwischen fünf und fünfzehn nicht mehr alleine auf die Straße zu lassen. Joshua begutachtete das Foto des Mädchens, unter dem ihr Name, Anita Perres, und ihr Alter, 8 Jahre, standen. Ihr Haar war schwarz und ihre Haut relativ dunkel, weswegen ihre blauen, zum Typ unpassenden Augen sehr heraus stachen, obwohl sie von einer Brille getrübt wurden. Etwas zu dick für ihr Alter geraten, lächelte sie auf dem Foto und präsentierte eine Zahnlücke. Das auffälligste an ihr waren jedoch ihre spitzen Ohren. Eine Albin war vergewaltigt und ermordet worden? Auch wenn sie wahrscheinlich noch wie ein Kind benahm, musste das Mädchen über hundert Jahre alt sein und genug Erfahrung haben, Menschen abzuwehren. Es konnte sich nur um einen paranormalen Triebtäter handeln. Ein weiteres Indiz dafür war, dass es am Tatort keinen Hinweis auf den Täter gab. Nicht einmal Spermaspuren. Er schaute noch einmal auf das Foto. Der blaue Hintergrund war verschwunden. Stattdessen erschien plötzlich das Gesicht eines fetten Mannes, der lüstern auf den Hinterkopf des Mädchens, das weiterhin regungslos war, starrte. Seine fette Hand umschlang ihren Hals. Begierig streckte er die Zunge heraus, züngelte. Er öffnete den Mund. „Dreh dich mal um“, sprach er mit einer ekligen Eunuchenstimme. Erschrocken schlug Joshua die Zeitung zu. Zum ersten Mal hatte er über ein Medium paranormales gesehen. Ob das ein Hilfeschrei war? Soll der Hellman weitere Mädchen vor dem grausamen Tod retten? Clover bellte. Gab der Köter langsam nach? Es schien nicht so. Joshua kraulte ihm den Kopf. Der Hund mochte dies zwar sichtlich nicht, doch er ließ es zu. Joshuas Magen knurre. Wie es der Zufall wollte, ertönte plötzlich die Melodie eines Eiswagens hinter ihm. Eis war zwar keine gute Nahrung, aber besser als gar nichts. Geld hatte er ja wieder. Um den Eiswagen hatten sich schon einige Kinder versammelt. Bis er dran sein würde, würde es wahrscheinlich kein Eis mehr geben. Aber dann wurde sein Appetit sowieso verdorben. Der Eisverkäufer war nicht der harmlose, dickliche, kleine Mann, den die Kinder sahen, sondern ein sabbernde Fettwanst, in eine schwarzen Kutte gehüllt, mit gelber Haut und grünen Augen, der sich die Lippen leckte. Derselbe Kerl, den er eben in der Zeitung gesehen hatte. Joshua wurde schlecht. Er sprang auf, von dem Plan übermannt, diesen Perversen den Hals umzudrehen. Den Hund musste er in dieser Zeit eben alleine lassen. Er wollte Clover an einem Hydranten festbinden, doch noch immer verhielt sich der Köter wie eine Bleistatue. Er rührte sich nicht von der Stelle. Panisch zerrte Joshua an der Leine, während der Hund zynisch hechelte. „Bist du ein beschissener Dämon, oder was!“, kreischte er, worauf einige Eltern mit angewiderten Blicken reagierten. „Warum machst du mir das Leben so schwer?“ Und in diesem Moment konnte er seine Wut nicht mehr zügeln – Elektrizität floss durch die Leine und verpassten Clover eine tödliche Dosis Volt. Joshua erschrak. Hatte er den Hund gerade umgebracht? Nein – zwar war Clover geschwächt, doch mit bebeugten Kopf saß er noch immer lebendig auf dem Boden. Keine Verletzungen hatte er abgekommen. Joshua verbannte jeden Impuls darüber nachzudenken, zerrte an der Leine und riss den Hund auf die Beine. Clover winselte. Als Joshua ihn an dem Hydranten festband, wollte er ihn ins Bein beißen. Im letzten Moment sprang Joshua so weit weg wie möglich. Von der Leine zurückgehalten, kam er ihm nicht näher als einen halben Meter. Er schnappte mit dem Maul, bellte und knurrte. In seinen Augen funkelte Hass. Erschrocken blickte Joshua auf den Hund. Was war mit diesem Vieh nur los? „Ich glaube, ich habe kein Bananeneis mehr... ich weiß aber, wie noch eins bekommen kannst.“ Joshua zuckte zusammen. Die Eunuchenstimme in seinem Oh, war so laut, dass sein Trommelfell schmerzte. Er schlug sich die Hände auf die Ohren, doch das Lachen des Perversen hallte noch in derselben Lautstärke. Und der Köter bellte noch immer. Warum mussten immer so viele Probleme auf einmal auf ihn zukommen? In Momenten wie diesen, fühlte er sich wie einem schlechten Film. Oder Roman. „Wirklich?“, fragte eine Mädchenstimme. Der Schall erdrückte ihn fast. Irgendwer schrie den Hellman um Hilfe – anders konnte er sich diese Wahrnehmung nicht erklären. Um den Köter konnte er sich später kümmern. Den Fettwanst zu stoppen, war nun die wichtigere Aufgabe. Zu dem Perversen hoch sah ein blondes Mädchen, das in einem Mantel mit Blumenmuster gewickelt war. Dünne Beine verrieten, dass sie untergewichtig sein musste. Genau die Art Mädchen, die diese Kreatur bevorzugte. Verdammt, woher hatte er diese Informationen? Als der Fettsack den Eiswagen wenden wollte, packte Joshua ihn. Mit aller Kraft hielt er ihn fest und er konnte nicht mehr von der Stelle bewegt werden. „Hey, was machen Sie da?“, fragte das Mädchen. Joshua schätzte sie auf sieben Jahre. Als er jedoch ihre Ohren sah, wusste er, dass sie über hundert Jahre alt sein musste. Eine Albin wieder... und wieso sah sie dann nicht, dass der Eisverkäufer ein Dämon war? Oder besser, warum macht es sie nicht stutzig? „Genau, was machen Sie da?“, fragte der Fettsack mit ähnlich kindlicher Stimmlage. „Ich will ein Erdbeereis“, sagte Joshua, halbwegs gelassen, doch der Dämon erkannte seine Aggressionen. „Tu mir leid, zuerst ist das Mädchen dran.“ Die Albin nickte. „Ich hab aber nur mehr eine Minute Zeit, bis... mein Arbeitgeber kommt. Ich will jetzt ein Erdbeereis.“ Joshua warf die erbettelten Münzen auf die Ablageplatte. Der Fette fegte sie mit dem Handballen herunter und sie landeten auf dem Asphalt. „Kinder haben trotzdem Vorrang.“ Joshua knurrte. Er schaute zu dem besserwisserisch wirkenden Mädchen, die schmollte. „Hast du überhaupt eine Ahnung, was für ein Monster der Kerl ist?“ „Nur weil er ein Dämon ist, ist er noch lange kein Monster, sagt meine Mami.“ Joshua schlug sich auf die Stirn. War das die weltoffene Beziehung der Alben, oder was? „Und sie sind ja auch ein Dämon, oder irre ich mich da?“ Er ignorierte die treffsichere Aussage des Mädchens und richtete sich wieder an den Fettsack. „ICH weiß aber ganz genau, was du bist, Arschloch. Und ich werde nicht zulassen...“ Er konnte nicht weiter sprechen, denn in dem Moment spürte er einen Druck um sein Bein, dass er seine Kraft verlor und den Eiswagen los ließ. „Und ich weiß, wer du bist, Messias.“ Auch wenn er nicht wusste, was er sagen sollte, machte Joshua den Mund auf. Wie erwartet kam kein Laut aus seinem Mund. Ein schleimiges Seil wickelte sich um seinen Mund. Und schließlich wurden auch seine Hände umwickelt. Ein Blick genügte und er wusste, es handelte sich um Ranken einer Pflanze. Joshua versuchte das Grünzeug in Flammen aufgehen zu lassen, doch das Feuer zeigte keine Wirkung. „Wooow“, staunte das Mädchen. Der Fettsack grinste. „Komm mit, Kleines. Der böse Dämon ist außer Gefecht gesetzt.“ „Willst du ihn nicht töten?“ „Freundliche Dämonen töten nicht.“ Das zauberte ein zufriedenes Lächeln auf das Gesicht des Mädchens. Der Fettsack fuhr mit dem Eiswagen davon und die kindliche Albin folgte ihm. Und Joshua kämpfte weiter mit den Ranken, die ihn festnagelten. Fast bewegungslos nutzte er verschiedene Naturerscheinungen um diese Kreatur zu schwächen. Zu einem Effekt führte keine, er büßte nur selbst viel seiner eigenen Kraft ein. Clover bellte ihn noch immer an. Als er schon fürchtete, er würde nie wieder frei kommen, lösten sich die Fessel um seine Armgelenke, Fußknöcheln und um seinen Mund. Er ging in die Knie, keuchte, beobachtete wie die Ranken sich in Risse im Beton zurückzogen. „Scheiße“, fluchte er, versuchte die Schmerzen an seinen Gelenken zu verdrängen. Den widerlichen Geschmack, den die Ranke in seinem Mund verursacht hatte, konnte er allerdings nicht ignorieren. Aber glaubte dieser perverse Fettsack wirklich, dass er aufgeben würde, weil er mit dem Mädchen verschwunden war? Er würde die beiden finden und er würde das schlimmste verhindern. Allein schon deswegen, weil gerade eine Vision durch seinen Kopf schoss, wie der Perverse dem Mädchen die Klamotten vom Leib riss. Joshua wurde übel. Er sprang auf die Beine, rannte in die Richtung, in die die beiden verschwunden waren. Doch leider war dies eine Straße ins nirgendwo. „Entschuldigen Sie!“, sprach er einen älteren Herren an, leider mit so aggressiver Stimme, dass dieser erschrak. „Haben sie einen Eisverkäufer und ein blondes Mädchen gesehen?“ Der Greis schüttelte den Kopf. Joshua eilte zum nächsten Passanten. Wieder keine Auskunft. Lange nicht. Er verplemperte gut fünf Minuten mit Nachfragen. Doch schlussendlich konnte ihm ein ebenfalls paranormales Wesen weiterhelfen. „Im Gebäude links von Ihnen“, sagte die rothaarige Magierin und zeigte auf einen Neubau. „Keller.“ Pause, sie musterte Joshua. „Sie wollen ihn aufhalten? Wenn Sie sich trauen gegen einen Feldwebel kämpfen? Sie sind nicht mal Söldner.“ „Irgendwer muss doch was tun!“, fauchte er zurück. Ohne weitere Worte ließ er die hochnäsige Frau zurück. Ein schmales Kellerfenster war offen, Joshua bezweifelte, dass er durchpasste. Er trat mehrmals gegen die Mauer, bis sie brach und ein Loch entstand, durch das er in den Keller eindringen konnte. Seine Bewegungen waren hektisch – viel Zeit war vergangen seit die beiden verschwunden waren. Hoffentlich konnte er noch das schlimmste verhindern. In der Tat. Joshua sprang durch die Luke und landete direkt vor dem Fettsack, der seine Kutte abgelegt hatte und nun mittelalterliche Henkerskleidung aus Latex trug. All seine Schwimmreifen waren zu sehen, der Perverse hatte die Körperform einer Kugel. Er peitschte das Mädchen aus, das nur mehr einen knappen Kleidungsfetzen an hatte. Ohne zu Überlegen zog er seine Eris und Joshua schoss dem Perversling in den Kopf. Der Fettsack gab einen weinerlichen Laut von sich und seine Glieder zuckten. Doch tot war er nicht. Amüsiert drehte er sich schließlich zu ihm um. „Da bist du ja wieder. War Dakota zu dumm und hat dich losgelassen, bevor ich fertig war? Tja, kommt davon, wenn man als Sklaven eine Kreatur ohne Hirn hält.“ Er fasste sich an den Hinterkopf, fummelte an der Einschusswunde und zog schließlich die Kugel heraus. „Ich hab ‚ne Metallplatte am Hinterkopf aus demselben Material. Da kannst du nicht durchschießen.“ Mal wieder eine Kugel verschwendet. Joshua richtete wieder die Pistole auf den Perversen. „Ich hab keine Skrupel dich zu erschießen...“ „Das habe ich gemerkt.“ „Lass das Mädchen frei!“ Der Fettsack kicherte wieder. „Du weißt schon, dass du große Probleme bekommen kannst, wenn du einen Dämon während seiner Prüfungszeit ermordest.“ Pause. „Überhaupt – auch wenn du nur einen Sklaven ermordest, kann’s Probleme geben.“ „Ich bin...“ „...der Messias, schon klar, aber auch bei dir gibt es eine Toleranzgrenze.“ Der Fettsack redete, als würde er Joshuas Lehrer sein. Er fühlte sich verarscht. Er mochte zwar ein Anfänger sein, doch den Eindruck, den er von der Hölle gewonnen hatte, war ausreichend genug um die Spielregeln zu durchschauen. Toleranzgrenze... er wusste, dass es so eine führ ihn gab. Sonst hätte er nicht permanent Angst vor Lillith und Erik dem Roten, da die Gegenspieler von seiner Klassifizierung als Messias erfahren hatten. Konnte er nun noch viel mehr verlieren, wenn er verbotenerweise einen anderen Prüfling erschoss? Wohl nicht... Joshua drückte wieder ab – da war’s nur mehr zwei Patronen – und traf den Fettwanst an der Stirn. Sein Kopf kippte nach hinten und aus der kleinen Einschusswunde spritze rosafarbenes Blut. Doch auch dieser Treffer hatte den widerlichen Typen nicht erlegt. Grinsend richtete er seinen Kopf in gerade Haltung. „Dummkopf...“, kicherte er. „Riskierst dein Leben für diese kleine Fotze da hinten?“ Er zeigte auf die Albin, die zitternd das Geschehen beobachtete. „Eine kleine Hilfestellung für dich. Fast mein ganzer Körper ist mit diesem Metall geschützt, mit deinen Waffen wirst du mich nicht aufhalten können.“ Scheiße, dachte Joshua, aber nicht, da seine Chancen nun minimiert waren, sondern weil er erneut eine wertvolle Patrone verschossen hatte. Er steckte Eris zurück in den Holster, wollte auf den Fettsack zurennen, doch nach dem ersten Schritt umwickelte etwas sein Fußgelenk und zog es in die Höhe. Joshua fiel wie ein Holzbrett auf den Boden. Seine Stirn erlitt eine Platzwunde. Der Fettwanst kicherte. Die Ranke hob ihn in die Höhe. Verkehrt baumelte Joshua in der Luft und er sah nun die Blüte des Gewächses, das ihn schon zum zweiten Mal behinderte. Wobei „Blüte“ ein zu schönes Wort ist, um diesen Auswuchs zu beschreiben – Die Tepalblätter waren violett und tausende Augen mit roter Iris zierten sie, die in verschiedene Richtungen glupschten – einige glotzen Joshua an. Die Enden der Blätter liefen in Menschenhänden aus, die lange Krallen anstelle von Nägeln hatten. Im Zentrum, wo sich üblicherweise der Blütenstaub befand, sah man eine er ovalförmige Öffnung, umrahmt von kleinen, spitzen Zähnen. Die Öffnung führte in einen schwarzen Tunnel, wobei nicht ersichtlich war, wohin dieser führte. Joshua wurde übel, als er das ekelhafte Gebilde vor sich sah. Immerhin warnte der Perverse seinen Sklaven ihn nicht zu fressen, doch auch, sein Gesicht zu ihm zu drehen. Der Fettsack näherte sich wieder der kindlich Albin. Joshua sah es nicht, doch er hörte, wie er seinen Hosenstall öffnete. Wieder kicherte seine Eunuchenstimme. „Hab keine Angst. Das Schweinchen wird ganz lieb zu dir sein.“ „LASS DAS, DU ARSCHLOCH!“, schrie Joshua, so laut, dass seine Kehle schmerzte. Er spürte den Groll und die Abscheu, die er für dieses Ekel erregende Subjekt empfand, immer größer werden. Doch mehr brachte er nicht aus seinem Mund – wieder umschlang eine Ranke seinen Mund, damit er nicht mehr schreien konnte. Er wollte kotzen... Parallel dazu, verklebte „das Schweinchen“ die Lippen des Mädchens mit seinem Speichel. Joshuas Körper wurde zwar auseinander gezogen, er hatte das Gefühl kurz vorm Zerreißen zu stehen, doch seine Hände waren noch frei. Er versuchte sein Schwert zu ergreifen. Eine Ranke erwischte zwar seine rechte Hand, doch mit der linken ergriff er Discordia. Ehe auch dieser Armen gefesselt werden konnte, zerschnitt Joshua den Auswuchs. Die Pflanze gab ein Geräusch von sich, das wohl einen Schrei darstellen sollte. Er nutzte den Moment der Verwirrung und durchtrennte die Ranken, die ihn fesselten. Er fiel zu Boden – irgendwie schaffte er es sicher auf den Füßen zu landen. Der Fettsack unterbrach seine Handlung, zur Erleichterung der kleinen Albin. Er drehte sich zu seinem Sklaven und dem Messias um. Seine Augen füllten sich mit Tränen, als er sah, wie der Messias einen Auswuchs nach der anderen von seiner Dakota trennte. „Was machst du da?“ Nach was sieht es aus, dachte Joshua und wehrte mit Discordia erneut eine Ranke ab. Feuer nutzte gegen dieses Ding leider nichts. „Hör auf, oder du bist bald waffenlos!“, schrie „das Schweinchen“ Dakota zu. Und kaum hatte er gesprochen, ruhte die Kreatur. Joshua ließ das Schwert noch erhoben, vielleicht überlegte es sich die Pflanze noch einmal anders. „Okay, ich hab dich doch unterschätzt“, murmelte der Fettsack, was Joshua tatsächlich mit ein wenig Stolz füllte. „Aber Dakota ist keine Sklavin, die zum Kämpfen gedacht ist – nein – sie ist meine rechte Hand.“ Der Fettsack holte tief Luft. Sein Dicker Bauch blähte sich noch mehr auf. „ICH bin ein anderer Kaliber!“ Er holte noch einmal Luft, und noch einmal und noch einmal. Aus seinen Nasenlöchern wiederum entwich kein Hauch. Dementsprechend blähte sich sein Körper zu einer noch größeren Kugel auf, als er sie schon war. Um den Anblick noch mehr zu verunstalten, zerriss auch noch sein Latexanzug. Joshua wich einen Schritt zurück. Schützend streckte er die Klinge zum dem Dämon. Seine nächste Handlung überdachte er nicht. Mit der Klinge voraus warf er das Schwert auf den Fettsack zu, in der Hoffnung, dass er durchbohrt werde und die Luft aus ihm wiche. Von wegen – das Schwert prallte an ihm ab. „Du bist nicht lernfähig!“ Du Worte des Perversen waren abgehakt und angestrengt. Der Fettsack hatte seine volle Größe erreicht. Und nun zuckten um ihn herum kleine Blitze. Nicht tödlich, aber stark genug um den Messias zu betäuben. Er rollte auf Joshua zu – sein breiter Körper nahm so viel Platz ein, dass es keine Möglichkeit gab, unbeschadet auszuweichen. „Verfickte Scheiße...“, murmelte er. In letzter Sekunde sprang er hoch, wollte über den Fettsack springen, doch er hatte bei Weitem zu wenig Kraft in den Sprung gelegt. Seine Füße landeten Mitten in dem Gesicht des Fettsacks. Ein grässliches Prickeln durchfuhr seinen Körper und lähmte seine Extremitäten. Die Qual schien Minuten zu dauern. Dann wurde er irgendwie aus dem Stromfeld gerissen. Wie eine Stoffpuppe viel Joshua neben das gefesselte, halbnackte Albenmädchen. Er rang nach Luft. Doch auch der Fettsack war nicht unbeschadet davongekommen. Der Tritt ins Gesicht verwirrte ihn. Und dann bemerkte er auch noch, dass seine Nase blutete. Mit dem Fuß tippte die Albin gegen Joshua, der vergebens versuchte sich aufzusetzen. Er konnte kaum den Kopf heben. „Das Schweinchen“ formte seine Lippen zu einem O und blies die Luft aus seinen Körper, die ihn zur Kugel geformt hatte, und schrumpfte langsam auf seine ursprüngliche Form zurück – die sch aber kaum von seiner aufgeblähten Version unterschied. Er wischte das Blut von seiner Nase: „Pisser...“, knurrte er. „Aber du bist zäher, als ich dir zugetraut hätte. Ein Versager, hältst aber viel aus. Immerhin bist du noch wach. Selbst Erik den Roten hat der Stromschlag niedergestreckt.“ Der Fettsack packte sein Haar und schmiss ihn über seinen Rücken. Joshua schrie kurz. Wie eine Schildkröte lag er auf dem Rücken und kam nicht mehr hoch. Doch ein Hoffnungsschimmer schenkte ihm Mut – neben ihm lag Discordia. „Das Schweinchen“ bedrängte wieder die Albin. Unter ihrem Knebel hörte man ihre weigernden Schreie. Der Messias sammelte die letzte Kraft, die ihm verblieben war. Er streckte sich nach dem Schwert, doch das Schwert rückte zu ihm. War er das? Wahrscheinlich. Erik der Rote hatte einmal angedeutet, dass er einem zu psychokinetischen Kräften fähig sein würde. Und schließlich befand sich Discordia in seiner Hand. Sein Schwert half ihm auf die Beine zu kommen. Seine Beine zitterten. Langsam humpelte er auf den Perversen zu. Dieser war so beschäftigt, dass er den Messias gar nicht bemerkte. Erst, als sich eine Klinge durch seinen Mund bohrte. Joshua stand neben ihm. Er hatte den Moment genutzt, als der Fettsack den Mund aufgerissen hatte und in die einzige Stelle gestochen, wo Joshua vermutete, dass er hier nicht von dem Metall geschützt war. Seine Vermutung hatte sich zum Glück bewahrheitet. Kaum Kraft mehr im Körper, keuchte er: „Ich warne dich... ich werde nicht zulassen, dass du dieses Mädchen vergewaltigst. Die einzige Chance mich aufzuhalten ist mich zu töten.“ Der Fettsack wollte etwas sagen, doch das einzige, was aus seinem Mund kam, war ein undeutliches Röcheln. „Und was denkst du – wenn der MESSIAS für die Ermordung eines Prüflings bestraft wird, was passiert mit einen PRÜFLING, der den Messias ermordet!“ Er konnte nicht fassen, dass er noch fähig war seine Stimme zu erheben. „HAST DU MICH VERSTANDEN!?“ „Das Schweinchen“ nickte und bohrte die Klinge nur weiter in seine Kehle. Doch kurze Zeit später zog Joshua das Schwert aus seinem Mund. Der Fettsack rollte sich zur Seite und würgte Blut. Joshua stellte sich vor das verängstige Mädchen, um seinen Standpunkt zu verdeutlichen. Mit angewiderten Augen drehte sich der Perverse zu dem Messias. „Du hast nicht gewonnen. Ich nehme deine Drohung nur ernst.“ Lief das nicht auf dasselbe hinaus? „Aber das hat ein Nachspiel.“ „Das Schweinchen“, auf dessen Rücken sein wahrer Name tattooviert war, William Morley, was Joshua entging, humpelte weg. Er verschwand im Schatten. Joshua grinste. Nun wollte er schlafen. Doch ihm war bewusst, dass nun nicht der Zeitpunkt dafür war. Er musste das Mädchen erst in Sicherheit bringen, der Fettsack konnte zurückkommen, wenn er fest schlief. Vorsichtig löste er die Fesseln des Mädchens. Klamotten konnte er ihr leider keine geben. Mit großen, verweinten Augen musterte sie ihn. „Es tut mir Leid...“ „Was denn?“ Eigentlich wollte er nicht reden. Er wollte sich nur freuen, dass das Albenmädchen alleine stehen konnte, und er sie nicht tragen musste. „Dass ich dich für den bösen Dämon gehalten habe.“ Joshua lächelte. „Schon gut. Merk dir eher, dass alle Dämonen böse sind.“ „Du bist lieb.“ Deswegen trug Joshua sie auch, als sie sich weigerte zu gehen. „Sag mal, hast du gehört, wie mich das Schwein genannt hat?“ „Messias. Ist das dein Name?“ Schön wär’s. „Äh, ein Spitzname, den ich hasse, vergiss ihn und sag allen, dass ich... Anthony heißen.“ „Okay.“ „Findest du alleine heim?“ Er fühlte sich wie ein Arschloch, als er das Mädchen an den Platz absetzte, wo sie entführt worden war. Doch sie sagte, sie findet alleine heim. Außerdem habe sie ihre Eltern schon telepathisch gerufen. Das war gut. Aber dennoch konnte er das Mädchen nicht alleine mit diesen zerrissenen Klamotten in der Kälte alleine lassen. Er schenkte ihr seinen Kapuzenpulli. Als Joshua eine Bank zum ausruhen suchte, fand er den an einen Hydranten geketteten Köter Clover, der vor sich hinwinselte. Da er endlich von hier weg wollte, blickte er Joshua mit flehenden Augen an, auch wenn man ihm ansah, dass so sein Stolz verletzt wurde. Joshua setzte sich neben ihn, kraulte ihn den Kopf hob den Mittelfinger. „Vergiss es!“, fauchte er. „Ich ruh mich jetzt aus.“ Und sofort nickte er ein. Und schon wieder wiederholte sich das, was in der APEHA als „Unterredung mit dem Chef“ bezeichnet wurde, aber Jonathan Letherman fand, dass „Gigantomachie“ eine bessere Bezeichnung war. Sobald er sich gesetzt hatte und die Blicke von Gabriel X. Paradiso und dem Alben sich trafen, erlitt Jonathan einen Schweißausbruch. Dass er nicht alleine war, da Toraira neben ihm saß, half über seine Nervosität nicht hinweg. „Ich weiß, was ihr treibt“, knurrte Gabriel. Jonathan seufzte und probiert es zuerst mit Lügen: „Okay, wir geben es zu, Wir ermorden regelmäßig Klagegeister.“ „Es ist seit einem Monat kein Klagegeist mehr umgebracht worden.“ „Wir haben auch seit einem Monat keinen mehr erlegt.“ Gabriel schlug mit der Faust auf den Tisch. „Verarscht mich nicht!“, schrie er und Jonathan zuckte zusammen. „Ich weiß alles!“ „Was denn?“ Wahrscheinlich war es unklug den Boss zu reizen, aber Jonathan war so verzweifelt, dass er keinen anderen Ausweg fand. Seine nächste Aussage war so laut, wie erwartet: „DASS IHR BEIDE KONTAKT ZUM MESSIAS HABT!“ Diese Worte erschreckten selbst Toraria – ihre Augen wurden groß und ihre Mundwinkel zogen sich nach unten. Sie fragte sich, wie das möglich gewesen war – schließlich hatte sie doch Schutzschilder errichtet, um die Wahrheit vor Gabriel zu verheimlichen. Nun mäßigte der Chef seine Worte, doch er war noch immer gereizt: „Ich weiß auch, dass ihr von der Apostel-Legende wisst.“ Jonathan schluckte. „Und ich weiß, wer der erste Apostel ist.“ In dem Moment zerriss Jonathans Leinenhemd und auf seiner nackten Brust glühte die Kreuznarbe, die von verkrustetem Blut umziert war. Zum Glück verursachte sie keine unerträglichen Schmerzen, sondern juckte nur leicht. Dafür stieg Panik in ihm auf. Jonathan sprang vom Sessel auf, schlug beide Fäuste auf Gabriels Schreibtisch und schrie: „Sie dürfen ihn nicht umbringen!“ Er hatte Tränen in den Augen. „Wenn Joshua stirbt, dann sterbe ich auch! Und ich...“ Er war unfähig die Worte „Ich will nicht sterben“ vor seinem Chef auszusprechen. Es war ihm peinlich. Doch Gabriel konnte sich denken, was dem Alb auf der Zunge lag. Er sprach es nur nicht an. „Setzen.“ Eine Druckwelle ließ Jonathan wieder auf den Sessel fallen. Gabriel knallte eine hohle Glaskugel auf den Tisch, in der sich eine rosa Wolke aufbauschte, und kleine Blitze abgab. Jonathan schluckte und Torarias Iriden wurden klein. „Euer Genus bricht unter dem kleinsten Druck zusammen.“ Er kicherte finster. „Eine kleine Drohung hat gereicht und er hat mir gegeben, was ich brauchte, um die Wahrheit zu erfahren.“ Jonathan zitterte. Schweißperlen rannen über sein Gesicht. Er sah zu seiner Gattin und, doch auch sie war perplex. Zufrieden lehnte sich Gabriel zurück. „Da du ihn Joshua genannt hast, scheinst du ja ein innigeres Verhältnis zu ihm zu haben... „Nun, ja... also dicke Freunde sind wir nicht, aber ich glaube, er mag uns mittlerweile recht gern und...“ „Schweig!“ Jonathan zuckte zusammen. Er war etwas beleidigt, dass Gabriel X. Paradiso ihm das Wort abschnitt, obwohl er freiwillig Informationen herausgab. Das Lachen des Chefs wurde erneut dunkel. „Ich wusste, dass ihr etwas Großes vor mir verheimlicht, doch dass es von solchen Ausmaßen ist, hätte ich nie vermutet.“ Jonathan zog eine Rotzglocke in seine Nase zurück. Der Chef durfte nicht merken, dass er den Tränen nah war. „Wir dachte, wir können...“ „Ihr könntet ihn auf eure Seite ziehen, das ist mir klar, ich habe alles in der Glaskugel gesehen.“ Er seufzte. „Wie konntet ihr er nur wagen mir derartige Vorhaben zu schweigen.“ Weil es ein Privatunternehmen, und keine berufliche Angelegenheit ist, wollte Jonathan sagen, doch er schwieg, da es nur die Halbwahrheit war, als nickte er beschämt. Mit Gabriels nächster Aussage hätte er aber nicht gerechnet: „Doch so sehr ich eure Untreue missbillige, so gut gefällt mir euer Plan.“ Diese Worte klangen wie Musik in den Ohren des Ehepaars– allerdings tönte in Torarias Ohren Zwölftonmusik. Auf Jonathans Gesicht bildete sich ein hysterisch zuckendes Grinsen. „Sie bestrafen uns nicht?“ Gabriel lehnte sich in seinen gut gepolsterten Schreibtischsessel zurück. „Im Gegenteil. Ihr dürft weiteragieren, als hätte ich nie etwas von erfahren.“ Skeptisch sah Toraria zu ihrem Gatten, doch der grinste noch immer wie ein Honigkuchenpferd. Allerdings fiel ihr auch der etwas verzweifelte Unterton in seinen Augen auf. „Und die Sache hat keinen Haken?“, fragte er, nachdem er den Satz fünfmal angefangen hatte, aber immer nach dem zweiten Wort abgebrochen hatte. „Nein.“ „Und Sie sind ehrlich?“ „Wieso Ihr plötzlicher Zweifel, Jonny.“ Jonathan mochte es nicht, dass der Chef einen Kosenamen für ihn verwendete, den sonst nur Leute gebrauchten, die ihn zum ersten Mal sahen. „Sollte die Freude über meine gnädige Entscheidung nicht jede andere Gefühlsregung verdrängen.“ Der Alb biss sich auf die Lippen, die noch immer ein Grinsen bildeten. Er musste genau überlegen, was er sagte. Doch das einzige, was ihm einfiel, war: „Ich kenne Sie leider nur als Arschloch.“ Und das verkniff er sich besser. Nachdem fünf Minuten keiner der drei einen Ton von sich gab, stand Gabriel X. Paradiso auf und streckte die Hand zur Verabschiedung hin. „Meine Dame, mein Herr, es war eine sehr aufschlussreiche Unterredung. Die nächste setzen wir an, wenn der Messias seine Entscheidung getroffen hat. Bis dahin, viel Erfolg, vor allem für Sie, Jonathan. Ich hoffe, Sie können überhaupt zur nächsten Unterredung erscheinen.“ Jonathans Grinsen verschwand. „War nur ein Scherz.“ Ein sehr makaberer und beleidigender Scherz. Das Ehepaar stand synchron auf. Jonathan nahm die Hand des Chefs, Toraria erwiderte die Abschiedsgeste allerdings nicht. Gabriel X. Paradiso schaute sie perplex an, als sie sich einfach umdrehte, als er ihr die Hand unter die Nase hielt. Zum Abschied erhielt er dafür eine starke Gesichtsregung – die er gar nicht wollte. Jonathan was schon aus der Tür, als ihre Augen rosa glühten, wobei die Iriden und die Puppillen in dem Licht verschwanden. Eine ihre rechte Mundhälfte bildete ein Lächeln – man hätte nicht glauben können, dass ihre Mundwinkel so weit nach oben zucken konnten. Der Anblick dauerte nur eine Sekunde und für alle anderen Wesen – normal, abnormal oder auch paranormal – unbemerkbar, doch der mächtige Gabriel X. Paradiso hätte diese Demonstration auch gesehen, wenn sie nur eine Makrosekunde gedauert hätte. Er setzte sich. Sie warf ihm oft diesen Blick zu und er fragte sich, was das sollte... eine Drohung? Noch nie waren negative Folgen eingetreten. Eine Warnung? Sie sah ihn auch so an, wenn eine Situation risikoarm bis harmlos war. Einschüchterung? Als er das erste Mal dieses rosa Glühen gesehen hatte, war er leicht erschrocken, doch noch nie so, dass er Angst vor dieser Frau hatte. Und jagte ihm dieses Phänomen überhaupt keinen Schrecken mehr ein. Eine Demonstration ihrer Macht? Niemals... das benötigte keine genauerer Erklärung. Wahrscheinlich schlicht und einfaches Zurschaustellen. Wie sehr er diese Frau manchmal hasste. Und vom Alb wollte er gar nicht anfangen. Als ob er während der Schweigeminute nicht bemerkt hätte, was ihm auf der Zunge lag. Der Versuch seine Todesangst zu verbergen. Und die Zweifel... berechtigt, aber einen Haken gab es an der Sache nicht. „Trottel...“, fauchte er. Vierzehn Stunden waren vergangen, seit sie in dem Loft eine grausige Unterhaltung mit William Morley, das Schweinchen genannt, geführt hatte. Ihr Arm schmerzte noch immer, aber der Rest ihres Körpers war schon geheilt – die seelische Unruhe herrschte aber noch immer in ihrem Kopf. Plainacher saß alleine auf dem Balkon eines Apartments einer Familie, die sie erst nicht bemerkt hatte, doch nun lagen ihre zerfetzten Leichen in dem Zimmer, das zur Terrasse führte. Wie nannten die Menschen diesen Raum? Esszimmer? Egal. Jetzt sah das Zimmer aus wie ein Folterkeller, blutbesundelt und stinkend nach Exkrementen, sodass man es nicht mehr als solches erkennen kann, als was auch immer es bezeichnet wurde. Sie lehnte sich über das Gitter und betrachtete die Passanten. In ihrer Hand befand sich ein Ziegelstein, dem sie irgendwem auf den Kopf fallen lassen wollte. Doch irgendwie konnte sie kein passendes Opfer auswählen. Es hatte fast keinen Spaß gemacht diese vierköpfige Familie erschrecken, zu foltern und schließlich den Gar aus zu machen, ihnen die Organe zu entreißen und ihre Leichen zu schänden. Wieso sollte es dann Spaß machen, einen Menschen aus der Ferne unspektakulär zu erlegen? Sie seufzte. Geile Fantasien, wie die Hölle diese mindere Spezies endlich bis zum letzten Mann eliminierte, konnten sie nicht aufheitern. Und auch konnte sich an solche Wahnvorstellungen nicht konzentrieren – immer wieder kamen Erinnerungen an den Kampf mit der Magierin und dem Alb hoch. Und Joshua. Plainacher warf den Ziegelstein in die Höhe, fing ihn und spürte dann einen kalten Schauer über ihren Rücken laufen. „Werden Sie das heute noch aufräumen?“, fragte Erik der Rote. Plainacher drehte sich erschrocken um. Fast hätte sie den Ziegelstein gegen ihren Chef geworfen. Seinem Körper hätte dies zwar nicht geschadet, aber seiner Autorität. Sie schüttelte schließlich den Kopf. „Wozu?“ „Damit nicht irgendwann ein zweiter Liam Warrick in dieser Sphäre wandelt.“ „Ich bin nicht so dämlich, wie dieser Flachwichser, der damals Warfick Senior abgeschlachtet hat.“ Erik der Rote kicherte: „Ja, das hat Lewis Burke auch gesagt, und dann erkennt der Sohn an der Leiche, dass das Mord an seinem Vater das Werk paranormaler Kreaturen war.“ Er lehnte sich über das Gitter und schaute auf die untergehende Sonne. „Ein guter Mann war Lewis Burke, aber viel zu sehr von sich eingenommen. Schließlich wurde er unvorsichtig. Nun arbeitet er im Bergwerk.“ Er sah Plainacher an. Nur ein Auge verdeckte der Schatten seines Hutes und sie kniff sofort ihre Lider zusammen, als sie das grelle Rot, das zu viele Informationen an einen weitergab, direkt anstarrte. Niemals würde sie sich an diesen Anblick gewöhnen können. „Es gibt eine Befehlsänderung“, sprach Erik der Rote. „Lillith ist nicht mehr davon überzeugt, dass der Messias wirklich beschaffen genug ist, um den unsrigen den Sieg über den Himmel zu schenken.“ Plainacher verzog das Gesicht. Das waren ja seltsame Worte. Sie hatte mitbekommen, dass Lillith stetig von Joshua geschwärmt hatte, obwohl sie von seinen miserablen Forschritten, wenn man optimistisch sprach, wusste. „Und die lautet.“ „Der Tod.“ Zuerst dachte Plainacher, sie hätte sich verhört, doch Erik der Rote sprach immer so klar, dass man sich nicht verhören konnte. „Bitte, was!“, kreischt sie. Aus irgendeinem Grund rann ihr plötzlich Schweiß von der Stirn. „Joshua Nazara darf nicht mehr weiterleben.“ Erik der Rote spielte ein wenig mit seiner Melone, dann sprach er weiter: „Deswegen obliegt es Ihnen, dass Sie den Messias ermorden.“ Plainacher brauchte lange, bis sie die Worte wieder fand: „Wieso?“ „Weil Sie sich schon in dieser Sphäre befinden und ich so keinen dritten Schützling in dieses grauenhafte Gebiet schicken muss.“ Warum machst du Wichser dich nicht selbst die Hände dreckig, hätte sie fast gesagt konnte aber noch rechtzeitig ihre Zunge zügeln: „Nein, nein, nein, ich meinte, wieso muss der Messias ermordet werden?“ Erik der Rote seufzte: „Sie haben mehr Kontakt zu ihm, als jeder andere, aber dennoch bemerken Sie seine innere Einstellung nicht?“ Pause. Anscheinend doch keine rhetorische Frage. „Er hat Mitleid mit diesem Gewürm, das sich Mensch nennt. Keiner hat solche Probleme sich von nun an als eine andere, bessere Spezies zu sehen, wie er.“ Pause. „Und es besteht die berechtigte Annahme, dass er diese schlechte Angewohnheit nie ablegen wird. Was gezwungener Maßen dazu führen wird, dass wir die letzte Schlacht verlieren werden.“ Pause. „Wir haben zu viel Wert auf diese Prophezeiung gelegt. Er ist nicht das Ass im Ärmel, von dem die sie spricht.“ Plainacher schluckte und nach mehreren Anläufen sagte sie: „Aber er ist doch noch... jung. Das kann sich ändern.“ Wusste sie überhaupt, was sie da sagte? Und wie mädchenhaft ihre Stimme klang? Was war in sie gefahren, dass sie sich so bescheuert benahm? Keine Zeit für solche inneren Fragen, sie redete weiter: „Ich bin schon zu ihm durchgedrungen... wenn Sie mir Zeit lassen, kann ich ihn...“ „SCHWEIG!“, schrie Erik der Rote und Plainacher zuckte zusammen. „Bedenke auch, welch ein Versager er ist. Er konnte Liam Warrick nicht einmal einen Kratzer verpassen, und... WIESO RECHTFERTIGE ICH MICH VOR EINER UNTERGEBENEN, WIE ES SIE ZU TAUSEND GIBT!“ Seine Hand holte aus und ging knapp an Plainachers Wange vorbei. Als sie den Kampf gegen die Magierin und den Alb verloren hatte, hatte sie sich hilflos gefühlt – gegenüber Erik dem Roten fühlte sie sich unterlegen, machtlos und wie ein Wurm. Wie sie das hasste. Und wie sehr sie ihn plötzlich hasste... „Verzeih meine unsensible Art, doch haben Sie vergessen, dass ich Ihnen, als Ihr Lehrer und Befehlshaber, keine Rechenschaft schulde.“ Pause. „Unter diesen Umständen muss ich mir überlegen, ob ich Ihnen die entsprechende Entlohnung gebe, die Ihr bei geleisteter Arbeit erhalten würdet.“ Plainacher wurde hellhörig. „Ich hätte Ihnen den Generalstitel geschenkt.“ Plainacher schluckte. Ihr Traum... der Generalstitel. Und das Jahre früher, als sie es sich eigentlich erhofft hatte. „Hundert Jahre, bevor Sie berechtigt wären, die Prüfung zu absolvieren. Als erste Frau, die sie machen darf. Sie wären die erste Generalin, die nicht als solche geboren worden ist.“ Sie holte tief Luft. Der Kerl wusste, wie man sie ködern konnte. Nun durfte sie nicht lange Nachdenken – sie musste aus dem Bauch entscheiden, denn nur diese Antwort konnte die sein, die sie wirklich wollte. Und nachdem sie länger gezögert hatte, als sie gewollt hatte, sagte: „Einverstanden!“ Egal, wie ungern sie den Bengel tot sehen wolle, egal, dass sie wegen ihm doch tatsächlich Mitleid empfunden hatte – sie wollte diesen verdammten Generalstitel. Dann stand sie in der Hierarchie auch wieder über William Morley. „Das freut mich“, sagte Erik der Rote. Er reichte ihr das Kuvert, in der sich die Prüfungsaufgabe befand. „Ich wusste, dass Sie dieses Angebot nicht abschlagen werden können.“ Er wandte seinen Kopf zu der ermordeten Familie. „Säubere aber vorher noch dieses Chaos.“ Dann verwand Erik der Rote m roten Nebel. Beenie Plainacher machte den Dreck nicht weg. Dazu war sie zu euphorisch – und zu unsicher. 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