Merry Christmas von Yurippe (~Ohne dich ist Weihnachten nur halb so schön~) ================================================================================ Prolog: Ein perfektes Weihnachtsfest ------------------------------------ Ich hatte ein paar Probleme, einen Anfang zu finden, und habe mich vom japanischen Weihnachtsliedklassiker "Itsuka no merry christmas" von B'z inspirieren lassen, falls das jemandem auffällt. ^^ Es herrschte dichtes Gedränge auf den Straßen von LaRousse City, und jeder Einwohner schien auf den Beinen zu sein, um kurz vor Weihnachten noch ein Geschenk zu kaufen oder sonstige Vorbereitungen zu treffen. Entgegen seiner Gewohnheiten hatte Shuu sich unter die Menschenmengen gemischt und befand sich nun, ebenfalls ungewöhnlich für ihn, im überfüllten Zug nach Hause. Zwar hätte er lieber das Auto genommen, doch da dichter Schneefall angesagt worden war, hatte er den Zug für sicherer gehalten. Schließlich wollte er nicht kurz vor Weihnachten noch einen Unfall bauen und die Feiertage im Krankenhaus verbringen. Ein hübsch eingewickeltes Päckchen dicht an sich gedrückt, stand Shuu in der überfüllten Bahn. Er freute sich schon darauf, ihr Gesicht zu sehen, wenn sie es auspacken würde. Schließlich hatte es ihn einige Zeit und Mühe gekostet, genau das Geschenk aufzutreiben, das sie haben wollte, und so ging er eigentlich schon davon aus, dass es ihr gefallen würde. An ihrer Station stieg er aus und lief, ein Weihnachtslied summend, durch den leise rieselnden Schnee das kurze Stück zu ihrem Haus. Die festlich erleuchteten Fenster wiesen ihm den Weg, und ein köstlicher Geruch trieb ihn dazu an, schneller zu gehen. Nachdem er geklingelt hatte, besah er sich die geschmückte Haustür etwas genauer und trat grinsend einen Schritt zurück. Haruka kam wenig später und öffnete schwungvoll die Tür. Sie deutete auf die Schürze, die sie über ihrem roten Kleid trug. „Tut mir Leid, ich bin gerade beim Kochen, komm doch einfach...“ Weiter kam sie nicht, denn Shuu hatte sie an sich gezogen und geküsst. „Selbst schuld, wenn du einen Mistelzweig über die Tür hängst“, gab er frech von sich, bevor sie irgendeinen Protest anbringen konnte. „Lass uns reingehen, es ist kalt.“ Mit diesen Worten schob er sie zurück ins Haus, legte schnell seine Jacke ab und folgte ihr dann in die Küche. „Das riecht wirklich unglaublich lecker. Was kochst du denn schönes?“, fragte er und versuchte, einen Blick in die Töpfe zu erhaschen. Sie schlug ihm spielerisch auf die Finger. „Du verdirbst mir noch mein Essen! Außerdem weißt du doch, Weihnachten ist das Fest der Überraschungen“, neckte sie ihn. „Das ist nicht richtig. Weihnachten ist das Fest der Liebe“, korrigierte Shuu sie. „Du weißt aber auch immer alles besser“, kam es leicht beleidigt von seiner Freundin. „Das habe ich doch nicht so gemeint“, antwortete er schnell. Haruka schien zu überlegen. „Na ja, ich denke, ein Geschenk könnte mich versöhnlich stimmen...“ „Habe ich mir irgendwie gedacht und vorsichtshalber das hier besorgt“, grinste Shuu und verschwand kurz in die Diele, wo er das Päckchen vorübergehend abgestellt hatte. Als er wiederkam, trippelte Haruka hibbelig von einem Bein aufs andere. „Zeig schon, Shuu!“, rief sie ungeduldig. „Vorsicht, nicht so hastig!“, kommentierte er, als sie ihm das Paket fast aus der Hand riss. Vorsichtig öffnete sie nun also erst die rote Schleife und dann das grüne Geschenkpapier. Auch die Rose, die er daran befestigt hatte, nahm sie behutsam ab und legte sie auf den Tisch. Zum Vorschein kam ein blauer Seidenschal, über dessen weichen Stoff Haruka andächtig mit ihren Fingern strich. „Er ist wunderschön. Vielen, vielen Dank, Shuu.“ Den Schal noch immer in der Hand, kam sie auf ihn zu und umarmte ihn. Shuu erwiderte die Geste und drückte sie fest an sich. „Versprich mir, dass es immer so bleibt zwischen uns“, flüsterte er. „Ich verspreche es“, antwortete Haruka. Eine ganze Weile standen die beiden so da, als Shuu plötzlich einen merkwürdigen Geruch bemerkte. „Ähm, Haruka, dein Essen...“ „Oh nein!“ Diese löste sich aus seinen Armen und sprintete in die Küche. Shuu konnte nur leise in sich hineinlachen. „Sieht aus, als würde ich dich heute ausführen“, meinte er und holte ihre Mäntel. Lächelnd machten sie sich auf den Weg durch die verschneiten Straßen, ihre Finger in seiner Manteltasche fest ineinander verschlungen. Um ihn herum herrschte Weihnachtstrubel in der Bahn, und an jeder Station stiegen neue Leute ein und aus. An ihm vorbei hasteten Familien mit Kindern, Paare und auch ein junger Mann, der ein Päckchen fest an sich drückte und mit einem glücklichen Gesicht offenbar auf dem Weg zu seiner Freundin war. Überhaupt schien jeder so glücklich zu sein... jeder außer Shuu. Kapitel 1: Schneeflocken ------------------------ Sorry, damit ihr nicht so lange warten müsst, erst mal die erste Hälfte des ersten Kapitels. Die zweite gibt es hoffentlich im Laufe des WE. ^^ Und danke für die vielen Kommentare, die ich allein zum Prolog schon bekommen habe! Wenn das so weitergeht, hui! XD „Verdammt, ist das kalt!“ Die junge Koordinatorin fröstelte, als sie das Kaufhaus verließ, und zog ihre Jacke enger um ihren Körper. Weißen Atem ausstoßend, lief sie die weihnachtlich dekorierten Straßen entlang in Richtung ihres Hauses. Nicht mehr lange und es würde schneien, hatten sie vorhin im Wetterbericht gesagt. Aber damit rechnete sie schon seit einer ganzen Weile, Sinnoh war schließlich für sein kaltes Wetter bekannt. Nicht umsonst war sie wegen einer Klimaveränderung dorthin gezogen, aber an Tagen wie diesen, an denen sie weder Schal noch Mütze trug, wünschte sie sich zurück ins subtropische Hoenn. Da an ihrem Aufenthaltsort im Moment eh nicht viel zu ändern war, konnte sie nur zusehen, dass sie so schnell wie möglich wieder ins warme Haus kam. Während sie weitereilte, bemerkte sie tatsächlich, wie vereinzelt die ersten Schneeflocken fielen. Für einen Moment blieb Haruka stehen, um die kleinen weißen Kristalle zu beobachten. Ein Jahr war es nun her, seit sie zum letzten Mal Schnee gesehen hatte... „Shuu, sieh mal, es schneit!”, rief sie von ihrer Position am Fenster zu ihrem Freund, der auf dem Bett saß und in einer Zeitschrift blätterte. Dieser blickte kurz auf. „Wie ungewöhnlich für diese Gegend“, spöttelte er bloß und vertiefte sich wieder in seine Lektüre. „Mach das Fenster zu, es ist kalt.“ Er hatte nicht mit Haruka gerechnet, die ihm die Zeitung wegnahm und ihn zum Fenster zerrte. „Guck doch wenigstens einmal richtig hin. Es ist der erste Schnee dieses Jahr- freust du dich nicht? Bald wird alles wunderbar weiß aussehen, die Häuser, die Bäume, einfach alles!“ Vor Aufregung hatte sie ganz rote Wangen bekommen. „Du kannst dich über so etwas wirklich wie ein kleines Mädchen freuen, was?“, fragte er und schmunzelte ein bisschen dabei. „Natürlich kann ich! Los, lass uns rausgehen und einen Schneemann bauen!“ Shuu tippte sich nur mit einem Finger gegen die Stirn. „Mit den drei Flocken kannst du nicht mal einen Miniatur-Schneemann bauen.“ „Ich wette, um dich einmal ordentlich einzuseifen, reicht es“, erwiderte sie gespielt beleidigt. „Zu dumm, dass ich nicht vorhabe, einen Fuß da rauszusetzen“, grinste er und zog sie an sich heran. Haruka schloss die Augen und wartete darauf, dass er sie küssen würde, doch statt seiner Lippen auf den ihren spürte sie etwas kaltes im Nacken. Erschrocken riss sie die Augen wieder auf und sah Shuu, wie er sich vor Lachen krümmte. Offenbar hatte er hinter ihr das Fenster geöffnet und sich eine Hand voll Schnee gegriffen. „Sehr witzig, Shuu. Das wird ein Nachspiel haben, darauf kannst du dich verlassen!“ Sie versuchte, ebenfalls etwas Schnee zu erhaschen, doch Shuu hatte in weiser Voraussicht den Arm um ihre Taille gelegt und hielt sie fest. „Na, wir wollen doch im Zimmer keine Schneeballschlacht veranstalten“, kommentierte er ihre vergeblichen Versuche, sich loszumachen. „Aber du hattest Recht: Um dich einzuseifen, hat der Schnee tatsächlich gereicht.“ Aufgrund dieser Bemerkung musste Haruka lachen. „Wer ist jetzt hier das Kind, hm?“ „Wir können auch gerne zu erwachsenerem Spaß übergehen“, erwiderte er mit einem etwas anzüglichen Grinsen und begann, ihren Hals zu küssen. Haruka ihrerseits knöpfte sein Hemd auf und streifte es ihm schließlich von den Schultern. Während er damit beschäftigt war, ihre Frisur zu lösen, griff sie hinter sich nach etwas Schnee, der auf dem Fensterbrett liegengeblieben war. Sie musste zugeben, es bereitete ihr doch eine unheimliche Freude, ihm die kalte Materie in die Brust zu reiben. „Die Rache kommt immer dann, wenn du es nicht erwartest“, stellte sie zufrieden fest, während Shuu sich fluchend den Schnee abklopfte. „Okay, du hast gewonnen.“ Er hob seine Hände, um ihr zu signalisieren, dass er aufgab. „Frieden?“ „Frieden“, stimmte Haruka zu. „Dann können wir ja jetzt da weitermachen, wo wir aufgehört hatten“, schlug Shuu vor. Seine Freundin schüttelte in gespielter Verzweiflung den Kopf. „Du denkst wirklich nur an eine Sache, was?“ „Ja, an dich“, flüsterte er ihr ins Ohr und zog sie in Richtung Bett. Warum musste sie ausgerechnet jetzt an ihn denken? Sie hatte so viele andere Erinnerungen, die mit Schnee zusammenhingen. Doch statt der vielen schönen Dinge, die sie als Kind erlebt hatte, kam ihr nur dieses eine Erlebnis in den Sinn. Jede einzelne Flocke schien seinen Namen, sein Gesicht zu tragen. Bestimmt fielen sie extra so langsam vom Himmel, um sie zu ärgern, dachte Haruka. „Jetzt reiß dich aber mal zusammen!“, schalt sie sich selbst. Es hatte einfach keinen Sinn, immer nur der Vergangenheit nachzutrauern. Aber sie konnte nun mal nicht anders, und bei solchen Dingen kam man mit Vernunft schließlich nicht weiter. Allein der Gedanke daran, dass die Zeit seitdem unbarmherzig weiterlief und weiterlaufen würde bis zum bitteren Ende, wenn es sie schon gar nicht mehr geben würde, schnürte ihr die Kehle zu. Aber war es nicht ihre eigene Entscheidung gewesen? Sie hatte immer gedacht, wenn sie zusammen wären, würde schon alles gut werden. Doch irgendwann hatte sie feststellen müssen, dass ihre Lebenswege auseinander gingen... Vielleicht hatte sie sich etwas vorgemacht. Vielleicht war sie auch einfach zu jung gewesen und hatte nicht richtig nachgedacht. Wenn man jung und verliebt war, sah man die Welt eben gern durch die rosarote Brille. Und es war ja auch viel einfacher, den Blick auf die schönen Seiten einer Beziehung zu lenken und vor den Nachteilen die Augen zu verschließen. Manchmal fragte sie sich, ob sie die richtige Wahl getroffen hatte. Wenn ihr Herz und ihre Augen überquollen vor Sehnsucht, und sie sich wünschte, sie hätte damals diese Worte nicht ausgesprochen. Aber er musste es doch auch gespürt haben. Diese Unzufriedenheit, die sich ganz leise in ihrer beider Herzen geschlichen hatte und über die Zeit hinweg gewachsen war, bis sie zu groß geworden war, um sie weiterhin zu ignorieren. Ja, er, gerade er, musste doch ebenso gedacht haben. Schließlich war er derjenige, der sein Leben lieber allein gelebt hatte, bevor sie sich nahe gekommen waren. Und er war doch derjenige gewesen, der niemals aufgab und immer nach neuen Herausforderungen suchte. Sie fragte sich, was er gerade tat. Ob er wohl auch irgendwo draußen stand und den Schneeflocken zusah? Nein, soweit sie wusste, war er in Hoenn, und dort schneite es nicht. Ob er wenigstens den gleichen Himmel sah wie sie? Eine einzelne Träne bahnte sich langsam den Weg ihre Wange hinunter, wie die Schneeflocken, die immer noch sacht vom Himmel rieselten. Dabei wollte sie doch stark sein hatte, sie sich geschworen. Da hatte sie ihn schon verlassen, um selbstständig zu sein, und dachte trotzdem nur an ihn... Kapitel 2: Gefrorene Gefühle ---------------------------- Kapitel 2 Immer dichter fiel der Schnee vor Shuus Fenster und verdeckte ihm die Sicht auf die Stadt. Eigentlich konnte er überhaupt nicht mehr viel erkennen, egal wie angestrengt er hinausstarrte. Wenn der Schnee doch auch die Zeit verdecken könnte, die er mit ihr verbracht hatte... Shuu war damit beschäftigt, die restliche Weihnachtsdekoration zu verstauen. Im Hintergrund lief eine Fernsehübertragung eines Pokemonwettbewerbs, und ab und zu warf er einen Blick auf den Bildschirm. Nachdem sowohl er als auch Haruka etwa zehn Jahre lang herumgereist waren und in dieser Zeit massenhaft Siege errungen hatten, wollten sie etwas zur Ruhe kommen. Zwar waren sie noch jung und bei weitem nicht perfekt als Koordinatoren, aber es war irgendwie die Luft raus, zumindest hatten sie damals dieses Gefühl gehabt. Deshalb waren sie erst mal vorübergehend in ein kleines Haus in Herzhofen gezogen. Eine Wettbewerbshalle war schließlich in der Stadt vorhanden, und so trainierten sie manchmal mit jüngeren Koordinatoren. Shuu hätte niemals gedacht, dass dieses Leben ihm gefallen würde. Aber tatsächlich, es machte ihn sogar glücklich. Mit der Zeit waren die Wettbewerbe in den Hintergrund getreten und die beiden lebten ein ruhiges Leben. Haruka übernahm manchmal die Moderation, und er selbst war inzwischen zum Preisrichter aufgestiegen. „Also dem da würde ich nicht mal die halbe Punktzahl geben“, kommentierte er einen Auftritt im Fernsehen. „Da warst ja sogar du als Anfängerin besser. Ehrlich, als wir beide noch im Geschäft waren, hätten solche Leute nicht den Hauch einer Chance gehabt.“ Statt auf seine Bemerkung einzugehen, machte Haruka ein ernstes Gesicht. „Shuu, ich muss mit dir reden.“ „Willst du verreisen?“, fragte er verwundert. Wieso stand sie plötzlich mit gepackten Koffern vor ihm? „Also verreisen ist nicht der richtige Ausdruck. Es ist so...“ „Du verlässt mich“, stellte er trocken fest. Irgendwie hatte er es die ganze Zeit geahnt... Dabei waren sie doch eben noch so glücklich gewesen. Aber so war das wohl mit Träumen, wenn man aufwachte, fand alles auf einen Schlag ein Ende. „Ich muss bloß raus hier. Ich... brauche wieder Abwechslung in meinem Leben. Wieder Wettbewerbe, verstehst du? Das alles- Haus, fester Job...- dafür fühle ich mich noch zu jung.“ „Und für unsere Beziehung auch, nehme ich an?“ Shuu wusste nicht mal, wie er darauf reagieren sollte. Traurig? Verbittert? Wütend? „Nein, Shuu, hör mir zu! Ich liebe dich... denke ich. Aber ich denke auch, wir müssen erst mal noch eine Weile für uns selbst wachsen, ehe wir uns so festlegen. Deshalb gehe ich wieder auf Reisen und nehme an Wettbewerben teil. Ich weiß nicht, was du tun willst. Vielleicht bist du ja schon zufrieden mit deinem Leben. Aber ich kann so noch nicht leben. Es tut mir Leid.“ Shuu sah sie an, wie sie abreisebereit im Wohnzimmer stand. Offenbar hatte sie sich all das überlegt und nicht ein einziges Mal mit ihm beredet, bis sie ihm nun plötzlich die schmerzhafte Wahrheit auftischte. „Mir tut es auch Leid...“, murmelte er. Bevor sie das Haus verließ, drehte sich Haruka noch einmal um. „Wir... sehen uns ganz bestimmt wieder.“ Dann war sie weg. Wieder einmal hatte er sich beim Gedanken an längst vergangene Zeiten ertappt. Mit einem Ruck wandte Shuu sich vom Fenster ab und ließ sich aufs Bett sinken. Wenn er an ihrer Seite schlafen könnte... noch einmal ihre Wärme spüren... die eine Person festhalten, die ihm wichtig war... Aber es hatte ja keinen Sinn, sich an diesen Wünschen festzuklammern. Auch wenn es ihm schwer fiel, er wusste, dass er ihren Wunsch respektieren musste. Und irgendwie stimmte ja alles, was sie gesagt hatte. Sie hatten tatsächlich im Laufe der Jahre ihre ursprünglichen Wünschen aus den Augen verloren. Schließlich war er derjenige, der sein Leben lieber allein gelebt hatte, bevor sie sich nahe gekommen waren. Oder hatte er sich so sehr an sie gewöhnt? Vielleicht hatte er nie wirklich allein sein wollen, sondern nur den richtigen Menschen gebraucht, um ihm Gesellschaft zu leisten. War er wirklich bequem geworden? Verwöhnt von der Tatsache, nicht mehr allein sein zu müssen? Fast schien es ihm so, sonst würde er sich ohne sie wohl kaum so leer fühlen. Lustlos griff er nach der Fernbedienung und schaltete durch die Kanäle. Bei einer Wiederholung alter Pokemonwettbewerbe blieb er hängen und starrte gedankenverloren auf den Bildschirm. Plötzlich schreckte er auf. Unter all den vielen Schaukämpfen war doch tatsächlich einer zwischen ihm und Haruka dabei. Damals, als sie ihn im Halbfinale des Großen Festivals geschlagen hatte. Nachdem sie im Finale dann letztendlich doch noch gegen Saori verloren hatte, war natürlich er es gewesen, der sie wieder aufbauen musste. Danach waren sie zusammen durch Johto gereist und irgendwann an dem Punkt angekommen, an dem sie vor etwa einem Jahr ihre Beziehung beendet hatten oder auf Eis gelegt oder wie auch immer. Nicht einmal, woran er war, wusste er genau. Haruka, die ihn früher so sehr gebraucht hatte, war ihm einfach so davon geflogen, seinen Händen entglitten wie eine flüchtige Schneeflocke. Und nun war er derjenige, der das Gefühl hatte, alleine nicht mehr zurechtzukommen. Seit wann lebe ich eigentlich nur noch in Rückblenden?, fragte Shuu sich. Seit dem Tag, an dem sie ihn zurückgelassen hatte, war sein Herz gefroren... Kapitel 3: Erkenntnisse ----------------------- Inzwischen war die Abenddämmerung angebrochen, und es schneite in dicken Flocken vom immer dunkler werdenden Himmel. Auf ihrem Heimweg kam Haruka an den unzähligen erleuchteten Fenstern vorbei, hinter denen Familien oder Paare saßen, und fröhliches Gelächter drang von überall her an ihre Ohren. Sie zog ihre Jacke enger um sich und steckte ihre Hände in die Taschen, um die Kälte abzuwehren, die von ihr Besitz ergriff. „Frierst du etwa?“ Shuu musterte sie besorgt. „N-nur ein bisschen“, wehrte Haruka ab. „Von wegen ein bisschen. Deine Zähne klappern ja! Hier, nimm erst mal meinen Schal.“ Fürsorglich drapierte er den blauen Schal um seine Freundin. „Und wieso trägst du eigentlich keine Handschuhe?“ Er zog seinen linken Handschuh aus und streifte ihn über Harukas linke Hand. Ihre rechte Hand nahm er in seine, die nun ohne Handschuh war, und zog sie in seine Manteltasche. „Immer muss man sich um sich kümmern“, grummelte er, doch Haruka konnte sehen, dass er es nicht böse meinte. „Wer hat dir denn diesen Schal gestrickt, hm? Das war ja wohl ich.“ „Dann frage ich mich, wieso du nicht gleich noch einen für dich selber mitgestrickt hast. Ist dir die Wolle ausgegangen oder wie?“ „Sehr witzig, Shuu. Nur zu deiner Information, stricken ist nicht gerade einfach. Ich war schon froh, dass ich einen hinbekommen habe.“ Daraufhin brach ihr Begleiter in Gelächter aus . „Wieso habe ich mir nur so was gedacht? Typisch für dich, ehrlich.“ Haruka wollte entrüstet die Hände in die Hüften stemmen, doch er hielt immer noch ihre Hand in seiner Tasche fest. „Ich mache ja nur Spaß“, beschwichtigte er sie. „Trag doch erst mal den Schal hier für eine Weile, bis du deinen fertig gestrickt hast.“ „Als ob ich mir noch mal so viel Arbeit machen würde! Außerdem hab ich ganz vergessen, wie das ging...“ Wieder musste Shuu lachen. „Du bist echt zu niedlich, weißt du das? Lass das mit dem Schal mal meine Sorge sein. Ich muss ja eh immer auf dich aufpassen.“ „Das ist überhaupt nicht wahr! Nenn mir eine Gelegenheit, bei der ich wirklich deine Hilfe gebraucht habe.“ „Nun, zum Beispiel damals auf Wundereiland, als Team Rocket dich an den Baum gehängt hatte und die Isso und ich zu deiner Rettung geeilt sind..:“ „Und wer hat da wen zuerst gerettet? Wenn ich dir davor nicht hinterhergesprungen wäre, als du wegen der Beeren abgestürzt bist, wärst du jetzt gar nicht mehr hier!“ „Dann hätte ich dich aber auch nicht vor Team Rocket retten können. Und das andere Mal, als Harley dich beim Wettbewerb austricksen wollte...“ „Schon kapiert, du bist der strahlende Retter. Und jetzt lass uns schneller gehen, ich will heim ins Warme.“ Shuu grinste. „Wenn du das mit dem Retter noch mal wiederholst...“ Haruka verdrehte im Spaß die Augen. „Du bist mein Retter, zufrieden?“ „Ich hatte nicht das Gefühl, dass du das gerade ernst gemeint hast. Noch mal, bitte.“ „Du bist mein Held“, meinte Haruka und drückte ihm einen Kuss auf seine vor Kälte gerötete Wange. „Und jetzt lass uns endlich heimgehen.“ In Gedanken versunken hatte sie nicht einmal mitbekommen, dass sie inzwischen angekommen war. Sie schloss die Tür des kleinen Häuschens auf, das sie sich für den Winter gemietet hatte, und betrat das warme Wohnzimmer. Sie hatte an vielen Wettbewerben teilgenommen, seit sie sich von Shuu verabschiedet hatte, aber in den letzten Monaten war ihr und auch ihren Pokemon etwas die Kraft ausgegangen, sodass sie beschlossen hatte, für eine Weile kürzer zu treten. Vielleicht war es auch von Anfang an eine dumme Idee gewesen. Wer wusste denn schon, ob der Höhepunkt ihrer Karriere als Koordinatorin nicht schon längst überschritten war? Oder bekam sie ohne ihn wirklich nichts auf die Reihe? In Wahrheit, so gestand sie sich ein, hatte sie sich gewünscht, dass er sie damals zurückgehalten hätte... Von den Wettbewerben schaltete Shuu um auf den Wetterbericht. Er hoffte auf etwas Ablenkung, und außerdem fragte er sich, wieso es im subtropischen Hoenn schneite. So etwas konnte zwar vorkommen, aber all die Jahre, die er in LaRousse City gelebt hatte, war er nie selbst Zeuge eines solchen Phänomens geworden. Fast fühlte er sich vom Schnee verfolgt. Da war er extra nach Hoenn zurückgekehrt, um nicht an das schmerzhafte letzte Weihnachten erinnert zu werden, und trotzdem konnte er nicht entkommen. Vielleicht war das seine Strafe dafür, dass er ihre Gefühle nicht bemerkt hatte, oder eher getan hatte, als würde er sie nicht bemerken. Hätte er damals bloß früher etwas gesagt. Wenn er ihr gesagt hätte, dass er ihre Gefühle verstand, dass auch er die Wettbewerbe vermisste... statt dass sie beide allein durch die Weltgeschichte irrten und krampfhaft versuchten, sich aus dem Weg zu gehen und sich bei Wettbewerben nicht zu begegnen. Sie hätten wieder gemeinsam auf die Reise gehen können wie damals, als sie noch Kinder waren, vollkommen frei und ungezwungen. So schwer wäre das doch nicht gewesen, da war er sich sicher. Wenn er sie doch damals nur zurückgehalten hätte... Von nebenan schallten Weihnachtslieder in Harukas Zimmer, und der Duft von frisch gebackenen Plätzchen zog durch die Fensterritzen herein. Haruka kauerte auf dem Boden und drückte einen blauen Schal fest an sich. Den Schal, den sie damals von Shuu zu Weihnachten bekommen hatte, nachdem sie ihm in den Ohren gelegen hatte, dass sie unmöglich einen zweiten stricken konnte. Er hatte tatsächlich einen aufgetrieben, der seinem ähnlich sah. Zwar war das Material anders und Harukas Seidenschal wirkte eleganter als der, den sie für Shuu aus Wolle gestrickt hatte, aber die Farbe war tatsächlich fast die selbe. Er hatte sich offenbar viel Mühe bei der Suche gegeben. Was zur Hölle hatte sie sich damals eigentlich gedacht? Wieso hatte sie ihn nicht gefragt, ob er nicht mit ihr zusammen wieder auf Reisen gehen wollte, so wie all die Jahre davor auch? Waren diese Jahre nicht sowohl ihre glücklichsten als auch ihre erfolgsreichsten gewesen? Wenn sie jetzt so darüber nachdachte, dann fragte sie sich, ob sie nicht einfach nur kalte Füße bekommen hatte. Auf dem Fußboden zu hocken und zu heulen würde die Situation nicht verbessern, wurde ihr klar. Aber was sollte sie tun? Sie wusste ja nicht einmal, wo er gerade war. Ob er Weihnachten zu Hause verbrachte? Schließlich hatten sie fast ein Jahr lang kein einziges Wort miteinander gesprochen. Sicher hatte er keine Lust, sie jemals wieder zu sehen. Aber nun musste sie es wissen. Hektisch rannte Haruka umher und warf wahllos Gegenstände in eine Reisetasche. Zum Schluss legte sie sorgfältig den blauen Schal auf das Durcheinander. Dann machte sie sich auf den Weg zum Flughafen. „Verdammt, Shuu, das sieht dir doch überhaupt nicht ähnlich!“ Wütend schlug er mit der geballten Hand auf den Tisch. Er war doch niemand, der die Dinge einfach so hinnahm, wie sie waren. Und selbst wenn er Haruka nicht zurückgewinnen würde, so hätte er wenigstens Gewissheit und könnte irgendwann wieder in die Zukunft blicken, anstatt ständig der Vergangenheit nachzutrauern. Entschlossen packte er alles wichtige in seine Tasche, rief sich ein Taxi und verließ das Haus in Richtung Flughafen. Erst unterwegs fiel ihm ein, dass er gar nicht wusste, wo sie sich im Moment aufhielt. Ob sie Weihnachten bei ihrer Familie in Blütenburg verbrachte? Shuu zog sein Handy aus der Tasche und wählte die Nummer von Harukas Elternhaus. Nach einigen Sekunden meldete sich Masato, Harukas jüngerer Bruder. „Shuu, lange nichts von dir gehört, wie geht es dir?“ „Gut, danke. Sag mal, deine Schwester ist nicht zufällig daheim, oder?“ „Nein, ist sie nicht. Sie meinte, sie würde nicht extra von Sinnoh herkommen. Und außerdem hat sie die letzten paar Weihnachtsfeste auch mit dir verbracht, statt nach Hause zu kommen... Moment, soll das heißen, du weißt nicht, wo sie gerade ist?“, fragte er jüngere ungläubig. „Das ist gerade alles etwas kompliziert. Kannst du mir bitte einfach sagen, wo sie ist?“ Shuu hatte weder die Zeit noch die Geduld, jetzt die komplette Geschichte ihrer Trennung zu erzählen. „Soweit ich weiß, ist sie in Jubelstadt, aber...“ „Danke!“, schnitt Shuu ihm das Wort ab. Dann eilte er zum nächstgelegenen Schalter, um einen Flug zu buchen. „Da haben Sie aber Glück. In ein oder zwei Stunden soll der Schneefall so stark werden, dass kein Flugzeug mehr hier starten oder landen kann. Also ist Ihr Flug wohl der letzte. Stellen Sie sich darauf ein, dass Sie ein paar Tage lang keine Flüge mehr hierher zurück bekommen werden.“ Seine kleine Tasche schulternd, begab Shuu sich an Bord des Flugzeugs. Schon bald würde er in Jubelstadt sein und Haruka wiedersehen... Haruka saß nun schon eine ganze Weile im Flieger nach LaRousse City. Sie konnte nur hoffen, dass Shuu auch tatsächlich dort war, schließlich hatte sie einfach nur ins Blaue hinein geraten und war zum erstbesten Ort gefahren, der ihr eingefallen war. Eine Stimme aus den Lautsprechern riss sie aus ihren Gedanken. „Meine Damen und Herren, bitte begeben Sie sich auf Ihre Sitze und schnallen Sie sich an. Uns wurden soeben Turbulenzen im Luftraum über LaRousse City gemeldet...“ Hoffentlich geht das gut, dachte Haruka noch, als das Flugzeug plötzlich senkrecht in die Tiefe ging. Kapitel 4: Merry Christmas -------------------------- Nach einigen Stunden Flug war Shuu endlich in Jubelstadt angekommen. Leider war ihm unterwegs eingefallen, dass er gar nicht wusste, wo er Haruka suchen sollte. Die Stadt war schließlich riesig, und sie konnte überall sein. Bei ihrer Familie ging niemand ans Telefon, und so blieb ihm nicht viel übrig, als es erst einmal im Pokemoncenter zu versuchen. Dort konnte Schwester Joy ihm zwar sagen, dass Haruka einige Male dort gewesen war und auch einmal nach einer Unterkunft für den Winter gefragt hatte, aber da Joy sie an einen Makler weitervermittelt hatte, konnte sie Shuu keine Adresse geben. Die Nummer des Maklers allerdings bekam er, auch wenn Joy bezweifelte, dass dieser an Weihnachten arbeiten würde. Shuu wählte trotzdem die Nummer – was hatte er auch für eine Wahl? – und bekam tatsächlich einen ziemlich ungehaltenen Makler an den Apparat. Nein, Adressen könne er nicht herausgeben, die seien alle vertraulich. Erst nachdem die Krankenschwester ein gutes Wort für ihn eingelegt hatte, rückte der Makler damit heraus, dass er Haruka ein kleines Häuschen am Rande der Stadt vermietet hatte, und gab Shuu murrend die Anschrift. Dieser bedankte sich hastig und machte sich sofort auf den Weg. Im Taxi lehnte er den Kopf an die Fensterscheibe und blickte hinaus in die vorbeirauschenden Lichter. Den ganzen Flug über hatte er überlegt, was er zu Haruka sagen sollte, wenn er ihr tatsächlich gegenüberstehen würde. Sie anzuflehen, zu ihm zurückzukommen, war so gar nicht sein Stil, aber als letzte Option behielt er das vorsichtshalber im Hinterkopf. Vielleicht sollte er ihr auch einfach nur sagen, dass er sie vermisste, und dass er glaubte, zusammen könnten sie alles viel besser schaffen. Irgendwie klammerte er sich ja immer noch an der Hoffnung fest, dass er bloß vor ihr zu stehen brauchte und alles von selbst wieder gut werden würde. „Wir sind da“, ließ der Taxifahrer verlauten. Shuu bedankte sich, zahlte und stieg aus. Eine Weile starrte er ihr Haus an. Im Gegensatz zu den anderen in der Straße war es nicht geschmückt, und nicht ein einziges Licht brannte. Ihn beschlich das Gefühl, sie sei gar nicht zu Hause. Vorsichtshalber klingelte er eine Weile, aber niemand öffnete ihm. Nachdem er einmal um das Haus herum gegangen war, musste er einsehen, dass sie wirklich nicht daheim war. „So ein Mist!“, fluchte er laut. „Na, na, solche Worte an Weihnachten, schäm dich, mein Junge“, wurde er von der Seite angesprochen. Dort stand ein älterer Mann mit einem langen weißen Bart. „Sind Sie etwa der Weihnachtsmann?“, fragte Shuu leicht verstimmt. „Hohoho, der Weihnachtsmann! Du bist mir vielleicht ein Scherzkeks“, lachte der Alte. „Aber sag mal, mein Junge, du suchst doch sicher das Mädchen, das in diesem Haus gewohnt hat, oder?“ Jetzt war Shuu ganz Ohr. „Ja. Wissen Sie, wohin sie gegangen ist?“ Wieder lachte der Alte. „Hohoho, natürlich weiß ich das. Als sie aus dem Haus gestürmt ist, habe ich nämlich auch gerade hier draußen gestanden. Als ich sie gefragt habe, wohin sie denn so eilig wollte, hat sie nur Flughafen gerufen und ist sofort weitergerannt. Die Jugend von heute, so energisch...“ Das konnte doch nicht wahr sein! War Haruka etwa auch unterwegs zu ihm gewesen? Dann hätten sie sich vollkommen verpasst. „Wie lange ist das her?“, fragte er. „Gar nicht lange, ein paar Stunden nur. Ich habe ihr noch hinterhergerufen, dass es gefährlich ist, bei diesem Wetter zu fliegen, aber das hat sie wohl nicht gehört. Wirklich, die Jugend heutzutage...“ Mehr hörte Shuu nicht, denn da war er schon losgesprintet. „Danke, Herr Weihnachtsmann!“, rief er noch. Hinter ihm schüttelte der Alte nur amüsiert den Kopf. Also hatten sie sich vermutlich wirklich nur um Haaresbreite verpasst. Vorausgesetzt, dass Haruka auch tatsächlich nach LaRousse City geflogen war. Wenn sie erst vor ein paar Stunden aufgebrochen war, hatte sie dann überhaupt noch einen Flug bekommen? Vielleicht saß sie ja auch am Flughafen fest und er hatte sie nicht bemerkt. Oder sie war wirklich ganz woanders hin geflogen... Hektisch rannte Shuu über das große Gelände des Flughafens. Irgendwo dort musste sie doch sein, hoffte er. Nachdem er so ziemlich jeden Winkel abgesucht hatte, wandte er sich schließlich an den Informationsschalter und fragte dort, ob Haruka an diesem Tag in ein Flugzeug gestiegen war, und wenn, ja wohin. Die Serviceangestellte musterte ihn. „Tut mir Leid, aber ich fürchte, dazu darf ich Ihnen keine Auskunft geben.“ „Bitte, es ist wirklich sehr wichtig für mich“, versuchte er sie zu überzeugen. „Wie schon gesagt, ich darf Ihnen keine Informationen...“ „Hey, sind Sie nicht Shuu, der Koordinator? Ich bin ein Fan von Ihnen!“, mischte sich eine andere Angestellte ein. „Habe ich ein Glück! Erst treffe ich Haruka, und dann Shuu!“ „Also war Haruka wirklich hier?“, hakte Shuu nach. „Ja, sie hat den letzten Flug nach LaRousse City genommen. Allerdings gab es da einige Turbulenzen...“ Shuu erschrak. Ihr war doch hoffentlich nichts zugestoßen? „Was für Turbulenzen?“ Bevor die Frau ihm jedoch antworten konnte, wurde sie von der ersten Angestellten beiseite geschoben. „Ich denke, wir haben schon zu viele vertrauliche Informationen herausgegeben. Bitte gehen Sie jetzt.“ „Aber meine Freundin...“ Egal, was er versuchte, er bekam nichts mehr aus den beiden heraus. Schließlich blieb ihm nichts anderes übrig als aufzugeben und rastlos im Flughafen hin und her zu wandern. Die ganze Zeit über fragte er sich, was denn nun passiert war, und ob es Haruka gut ging. Ihr konnte doch nicht wirklich etwas zugestoßen sein, oder? Er hatte sich doch nicht einmal richtig von ihr verabschiedet. Was sollte er nur tun, wenn sie wirklich...? Vor lauter Ungewissheit und Verzweiflung kamen ihm fast die Tränen. „Verdammt!“, fluchte er zum wiederholten Mal an diesem Tag. „Und ich dachte, du freust dich, mich zu sehen. Wo du doch offenbar extra hergekommen bist“, erklang plötzlich eine Stimme hinter ihm. Langsam drehte Shuu sich um, ganz langsam und vorsichtig, wie um ein fragiles Trugbild nicht zu zerstören. Aber tatsächlich, da stand sie, lebendig und offenbar unversehrt. „Haruka!“, brachte er nur heraus, bevor er auf die zustürzte und sie an sich drückte. „Aua! Erdrück mich nicht, ich hab mir bei der Bruchlandung vorhin die Rippen angestoßen“, beschwerte sich Haruka. „Tut mir Leid.“ Shuu ließ sie los und musterte seine Freundin nun eingehend. „Was ist denn überhaupt passiert?“ „Über LaRousse gab es starke Turbulenzen im Luftraum. Deshalb konnten wir nicht landen und mussten wieder umkehren. Dann ist natürlich noch kurz vor Schluss der Treibstoff knapp geworden und die Landung wurde etwas unsanft. Aber das ist besser als abzustürzen, wie ich es ursprünglich befürchtet hatte.“ „Ich habe mir solche Sorgen gemacht, als ich gehört habe, mit dem Flug stimmte was nicht, aber niemand mir genauere Auskünfte geben wollte. Ich dachte, ich hätte dich verloren...“ Seine coole Fassade war Shuu inzwischen vollkommen egal. Er war nur unendlich froh, dass seine Haruka unbeschadet zu ihm zurückgekehrt war. Wobei er ja genau genommen nicht wusste, ob sie tatsächlich zu ihm zurückkehren würde. Bevor er sie danach fragen konnte, hatte Haruka schon angefangen zu reden: „Weißt du, als ich da im Flugzeug saß und dachte, ich sterbe möglicherweise, habe ich furchtbar bereut, dass ich damals gegangen bin. Eigentlich hatte ich schon die ganze Zeit Zweifel an meiner Entscheidung. Deshalb wollte ich dich auch unbedingt sehen und bin aufs Geratewohl nach LaRousse geflogen. Dass ich dich dann hier treffe...“ Sie lächelte unsicher. „Heißt das, du wolltest mich auch wiedersehen?“ Shuu fiel ein großer Stein vom Herzen. Sie hatte ihn auch vermisst! „Natürlich wollte ich das. Es war schließlich nicht mein Wunsch, dass wir getrennt weiterreisen. Ich weiß nicht, wie du darüber denkst, aber ich habe das Gefühl, dass wir gemeinsam viel mehr schaffen als allein. Das hat nichts mit Abhängigkeit oder Schwäche zu tun. Aber jemanden zu lieben und zu unterstützen, das ist doch einfach viel besser als alles alleine machen zu müssen, oder?“ „Da hast du vielleicht Recht. Übrigens, könnte es sein, dass du in letzter Zeit nicht mehr so viele Wettbewerbe gewonnen hast wie früher?“, neckte Haruka ihren Freund. „Wie bitte? Wenigstens habe ich nicht wieder meine Anfängerfehler ausgepackt, so wie du!“, konterte dieser. Gerade wollte Haruka etwas erwidern, als ihr Blick plötzlich auf den blauen Schal fiel, den Shuu um den Hals trug. „Du hast ja immer noch den Schal, den ich dir gestrickt habe“, bemerkte sie erstaunt. „Natürlich habe ich den noch. Schließlich erinnert er mich an dich. Hast du deinen etwa nicht mehr?“ „Doch, sicher!“ Haruka kramte in ihrer Tasche herum und beförderte das Gegenstück zu Shuus Schal daraus hervor. „Den sollte ich wohl besser umbinden, es ist kalt draußen.“ „Hast du wieder keine Handschuhe?“, fragte Shuu. „Hey, ich bin total übereilt aufgebrochen, entschuldige, wenn ich da was vergessen habe“, gab Haruka beleidigt zurück. „Du wolltest mich wohl unbedingt sehen.“ Den Kommentar konnte Shuu sich nicht verkneifen. „Ich überleg es mir gleich wieder anders“, gab Haruka leicht beleidigt zurück. „War nicht so gemeint“, sagte Shuu schnell und gab ihr einen seiner Handschuhe. Ihre andere Hand hielt er in seiner Manteltasche fest umklammert. „Sieht aus, als hätte ich schon wieder ein Weihnachtsgeschenk für dich gefunden“, meinte er. „Ja, scheint so“, erwiderte Haruka lächelnd und gab ihm einen Kuss. Hand in Hand liefen sie nun die winterlich verschneiten Straßen entlang. Über ihnen erstrahlten die festlichen Lichter, in deren Schein Schneeflocken tanzten. Um sie herum herrschte Weihnachtstrubel, und jeder machte ein glückliches Gesicht. An diesem Tag jedoch konnte niemand so glücklich sein wie Haruka und Shuu. Ein fröhliches verfrühtes Weihnachtsfest wünsche ich auch allen Lesern! Nun ist sie also fertig, meine bisher längste deutsche Fanfic und die erste mit mehreren Kapiteln. Hoffentlich hat sie euch gefallen. Das Schreiben hat mir auf jeden Fall großen Spaß gemacht, und da ich auf den Geschmack gekommen bin, werdet ihr wohl wieder mal längere Sachen von mir lesen können. Einige Sachen möchte ich hier gern erklären: Ich weiß, einige von euch haben sicher gedacht, Haruka würde in dem Flugzeug abstürzen und ums Leben kommen. Zwar habe ich beim Schreiben mit dem Gedanken gespielt, aber dann erschien mir das als zu klischeehaft. Schließlich ist die Wahrscheinlichkeit, einen Flug zu überleben, höher als die, ihn nicht zu überleben. Außerdem sollte das hier kein Melodram werden oder so was, sondern eher eine Reflexion zum Thema Selbstständigkeit und inwiefern man anderen Menschen braucht, um seine Träume zu verwirklichen. Ich persönlich denke, dass zwar jeder mehr oder weniger allein klarkommen muss, aber wenn man jemanden hat, der die gleichen Ziele verfolgt, und man sich gegenseitig unterstützen kann, sollte man froh sein. Selbst der Einzelgänger Shuu musste das mal irgendwann begreifen. XD Ich bin sehr gespannt auf eure Kommentare! Über Lob und natürlich auch konstruktive Kritik würde ich mich sehr freuen. ;) Alles Liebe Julia PS: Das Ende klingt vielleicht etwas kitschig, soll aber eine Anspielung auf den Prolog sein. Epilog: Epilog -------------- Der Schneefall war weniger geworden, und nur noch ganz sacht segelten vereinzelte Flocken vom Himmel. Shuus Hand hielt die von Haruka immer noch fest umklammert, während sie die Straßen entlang zu ihrem Haus schlenderten. Ihr weißer Atem tanzte synchron vor ihnen her, und ihre Füße hinterließen parallele Abdrücke. So ist das wohl, wenn man den gleichen Weg geht, dachte Shuu. Von nun an würden sie noch viele parallele Fußabdrücke hinterlassen... „Hey, Shuu, träumst du? Wir sind da!“ Haruka wedelte ihm vor dem Gesicht herum. „Nein, ich träume nicht“, erwiderte er. Zusammen betraten sie das warme Haus und machten es sich gemütlich. Sie kuschelten sich am Feuer zusammen, tranken heiße Schokolade und berichteten dem anderen alles, was sie im letzten Jahr erlebt hatten. „Frohe Weihnachten“, murmelte Haruka kurz vor dem Einschlafen. „Frohe Weihnachten“, antwortete Shuu und lächelte. Manchmal war die Realität eben doch der beste Traum. "Danke, lieber Schnee." Vielen Dank für die vielen Kommentare! Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)