Schall und Rauch von Ryu-Stoepsel (Which path will you choose?) ================================================================================ Kapitel 44: ------------ Achtung! Extrem langes Kapitel. :) Schaut nochmal bei K 42 vorbei - neue Elphie-Zeichnung ____________ K 44 „Heiliger Strohsack!“, rief der junge Soldat erschrocken aus, als plötzlich aus dem Nichts ein gleißend heller Blitz auftauchte, gefolgt von einem lauten Donnergrollen. „Ich fühle mich geehrt!“, nickte Fiyero und machte ein ernstes Gesicht. Londaro prustete neben ihm. Der junge Soldat wurde puterrot. „Männer, ab in eure Zelte! Seht zu, dass ihr euch noch etwas ausruht! Länger als eine halbe Stunde wird das nicht andauern!“, rief der Kommandant und alle Männer stoben in ihre Zelte. Auch der Kommandant ging auf sein Zelt zu, drehte sich noch einmal um und nickte dem Scheuch und dem Mann, die noch immer auf der Decke saßen, zu, bevor er in sein sicheres Zelt verschwand. „Fiyero, worauf wartest du?“, fragte Londaro rhetorisch. Er war schon aufgestanden und sah nun auf den Scheuch herab, der sich nicht rührte. „Auf Sonne.“ „Kommst du etwa nicht mit ins Zelt?“, fragte Londaro überrascht. „Du weißt doch, mir macht der Regen nichts!“ „Fiyero… Es blitzt. Und lass mich raten, was passiert, wenn du vom Bli...“ „Schon gut!“, lachte Fiyero und in diesem Moment fing es kräftig an zu regnen, „Überredet!“ Als Fiyero sah, wie Londaro sich schützend die Hände über den Kopf hielt, packte er sich den dunkelhaarigen Mann und beugte sich etwas über ihn. Fiyero war etwas größer als Londaro, von daher wurde Londaro kaum noch nass. Im Gleichschritt liefen sie dann zu ihrem Zelt und der Sekretär plumpste unsanft durch die Zeltöffnung. „Alles klar?“, fragte Fiyero, als er sich durch das Loch gezwängt hatte und gerade dabei war, den Reißverschluss zuzuziehen. „Na sicher! Mehr Hämatome kann ich mir eh nicht mehr zuziehen, als ich ohnehin schon habe!“, lachte der brünette Mann und rieb sich schmerzend den Hintern. Fiyero grinste und setzte sich auf die linke Matte, die in den Zeltboden eingebaut war, da Londaro auf der rechten Matte saß. „Was meinst du, Fiyero? Sollen wir uns noch eine Runde auf’s Ohr hauen, bevor es gleich weiter geht?“ „Mach nur, ich kann ohnehin nicht schlafen!“ „Warum?“ „Weil ich eine Vogelscheuche bin!“, lachte Fiyero und Londaro errötete leicht. „Mensch… Daran denke ich nie! Tut mir leid, man.“ „Ach, Blödsinn! Ist doch mal echt angenehm, menschliche Fähigkeiten zugeschrieben zu bekommen!“ „Nervt dich das nicht, dass du all solche Dinge nicht mehr kannst?“ Londaro schien sehr interessiert an der Vogelscheuche zu sein, denn er setzte sich Fiyero genau gegenüber und stützte seine Hände auf den angewinkelten Beinen ab. „Im Moment macht es mir alles einfacher, aber ich muss auch zugeben, dass ich die erste Zeit echt Probleme damit hatte… Ich meine, sieh mich an! Da kannst du alles außer Lesen oder Raben verscheuchen vergessen!“ „Das ist doch Blödsinn! Du hast doch viele Möglichkeiten!“ „Ach ja und welche?“ „Du kannst zum Beispiel in den militärischen Dienst eintreten oder ehrenamtliche Arbeiten verrichten oder was auch immer! Du hast besondere Fähigkeiten!“ „Ich kapier nicht, was du meinst…“ „Du wirst nie müde, du brauchst kein essen, du schläfst nicht und du bist unverletzbar! Was meinst du, wo du alles eine Anstellung bekommen würdest? Die meisten Leute würden dich mit Kusshand empfangen und ich mein… jetzt mal ehrlich! Du bist zwar ein schräger Vogel, aber du bist schon ein ganz ordentlicher Kumpel!“, lachte Londaro, langte hinüber zu Fiyero und klopfte ihm anerkennend auf die Strohschulter. „So habe ich das noch nie gesehen…“, murmelte Fiyero nachdenklich und starrte auf seine Hände. „Kein Problem!“, grinste Londaro und war froh, dem Scheuch einen ordentlichen Denkanstoß gegeben zu haben. Er wusste nicht warum, aber der Mann hinter dem Stroh war ihm sehr sympathisch. „Wie? Was?“ Fiyero blickte verwirrt auf: „Achso! Ja, danke schön!“, lachte er dann. Londaro zog sich seufzend die Schuhe aus und rieb seine Fußsohlen: „Meine Güte! Das tut vielleicht weh! Das ist das erste Mal, dass ich meine Schneestiefel benutzen kann! Ich glaub, ich hab mir ne dicke Blase gelaufen!“ „Anscheinend noch ein Problem, das ich nicht habe!“, grinste Fiyero und griff nach dem Schuh, welchen Londaro gerade ausgezogen hatte. „Auch noch einer von der guten Marke!“, grinste der Scheuch, als er mit seiner Strohfaust gegen die Schuhsohle klopfte!“ „Na klar… Ahh…“, stöhnte Londaro und rieb sich weiterhin die Fußsohlen. Schnell stellte Fiyero den Schuh beiseite: „Du machst das ganz falsch! Nimm die Daumen und… guck, so!“ Fiyero zeigte dem Mann, wie er seine Füße massieren sollte, doch es gelang ihm nicht: „Ach, verdammt! Das tut noch mehr weh!“ „Meine Herren!“, lachte Fiyero, „Du bist aber unbegabt!“ „Danke!“, grinste Londaro, „Da geht es gleich leichter von der Hand!“ „Nicht wahr? Streck mal deinen Fuß aus!“ Londaro zog vor Überraschung seine Augenbrauen in die Höhe, sagte aber nichts. Als er merkte, wie Fiyeros Stroh seine Füße kitzelte, musste er auflachen: „Das hilft auch nicht wirklich!“ „Mit Händen ging das mal besser! Warte… so gut?“, fragte Fiyero und drückte etwas fester, sodass sein Stroh nicht mehr kitzeln konnte. „Hallo Tugend, das fühlt sich klasse an! Ja, genau da hab ich irgendwas!“, murmelte Londaro und schloss die Augen. Der Regen prasselte laut gegen die Zeltwände und hatte eine entspannende Wirkung. So saßen die beiden Männer eine Weile dort, bis sie die Stimme des Kommandanten hörten: „MÄNNER! ES GEHT WEITER!“ „Londaro?“, fragte Fiyero leise. „He, Londar…“ “Was? Was ist los?”, fragte der Mann und schreckte hoch. „Es geht weiter! Der Regen hat aufgehört! Du bist eingeschlafen!“ „Oh man, das habe ich ja gar nicht mitbekommen!“, nuschelte Londaro und zog vorsichtig seinen anderen Fuß aus Fiyeros Händen. „Danke, man!“, grinste er, als er sich schnell seine Socken und Schuhe wieder anzog. „Kein Ding!“, nickte Fiyero und öffnete den Zeltausgang. Dann kroch er hinaus. „Aaaah! Scheuch Fiyero, da sind Sie ja! Können Sie uns ab hier führen?“, fragte der Kommandant, als er näher kam. „Ja, Sir. Wie wir es vorhin abgesprochen hatten.“ „Wunderbar! MÄNNER! BEEILUNG!“, schrie der Kommandant und wendete sich von der Vogelscheuche ab. „Aber Sir?“, begann Fiyero und sprach erst weiter, als ihn der Kommandant ansah, „Wäre es nicht klug zu warten, bis es wirklich aufgehört hat, zu regnen?“ „Wenn Sie dann den Part übernehmen, Accursia Akaber zu erklären, warum wir viel zu spät eintreffen, bin ich damit einverstanden!“, lachte der alte Mann. „Überredet!“, grinste Fiyero und als Londaro kurze Zeit später aus dem Zelt gekrochen kam, machte er sich daran, dieses abzubauen. Es dauerte keine halbe Stunde mehr, da hatte der kleine Trupp alle Sachen zusammengepackt und sie durchquerten im leichten Nieselregen den Engpass. Als sie dann die Brücke überquert hatten, rief der Kommandant Fiyero nach vorne. „Worauf wartest du?“, fragte Fiyero an Londaro gewandt, als dieser keine Anstalten machte, mit dem Scheuch mitzugehen. „Ich… ahm… auf gar nichts!“, lachte der Sekretär und kratzte sich dabei am Kopf. Zusammen eilten die Männer dann an die Spitze des Trupps und klärten die letzten Details mit dem Oberbefehlshaber ab. „Gibt es sonst noch etwas, auf was meine Männer achten müssten?“, fragte der Kommandant mit lauter Stimme. Fiyero blickte besorgt zu den Gipfeln der großen Kallen. Kiamo Ko war mindestens noch einen 15-Stunden-Marsch entfernt… Aber es schien, als würden die Berge die Gewitterwolken in der Höhe gefangen halten. „Egal was passiert, sie dürfen niemals vom Weg abkommen. Niemals!“, sagte Fiyero und erinnerte sich, wie er einmal bei Regen vom Weg abgekommen und im Schlamm ausgerutscht war. Bei der darauffolgenden Rutschpartie wäre ihm beinahe sein Strohkopf abgerissen worden. „Alles klar!“, nickte der Kommandant und brüllte den Männern zu, was Fiyero gerade gesagt hatte. Londaro hielt sich erschrocken die Ohren zu. Bei diesem Anblick musste Fiyero grinsen. „MARSCH!“, schrie der Kommandant und wies Fiyero an, endlich loszugehen. Es waren gerade mal drei Uhr am Nachmittag, doch dem Scheuch kam es vor, als hätte die Welt sich verdunkelt. Im andauernden Regen marschierte der in Richtung Kiamo Ko und der Wald verschluckte sie bald. Elphaba rannte, so schnell sie nur konnte, mit dem Regenschirm in ihrer Hand durch die nassen Straßen von Vorko. Als der erste Tropfen ihre Haut berührte, funkelte die Träne um ihren Hals grell auf, doch Elphaba blieb nicht stehen. Sie wurde nur von einem einzigen Gedanken gesteuert: Glinda. Seit Elphaba die Freundin kannte, hatte sie bei jedem Gewitter leichte, aber auch oft ganz schön heftige Panikattacken bekommen. Jedoch hatte Elphaba nie erfahren, ob es dafür einen anderen Grund gab, außer Glindas offensichtliche Abneigung gegen schlechtes Wetter. Als sie das Leuchten der Kette wahrnahm, wunderte sich die Hexe: ‚Nanu? Was soll das denn jetzt? Als ich meine Füße in den See oder meine Hände beim Tomatenwaschen unter den Wasserhahn gehalten habe, hat sie doch auch nicht geleuchtet?’ Elphaba hatte zwar das Gefühl, dass dieser plötzliche und vor allem heftige Regen keinen natürlichen Ursprung hatte, dennoch wusste sie nicht, warum die Kette so reagierte. Aber in Anbetracht der Situation war Elphaba Thropp diese scheinbare Kleinigkeit ganz egal. Als der nächste gleißende Lichtstrahl vom Himmel herabfuhr und der augenblicklich nachfolgende Donnerschlag ohrenbetäubend laut war, klappte Elphaba den Regenschirm während des Laufens zu und sprintete noch schneller in Richtung Torbogen. Die Häuser rasten an ihr vorbei und verschwammen durch die hohe Geschwindigkeit zu einem fließenden Bild aus bunten Leuchtpunkten und beschwingten Streifen. Elphabas Blick war so auf den Torbogen fixiert, dass sie auch nicht wahrnahm, wie der Mini-Schneemann aufgrund ihres Vorbeihastens seine Steinaugen verlor. Es kam ihr wie eine Ewigkeit vor, als sie endlich ihren Besen erreichte und sofort in die Höhe stieg. Trotz der Uhrzeit war es beinahe schon dunkel, sodass sich die Hexe auch nicht darum scherte, ob jemand sie sah. Sie wiederholte den Schnelligkeitszauber so oft, dass ihr die Augen tränten und der Wind sie beinahe peitschte. Auf dem Besen machte sie sich ganz klein und konnte fühlen, wie durchnässt sie schon war. Unter normalen Umständen hätte sie erbärmlich gefroren, doch jetzt hoffte sie nur, Glinda würde durchhalten. Die Tränen in ihren Augen ließen das Bild verschwimmen, doch die Hexe erkannte noch die Umrisse von Kiamo Ko. Als sie trotz des schnellen Tempos nur langsam der Burg näher kam, fühlte sie, wie sich das Gefühl der Erleichterung in sich breitmachte und fragte sich, woher dies so plötzlich kam. Als sie kurz vor Kiamo Ko war, schoss ihr ein Name durch den Kopf. „Madame Akaber!“, hauchte sie gegen den Wind, „Sie lebt! Ich habe sie nicht umgebracht!“ In diesem Moment wusste sie, woher das Gefühl der Erleichterung rührte und sie dachte angestrengt darüber nach, wie sie Glinda das mit dem Artikel erklären sollte. Als Elphaba jedoch Kiamo Ko direkt vor sich sah und eine Sturzlandung machen musste, verschwanden diese Überlegungen genauso schnell wieder, wie sie aufgetaucht waren. Im letzten Moment sprang die Hexe von ihrem Besen und rollte sich reflexartig über ihre Schulter ab. Sofort schossen ihr die Erinnerungen an jene Nacht durch den Kopf, als sie auf einem der smaragdischen Dächer in genau derselben Art und Weise gelandet war. Eigentlich war die Situation dieselbe: Sie musste Glinda beistehen, jedoch hatte sie nun nicht einmal einen Kratzer. Eilig griff sie nach ihrem Besen und rannte zu dem großen Eingangstor. Als sie im Dunkeln durch die Eingangshalle rannte, die sporadisch von gleißenden Blitzen erhellt wurde, warf sie ihren Besen hektisch in eine Ecke und öffnete die Tür zum Wohnsaal. Auch dieser lag in Finsternis vor ihr, doch sie rannte weiter. Während sie jedoch diesen Saal durchquerte, riss sie ihre Arme in die Höhe: „Flamara!“ In sekundenschnelle brannten alle Kerzen im Raum und die Glut des Feuers loderte erneut auf. Ein lauter Donnerschlag ließ ihr Herz für einen Schlag aussetzen und sie eilte die Wendeltreppe hinauf, wobei sie zwei Stufen auf einmal nahm. Die Wassertropfen hinterließen eine Spur bei jeder Bewegung, die Elphaba machte. Keuchend und ganz außer Atem erreichte sie endlich ihre Schlafzimmertür. Sie hielt einen Moment inne, atmete einmal tief durch, schluckte und horchte. Das laute Geprassel des Regens war sogar durch die Zimmertür zu hören und ein erneutes Donnergrollen verschluckte all die anderen Geräusche. Mit pochendem Herzen und noch immer nasser Hand drückte Elphaba vorsichtig die Klinke runter und schob die Tür langsam auf. Der Raum war ebenfalls recht dunkel, sodass die Hexe gerade mal die Konturen ihrer Möbel erkannte. Das Feuer war erloschen. Behutsam setzte sie einen Fuß vor den anderen und ging lautlos an die Bettseite, auf welcher sie letzte Nacht geschlafen hatte. Nun erkannte sie auch die Umrisse von Glindas Locken und der Bettdecke, unter welcher sie liegen musste. Erneut ließ Elphaba den Kamin auflodern und die wiederbelebten Flammen erhellten den Raum augenblicklich. Es dauerte einen Moment, bis sich ihre Augen an die plötzliche Helligkeit gewöhnt hatten, doch dann sah sie, wie Glinda sich weit unter der dicken Bettdecke verkrochen hatte. Ein leises Wimmern drang an ihre Ohren und sie konnte sehen, wie die blonde Schönheit unter der Decke heftig zitterte. „Glinda?“, flüsterte sie leise und ging dabei auf die andere Seite des Bettes, „Glinda? Ich bin wieder da… Glin…“ Ein plötzlicher Donnerschlag übertönte Elphabas Worte und sie fuhr erschrocken zusammen. Auch Glindas Körper zuckte unkontrolliert bei diesem dröhnenden Geräusch. ‚Das ist aber auch ein Unwetter!’, ärgerte sich Elphaba innerlich und ließ sich dann neben ihrem Bett auf die Knie nieder, da sie noch immer durchnässt war. Als sie sich mit ihrer Hand auf dem Boden abstützend wollte, fühlte sie etwas weiches auf dem Boden und hob das noch immer feuchte Handtuch ins Licht. ‚Das kommt mir ja gerade recht…’, dachte Elphaba und wischte sich die letzten Regentropfen aus ihrem Gesicht. Dann legte sie das Handtuch wieder beiseite. Da ihr Oberkörper jedoch gestreckt war und sie nicht auf ihren Füßen saß, war Elphaba immer noch eine Kopf größer, als die im Bett liegende Glinda. Sanft legte sie ihre Hand auf die Stelle der Bettdecke, unter welcher Glindas Schulter sein musste. „Glinda… Du bist in Sicherheit… Ich bin…“, flüsterte Elphaba und hielt plötzlich inne. Vorsichtig lehnte sie sich ein Stück nach vorne und zog die Bettdecke etwas zurück. Glindas Augen waren geschlossen. Ihre Augenlieder zuckten von Zeit zu Zeit, aber es war eindeutig zu erkennen, dass sie schlief. Eilig stand Elphaba auf und schlich ins Badezimmer. Lautlos stellte sie ihre Tasche ab, zog sich aus und rubbelte ihren nackten Körper mit einem dicken Handtuch trocken. Dann wickelte sie sich in das Handtuch ein und schlich zurück in ihr Schlafzimmer. Glinda wimmerte immer noch und Elphabas Herz setzte abermals einen Schlag aus. Sie wusste, dass Glinda sie nun brauchte. Also beeilte sie sich, so leise wie möglich den Schrank zu öffnen und schlüpfte in eine trockene Unterhose. Da sie im Licht des Feuers stand und ihr Schatten auf den Schrank geworfen wurde, griff sie ohne zu sehen hinein und zog ein kurzes, ärmelloses Nachthemd heraus. „Ach, was soll’s…“, murmelte sie, als Glinda laut aufschluchzte. Schnell zog Elphaba sich das Hemd über den Kopf, schloss die Schranktür und eilte zu ihrer Seite des Bettes. Als sie ihre Bettdecke zurückwarf, um darunter kriechen zu können, sah sie einen schwarzen Schatten durch die Luft fliegen und kurz darauf war ein leiser Aufprall zu hören. Neugierig stellte sie sich auf die Zehenspitzen, um sehen zu können, was sie da gerade vom Bett geworfen hatte. Als sie den Gegenstand im Schein des Feuers erkannte, hielt sie verwundert inne: ‚Mein Stift?’ Mit einem erneuten Blick auf Glinda war ihr alles klar. Zwischen ihrer und der Bettdecke von Glinda lag ein weißes, unbeschriebenes Blatt und Elphaba nahm an, Glinda wäre noch vor dem offensichtlich gewollten Schreiben eingeschlafen. Ohne noch einmal genauer hinzusehen hob Elphaba das Blatt auf und legte es auf den Nachtisch an ihrer Seite des Bettes. Als sie sich gerade zurückdrehen wollte, erklang das nächste Donnergrollen und Glinda zuckte abermals zusammen. Ohne jegliche Vorwarnung sah Elphaba aus ihrem Augenwinkel, wie Glinda in die Höhe schoss und in das Feuer starrte. Augenblicklich erfüllte ein panischer Schrei das Zimmer und ließ Elphaba zusammen fahren. Sofort danach brach Glinda weinend zusammen. „Emely! Nein, Emely… Emely.. NEIN! NEIN! NEEEEEEEEEEEIN!” Die blonden Locken bewegten sich ruhelos unter dem bebenden Körper. Glindas Hände waren zu zwei festen Fäusten geballt, die unaufhörlich auf die Bettdecke einschlugen. Ihre Beine strampelten und Elphaba hatte große Probleme damit, den zitternden Körper der Freundin zu fassen. Den Namen ‚Emely’ hatte sie noch nie aus Glindas Mund gehört. „Glinda… Glinda…“, wiederholte sie hilflos. Glinda schien sie überhaupt nicht wahrzunehmen. „Glinda!“ Elphaba rief den Namen nun fast schon aus doch ihr strenger Ton schien bis zu Glinda durchgedrungen zu sein. Die blonde Frau zuckte kurz zusammen, bevor ihr Körper aufhörte, sich unaufhörlich hin und her zu bewegen. Die blonde Frau wandte ihr Gesicht zögernd vom Feuer ab. Mit verstörtem Blick und tränenerfüllten Augen blickte Glinda in die Richtung von Elphabas Kopf, jedoch bemerkte die Hexe, dass die blauen Augen sie nicht wirklich ansahen. Elphaba erholte sich unverzüglich von ihrem Schock, da sie wusste, Glinda brauchte sie nun mehr als alles andere. Da die blonde Frau sich nicht mehr unkontrollierbar umherwarf, rutschte Elphaba ein Stück näher an sie heran. „Glinda…“, sagte sie leise, als sie zärtlich ihre rechte Hand auf Glindas linke Wange legte, „Glinda, ich bin es, Elphaba. Alles ist gut. Es war nur ein Traum. Es ist vorbei…“ Elphaba wusste nicht, ob Glinda sie überhaupt hörte und versuchte verzweifelt, in die sonst so leuchtend blauen Augen zu blicken. „Glinda…“, flüsterte sie erneut, doch die blonde Frau reagierte noch immer nicht. Immer wieder schluchzte sie auf: „Emely…“ und geistesabwesend starrte sie durch Elphaba hindurch. Also legte diese ihre andere Hand auf Glindas freie Wange, hob ihren Kopf leicht an und sagte erneut, diesmal mit fester Stimme: „Glinda, ich bin es, Elphaba.“ Elphaba sah, wie Glinda kurz blinzelte und die blauen Augen dann endlich die ihren suchten. Der Schatten auf Glindas Gesicht fiel ab, als sie Elphabas zärtliche Berührung fühlte, die blauen Augen zeigten endlich wieder eine lebendige Regung. Durch das verschwommene Bild ihrer Tränen erkannte Glinda Elphaba und fühlte die warmen Finger auf ihren Wangen. „Elphaba…“, stöhnte sie mit heiserer Stimme. Ihre Stimmbänder waren von den grellen Schreien ganz wund. „Glinda, ich bin hier. Alles ist gut…“, flüsterte die Hexe ruhig und streichelte zärtlich Glindas heiße Wange, die noch immer ganz nass von den Tränen war. Als die blonde Frau die Berührungen auf ihrer Wange fühlte, brach sie weinend zusammen und Elphabas Arme umschlossen sie sanft. „Alles wird gut, Glinda… Ich bin ja hier…“, flüsterte Elphaba besänftigend, zog die zitternde Frau ganz nah an sich heran und streichelte die bebenden Locken. Da diese Situation so unerwartet eingetreten war, befand sich Elphaba in einer unkomfortablen Haltung zwischen sitzen und liegen. Glinda hatte ihren Kopf auf die knochige Schulter gelegt und weinte heftig. Also drückte die Hexe ihre Freundin sanft von sich weg und rutschte etwas höher, damit sie ihren Rücken am Kopfende des Bettes anlehnen konnte. Dann zog sie Glinda zu sich heran und positionierte sie zwischen ihren Beinen. Als die blonde Frau sich mit ihrer linken Seite gegen Elphaba kuschelte und ihr Gesicht in Elphabas Brust vergrub, legte diese beide Arme um die Freundin und wiegte sie sanft hin und her. Aus dem Augenwinkel sah Elphaba den nächsten Blitz und der leise Donnerschlag folgte gleich darauf. Erneut zuckte Glinda zusammen und schrie auf. Elphaba drückte sie an sich, während das Schluchzen wieder stärker wurde. Hilflos sahen die dunklen Augen auf die blonden Locken, die durch das wilde herumschlagen und –treten ganz durcheinander waren. ‚So schlimm war es noch nie….’, dachte Elphaba verzweifel, ‚Sonst hat es immer geholfen, wenn ich sie gehalten und gestreichelt habe….’ Glinda schluchzte erneut laut auf. „Emely…nein… “, flüsterte sie weinend. ‚Was soll ich nur tun?’, fragte sich die Hexe, als sie Glindas Worte hörte. Plötzlich erleuchtete ein so heller Blitzschlag das Zimmer, sodass Elphaba blinzeln musste. Im Einklang mit diesem Blitz donnerte es auch so heftig, dass die Scheiben des Zimmers leicht vibrierten. Erschrocken hielt Elphaba den Atem an und starrte hinab auf Glinda, die in ihren Armen auch aufgehört hatte zu atmen. Nach nur einer Sekunde der absoluten Stille wollte sich Glinda ruckartig aufsetzen, doch Elphaba hielt sie fest. Sie wusste, wenn sie die Freundin nun loslassen würde, würde sie sie nicht mehr zu fassen kriegen. Wütend strampelte und boxte Glinda um sich und traf Elphaba dabei am Kinn. „Es war meine Schuld!“, schrie sie, außer sich vor Wut und Frustration, „Es ist alles meine Schuld!“ Glindas Schreie dröhnten in Elphabas Ohren und ihr Kinn schmerzte, doch sie wusste Glinda würde gar nicht erst auf ihre Fragen eingehen. Kurz ließ sie Glinda los und packte sich mit festem Griff die schmalen Handgelenke. Dann umarmte sie den ruhelosen Körper erneut, sodass Glindas Arme um die eigenen Hüften lagen. Jetzt konnte sie nur noch mit den Beinen strampeln und warf dabei die Bettdecke auf den Boden. Reflexartig hob Elphaba ihre Beine an und drückte dann mit ihnen Glindas Beine auf das Bett. Dann atmete sie einmal tief durch, um ihre Gedanken zu ordnen und dann entschloss sie sich dazu, einfach auf ihre innere Stimme zu hören. Sie fühlte, wie Glindas Muskeln sich immer wieder anspannten und gegen Elphabas Beine und Arme drückten. Als Glinda jedoch heftig ihren Kopf zurückwarf und dabei auf Elphabas Brustkorb aufschlug, wusste die Hexe, dass sie nun etwas tun musste. „Glinda!“, sagte sie mit lauter Stimme, doch die Frau versuchte immer wieder sich mit aller Kraft aus Elphabas festem Griff zu befreien. Die Hexe atmete einmal tief ein und begann dann, eine immer lauter werdende Melodie zu summen. Glinda verbalisierte ihren Widerstand mit kurzen Schreien, in denen ihre Verzweiflung und Wut deutlich wurde. Als Elphaba begann, etwas lauter zu summen, wurden die Schreie langsam leiser und ebbten ab. Elphaba hörte ihre eigene Melodie und wie gewöhnlich formten sich die Worte passend zu diesen Tönen einfach so in ihrem Kopf. Erst da begann die Hexe leise zu singen: „Do not be afraid, my sweet. I am here for you. I always will be. I’ll give you what you need. Do not be afraid, my sweet. Do not be afraid of what morning will bring. Just close your eyes And trust me. Because the sun will rise And brighten your worries. Do not be afraid, my sweet And feel my embrace. Feel my warmth And my love In so many ways. Do not be afraid, my sweet. I am here for you. I always will be. I’ll give you what you need. Just close your eyes And you will see – The sun will rise to change the terribly. The terribly – This you will see – Was nothing but a lie. This, my sweet You will know When the sun hits the sky. So close your eyes And go back to sleep. I am here for you And I’ll give you what you need. You are safe in my arms. I will hold on to you. Never again letting you go. There is nothing in here. Nothing that you harms. So close your eyes And go back to sleep. I am here for you And I’ll give you what you need.” Mit jeder Strophe wurde Glindas Atem regelmäßiger und ihr Körper ruhiger. Ihre verkrampften Hände entspannten sich, sodass auch Elphaba ihren Griff etwas lockern konnte. Glindas Beine drückten nicht mehr unaufhörlich gegen die von Elphaba und ihren Kopf hatte Glinda während des Liedes langsam auf Elphabas Brustkorb sinken lassen. Die ruhige Melodie, die bedachten Worte und der langsame Rhythmus schienen den zitternden Körper eingenommen zu haben und als Elphaba ihr Lied summend ausklingen ließ, hörte sie Glindas vertrautes Murmeln, welches sie immer im Schlaf von sich gab. Erschöpft lehnte Elphaba ihren Kopf gegen das Ende des Bettes und seufzte. Erst jetzt merkte sie, wie sehr sie schwitzte und wie anstrengend dieser Kampf um Kontrolle gewesen war. Als sie ihre Hände von den dünnen Handgelenken nahm und Glindas Arme streichelte, merkte die Hexe, dass auch Glinda nass geschwitzt war. Sie wunderte sich, woher dieser plötzliche Ausbruch kam und wie Glinda die anderen Gewitter überstanden hatte. Niemals zuvor war es so heftig gewesen, auch nicht während ihrer gemeinsamen Zeit in Shiz. Elphaba hatte auch niemals zuvor daran geglaubt, dass Glindas Angst einen tieferen Grund besaß. Doch was Glinda gerade durchgemacht hatte, war keine bloße Angst, sondern es war eine heftige Panikattacke gewesen und Elphaba wusste genau, dass solche Attacken nicht von irgendwoher kamen und aus dem Nichts auftauchten. ‚Dafür muss es einen komplexeren Grund geben….’, dachte die Hexe und schloss müde die Augen, ‚Einen weitaus komplexeren Grund, als die bloße Abneigung gegen schlechtes Wetter… Und dieser Grund ist wahrscheinlich viel schrecklicher, als ich ahnen kann….’ Bei diesem Gedanken seufzte Elphaba erneut. Sie fragte sich, warum sie daran nicht früher gedacht hatte. Mit dem dritten Seufzer schob sie die aufsteigenden Schuldgefühle zur Seite. ‚Glinda hat mir nie Grund zu dem Anlass gegeben, dass sie irgendetwas in traumatischer Art und Weise beschäftigt. Wie hätte ich es also ahnen können?’, dachte die Hexe und wusste, dass sie Recht hatte. Als ihre Wanduhr leise läutete, öffnete Elphaba die Augen und sah, dass es erst 15 Uhr waren. Sie war nicht überrascht, dass sie sich trotz der Uhrzeit so müde fühlte, als hätte sie drei Nächte nicht geschlafen. Ihr Kinn schmerzte etwas und im Brustbereich spürte sie ein leises Pochen, genau an der Stelle, welche Glinda mit ihrem Hinterkopf getroffen hatten. Der nächste Blitz ließ nicht lange auf sich warten und sofort begann Elphaba wieder, die Melodie zu summen. Beruhigt stellte sie fest, dass der darauffolgende Donner nicht mehr ganz so laut war. Bei dem fernen Donnergrollen bewegte sich die Frau in ihren Armen nur leicht. Noch immer summend schloss Elphaba die Augen und legte zärtlich ihre Arme um Glindas Oberkörper. Als es klopfte, küsste Meredith ihre Frau ein letztes Mal, jedoch mit solch einer Leidenschaft, dass beiden die Luft wegblieb. „Ich liebe dich…“, flüsterte Meredith atemlos. „Ich liebe dich auch…“, hauchte Reseda und sah ihrer wunderschönen Frau ein letztes Mal tief in die Augen, bevor sie sich, wie abgesprochen, schlafend stellte. Ohne auf eine Antwort zu warten, öffnete Ramón die Tür und sah, wie Meredith mit dem Rücken zu ihm an Resedas Seite saß. „Meredith, es ist Zeit zu geh….“, begann der blonde Mann und hielt dann verblüfft inne, als Mutter Meredith sich zu ihm umdrehte. Sie trug ein schwarz-weiß gepunktetes Kleid, welches bis zum Hals geschlossen war und um ihre Hüfte war ein schwarzes Seidenband zu einer Schleife gebunden worden. Darüber trug sie eine schwarze Kette und die roten Haare fielen ihr über die Schultern. Ihre Augenlider waren in einem hellen grün geschminkt, was ihre grünen Augen noch stärker leuchten ließ. Sie sah umwerfend aus. „… zu gehen.“, setzte Ramón fort, als er seine Stimme wiedergefunden hatte. „Das hier ist Domingus Wigluv.“ Bei diesen Worten deutet Ramón auf den dunkelhaarigen Mann neben sich. Er war groß und schlaksig. Seine etwas längeren schwarzen Haare fielen ihm etwas strähnig ins Gesicht und er schien übergroße Hände und Füße zu haben. Letztere steckten in polierten, schwarzen Schuhen, welche zu seinem schwarzen Anzug passten. Darunter trug er ein schwarz-weiß kariertes Hemd und an seiner schwarzen Jacke baumelte eine goldene Brosche. Bei näherem Hinsehen erkannte Meredith, dass dies das neue Wahrzeichen der neuen Oberhäupter von Oz sein musste, denn auf der Brosche war eine kleine 5 zu sehen und darunter standen groß die Buchstaben ‚MA’. Die Augen des Mannes, den Ramón eben als Domingus Wigluv vorgestellt hatte, kamen Meredith sehr stechend vor, jedoch konnte sie nicht genau erkennen, welche Augenfarbe er hatte. Sie schienen farblos zu sein, dennoch funkelten sie enorm. Vielleicht lag das jedoch eher an den dichten, schwarzen Augenbrauen oder an dem kleinen Bart, welchen er am unteren Ende seines Kinns trug. Meredith sah interessiert zu, wie der Mann seinen übergroßen Mittel- und Ringfinger der rechten Hand gegen seine Augen drückte und irgendetwas murmelte. „Danke, Domingus!“, nickte Ramón, als der Mann sich aus dieser merkwürdigen Position löste. Erst jetzt verstand Meredith, dass dieser Mann gerade den Bann von ihrem Zimmer genommen hatte. „Meredith? Du wirst erwartet.“, sagte Ramón feierlich und machte mit seinem Arm eine Geste in Richtung Flur. „Was ist mit Resi?“, fragte die rothaarige Frau besorgt und wandte sich ein letztes Mal um, als sie in Richtung Tür ging. Die Absätze ihrer hohen Schuhe machten bei jedem Schritt ein klackendes Geräusch, während ihre kranke Frau noch immer vorgab, zu schlafen. „Kwen wird sich um sie kümmern. Sie wird pünktlich erscheinen.“ ‚Oh nein…’, dachte Meredith besorgt, in Erinnerung an ihre letzte Begegnung mit dem violetthaarigen Monster, ‚Hoffentlich tut er ihr nichts an…’ Als Ramón und Meredith sich auf den Weg machten, blieb Domingus an der Tür zurück und Meredith sah, wie er seine komische Handbewegung von eben wiederholte. „Ich dachte, ich soll nun meine öffentliche Erklärung abgeben?“, fragte Meredith etwas verwirrt darüber, dass Reseda doch zur gleichen Zeit dort sein sollte. „Nein. Jetzt noch nicht. Erst gegen 19 Uhr… Nun, wahrscheinlich sogar noch eine halbe Stunde später.“, antwortete Ramón, als er Meredith an ihrem Arm durch die langen Flure des Palastes führte. Mit seiner Antwort hatte er Meredith noch mehr verwirrt: „Und wo werde ich jetzt hingebracht, wenn ich doch erst gegen halb acht meine Rede halten soll?“ „Zu den mächtigen Fünf!“ Ramóns Worte jagten Meredith einen kalten Schauer über den Rücken. Sie hatte nicht gedacht, dass sie dieses Gefühl einmal haben würde, doch seit jener Nacht fühlte sie es ständig: Angst. Sie hatte kein Angst vor Accursia Akaber oder wer noch hinter dieser schweren Eichentür auf sie wartete, vor der Ramón nun stehen blieb und klopfte. Sie hatte Angst um Reseda. Als der blonde Mann ihr den Rücken zukehrte, rückte Meredith schnell noch einmal ihren BH zurecht, sodass der Zettel von Margo Blair sie nicht mehr kratzte. Als Reseda vor einigen Stunden erneut aufgewacht war, hatten die beiden Frauen über diesen Zettel gesprochen und waren sich einig darüber gewesen, dass er verschwinden musste. Diesmal wartete Ramón die Antwort ab, bevor er die schwere Tür öffnete. Er selber blieb an der Türschwelle stehen und machte Meredith mit einer Handbewegung klar, dass sie bitte eintreten sollte. Ihr Herzklopfen pochte der rothaarigen Frau in den eigenen Ohren, als Ramón die Tür hinter ihr schloss. Sie stand in einem schmalen, aber lang gezogenem Raum. Der Gang lag im Dämmerlicht der Kerzen vor ihr, welche nur im hinteren Ende des Raumes brannten. Dort hinten stand auch ein mächtiger Holztisch, an welchem vier Frauen saßen. Mit selbstsicherem Gang setzte sich Meredith in Bewegung. Die kahlen Wände warfen das Echo ihrer Stöckelschuhe in regelmäßigen Abständen zurück. Als sie sich dem Tisch näherte, erkannte sie Madame Akaber, welche am Kopfende des Tisches saß und sie anstarrte, genau wie die anderen drei Frauen am Tisch. ‚Und wo ist Nummer Fünf?’, schoss es Meredith durch den Kopf, als sie sah, dass noch zwei Stühle unbesetzt waren. Als sie den Tisch erreicht hatte, blieb sie regungslos davor stehen. „Meredith Schiforsan, Mutter Meredith. Was für eine Augenweide!“, begrüßte Madame Akaber sie mit mächtiger Stimmlage. Meredith sah, wie die einzige Blondine am Tisch bei dem Wort ‚Augenweide’ heftig nickte. „Setzen Sie sich doch, bitte.“, sagte Accursia und deutete auf den Stuhl gegenüber von sich. Ohne ein Wort setzte sich die rothaarige Frau auf den Stuhl am anderen Ende des Tisches und starrte Madame Akaber an. „Also, was genau soll ich sagen?“, fragte sie ohne Umschweife. Madame Akaber wollte gerade zu einer Antwort ansetzten, als die schwere Tür am anderen Ende des Raumes aufflog. Meredith erschreckte sich enorm, dennoch sah man ihr das äußerlich nicht an. Sie machte sich auch keine Mühe nachzusehen, wer da gekommen war. „Hier bin ich!“, schrie eine Frauenstimme und schnelle Schritte waren im Raum zu hören. Madame Akaber nickte nur, als die junge Frau in Meredith Blickfeld gelaufen kam und deutete auf den noch freien Stuhl rechts neben ihr. Mit einem Blick durch die Runde stellte Meredith verwundert fest, dass sie mindestens 15 Jahre älter sein musste, als all die Frauen, bis auf Accursia Akaber, welche an diesem Tisch saßen. Außerdem trug jede Frau das gleiche: eine dunkle Kutte, ohne Kapuze mit demselben Emblem über der linken Brust, wie auch Domingus eines getragen hatte. „Wie ich gerade sagen wollte…“, setzte Madame Akaber erneut an, „… warteten wir noch auf diese junge Dame. Nun sind wir komplett. Also beginnen wir?“ Die anderen Frauen in der Runde nickten im Takt, während die junge Frau noch immer nach Atem rang. Meredith fragte sich, warum sie so gehetzt war und woher sie gerade kam. ‚Irgendwoher kenne ich doch dieses Gesicht…’, dachte sie und versuchte sich zu erinnern. „Elfina? Elfina Rob?“, fragte Meredith atemlos, als sie das Gesicht endlich identifiziert hatte. Madame Akaber hatte gerade etwas über ihre ‚Erwartungen’ an Meredith während der Rede erzählt, wie sie die Erpressung so schön nannte und hielt mitten im Satz inne. Meredith starrte die vermeintliche Elfina an und die blonde Frau von vorhin lehnte sich hinüber. „Wovon spricht sie?“, fragte sie flüsternd und auf die Züge der jungen Frau, die eben noch atemlos gewesen war, trat ein fieses Grinsen. „Ich glaube kaum, dass der Name der Wahrheit entspricht, aber das waren Sie doch, oder nicht?“, wandte sich Meredith nun an die Reporterin, welche Glinda und sie auf dem Ball belästigt hatte. „Ja und ja.“, erwiderte Aylin und die anderen Damen, bis auf Accursia, hatten keine Ahnung, worum es ging. „Dachte ich es mir doch.“, zischte Meredith und fokussierte sich wieder auf Accursia, „Ich höre.“ Mit einem eindeutigen Blick wies Madame Akaber die anderen Frauen an, nun keine Fragen zu stellen und begann dann, Mutter Meredith zu erklären, was sie heute Abend und wie sie es sagen sollte. Nach einer Stunde wurde Meredith von Ramón wieder zurück zu ihrem Zimmer begleitet. Sie war verwirrt, wütend, verletzt, aber am meisten verspürte sie großen Zorn. Die Damen hatten sie nur über ihre eigene Rede informiert und die dazugehörigen Details durchgesprochen, wobei Madame Akaber die meiste Zeit Wortführende gewesen war. Nur diese merkwürdige, hellblonde Frau hatte sich ein paar Mal eingebracht und zwar nur, um die ganze Sache für Meredith noch schwieriger zu gestalten. Sollte sie jemals aus dieser Situation herauskommen, so hatte sich Meredith geschworen, würde sie diese blonde Person höchstpersönlich aufsuchen und ihr das zurückzahlen, was sie ihr gerade angetan hatte. Normalerweise verachtete Meredith so etwas wie Rache oder körperliche Gewalt, aber seit jener Nacht hatte nur der Gedanke an Rache sie noch am Leben gehalten… und ihre Liebe zu Reseda. Meredith war so in ihren Gedanken versunken gewesen, dass sie gar nicht bemerkt hatte, wie Ramón sie zu ihrem Zimmer zurückgeführt hatte. Erst seine Worte holten sie wieder in die Gegenwart zurück: „Ich komme dich und deine Frau in 45 Minuten abholen. Auch sie sollte sich etwas schick machen.“ „Was?“, fragte Meredith überrascht, „Ich dachte Kwen würde…“ „Nein.“, unterbrach Ramón den Satz, „Ich habe ihm eine andere Aufgabe gegeben.“ „Wieso?“ „Weil ich deinem Blick angesehen habe, dass dir unwohl bei dem Gedanken war, dass Kwen deine Frau … fertig macht.“ ‚Fertig machen in sehr doppeldeutiger Weise…’, dachte Meredith und verstand, dass Ramón genau wusste, was er da gerade gesagt hatte. „Das verstehe ich nicht…“, sagte sie schließlich verblüfft, als sie ihre Stimme wiederfand. „Das musst du auch nicht. 44 Minuten.“ „Schon gut!“, entgegnete Meredith hektisch und drehte sich zur Tür um. Sie zuckte erschrocken zusammen, als sie nur wenige Zentimeter vor Domingus innehielt. Sie hatte ihn gar nicht bemerkt. „Bitte.“, sagte der dunkelhaarige Mann mit tiefer Stimme und hielt ihr die Tür auf. „Danke…“, hauchte Meredith und lief eilig in den Raum. ‚Was um alles in Oz wird hier gespielt?’, fragte sie sich innerlich, als sie auf Reseda zuging. „Ela, es hat aufgehört…“ Gideon wiegte seine Frau in seinen Armen hin und her. Die beiden waren von Kwen in dieses Zimmer gebracht worden und nachdem sich jeder von ihnen geduscht und umgezogen hatte, waren sie nicht mehr auseinander gewichen. Sie hatten sich leidenschaftlich geliebt, doch dann war das Gewitter über Oz hereingebrochen… Elanora lag mit dem Gesicht an Gideons Brust gedrückt und weinte leise. „Es ist vorbei…“, flüsterte Gideon mit einem Blick aus dem Fenster und streichelte sanft den Rücken seiner Frau. Er war sehr erleichtert, dass dieses starke Gewitter nun endlich ein Ende hatte. So langsam kam die Sonne wieder hinter den Wolken hervor. „Gideon…“, flüsterte Elanora leise, „Ich halte das nicht aus… Ich halte das nicht aus….“ „Oh, mein Ela-Engel… In solchen Stunden fühle ich mich nicht anders, aber wir müssen uns vor Augen halten, dass wir nichts daran ändern können… und es ist schon so lange her…“, seufzte der Mann und eine Träne kullerte über seine Wange. Elanora setzte sich auf und sah ihren Ehemann mit tränenerfülltem Blick an: „Ich weiß… Ich weiß, dass es schon eine Ewigkeit her ist… beinahe 20 Jahre… und ich weiß auch, dass wir die Vergangenheit nicht ändern können… Aber bei jedem Gewitter sehe ich sie wieder vor mir… Ich höre noch immer Glindas Schreie, die sich mit meinen vermischen… ‚Emely… Emely…’… Ich sehe das Feuer und ich…“ Dann brach ihre Stimme ab und sie biss sich auf die Unterlippe. „Oh, Ela…“, seufzte Gideon erneut und zog seine Frau wieder an seine Brust. Als er zärtlich durch ihr graues Haar strich, flüsterte er: „Es gibt einen Platz… Einen einzigen Platz und dort wird sie nichts und niemand vertreiben können: unser Herz.“ Als Elphaba die Augen öffnete, wusste sie erst nicht, wo sie war. Sie war wach geworden, weil sie geträumt hatte zu ersticken, da sie im Traum einen hohen Druck auf ihrem Brustkorb gespürt hatte. Die Abendsonne schien durch das Fenster und die blonden Locken leuchteten wie immer in solchen Momenten. Mit einem Blick auf Glinda, wusste Elphaba wieder, wo sie war und warum sie diesen Traum gehabt hatte. Ihre Freundin lag noch immer an sie gekuschelt und sie hatte ihren Kopf während des Schlafens nicht bewegt. Elphaba fühlte, wie ihre Haut klebte und erinnerte sich wieder an den Kampf, den sie mit Glinda vor erst drei Stunden gehabt hatte. Vorsichtig löste sie ihre Arme von der Freundin und positionierte diese neben sich, sodass die Hexe aufstehen konnte. Ihre Glieder waren steif, da sie im Sitzen eingeschlafen war und ihr Brustkorb schmerzte, als sie sich aufsetzte. Lautlos schlug Elphaba die Bettdecke zurück, doch der Luftschub wehte das unbeschriebene Blatt Papier von ihrem Nachttisch und es landete auf dem Boden. Langsam stand Elphaba auf. Erst setzte sie ihre Füße auf den Boden und richtete sich dann auf. Bevor sie das Blatt aufhob, streckte und reckte sie sich, um ihre verkrampften Arme und Beine zu lockern. Dann erst bückte sie sich und staunte nicht schlecht, als sie das Blatt vom Boden aufhob. Es war ganz und gar nicht unbeschrieben… Es hatte nur immer auf der falschen Seite gelegen. Elphaba tappste auf nackten Füßen wieder zu ihrem Nachttisch und wollte das Blatt gerade dorthin legen, als ihr der Titel ins Auge fiel. „Parting of the ways – which path will I choose?“, las sie murmelnd und ihr Herz begann schneller zu schlagen. In diesem Moment drehte sich Glinda im Bett um, was Elphaba mit dem Blatt in der Hand erstarren ließ. Ohne den Text gelesen zu haben, wusste Elphaba, dass Glinda es nicht mit Absicht vergessen hatte und irgendetwas sagte der Hexe auch, dass es auch nicht für ihre Augen bestimmt war… Es war nicht Elphabas Neugierde, welche sie davon abhielt, das Blatt ungelesen zu lassen… Es war ihre Angst. ‚Welche Wege meint Glinda mit der Überschrift? Will sie fortgehen?’, fragte sie sich in Gedanken und ohne darüber nachzudenken, drehte sie sich mit dem Blatt in der Hand um und ging in das Badezimmer. Dann schloss sie die Tür und ließ sich auf dem Teppich nieder. Ihre Augen wehrten sich noch einen Moment, die Zeilen wirklich zu lesen. Elphaba war etwas erstaunt: sie hätte Glindas Handschrift nicht identifizieren können, wenn nicht die blonde Frau mit ‚Glinda Hochborn’ unterschrieben hatte. Es war mehr ein Gekritzel und überall war etwas durchgestrichen und wieder neu geschrieben worden. Es dauerte nicht lange und Elphaba erkannte die Struktur eines Gedichts. Dass die Zeilen gekritzelt waren, änderte nichts daran, dass die Worte mit sehr viel Gefühl geschrieben worden waren, denn viele der Buchstaben waren geschwungen oder gezackt… Erst nachdem Elphaba sich mit dem Aufbau der Strophen befasst hatte, konnte sie sich dazu überwinden, auch den Inhalt der Zeilen aufzunehmen und begann zu lesen… “Parting of the ways – Which path will I choose? Is there any place tonight? Will the sun come out and light The shadows creeping through this barren land? Nothing is familiar now looking back I see somehow the future holding out it’s empty hands. And I am the one to realize - It must be destiny, not left a chance with a wave of a hand, in a wasted land, we dance… No truth my soul can trust – will sleep come rescue us? Then I will lay my head down on a bed of steel. After my decision This will never be the same – to close to risk the pain. No touch of skin feels how it used to feel… And I have to be the one Whose feelings somehow are going to peel. And I am the one to realize - It must be destiny, not left a chance with a wave of a hand, in a wasted land, we dance… I chose – I’m gonna be the strength you need tonight. I’m gonna stand beside you when you just can’t fight to hold on. I’m not giving up on the plans we made. If there’s a chance I believe we can find a way… I won’t let you give up now! We will survive all of this somehow! Together. But I am the one to realize - It must be destiny, not left a chance with a wave of a hand, in a wasted land, we dance… and it must be destiny, for only we two. I will know what the meaning of love can do… I am the one to realize It’s getting dangerous, for me to hear you say… it’s getting dangerous, to see you go astray… it’s killing me enough, to wait another day… and it’s killing me enough, to push my feelings far away! But it must be destiny, for only we two. We will know what the meaning of love can do… Glinda Upland Xxx” Mit zitternden Händen ließ Elphaba das Blatt aus ihren Fingern gleiten. Als es zu Boden segelte, starrte sie darauf, als würde es plötzlich anfangen, zu sprechen und ihr erklären, was das alles zu bedeuten hatte. Das Herz in ihrer Brust pochte so heftig, als würde es sich aus ihrem Brustkorb befreien wollen. Ihre Gedanken rasten wirr durch ihren Kopf und sie verstand nichts von dem, was sie da gelesen hatte. Oder vielleicht wollte sie es auch gar nicht verstehen. Mit einer schnellen Handbewegung drehte sie das Blatt um, als sie das Gefühl hatte, die Buchstaben würden vor ihren Augen zu tanzen beginnen. Nun lag die unbeschriebene Seite des Blattes oben, was Elphaba etwas beruhigte. „Das… ich… Das kann doch nicht wahr sein… Ich verstehe das nicht…“, murmelte Elphaba in das sonst menschenleere Badezimmer hinein und konnte den Blick noch immer nicht von dem unschuldig-weißen Papier nehmen. Als Elphaba merkte, dass ihre Gedanken sich weder ordnen konnten, noch wollten, erhob sie sich und ging rückwärts in Richtung Badewanne… Noch immer war ihr Blick auf das Blatt gerichtet. Als ihre Wade die Wanne berührte, tastete sie mit ihrer linken Hand nach dem Wasserhahn und drehte ihn auf. Seufzend ließ sie sich dann auf den Rand der Wanne sinken und ihre Hände verkrampften sich am Badewannenrand. ‚Elphaba….’, mahnte sie sich gedanklich, atmete einmal tief durch und schloss dann die Augen. Abermals holte sie tief Luft und öffnete ihre Augen dann wieder. Jedoch blickte sie nun mit Absicht aus dem großen Panorama-Fenster des Zimmers und sah, wie die Sonne langsam zu sinken begann. ‚Wenn Glinda aufwacht, wird sie dich brauchen… Du kannst sie später danach fragen…’, dachte sie bei sich und zog sich schnell aus. Dann stieg sie in die Wanne, zog den Vorhang zu und wechselte mit einem Knopfdruck die Wasserleitung, sodass das feuchte Nass nun aus der Brause sprudelte. Sie erschrak fürchterlich, als das Wasser ihre Haut berührte und panisch griff sie an ihren Hals. Die Kette war noch da… Mit tiefen Atemzügen beruhigte sie sich. Es dauerte etwas, bis sie die richtige Temperatur gefunden hatte, doch dann ließ sie das ungewohnte, aber faszinierende Gefühl zu, welches das sprudelnde Wasser auf ihrer Haut verursachte. Eilig seifte sie ihren Körper ein und wusch das rabenschwarze Haar. Sie fand es unglaublich, wie schwer und doch samtig es sich anfühlte, denn sonst hatte sie es immer nur mit Trocken-Shampoo ‚waschen’ können. Sie war begeistert davon, wie das Wasser an ihrer Haut abperlte und langsam ihren Rücken hinunterfloss. Das Gefühl ihres nassen Körpers in den eigenen Händen hatte eine andere Wirkung auf sie. Trotz der Nässe merkte Elphaba, wie sich ihre Nackenhärchen aufstellten und schnell öffnete sie wieder ihre Augen, welche sie unter dem Wasserstrahl geschlossen hatte. Verwirrt wusch sie sich das schwarze Haar aus und fragte sich, ob das Duschen an sich auf jeden Menschen eine solche Wirkung hatte. ‚Wenn ja….’, dachte Elphaba verwirrt, aber auch leicht amüsiert, ‚… dann ist es kein Wunder, dass die meisten Menschen so häufig duschen…’ Es dauerte keine weiteren zehn Minuten mehr, bis Elphaba wieder trocken und mit ihrem Morgenmantel bekleidet im Badezimmer stand und amüsiert auf ihren Spiegel starrte. Sie konnte sich darin kaum noch sehen, da der Wasserdampf sich darauf abgelegt hatte. Vorsichtig drückte sie ihren Finger gegen das kalte Glas und bemerkte, wie der Wasserbelag verschwand. Nach kurzer Überlegung machte sie ein paar Bewegungen mit ihrem Zeigefinger und lächelte, als sie den Namen ‚Deena’ las. Erst dann drehte sie sich um und ging in Richtung Tür. Das Blatt lag noch immer an der gleichen Stelle und als Elphaba es aufhob, fühlte es sich etwas klamm an. Ohne das Papier umzudrehen, öffnete Elphaba leise die Tür und sah durch den Spalt hinüber zum Bett. Glinda schien noch immer zu schlafen, also schlich sie zu ihrem Nachttisch und legte das Blatt darauf – mit der beschriebenen Seite nach unten. Kopfschüttelnd setzte sie sich auf ihre Bettseite, als die Zeilen des Gedichts ihr wieder in den Sinn kamen. ‚Sie hat tatsächlich etwas von einer aussichtslosen Zukunft geschrieben… und sie hat die Wörter Schicksal und … Liebe… benutzt….’, dachte Elphaba verwirrt und schob die Gedanken sofort wieder zu Seite, als sie merkte, wie Glinda sich neben ihr bewegte. Elphaba wusste nicht, ob sie Glinda danach fragen würde oder nicht… Sie beschloss, im entscheidenden Moment ihrer inneren Stimme die Führung zu überlassen. Als sie hörte, wie die blonde Frau neben ihr leise murmelte, schlüpfte Elphaba unter ihre Bettdecke und drehte sich mit ihrem Gesicht zu Glinda, in dem Wissen, dass es nicht mehr lange dauern konnte, bis die Freundin aufwachen würde. Glinda erwachte aus ihrem Halb-Schlaf, als sie fühlte, wie jemand ihr zärtlich über den Rücken streichelte. Ohne die Augen zu öffnen, griff sie unter den Bettdecken nach dieser Hand, zog sie zu sich hin und kuschelte sich dann gegen den warmen Körper und in den Arm hinein. Sie erinnerte sich an ihren Traum und sie wusste auch, dass Elphaba da gewesen sein musste, aber die Details waren noch verschwommen. Elphaba schwieg, als sie fühlte, wie Glinda sich an sie kuschelte und den sonst grünen Arm eigenständig um sich legte. Sie schwieg auch noch nach einer Weile, als ihre eigenen Finger die Lücken zwischen denen von Glinda suchten und sie schließlich füllten. Auch Glinda schwieg, als sie horchend feststellte, dass das Gewitter abgeklungen war und sie schwieg immer noch, als sie sich nach längerer Zeit zu Elphaba umdrehte und ihre Augen öffnete. Die dunklen Augen blickten fragend, aber nicht fordernd in die eisblauen Augen. „Zieh bitte die Kette aus…“, flüsterte Glinda heiser. Elphaba erwiderte nichts, als sie ihre Hand aus Glindas löste und den Verschluss der Kette öffnete. Als die blonde Frau fühlte, wie die grüne Hand wieder mit ihrer eigenen verschmolz, seufzte sie und fing leise an zu weinen. Elphaba zog die wimmernde Blondine so nah an sich heran, dass das tränennasse Gesicht in ihrer Armbeuge lag. Glinda kuschelte sich noch etwas tiefer in die neue Position und hörte dann ein leises Summen an ihrem Ohr. Sie erkannte die Melodie… Irgendwann in den vorherigen Stunden hatte Elphaba ein Lied dazu gesungen… Elphaba wusste, dass das, was sie nun zu tun gedachte, Glindas Tränen verstärken würde, aber sie wusste auch, dass ihre Freundin das nun brauchte. Also begann sie, wie vier Stunden zuvor, leise zu singen: „Do not be afraid, my sweet. I am here for you. I always will be. I’ll give you what you need.” Wie erwartet, begann Glinda zu schluchzen. „Lass es raus, Glin… Lass alles raus…“, flüsterte Elphaba und streichelte sanft über den blonden Lockenkopf. Nach ein paar Schluchzern von Glinda und einigen beruhigenden „Shhh… Shhh…“s von Elphaba, schien die blonde Frau sich langsam wieder zu beruhigen. „Erzähl mir bitte, was eben passiert ist…“, sagte Glinda leise in Elphabas Ärmel hinein, als ihre Tränen aufgehört hatten, zu fließen. Die grüne Frau erzählte ihr also, was geschehen war. Sie berichtete von Glindas geistiger Abwesenheit und ihren Ausbrüchen. Sie beschrieb, wie Glinda sich gewehrt und um sich geschlagen hatte. Sie erzählte ihr von dem Lied und der Melodie und schilderte, wie die blonde Frau sich dann endlich beruhigt hatte. Da Elphaba wusste, dass die Frau in ihren Armen Zeit brauchte, um das alles zu verarbeiten, schwieg sie, nachdem sie alles erklärt hatte. Außerdem hätte Elphaba sowieso nicht gewusst, was sie hätte sagen sollen… Demnach war es auch Glinda, die nach ein paar Minuten des Schweigens die Stille brach. „Ich war sechs Jahre alt, als es passierte…“, murmelte Glinda abermals in den Ärmel hinein und drehte dann ihr Gesicht so, dass ihr Mund frei war und sie Elphaba ansehen konnte. „Ich war noch zu klein, um es zu verstehen… Aber ich wusste trotzdem, was ich tun musste…“, fuhr Glinda fort. Elphaba verstand nicht, worum es ging, doch sie sagte nichts, aus Angst, Glinda würde dann nicht weitersprechen. „Den ganzen Tag über hatte es schon geregnet… Es war der Hochzeitstag meiner Eltern und sie waren über das Wetter nicht glücklich gewesen, da sie für diesen Tag einen Ausflug in den Glikkenpark geplant hatten… Mit einem Picknick und allem drum und dran. Aber das fiel aufgrund des Regens – wortwörtlich – ins Wasser… Sie haben sich dann spontan dazu entschieden, am Abend in die Stadt zu fahren… In Gillikin war zu dieser Zeit der Jahrmarkt aufgebaut… und sie wollten mit dem Riesenrad fahren… in welchem sie sich auch das erste Mal gesehen haben… Danach wollten sie noch in ihr Lieblingsrestaurant fahren. Das gibt es auch heute noch. Es heißt ‚Die Schwanendame’ und es gibt dort auch einen Tanzsaal. Ämmchen sollte also am Abend auf mich aufpassen. Auf mich und… meine Schwester…“, Glindas Stimme brach. „Meine Schwester, Emeline…“, flüsterte sie leise und blickte traurig in Elphabas dunkle Augen. ‚Emeline? Schwester?!’, schoss es der Hexe durch den Kopf, doch sie ließ sich ihr Erstaunen nicht anmerken. Zärtlich streichelte sie über Glindas heiße Wange und deutet ihr somit an, fortzufahren. „Am Abend mischte sich in den Regen noch ein enormer Wind, der Stunde um Stunde stärker wurde… Irgendwann fing es an, heftig zu gewittern und ich weiß noch, dass Ämmchen zu mir sagte: „Galinda, mein liebes Kind… Ich hoffe, deine Eltern sitzen nicht mehr in ihrer Liebesgondel! Sie sollten bei dem Wetter lieber nach Hause kommen und ins Bett gehen… Übrigens… für dich ist es auch Zeit… Abmarsch, meine kleine Prinzessin! Ab ins Bett!“ Ich weiß auch noch, dass ich den ganzen Abend nicht wie üblich vor dem Kamin gespielt habe, sondern die ganze Zeit über am Fenster gestanden und in die dunkle Nacht hinausgeschaut hatte. Nicht aus Angst um meine Eltern, sondern weil ich es so toll fand, wie die Blitze am Himmel zuckten und die ganze Welt für einige Sekunden erleuchtet schien. Ich war so sauer darüber, dass ich ins Bett musste und da habe ich aus lauter Wut auf dem Weg zu meinem Zimmer gegen mein Spielzeugauto getreten. Als Ämmchen mich dann auf mein Zimmer geschickt und mich ins Bett gestopft hatte, wartete ich, bis sie die Tür hinter sich schloss… Dann schlüpfte ich wieder aus dem Bett und setzte mich auf meine breite Fensterbank. Ich weiß nicht, wie lange ich dort gesessen habe… Irgendwann hörte ich Emely schreien und hörte, wie Ämmchen nach ihr sah. Emely war damals gerade erst ein Jahr alt gewesen. Ich hörte auch, wie Ämmchen sich ärgerte und murmelnd an meiner Zimmertür vorbeiging. Sie schlief im unteren Stockwerk, also musste sie immer die Stufen hinauflaufen und sie war damals ja auch schon weit über die 50… Danach war wieder alles still und das Gewitter kam immer näher. Ich musste mir sogar einmal die Ohren zuhalten, weil der Donner so laut war, dass sogar die Fensterscheibe, auf die ich meine Nase gedrückt hatte, vibrierte…“ Bei diese Worten sah Elphaba wieder ihre eigenen Fensterscheiben vibrieren, als der Donner vom Nachmittag so heftig erklungen war. „… und dann… Plötzlich… Ich sah nur, wie der Himmel sich genau über uns erhellte und dann hörte ich einen lauten Knall. Ich erschrak fürchterlich, weil es der lauteste Donnerknall gewesen war, den ich bisher gehört hatte. Doch zwei oder drei Sekunden später hörte ich dann ein erneutes Donnergrollen… Aber ich hatte keinen Blitz mehr gesehen. Dann dauerte es noch ein paar Minuten, bevor ich sah, wie unser Rasen vor dem Haus orange funkelte. Erst ganz leicht… doch dann wurde das Leuchten immer stärker und ich sah, dass es andauernd hin und her flackerte… Und dann stellte ich fest, dass es fast so aussah, wie das Flackern von dem Ofenfeuer auf unserem Teppichboden… Ich spielte ja beinahe jeden Abend vor dem Ofen… Ich hatte plötzlich große Angst und rannte zur Tür. Aber anstatt rauszugehen, blieb ich stehen und legte mein Ohr an die Tür. Ich hörte, wie Emely schrie und ich hoffte, Ämmchen würde nach ihr sehen… Ämmchen hatte mich schon so oft ausgeschimpft, wenn ich nachts noch einmal aus meinem Zimmer gekommen war und ich … ich hatte im ersten Moment viel größere Angst vor ihr und der Strafe, die mich erwarten würde. Das letzte Mal, als ich nach dem Zubettgehen noch einmal aus meinem Zimmer gekommen war, hatte ich eine Woche lang keinen Nachtisch bekommen… Als ich Ämmchen nicht hören konnte und Emelys Schreie aber dafür immer lauter wurden, wusste ich nicht, was ich tun sollte… Also lief ich zurück zum Fenster und schaute hinaus. Das orange Flackern war schon viel näher an mein Fenster gerückt und plötzlich hörte ich, wie Emelys Schreie verstummten. Ich weiß bis heute nicht, warum… aber in diesem Moment wusste ich, es war etwas passiert. Ohne noch länger zu zögern, riss ich meine Zimmertür auf und musste sofort einen Schritt zurück gehen… Der ganze obere Flur stand voller Qualm und ich sah, wie aus dem hinteren Zimmer Flammen schlugen. Es war das Zimmer meiner Eltern und direkt daneben befand sich Emelys Zimmer. Ich schrie wie verrückt nach Ämmchen, doch sie kam nicht. Mein Zimmer war am Anfang des Flures, also lief ich mit der Hand vor dem Mund zu Emelys Zimmer und riss die Tür auf. Die Klinke war schon so heiß, dass ich mich an ihre verbrannte, doch ich merkte das gar nicht. Emely lag reglos in ihrem Bettchen und das Zimmer war auch voller Rauch und Qualm. Es stank fürchterlich und der Geruch brannte mir in der Lunge. So schnell ich konnte, hob ich meine Schwester aus ihrem Bettchen und lief den Flur zurück, dann die Treppen hinunter. Dabei wurde mir so schwindelig, dass ich beinahe umgefallen wäre… Doch die Luft in der unteren Etage war noch nicht verqualmt und ich glaube das war auch der Grund dafür, dass ich nicht ohnmächtig geworden bin… Mit Emely im Arm habe ich dann verzweifelt nach Ämmchen geschrien und sie gesucht. Ich fand sie im Wohnzimmer. Sie lag auf dem Boden und hielt sich wimmernd ihr Fußgelenk. Daneben lag mein Spielzeugauto… Als sie mich mit Emeline im Arm sah, hat sie gerufen: „Oz sei Dank! Galinda! Mach, dass du hier raus kommst!“ … Ich wollte nicht ohne sie gehen und habe angefangen, zu weinen… Ich sagte ihr, sie solle krabbeln… und sie versprach mir dann, hinter mir herzukrabbeln, aber nur…. Nur wenn ich jetzt sofort und auf der Stelle dieses Haus verlassen würde. Mir blieb keine andere Wahl… also rannte ich raus… ich rannte den ganzen Weg unserer Einfahrt hinauf, bis zu dem letzten Baum und da stellte ich mich dann unter. Ich hielt es für eine gute Idee… Dort war es wenigstens etwas trockener und ich war schließlich noch immer in meinem Schlafanzug… Genau wie Emely. Ich weiß nicht, wie lange ich dort stand… Ich muss unter Schock gestanden habe… Ich sah, wie der hintere Teil unseres Hauses lichterloh brannte… Die Flammen schossen trotz des Regens immer wieder erneut in die Höhe und auf dem Rasen sah ich jenen orangen Schatten, in dem ich sonst immer so friedlich gespielt hatte… Ich hörte gar nicht, wie die Kutsche meiner Eltern am Eingang der Einfahrt hielt. Ich fühlte nur einen plötzlichen Ruck an meiner Schulter… Jemand nahm mir Emely aus den Armen und dann sah ich meinen Vater vor mir… Er fragte mich irgendetwas, doch ich hörte es nicht… Dann lief er ins Haus… Und das erste, was ich dann wieder hörte, war Mutters Schrei… Sie rief ihm nach, er solle zurückkommen… Wie gebannt starrten wir dann auf unsere Haustür… und dann kam Vater mit Ämmchen im Arm hinausgehumpelt. Meine Mutter schrie, aber ich weiß genau, dass sie nicht geweint hat… Sie hat geschrien, er solle sich beeilen und dass sie ins Krankenhaus müssten… Von da an weiß ich nichts mehr… Ich wachte im Krankenhaus auf… und war an irgendwelche Schläuche gekettet… Mein Vater war sofort neben mir… Er hat mich beruhigt und mir gesagt, alles sei gut… Ich lag drei Tage dort… und meine Mutter … sie…“, Glinda brach plötzlich ab und atmete einmal tief durch. Elphaba wusste, dass sie mit den Tränen kämpfte. „Sie war nicht da gewesen. Kein einziges Mal… Als ich dann endlich aus dem Krankenhaus entlassen wurde, hat mein Vater mir erklärt, wir würden nun einige Wochen bei meiner Tante wohnen… Unser Haus müsste renoviert und unser Dach repariert werden, hat er gesagt… Und er hat mir gesagt, dass Ämmchen nun ein anderes zu Hause hat. Ich war ganz traurig, also fuhr mein Vater mich zu ihr, damit ich mich verabschieden konnte. Sie lebte von da an in einem Heim für ältere Leute… und als ich ihr ‚Auf Wiedersehen’ sagte, hat sie mich umarmt und mir ins Ohr geflüstert: „Meine kleine Prinzessin… Galinda, es war nicht deine Schuld. Dich trifft keine Schuld, hörst du?“ … Ich verstand es nicht, aber nickte trotzdem… Ich war mir keiner Schuld bewusst… Als wir dann bei meiner Tante ankamen, fragte ich, wo meine Mutter sei… Mir wurde gesagt, sie wäre etwas krank und ich könnte sie erstmal nicht sehen… Mein Vater hat mir in dieser Zeit all seine Liebe gegeben, die er nur hatte… Nachts hörte ich meine Mutter weinen… Aber ich verstand einfach nicht, was passiert war… Irgendwann durfte ich dann zu ihr… Und ich sehe das Bild heute noch genau vor mir… Es war früh am Morgen… Die Sonne ging gerade auf… Als ich die Tür öffnete, saß meine Mutter aufrecht im Bett und starrte an die Wand… Ihr mageres Gesicht war schneeweiß und nur ihre Augen leuchteten ganz rot. Ich ging zu ihr, nahm ihre große Hand in meine kleine und sagte: „Mama, du wirst wieder gesund. Ich hab dich doch lieb…“ Sie fing sofort an zu weinen… Ich dachte, ich hätte etwas falsches gesagt… und sofort holte mein Vater mich aus dem Zimmer… Ich schrie und weinte… aber vor allem war ich wütend, weil ich nichts von dem verstand… Am Abend kam meine Mutter dann an mein Bett… sie entschuldigte sich und sagte mir, ihr ginge es jetzt gut und ich hätte nichts falsches gesagt. Sie sagte, dass sie mich über alles lieben würde… „Du bist mein größter Schatz auf Erden…“, hatte sie geflüstert und mich angelächelt. Danach schien es meiner Mutter wirklich langsam besser zu gehen… Ich sah sie wieder essen und reden… Wir spielten wieder zusammen und ich durfte nachts in das Bett meiner Eltern… Aber ich sah sie nie lächeln… Nicht ein einziges Mal… Und dann… dann kam der Tag, an dem wir wieder in unser eigenes Haus konnten. Ich freute mich sehr und war ganz aufgeregt… Als wir ankamen, sprang ich von der Kutsche ab und lief ins Haus. Ich rannte in Emelys Zimmer und rief fröhlich: „Emely, wir sind wieder da!“ … Aber sie war nicht da. Ich suchte überall dort, wie sie schon einmal hineingekrochen und eingeschlafen war, aber ich fand sie nicht. Meine Mutter war im Türrahmen unserer Haustür wie angewurzelt stehen geblieben und starrte mich an, während ich unter dem Flurtisch nachschaute… Dann kam mein Vater… Er ließ sofort die Koffer fallen und drängte sich an meiner Mutter vorbei. „Wo ist Emely?“, hatte ich ihn gefragt… Er nahm mich auf seinen Arm und ging mit mir ins Wohnzimmer. Auf dem Weg dorthin hörte ich schon Mutters Schluchzen… Im Wohnzimmer erklärte er mir dann, dass Emely gestorben wäre, weil sie während des Feuers zu viel Rauch eingeatmet hatte. „Aber ihr geht es jetzt gut. Jetzt guckt sie vom Himmel auf uns hinab…“, hatte er mir gesagt. Aber ich begriff das nicht… schließlich hatte ich sie ja aus ihrem Bett geholt… Mein Vater erklärte mir dann, dass Emely keine Luft mehr bekommen hatte… Heute weiß ich, dass es eine Rauchvergiftung war. Aber da ich damals noch keine Erfahrungen mit dem Tod gemacht hatte, wusste ich nicht, was es bedeutete… Erst einige Tage später begriff ich, dass meine Schwester nicht mehr da war und das ich sie nie mehr wieder sehen würde… Damals hatte ich dann einen Aussetzer nach dem anderen… Ich schrie und weinte… schlug um mich, rannte nachts aus dem Haus… und einmal war es sogar so schlimm, dass ich während eines Wutanfalls ohnmächtig wurde. Ich fühlte mich so schuldig… und ich war so wütend… Ich hatte sie doch gerettet! Und dann war sie trotzdem gestorben… Ich konnte dieses Ereignis einfach nicht verarbeiten, denn normalerweise lernen Kinder den Tod kennen, indem der erst der Hund stirbt oder die Großmutter… Aber ich erfuhr ihn beinahe am eigenen Leib und wurde damit nicht fertig… Wie auch… als sechsjähriges Kind…“ Während Glinda erzählte, zog sich in Elphaba alles zusammen… Sie konnte Glindas seelische Schmerzen beinahe körperlich fühlen. Sie tat nichts anderes, als der blonden Frau in die blauen Augen zu sehen und sie zu halten. „Nach diesem Ohnmachtsanfall hatten meine Eltern beschlossen, dass ich externe Hilfe bräuchte… Jeden Tag kam ein Mann zu uns, der mit mir die erste Zeit nur spielte und sich mit mir unterhielt. Meine Mutter nahm seine Hilfe schon etwas länger in Anspruch… Nach dieser Gewöhnungsphase fasste ich dann langsam Vertrauen zu ihm und ab da begannen unsere therapeutischen Gespräche… Anfangs redeten wir nur darüber, was ich noch von dem Unfall wusste, doch dann kam der Tag, an welchem ich diese ganze Nacht noch einmal durchleben musste. Damals war es schrecklich und fürchterlich doch heute weiß ich, dass es mir geholfen hat, einige Dinge zu verstehen. Ich musste das alles einfach noch mal durchmachen, um damit abschließen zu können… Ich weiß auch, dass es nicht meine Schuld war… Aber…“, Glinda hielt inne und Elphaba sah, wie sich die blauen Augen mit Tränen füllten. „Aber Elphaba, meine Schwester ist gestorben, weil ich Angst hatte, keinen verdammten Nachtisch mehr zu bekommen. Sie ist gestorben, weil ich mein bescheuertes Spielzeugauto aus lauter Wut einfach in den Weg geschossen habe. Wegen Nachtisch, Elphaba! Nachtisch… Kannst du dir das vorstellen…“ Glindas Stimme brach ab und sie ließ ihren Tränen freien Lauf. „Wäre ich doch direkt aus meinem Zimmer gegangen… Und wenn ich nicht gegen mein Auto getreten hätte….“, schluchzte sie und Elphaba legte ihr zärtlich den grünen Zeigefinger auf den Mund. „Shhh…“, machte sie und sah Glinda dabei tief in die blauen Augen, „Glinda, du warst damals erst sechs Jahre alt und es war nicht deine Aufgabe, auf deine Schwester aufzupassen. Und selbst wenn… So eine Katastrophe war doch unvorhersehbar!“ Während des Sprechens hatte die Hexe ihren Finger von Glindas Mund genommen und sah sie nun erwartungsvoll an. „Ich weiß das alles doch auch selber… Und ich habe es auch schon so oft gehört und mir auch selber gesagt… Aber trotzdem… bei jedem Gewitter muss ich an Emely denken und an diese schreckliche Nacht… Was wäre, wenn meine Eltern zu Hause geblieben wären? Dann …“ Elphaba unterbrach sie: „Dann wären sie vielleicht jetzt tot.“ „Elphaba!“, hauchte Glinda geschockt. „Glin, ich wollte dich nicht angreifen, aber siehst du denn nicht, das all dieses „Was-wäre-wenn“ zu nichts führt? Ich denke einfach, dass jeder, der mit dir über diesen Unfall gesprochen hat, dir sehr… naja, sagen wir mal: weich, entgegengekommen ist. Aber wie du selber merkst, hat es kaum etwas gebracht. Ich sage dir jetzt eines ganz deutlich…“ Elphaba machte ein kurze Pause. Sie hatte mit einer sehr festen Stimme gesprochen und hoffte einfach, dass sie auf ihre Intuition vertrauen konnte. „Du musst aufhören, dich für Emelines Tod verantwortlich zu machen. Wenn du erst gar nicht versuchst, das alles hinter dir zu lassen, wird es dich dein Leben lang verfolgen und ich nehme an, dass dich das auch nach all den Jahren, die nun schon vergangen sind, immer wieder sehr mitnimmt und es ist wahrscheinlich auch so, dass diese Sache dich immer und immer wieder beschäftigt und dich auch…“ „Runterzieht?“, vollendete Glinda seufzend den Satz. Es war das erste Mal, dass jemand so direkt mit ihr über Emelys Tod gesprochen hatte. Sie war verwundert, aber auch sehr dankbar, dass Elphaba sich so schnell auf diese Geschichte hatte einlassen können. „Ja…“, nickte Elphaba und streichelte Glinda sanft über die Wange, „Ich weiß, dass es nicht leicht für dich sein wird, aber Glin, du bist nicht allein. Ich werde immer bei dir sein, wenn es gewittert oder wenn du drohst zu fallen. Ich werde da sein und dich auffangen. Du kannst es schaffen und wir beide wissen es. Ich sage ja nicht, dass du von jetzt auf gleich damit abschließen sollst. Denn das kann nicht funktionieren. Aber du musst jetzt damit anfangen… Du darfst es nicht weiter aufschieben und diese Schuldgefühle zulassen. Ich sage auch nicht, dass du nicht mehr um deine Schwester trauern sollst, denn Trauer ist ein wichtiger Prozess im Leben der Menschen. Aber trauern oder sich selber für den Tod verantwortlich machen ist ein großer Unterschied…“ Glinda war nicht in der Lage zu antworten und nickte aus diesem Grund nur leicht. Elphaba blickte liebevoll in die blauen Augen und schwieg eine Weile. Dann sagte sie leise: „Ich will, dass du es sagst.“ „Was?“, fragte Glinda verwirrt und fühlte, wie Elphabas Hand sich von ihrer Wange entfernte und unter der Bettdecke nach Glindas Hand suchte. Als Elphaba die Hand ihrer Freundin gefunden hatte und sich ihre Finger ineinander verflochten, antwortete sie ruhig: „Dass du keine Schuld daran hast.“ „Wie bitte?“ Glindas Augen weiteten sich und die grüne Frau fühlte die Anspannung ihrer Freundin. „Ich will, dass du sagst: ‚Ich habe keine Schuld an Emelines Tod.’“ „Elphaba, das kann ich nich…“ „Sag es!“, unterbrach die Hexe die blonde Frau mit Nachdruck. Sie hatte etwas über traumatisierte Menschen gelesen und hoffte, dass sie gerade das Richtige tat. „Ich…“, begann Glinda und brach ab. Ihre Augen füllten sich mit Tränen. Elphaba wurde von einer Gefühlswelle überflutete. Sie konnte Glindas Verzweiflung in den blauen Augen lesen und ihren seelischen Schmerz fühlen, aber sie hielt sich zurück und sagte erneut: „Glinda Hochborn, ich verlange von dir, dass du es sagst! Sag es!“ Der grünen Frau tat es weh, die blonde Schönheit so vor sich zu sehen, mit einem verzweifelten Gesichtsausdruck, welcher von den Tränen nur noch verstärkt wurde. Unter Tränen schluckte Glinda einmal und setzte dann erneut an: „Ich habe… keine Schuld an… an…“ Als Elphaba merkte, wie Glindas jahrelange Schuldgefühle sie daran hinderten, den Satz zu vollenden, murmelte sie leise aber bestimmt: „Sprich es aus!“ „… an Emelines… Tod!“, vollbrachte Glinda letztendlich doch den Satz und brach dann zitternd in Tränen aus. Elphaba ließ die Hand los und griff mit ihrer eigenen um Glindas Hüfte und zog die bebende Frau an sich heran, sodass Glindas Kopf nun unter dem grünen Kinn war. Die Hexe wusste, dass das erst der Anfang war. ‚Ich habe damit angefangen und jetzt gibt es kein Zurück mehr…’, dachte sie, beugte sich hinunter zu Glindas Ohr und flüsterte: „Sag es noch einmal.“ „Nein, Elphie, bitte… Ich…“ „Glinda, sag es.“ „Ich habe… keine Schuld… an Emelines Tod.“, schluchzte Glinda unter Tränen. „Und noch einmal.“ Glinda fühlte sich, als würde Elphaba sie mit Absicht quälen. Doch sie wusste, dass Elphie ihr nie mit Absicht weh tun würde, also vertraute sie ihrer Freundin: „Ich habe… keine… Schuld an… Emelines Tod.“ Noch immer wurden die Worte von lauten Schluchzern begleitet. „Noch mal.“ Elphabas Magen zog sich zusammen und sie musste sich beherrschen, nicht selber in Tränen auszubrechen. Jedoch war ihre Stimme fest und ihre Umarmung sicher. „Ich habe… keine Schuld an Emelines Tod!“, sagte Glinda nun in Elphabas Morgenmantel hinein und das Schluchzen ebbte langsam ab. „Wiederhole es.“ „Ich habe keine Schuld an Emelines Tod!“, sagte Glinda nun lauter. Sie wusste nicht, was das für ein Gefühl war, was langsam in ihr aufstieg. Jedoch wusste sie, dass es anscheinend alle anderen Gefühle verdrängte. „Noch einmal!“, sagte Elphaba und ihr Herz pochte laut. „Ich habe keine Schuld an Emelines Tod!“, sagte Glinda und ihre Tränen hörten auf zu fließen. „Noch ei…“, setzte Elphaba an und wurde unterbrochen. „Ich habe keine Schuld an Emelines Tod!“, sagte Glinda und riss sich von Elphaba los. Aufrecht saß sie im Bett und starrte Elphaba an, die sich nun auch aufrecht hinsetzte. „Ich habe… keine verdammte Schuld an Emelines Tod!“, zischte Glinda nun langsam, aber deutlich. In den blauen Augen stand Wut. Elphaba sah sie abwartend an und nickte dann. „Ich habe keine Schuld! Ich habe keine Schuld! ICH HABE KEINE SCHULD AN EMELINES TOOOOD!“, schrie Glinda plötzlich mit einem markerschütterndem Gebrüll aus. Ihre Stimme war immer lauter und sie war immer wütender geworden. Doch nach diesem Schrei verschwand die Wut so plötzlich, wie sie aufgetaucht war. Stattdessen füllten nun die Tränen wieder die vorhandene Lücke und Elphaba zog die erneut zitternde Frau in ihre Arme. Sanft streichelte die grüne Hand über die blonden Locken. „Es ist alles gut. Es ist vorbei…“, flüsterte Elphaba immer wieder und Glinda beruhigte sich nach einer Weile. Die blonde Frau war verwirrt. Sie wusste nicht, woher das alles plötzlich gekommen war und sie hatte auch keine Ahnung, was der Grund von alledem gewesen war. „Wie fühlst du dich?“, fragte Elphaba nach einigen Minuten und schob Glinda ein Stück von sich weg, sodass sie ihr in die Augen gucken konnte. Sie hatte gelesen, dass durch einen Verlust traumatisierte Menschen dazu neigen, sich die Schuld für diesen Verlust zuzuschreiben und auch oft den objektiven Blick verlieren. Demnach seien sie nicht in der Lage dazu, eigenständig ihren Fehler einzusehen. Man musste sie mit der Wahrheit auf eine brutale Art und Weise konfrontieren, sodass der traumatisierte Person keine Fluchtmöglichkeit mehr blieb. In dem Buch hatte auch gestanden, dass man die Person sinnbildlich festhalten muss, sobald man sie in eine Ecke getrieben hatte und dann sollte man sie dazu bringen, die Wahrheit auszusprechen. ‚Es ist von aller größter Wichtigkeit…’, rezitierte Elphaba die Zeilen des Buches in Gedanken, ‚… dass die Person diese Worte ausspricht. Denn hier zählt das alte Sprichwort: Während Gedachtes nicht gehört werden kann, fällt Gesagtes so stark ins Gewicht, dass man es nicht nur hört, sondern auch glaubt.’ Und es war Elphaba Thropp, die dieses Sprichwort am besten kannte. Denn wie oft hatte sie sich selber eingeredet, sie würde nicht wissen, was Liebe ist… „Irgendwie… etwas befreiter…“, flüsterte Glinda leise und holte damit die grüne Frau in die Gegenwart zurück. „Aber ich… ich verstehe das alles nicht.“ Ohne Vorwarnung legte sich die grüne Hand auf die glühende Wange und Glinda fühlte, wie ein Paar grüner Lippen sie sanft auf den Mund küsste. „Vielleicht hilft dir das, um es zu verstehen…“, hörte Glinda ihre eigenen Worte aus Elphabas Mund und musste lächeln. Nun war es Elphaba, die ihre eigenen Worte aus Glindas Mund hörte, als diese sagte: „Im Moment hilft es meinem Verständnis nicht auf die Sprünge, nein…“ Als die beiden Frauen sich gegenseitig tief in die Augen blickten, formten sich die nächsten Worte automatisch in ihren Gedanken. „Gut Ding will Weile haben…“, sagten Elphaba und Glinda dann gleichzeitig und mussten erneut lächeln. Erst danach zog die Hexe die blonde Frau in eine warme Umarmung und hielt sie fest an sich gedrückt. Glinda seufzte und legte nun auch ihrerseits die Arme um den grünen Körper. Das Kapitel der Traumtherapie war jedoch nach diesem Absatz noch nicht zu Ende gewesen und Elphaba war nicht ganz sicher, ob sie noch weiter gehen konnte. Ihre innere Stimme allerdings war sich sehr sicher. Also streichelte sie Glindas Rücken noch eine Weile, bevor sie die Frau wieder etwas von sich wegdrückte und ansah. „Glin, ich verlange noch eine Sache von dir.“ Glinda merkte, dass Elphaba anscheinend wusste, was zu tun war. „Alles“, nickte sie und strich sich unsicher eine blonde Strähne hinter ihr Ohr. Elphaba beobachtete angespannt Glindas Mimik, als sie sagte: „Ich möchte, dass du mit Emely sprichst. Ich möchte, dass du ihr etwas mitteilst.“ Als sie sah, wie auf Glindas Züge wieder die Verzweiflung trat, legte sie schnell ihren grünen Finger auf den rosigen Mund, noch bevor Glinda protestieren konnte. „Ich möchte…“, sagte Elphaba langsam, „… dass du ihr das mitteilst, was du ihr sagen würdest, wenn du sie noch einmal sehen könntest.“ Ohne ein weiteres Wort ließ die Hexe die blonde Frau los und setzte sich wieder mit ihrem Rücken an das Kopfende des Bettes. Dann zog sie die noch immer stumme Glinda zwischen ihre Beine, sodass Glindas Gesicht zum Kamin gedreht war. Da Elphaba nun nicht mehr die Mimik ihrer Freundin beobachten konnte, strich sie einmal kurz über ihren Rücken und ließ dann das Feuer wieder hell auflodern. Im gleichen Moment stupste sie Glinda sanft an und faltete dann die grünen Hände über ihrer eigenen Brust. Elphaba wusste, dass es wichtig war, dass sie Glinda nicht festhielt und ihr aber dennoch gleichzeitig einen sicheren Halt bot. Die blonde Frau lehnte sich beim Anblick des wiederbelebten Feuers mit ihrem Rücken gegen Elphabas Brust und atmete einmal tief durch. Ohne zu wissen, woher die Worte auf einmal kamen, sprach sie sie aus: „Emely…“, hauchte Glinda leise und faltete ihre Hände im eigenen Schoß, „… es tut mir so leid. Es tut mir unendlich leid! Ich wollte, es wäre alles anders gekommen… Es war nicht deine Schuld und auch nicht meine… Auch Ämmchen trifft keine Schuld… Niemand hat Schuld daran und das ist es, was mich so fertig macht…“ Elphaba hörte, wie die Frau zwischen ihren Beinen begann, mit den Tränen zu kämpfen. Mit einem Kloß im Hals sprach Glinda weiter: „Dass niemand Schuld hat, bedeutete nämlich, dass niemand verantwortlich ist für… für so etwas Schreckliches und Ungerechtes! Es gibt niemanden, den ich zur Rechenschaft ziehen kann. Ich kann deinen Tod nicht rächen, auch wenn ich es wollen würde. Ich kann die Schulden nicht begleichen, weil es nichts zu begleichen gibt…“ Glinda musste erneut schlucken, bevor sie in der Lage war, weiterzusprechen: „Wenn jemand Schuld daran gehabt hätte, dann hätte ich wenigstens eine Möglichkeit, in Erfahrung zu bringen, warum gerade dir so etwas angetan wurde… Ich hätte versuchen können, es zu verstehen… Aber es gibt nichts, was ich verstehen kann… Es gibt nichts, was ich in Erfahrung bringen kann… Es gibt keinen Grund dafür, warum gerade du sterben musstest!“ Mit diesen Worten ließ Glinda ihren Tränen freien Lauf, löste sich von Elphabas Brutkorb und setzte sich aufrecht hin. „Mir ist jetzt klar geworden, was mich immer so fertig gemacht hat… Es gibt keine normale Erklärung für das, was uns allen angetan wurde. Es ist einfach so passiert… ohne Grund. Ohne Grund reißt irgendetwas aus reiner Willkür… eine ganze Familie in Stücke… Du wurdest uns weggenommen und mit dir ging auch noch vieles andere verloren… An deinem ersten Geburtstag hatte unsere Mutter dich im Arm… sie hat mit ihrer Nase die deine berührt und dich gekitzelt. Und dann hat sie… sie hat… Dann hat sie gesagt: „G steht für Gideon und Glinda… aber E steht für Elanora und Emeline.“… weißt du das noch?“, bei diesen Worten musste Glinda unter Tränen lächeln. „Ich hatte immer schon einen intensiveren Bezug zu unserem Vater… Aber ich glaube, dass du dieses Band mit Mutter geknüpft hast… Schon seit dem ersten Tag nach deiner Geburt hat sie dich immer ihr ‚Sternchen’ genannt… Ich will damit nicht sagen, dass Mutter dich mehr geliebt hat… Denn das glaube ich nicht. Ich habe mich nie vernachlässigt gefühlt, aber es ist doch immer so, dass ein intensiveres Band existiert… sei es nun mit Mutter oder Vater… Unsere Eltern haben mir auch später erzählt, dass wir ganz unterschiedliche Kinder waren… schon als Babys… Ich war immer laut und quirlig… Und du warst eher ruhig und besonnen… Ich habe unseren Vater gefragt, wie sie so was schon bei Babys wissen könnten und Mutter hat darauf nur gesagt, Eltern würden so etwas fühlen… Ich glaube, sie hat viele ihrer Wünsche in dich hineingelegt und gehofft, dir alles geben zu können, was du brauchst. Ich war ja damals schließlich schon sechs und unsere Eltern hatten schon ihre Vorahnungen, was ich und wie ich es erreichen würde… Da du aber anscheinend andere Charakterzüge als ich hattest, hatten sie auch andere Vorahnungen für dich… Du und ich, wir hätten unterm Strich all’ das erreicht, was sich unsere Eltern für uns gewünscht hätten… Und ich wünschte, das wäre uns auch möglich gewesen…“ Glinda seufzte tief und wischte sich mit ihrer Hand die Tränen von ihren Wangen. Elphaba hatte die ganze Zeit still zugehört und sich auch das ein oder andere Mal eine Träne von den brennenden Wangen gewischt. Doch es war in diesem Moment, als sie all das verstand, worüber sie sich jahrelang den Kopf zerbrochen hatte… Galinda Hochborn war ihr nicht ohne Grund damals so oberflächlich erschienen… Sie hatte damals nur versucht, allen zu gefallen, um alles erreichen zu können, was sich ihre Eltern für beide Töchter ausgemalt hatten… „Ich vermisse dich, Emely und ich würde alles tun, um diese Nacht ungeschehen zu machen. Aber es geht nicht. Es geht nicht und das macht mich immer wieder traurig. Ich weiß, dass es mich auch mein ganzes Leben lang traurig machen wird, aber ich muss dich gehen lassen. Ich kann dich nicht bei jedem Unwetter zurück holen und mir ausmalen, wie wir zusammen gespielt hätten oder wie wir uns gestritten hätten. Ich hätte dir gerne gezeigt, wie man ohne gesehen zu werden, nachts im Sandkasten spielen kann oder wie man sich ein Stück Kuchen aus der Küche moppst, ohne dass es jemand bemerkt… All das und noch viel mehr… Und ich weiß, wir hätten sehr viel zusammen erreicht… Aber ich muss endlich aufhören, für dich mitzuleben… Ich liebe dich und das sollst du wissen. Auch, wenn wir beide noch sehr klein waren… Jetzt ist es aber endlich Zeit, dich loszulassen. Ich werde viel an dich denken und auch noch das ein oder andere Mal um dich weinen… Aber ich weiß, dass ich keine Schuld habe und deswegen muss ich jetzt endlich anfangen, mein eigenes Leben so zu leben, wie ich es gelebt hätte, wenn du nicht gestorben wärst…“ Bei diesen Worten erinnerte sich Glinda an ihre Zeit auf der Shizzer Universität... Es war so oft vorgekommen, dass sie am liebsten protestiert oder ihre Stimme erhoben hätte, doch damals war immer der Satz ihrer Mutter eingefallen: „Emeline war schon als Baby eher ruhig und besonnen…“. Diese Worte hatte sich Galinda damals immer wieder ins Gedächtnis gerufen, als ihr kämpferischer Geist gedroht hatte, die Oberhand zu gewinnen. „Emeline, ich liebe dich und ich werde dich nie vergessen. Du wirst immer in meinem Herzen sein und auch in dem Herzen unserer Eltern. Ich kann nicht so sein, wie du geworden wärst und ich kann auch nicht das erreichen, was du erreicht hättest. Ich trage keine Schuld an deinem Tod und ich muss mich damit abfinden, dass es niemanden gibt, den wir dafür zur Rechenschaft ziehen können. Es sollte nicht sein… Du bist von uns gegangen und ich muss dich jetzt endlich gehen lassen. Ich hatte immer Angst davor… Ich dachte immer, ich würde einen Teil meiner Selbst verlieren, wenn ich dich loslassen würde… Doch jetzt weiß ich, ich werde viel mehr ich selbst sein können, wenn ich dich gehen lasse. Emeline, vergiss mich nicht… Ich liebe dich…“ Die letzten Worte waren nur noch ein Flüstern gewesen, da die Tränen wieder ihr Eigenleben entwickelt hatten und über Glindas Wangen kullerten. Sie schluchzte jedoch nicht und auch ihr Körper zitterte nicht. Langsam führte sie ihre Hände, die sie irgendwann während ihrer Worte zu zwei festen Fäusten geballt hatte, zu ihrem Mund, küsste ihre Finger und streckte dann ihre Arme aus. „Ich liebe dich, Emely…“, flüsterte sie ganz leise, pustete dann sanft in Richtung ihrer Hände und entballte die Fäuste. Elphaba wartete noch einige Sekunden und stand dann auf. Glinda verwirrt zu, wie die grüne Frau das Fenster öffnete. Ein Windstoß durchfuhr das Zimmer und ließ das Feuer stärker flackern. Ohne ein Wort drehte Elphaba der Frau im Bett den Rücken zu und starrte aus dem Fenster. Unter normalen Umständen hätte Glinda gedacht, ihre Freundin hätte den Verstand verloren, doch sie begriff, was Elphaba vorhatte. Die Hexe streckte ohne sich umzudrehen ihre grüne Hand aus und fühlte, wie sie von Glindas Hand angenommen wurde. Noch immer schweigend zog Elphaba nun die Freundin zu sich und legte ihren linken Arm um Glindas Hüfte, während diese ihren blonden Lockenkopf auf Elphabas Schulter legte. So standen sie eine Weile da und starrten schweigend in den Sonnenuntergang hinein. „Mach’s gut, Sternchen…“, flüsterte Glinda leise und winkte mit einer zaghaften Geste aus dem Fenster hinaus. Dann löste sie sich aus Elphabas Arm, schloss das Fenster und drehte sich wieder um, sodass sie Elphaba ansehen konnte. Im Schein der untergehenden Sonne sah Glinda die zwei roten Streifen auf den grünen Wangen und lächelte leicht. „Alles in Ordnung?“, fragte Elphaba vorsichtig und hielt die Arme auf. Glinda kuschelte sich in die dargebotenen Ärmel hinein und legte seufzend ihren Kopf auf Elphies Brustkorb. „Danke, Elphaba…“, nuschelte sie in den weichen Morgenmantel hinein. „Nimm dir die Zeit, Glin… Alle Zeit, die du brauchst. Ich bin da.“ „Ich weiß… und das werde ich. Lass mich…“ „Nein…“, unterbrach Elphaba sanft. Sie wollte diesen Satz nicht noch einmal aus Glindas Mund hören, denn er erinnerte sie immer wieder an ihre falschen Entscheidungen. „Nein, ich lasse dich nie wieder alleine. Solange es in meiner Macht steht, nie wieder.“ Glinda wusste, dass Elphaba es verabscheute, das Wort ‚nie’ zu benutzen, denn es war ihr viel zu endgültig. Aus diesem Grund stiegen auch wieder die Tränen in die Augen und sie drückte sich ein Stückchen von der Freundin weg, sodass Elphaba sie zwar immer noch hielt, aber die beiden Frauen sich nun ansehen konnten. Ohne ein Wort blickten sich die zwei magischen Frauen in die Augen und Glinda formte ein lautloses ‚Danke’ mit ihren Lippen, als eine Träne ihre Wange herunterkullerte. Elphaba tat es ihr nach und formte ein lautloses ‚Bitte’ mit ihrem Mund, lehnte sich dann ein Stück vor und gab Glinda einen zärtlichen Kuss auf die Wange. Sie wusste nicht, warum sie das andauernde Bedürfnis dazu verspürte, aber sie war selber viel zu erschöpft, um all das zu hinterfragen. Als Elphaba ihren Mund wieder von Glindas Wange löste, hob diese ihre Hand und streichelte vorsichtig mit den Fingern über die grün-rötliche Wange. „Ich glaube, du solltest dir jetzt mal etwas Gutes tun…“, sagte Glinda leise und befreite sich aus Elphabas Umarmung. Langsam bekam sie wieder Kontrolle über sich und ihre Gedanken. Sie rief sich auch wieder ihre Entscheidung ins Gedächtnis, die sie nur ein paar Stunden zuvor auf ein Blatt gekritzelt hatte. ‚Das Blatt!’, dachte Glinda panisch und unterdrückte den Impuls, ihren Blick von der grünen Frau abzuwenden, um im Zimmer nach dem Blatt zu suchen. „Ja, ich werde mein Gesicht mal eben versorgen gehen… Willst du ein Bad nehmen?“, fragte Elphaba und wunderte sich über Glindas unerwartet angespannten Gesichtsausdruck. Als dieser jedoch gleich wieder verschwand und Glinda das Bad verneinte, machte Elphaba sich keine Gedanken mehr darum und ging mit einer letzten Umarmung ins Badezimmer. Sofort war Glinda wieder neben dem Bett und suchte aufgeregt nach ihrem Gedicht. Als sie es auf dem Nachttisch fand, war sie erleichtert, dass die unbeschriebene Seite oben lag und sie hoffte, Elphaba hätte das Gedicht nicht gelesen. Schnell faltete sie das Blatt zusammen, lief auf ihre Seite des Bettes und stopfte es unter die Bettmatratze, da ihr im Moment kein besseres Versteck einfiel. Nach einem tiefen Atemzug, der sie etwas beruhigte, ging sie langsam zur Badezimmertür, klopfte an und trat ein. Elphaba stand vor dem Spiegel, der über dem Waschbecken hing und tupfte mit einem öligen Watteplättchen auf ihren Wangen herum. Es gab kein Anzeichen mehr von der Unordnung, die Elphaba in ihrer Angst um Glinda vorhin hier veranstaltet hatte. Alle Anziehsachen waren aus dem Weg geräumt worden, genauso wie die Tasche mit den neuen Sachen für Glinda. „Geht es?“, fragte sie und hielt noch immer die Türklinke in ihrer Hand. „Ja. Es ist nicht schlimm…. Brennt nur ein bisschen!“, grinste Elphaba in den Spiegel hinein. „Ich muss mich wohl oder übel abduschen… Ich habe so geschwitzt. An mir klebt alles!“, lachte Glinda und zog zur Demonstration am Ärmel ihres Morgenmantels, der sich erst nach einigen Sekunden löste. „Ist gut. Ich bringe dir sofort ein frisches Nachthemd.“ Mit diesen Worten drehte sich Elphaba um und ging zurück ins Schlafzimmer, während Glinda den Wasserhahn der Dusche aufdrehte. Es dauerte keine Minute, bis Elphaba ein Nachthemd fand, von welchem sie dachte, es müsse Glinda passen und damit zurück ins Badezimmer ging. „Bis gleich.“, sagte sie lächelnd, als sie Glinda das Nachthemd reichte. „Bis gleich.“, nickte die blonde Schönheit und sah Elphaba nach, wie diese die Tür hinter sich schloss. Erschöpft ließ sich die grüne Frau zurück auf ihr Bett sinken. ‚Die neuen Sachen kann ich Glinda auch noch morgen früh geben… Und das mit Frieda kann ich ihr auch später noch erzählen…’, dachte Elphaba, doch bevor sie weiterdenken konnte, war sie eingeschlafen. Als Glinda frisch geduscht aus dem Badezimmer kam und die schlafende Elphaba sah, musste sie lächeln. Auch sie war sehr müde und erschöpft, obwohl sie so viel geschlafen hatte. Also kuschelte sie sich auch unter die warme Bettdecke und legte einen grünen Arm um ihre Hüfte. Erst dann schlief sie todmüde ein. Es war mitten in der Nacht, als Elphaba hochschreckte. „Glinda!“, sagte sie panisch, während sie noch halb träumend die zarte Schulter rüttelte, „Glinda, Sie lebt! Sie lebt!“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)